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Der neue große Roman der Solupp-Autorin Annika Scheffel, für Kinder ab 11 Jahren
Wanda hat genug vom Leben in Heimen und Pflegefamilien. Sie will ihr Schicksal in die Hand nehmen, also reißt sie aus. Ausgerechnet am trubeligsten Ort der Stadt findet sie ein Versteck und verändert von dort aus nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von Außenseiter:innen: Sami, der sich wie kein zweiter in der Stadt auskennt und ein Geheimnis mit sich herumträgt, die wundersame Dora, die ihren Garten retten will, die schüchterne Peri, der feine und supernette Hotelportier Jo und die Straßenmusikerin Nino. Gemeinsam begeben sie sich auf eine aufregende Suche, die die ganze Stadt in Atem hält. Dabei erkennt Wanda, dass sie nicht nur ein Teil dieser Welt ist, sondern auch dazu gehören will. Aber auf ihre ganz eigene Art.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Wanda hätte nicht gedacht, dass sie so mutig sein würde, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen – doch jetzt ist der Moment: Sie bricht auf, um ihr Glück zu suchen. Mitten in der großen Stadt findet sie nicht nur ein außergewöhnliches Versteck, sondern auch Verbündete: Sami, den ein Geheimnis umgibt, Dora, die ihren Garten retten will, Peri, die nicht mehr schüchtern sein möchte und Jo, der Großes träumt. Gemeinsam stürzen sie sich in ein Abenteuer, das die ganze Stadt in Atem hält. Und Wanda erkennt, dass Wunder oft genau dort beginnen, wo man sie am wenigsten erwartet.
© Ekko von Schwichow/schwichow.de
Annika Scheffel wurde 1983 in Hannover geboren. Sie studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Giessen. Sie ist Autorin und Drehbuchautorin. Ihre Romane wurden vielfach ausgezeichnet. Annika Scheffel lebt in Berlin.
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Für Melli, mit der das Geschichtenerfinden begann und für Jana, von der ich gelernt habe, dass man etwas ändern kann, wenn man aktiv wird und den Mund aufmacht. Egal, wie alt man ist und wie eigentlich schüchtern.
Annika Scheffel
Thienemann
»Ist ja exakt derselbe Himmel über uns, echt wahr.«
(Toni)
*
Sie verschwand irgendwann in der Nacht, so steht es überall. Aber natürlich ist es nicht irgendwann, ist es ganz genau Mitternacht, als die alte Bärin sich mühsam erhebt und über den Betonboden ihres kleinen Geheges in Richtung des Grabens schlurft. Ihre abgenutzten Gelenke schmerzen, jeder schwerfällige Schritt kostet sie unendlich viel Kraft.
Und so setzt sie sich, als sie den Rand der Plattform erreicht hat, ruht sich einen Moment lang aus. Mit aufgestützten Vorderpfoten hebt sie den schweren Kopf. Es ist eine Sichelmondnacht und auch, wenn sie die beiden nicht sehen kann, die Bärin weiß, dass sie da oben sind: Ursa Major, Ursa Minor – Große Bärin, Kleine Bärin.
Es ist so weit, denkt sie in dieser stillen Mitte der Nacht. Ich mache mich auf den Weg. Helft mir, den richtigen zu finden!
Und die beiden Bären am Himmel funkeln ihr zu und das Funkeln ist wie ein Zwinkern und für ein paar Schritte fühlt die alte Bärin sich fast leicht, so wie früher, bevor sie zur letzten Bärin im Zwinger wurde, bevor die Zeit der Einsamkeit begann. Sie kennt die Geschichten der alten Bären und Bärinnen. Über die Jahrzehnte hinweg wurden sie weitergegeben: wie Sorge sich ausgebreitet hatte und Hass, wie die Stadt zerstört wurde und die Menschen grau im Gesicht. Wie es nach so viel Zerstörung zuerst, für einen Augenblick nur, nach Frieden aussah und nach Ruhe und dann doch nicht. Die Bärin hat sie beobachtet, jahrzehntelang. Sie weiß, wie Menschen aussehen, die vermissen. Wie Misstrauen riecht, wie Einsamkeit aussieht, und wie Hass. Mit den Jahren hat die Bärin ein zotteliges Fell bekommen und einen getrübten Blick. Und doch bemerkt sie noch genug: wie die Menschen aufhören, mit ihr zu sprechen und miteinander, wie es sich wieder verändert, oder wie es vielleicht eigentlich niemals ganz verschwunden war. Das, wofür es keinen Namen gibt, jenes, was man spüren kann, vorausgesetzt man lässt es zu, nimmt sich die Zeit, hält es aus. Menschenangelegenheiten, von denen sie nichts verstehen sollte, aber dafür war sie ihnen zu nah. Was sollte sie anderes tun, in ihrem öden Gefängnis, als zu beobachten, als genau hinzuschauen, nachts in den fernen Sternenhimmel und bei Tag den Menschen ins Gesicht? Darin hat sich etwas zusammengezogen, hat sich verfinstert. Es ist kälter geworden in der Stadt, auch, wenn die Sonne brennt. Und: es ist höchste Zeit zu gehen. Ein letztes Mal sieht die Bärin in den Zwinger zurück, zu der winzigen grünen Insel im grauem Beton, dann macht sie sich auf den Weg, folgt einer flirrenden, schwirrenden Erinnerung in ein letztes, großes Abenteuer, das nicht nur ihr eigenes ist.
Nein. Drei ist magisch. Bei drei hätte es klappen müssen. Wenn es bei drei nicht klappt –
»Wanda?«
Sie gibt sich Mühe, cool zu wirken. Nicht kippeln, nicht an den Fingernägeln kauen, bloß nichts anmerken lassen. Aber Wanda weiß genau, was jetzt kommt. Schon, als Adam die Limonade auf den Tisch stellt und einen Teller mit Gurkenscheiben, als er sorgfältig Salz drüberstreut, auf jede Scheibe etwa gleich viele Körner, und dabei ein ganz ernstes Gesicht macht. Und Wanda hofft, hofft weiter, hofft trotzdem, hofft sehr, sehr, sehr, dass sie sich irrt. Weil es sich hier am krümeligen Küchentisch nämlich schon fast ein bisschen wie Familie anfühlt. Also, wie Wanda sich das vorstellt, Familie: vertraut und nah und sicher und wie Ende gut, alles gut.
Aber es kommt. Irgendwann kommt es immer, sie hat den anderen zugehört, hat es selbst erlebt: mal mit Gebrüll, mal mit Tränen – dieses Mal kommt es sehr leise, fast sanft. Adam schiebt seine Brille zurecht, kratzt sich am Kinn, nimmt die Brille ab, setzt sie wieder auf, nickt Sophie unauffällig-superauffällig zu, und die räuspert sich: »Es ist so«, sagt sie und dreht die feinen, goldenen Reifen an ihrem Arm, guckt dann wieder rüber zu Adam und der nickt erneut und sieht dabei aus wie jemand, der sich am liebsten die Finger in die Ohren stecken würde und laut singen, damit er das, was jetzt kommt, nicht hören muss.
Geht Wanda genauso, würde sie auch gerne. Ihr Trick: Alles gut. Hat sie von Toni. Egal, was passiert, solange man das nur oft genug wiederholt, dieses alles gut, am besten laut, am allerbesten ohrenbetäubend gebrüllt, notfalls reicht aber auch nur gedanklich, kann es so schlimm nicht sein. Alles gut, alles gut, denkt Wanda, keine Angst!
Wie aus weiter Ferne hört sie Sophies Stimme: »Es ist so, wir haben nachgedacht. Und wir haben gemerkt, dass wir uns das mit dem Pflegekind doch anders vorgestellt haben. Leider.«
Alles gut. Wirklichwirklichwirklich. Allesvollkommenokay. Keineangstkeineangstkeine–
Sophie lächelt: »Also, ich meine, du bist ja nun mal auch kein Baby mehr, sondern schon so eine richtige Person!«
Wanda lächelt zurück. Dagegen kann sie nichts sagen, das stimmt: Sie ist fast dreizehn und natürlich so was von gar kein Baby mehr, sondern eine, die schon ziemlich viel versteht und durchschaut. Eine, die weiß, wie man sich verhalten muss, also theoretisch, das aber nicht immer und vollständig ganz hinbekommt. Zum Beispiel, wenn die Freude sie überkommt oder die Wut. Dann wird alles groß und mächtig und Wanda dahinter ganz klein. Ansonsten ist sie eine, die einen Herznasenclip hat (magnetisch, okay, sieht aber aus wie echt gestochen) und richtig tolle, schwere Stiefel. Und die hat sie sogar extra noch verschönert, bevor Frau Wilhelm vom Jugendamt sie hierhergebracht hat, mit bunten Schnürbändern und pinken und grünen und blauen und gelben Punkten. Hat nichts geholfen. Außerdem ist sie eine, die eigentlich schon längst kein Kuscheltier mehr braucht, und wenn, dann nur heimlich und einen Gutenachtkuss auch nicht, voll nicht, und Umarmungen eh nicht und Eltern vielleicht irgendwie auch gar nicht so sehr, sie kommt schon klar, wie gesagt: sie ist ja schon groß. Was sie allerdings komisch findet: dass Adam und Sophie das erst jetzt aufgefallen ist, dass sie sich da kein Baby geholt haben, sondern halt Wanda. Na ja.
Die beiden gucken sie weiterhin traurig an. Ob sie jetzt was sagen soll? Wanda fällt nichts ein. Nur das, dass sie sich echt richtig, richtig Mühe gegeben hat und dass sie eigentlich dachte, dass es ganz gut läuft, das mit ihnen. Ihnen dreien. Drei, die magische Zahl. Und: Wir drei, wie schön das klingt.
Wir drei: Am Montag waren sie zusammen am Wannsee und Wanda durfte zwei Eis (Flutschfinger und Cornetto Erdbeer) und dann durfte sie Sophie mit Sonnencreme Sachen auf den Rücken malen und erst war das komisch, wegen der Nähe, aber irgendwann ging’s und dann war’s sogar richtig lustig. Sophie musste raten, was Wanda malt und sie hatte alle richtig und dann haben sie getauscht und Wanda war ziemlich aufgeregt, und deswegen hatte sie nur zwei richtig von drei und Adam war trotzdem ganz beeindruckt und hat gesagt, dass er da ganz und gar nichts erraten hätte, weil er leider kitzlig ist am Rücken und sich deswegen nicht aufs Raten konzentrieren kann. Dann sind sie zusammen vom Steg aus ins dunkelgrüne Wasser gesprungen und als Wanda rauskam, hat Sophie ihr ein riesiges, flauschiges Badetuch um die Schultern gelegt, das nach frisch gewaschen gerochen hat und dann haben sie im Schatten Uno gespielt und sich mit zwei Enten unterhalten und es war wie schon-immer-so und wie für-immer-und-ewig, nur dass Wanda so viel Glückseligkeit fast ein bisschen unheimlich war. Aber nur fast.
Heute Abend wollen sie eigentlich ins Kino gehen. Also, noch besser: Open Air, da war Wanda noch nie und sie kann sich fast nichts Schöneres vorstellen als das: Kino und Nachos und Popcorn und Sommernachtshimmel und wir drei –
»Weißt du …« Adam hat so eine echt richtig warme, liebe Papastimme, eine, die einem kleinen Kind, so einem Wunschbaby, Schlaflieder vorsingen würde, »… uns fällt das gerade auch echt nicht leicht. Und deswegen wollen wir das auch abbrechen, bevor es für uns alle noch schwieriger wird. Ist doch besser, oder? Verstehst du?«
Wanda nickt, obwohl sie nichts versteht. Also schon. Aber eigentlich lieber nicht.
»Also, bevor du dich richtig eingewöhnt hast bei uns«, fügt Sophie hinzu. »Deswegen lieber sofort.« Sie seufzt.
Wanda guckt runter auf den Tisch. Da kleben Krümel, Bärenformation. Kleine Bärin, Große Bärin. Die große Bärin ist ein Teil des Großen Wagens, nee, anders, der Wagen ist ein Teil der Großen Bärin. Aber von hier aus sieht man nur den Wagen. Wenn überhaupt. Hier ist das Licht meistens zu hell, frisst die Sterne. Und die ausgebrochene Bärin, die ist verschwunden. Schon seit fast einer Woche. Egal, wo sie mit ihren Spezialautos, Sondereinsatzteams und den dröhnenden Hubschraubern suchen, sie finden sie nicht. Wanda schiebt die Krümel auseinander. Hier ist nichts in Ordnung.
»Hey, hey Süße?«
Sie guckt hoch, Sophie starrt Wanda direkt in die Augen, als glaube sie an Gedankenübertragung. Aber Wanda versteht nicht, was Sophie ihr sagen will, und deswegen spricht Sophie jetzt doch: »Das liegt nicht an dir, Spätzchen, okay? Du bist ganz toll, wunderbar und lustig und neugierig und du hast immerzu super Ideen und so unfassbar viel Kraft und die allertollsten Sommersprossen sowieso!«
Wanda reibt sich über die Nase: Sommersprossen? Echt jetzt?! Ist das wichtig? Hat man ohne Sommersprossen etwa noch weniger Chancen, ein Zuhause zu finden?
Sophie seufzt: »Es ist nur, wir können da nicht so ganz mithalten, weißt du? Mit deiner ganzen Kraft und diesem geballten Enthusiasmus und so. Wegen dem Alltag und der Arbeit, weißt du? Aber, also, es liegt nicht an dir, es liegt an uns und …und … also, an der Welt eben, an der Welt so an sich. Wie die so … so eben ist!« Sie hebt hilflos die Hände.
Wanda nickt, aber natürlich glaubt sie kein Wort. Es ist ja so: Adam und Sophie und die Welt dürfen bleiben, wie und wo sie sind, Wanda ist es, die verschwinden soll. Sie passt nicht rein. Und nirgendwo hin. Unter dem Tisch kneift sie sich in den Arm, überlegt, was sie dieses Mal falsch gemacht hat. Vielleicht war sie zu laut? Oder zu leise? Vielleicht hat sie zu viel gelacht oder zu wenig? Vielleicht hätte sie mehr Kohlrabisticks essen sollen und doch nur ein Eis? Oder drei von drei Sonnenmilchmalereien erraten müssen? War das ein Test? Oder, und jetzt wird ihr vor Schreck ganz kalt, hat sie etwa geschnarcht, als sie auf dem Rückweg vom See in der S-Bahn zwischen Sophie und Adam eingeschlafen ist?
Wanda wurschtelt sich in ihren Pulli, zieht die Kordel des Hoodies fest zu. Jetzt guckt nur doch die Nase raus, ihre Nasenspitze mit den nutzlosen Sommersprossen. Shit. Hoffentlich, hoffentlich hat sie nicht geschnarcht! Sie verschränkt die Arme vor der Brust und versucht, so auszusehen, als wär’s ihr vollkommen egal. Schnarchen, oder nicht schnarchen. Bleiben dürfen oder rausgeworfen werden. Aber ehrlich gesagt: Das ist gar nicht so einfach, wenn um einen herum und irgendwie auch innen drin die ganze Welt tosend zusammenstürzt. Absolut und komplett. Totalschaden. Allerheftigste Apokalypse.
»Sag mal, wie geht’s dir damit, Liebes? Alles okay?« Adam klingt hoffnungsvoll und Wanda entknotet ihre Arme, wuchtet mühsam ihre Schultern hoch. Die sind mit einem Mal sehr schwer. Sogar die Kapuze schiebt sie vom Kopf, versucht zu lächeln, damit es leichter wird, damit Sophie und Adam nicht mehr so ängstlich sein müssen. Liebes.
»Super!«, sagt sie und Sophie beugt sich über den Tisch, verstreut die Sternenkrümel in alle Himmelsrichtungen, greift nach Wandas Hand. Schnell wegziehen und dann die Pulliärmel bis über die Fingerspitzen zerren und vorsichtshalber lieber noch draufsetzen. Weil Wandas Hände nämlich eigentlich ziemlich gerne zu Sophies Händen wollen und da bleiben. So ungefähr für – tja, immer? So wie Ende-gut-und-alles und wenn-sie-nicht-gestorben-sind – in den Märchen, da ist das so. Und ganz oft auch in diesen Waisenkindgeschichten. Sie hat die alle gelesen. Also, nur heimlich. Toni hält nämlich gar nichts davon: Alles Murks. Absoluter Mist. Da kommt niemand. Kannste lange drauf warten, dass dich jemand rettet!
Aber Wanda hat halt trotzdem gehofft, dass die Geschichten eine Art Gebrauchsanweisung sind, wie man’s richtig macht, als Waisenkind.
Es ist nämlich so, dass in den Geschichten irgendwann immer jemand kommt, ein König, aus einem weit entfernten Land, oder ein grummeliger alter Mann, der aber insgeheim eigentlich nur traurig und einsam ist, oder eben ein zotteliger Riese, der matschige Schokotorte mitbringt. Und einer von denen holt das Waisenkind dann ab, in ein richtig tolles Leben, in eine Welt, wie sie sein sollte. Und das Waisenkind ist natürlich viel mehr als nur so ein einfaches, ganz stinknormales Waisenkind, nee, das kann zaubern oder singen und tanzen oder ist eigentlich mindestens eine Prinzessin, und spätestens, wenn das klar ist, wird alles gut. Und Wanda weiß ja, dass das nur Geschichten sind, nur erfunden ist. Aber das heißt ja nicht, dass sie ab und zu nicht doch wahr werden können, oder?!
Wie bei Toni zum Beispiel. Ausgerechnet der ist diese Märchensache, an die sie nicht glaubt, vor einigen Wochen tatsächlich passiert. Toni ist abgeholt worden. Und nicht wieder zurückgebracht. Toni hat neue Eltern gefunden. Richtig nette, ganz sicher, hundertprozentig. Was anderes kommt nicht infrage.
»Lass das am besten erst mal ein bisschen sacken«, sagt Adam und Sophie nickt: »Und dann kannst du ja schon mal mit dem Packen anfangen. Frau Wilhelm kommt gleich morgen früh.«
Frau Wilhelm. Frau Wilhelm wieder, immer Frau Wilhelm. Frau Wilhelm liebt Musik, Sushi und eine grundsätzliche Sache namens Regelkonformität. Vor allem aber arbeitet Frau Wilhelm fürs Jugendamt. Und als es damals nicht geklappt hat, mit den beiden Familien vor Sophie und Adam, ist Frau Wilhelm zu Harry in ihr winziges rotes Auto gestiegen, in dem es wegen der lila Papptanne am Spiegel immer nach Lavendel riecht.
Wie in der Provence hat Frau Wilhelm Wanda erklärt, das ist in Südfrankreich und da gibt es ganze Felder, alles lila, aber komplett, unvorstellbar, stell dir das mal vor! Und Wanda stellt sich das vor, sehr schön stellt sie sich das vor, aber Frau Wilhelm, da ist Wanda sich sicher, die kann sich das sogar noch schöner vorstellen. Frau Wilhelm will da unbedingt hin, eines Tages, wenn mehr Zeit ist und der Kopf frei fürs wahre Leben und der richtige Zeitpunkt gekommen, hat sie geseufzt. Frau Wilhelm seufzt sehr viel und sehr gründlich, seufzt über alles, die Provence, Ketchupflecken auf T-Shirts, Wandas Nasenclip, die Weltpolitik.
Und bis ihr wahres Leben beginnt, brettert Frau Wilhelm mit ihrem Lavendelauto vom Jugendamt zum Heim und dann durch die Stadt oder eben andersrum, immer, um elternlose Kinder zu sortieren, in passende und manchmal leider nicht ganz so passende Familien, und Harry singt dazu aus dem Lautsprecher, so wunderschön, dass man weinen will und manchmal weint Frau Wilhelm auch. Wegen Harry oder Südfrankreich oder der Ketchupflecken – das ist unklar und vielleicht auch gar nicht so wichtig.
Meistens kommen die beiden sofort, wenn irgendwo was schiefgeht, aber heute nicht. Wanda vermutet, dass Harry das mit der entlaufenen Bärin egal ist, aber Frau Wilhelm liebt Regeln, wie gesagt, und hält sich an alle, grundsätzlich. Wo kämen wir denn sonst hin?, ruft sie manchmal und Wanda denkt dann: wer weiß, vielleicht in die Provence?
Jedenfalls: Wenn gesagt wird, dass man wegen der Bärin von Beginn der Dämmerung bis in die Nacht lieber zu Hause bleiben soll, dann hält Frau Wilhelm sich daran. Und vielleicht hat sie eh ein bisschen Angst. Wanda nicht. Nicht so sehr. Nicht vor der Bärin. Nicht genug jedenfalls, um zu bleiben und auf Frau Wilhelm zu warten. Es gibt Schlimmeres. Richtig, richtig Schlimmes. Zum Beispiel das hier, das jetzt gerade. Dass auch Sophie und Adam sie nicht haben wollen.
Immerhin: Fast eine Woche hat Wanda geschafft. Eine Woche ist gar nicht so schlecht, vergleichsweise. Bella war schon mal nach knapp fünf Stunden zurück, das ist im Heim bisher der Rekord.
»Es tut uns wirklich sehr leid, Wanda«, sagt Sophie, und Wanda hört, dass das stimmt.
»Du schaffst das schon, irgendwann findest du dein Zuhause«, sagt Adam. »So ein tolles Kind wie du!«
Wanda fragt sich, woher er das weiß. Und wie sie das schaffen soll. Sie ist kein Baby mehr, kein kleines Kind, niemand, den Adam in den Schlaf singen möchte, den Sophie zum Kindertanzen fahren kann.
Irgendwann –
Es ist so: Mit fast dreizehn ist es so gut wie zu spät. Dass wissen alle im Heim. Das ist eine der grundsätzlichen Wahrheiten. Und das, was mit Toni passiert ist, das ist eine absolute Ausnahme, das ist ehrlich gesagt mindestens ein Wunder. Mit vierzehndreimonate noch jemanden zu finden, der einen haben will. Es sind meistens die jüngeren Kinder wie Ola, Raiza, Paul und Fee, die ausgesucht werden, die neue Familien finden.
Ein letzter trauriger Blick, dann schließen Sophie und Adam die Küchentür hinter sich.
Wanda sitzt da, Minuten, Stunden, Ewigkeiten. Versucht das mit dem Sackenlassen. Aber ehrlich gesagt: Sie kriegt das nicht auf die Reihe. Bei ihr sackt nie was, bei ihr bleibt alles da, wo es ist, im Kopf, im Herz und im Körper. Da brodelt sich das dann zusammen, zu einem echt ekligen Eintopf aus Wut und Traurigkeit. Und manchmal kocht diese sumpfige Suppe auch über, und das ist dann echt eine ziemliche Sauerei. Heute nicht. Heute weiß sie nicht so richtig, was sie eigentlich fühlt. Vielleicht, weil sie vollkommen durcheinander ist. Weil sie das echt nicht erwartet hat. Es war doch alles gut!
Man muss vorsichtig sein, sagt Toni, und das weiß Wanda ja eigentlich auch. Und trotzdem bleibt sie sitzen, weil sie nämlich insgeheim doch wartet, dass noch wer kommt, nicht unbedingt ein zaubernder Riese, aber eventuell immerhin ein nicht-zaubernder Troll? Oder eben, aber das ist vermutlich genauso unwahrscheinlich wie ein normalsterblicher Troll: Sophie und Adam, die es sich anders überlegt haben – Sorry, aber wir wurden gegen Aliens ausgetauscht und mussten uns erst mal befreien, aber jetzt sind wir zurück, haben alles gegeben und uns freigekämpft, sind quer durchs All, alles nur für dich und natürlich war das eben absoluter Quatsch, ein säureätzender Alienscherz, nicht besonders lustig, aber jetzt ja schon fast wieder vergessen –
Wanda sieht zur Tür, guckt zum Fenster, man weiß ja nie. Und, kennst du das? Wenn du dir etwas so sehr wünschst, dass es einfach möglich sein MUSS? Auch, wenn alles dagegenspricht? So ist das. Deswegen das Warten. Die Wanduhr tickt laut, aber der Zeiger schleicht, als hätte er vergessen, dass er und das Ticken zusammengehören, von Anfang an und für immer. Draußen dämmert es. Nur eine Minute noch. Vorbei. Okay, vielleicht doch noch eine. Eine letzte. Nur noch eine einzige. Nichts. Es bringt nichts zu warten. Es kommt niemand, um Wanda zu holen. Wär ja auch seltsam, einfach so, in so einer ganz normalen Küche, in der der Geschirrspüler so verzweifelt piept, als müsste er nicht ausgeräumt werden, sondern wirklich ganz dringend aufs Klo. Mit dem Zeigefinger schiebt Wanda die Krümel zusammen. Die sind vom Mittag. Da gab es Fladenbrot mit veganem Dönerfleisch und Tomaten, die nach Sommer geschmeckt haben, weil es viel zu heiß ist in diesem Juli, für was Warmes. Und weil sie ja abends im Kino Nachos essen wollten und Popcorn. In dreizehn Minuten beginnt der Film, ohne Adam, ohne Sophie und ohne Wanda.
Wir drei.
Sie schiebt ihren linken Ärmel hoch: Bevor sie mit ihren neuen Eltern weggefahren ist, hat Toni noch schnell die Sterne geordnet für Wanda. Mit Kuli. Damit du immer weißt, wo du bist, Zwergi! Und ich. Ist ja exakt derselbe Himmel über uns, echt wahr. Weißte aber ja eh.
Toni hatte schon die Jacke an, ihre Reisetasche über der Schulter, hat die extra noch mal abgesetzt, den Kuli rausgewühlt, aber ganz vorsichtig, wegen der superschönen, extra neu angeklebten langen Glitzergelnägel, hatte Krickelkrakel auf ihre Handfläche gemacht, bis der Stift endlich ordentlich schrieb. Arm bitte! Wanda hatte ihren Arm hingehalten und Toni hatte super sorgfältig all die Sterne draufgemalt, die es für so eine Große Bärin braucht. Das mit den Sternen war ihr Ding. Weil die überall sind. Und die niemand einfach wegmachen kann. Weil sie zwar riesig sind, aber von hier aus gesehen sehr klein und immer so schön glitzrig. Und weil sich in ihnen etwas unfassbar Großes, Wunderbares verstecken kann. Eine Bärin zum Beispiel.
Dann war Toni fertig mit den Sternen und von unten rief Frau Wilhelm Los jetzt aber, Madame! Aber Toni hat nicht mal mit dem leuchtend hellblau angemalten Augenlid gezuckt, war einfach bei Wanda geblieben, vollkommen entspannt, als hätten sie alle Zeit der Welt und nicht nur noch ein paar geklaute Minuten: Bevor das verschwunden ist, sehen wir uns wieder. Verstanden, Zwergi?
Und Wanda hat genickt und kein Wort rausbekommen, war wie betäubt. Ohne Toni – unmöglich. Ohne Toni war sie verloren. Und das ist so schlimm, wie es klingt. Toni war alles, war, seit sie im Heim lebt, Wandas ganze Welt.
Versprochen. Hoch und unheilig.
Toni hatte Wanda den Stift in die Hand gedrückt und ihren eigenen Ärmel hochgeschoben: Jetzt du!
Tonis Arm war ganz wunderbar weich und fluffig und super schwer zu beschriften, aber am Ende hatte Wanda es doch geschafft, ihr die Sterne aufzumalen.
Das bleibt da jetzt!, hatte Toni gesagt. Also, nicht waschen! Niemals den Arm! Mach ’ne Plastiktüte drum beim Duschen oder halt ihn irgendwie raus, aber lass bloß kein Wasser dran. Kapiert, Zwergi?!
Mhm.
Nee, wirklich, das ist superwichtig! Kapiert?
Wanda sieht auf die Krümel: Große Bärin, Kleine Bärin – Toni kennt sich aus, die weiß eh so ungefähr alles. Von den Sternen, aber auch über die Welt hier unten. Ob sie das mit der Bärin mitbekommen hat bei ihrer Letzte-Chance-Familie? Bestimmt. Und Hundertprozent hat sie sich darüber gefreut: Yeah! Und obwohl gerade alles eher traurig ist und ein bisschen aussichtslos, lächelt Wanda bei dem Gedanken an Toni, die Faust geballt: Yeah! Go, Bärin, go!
Toni glaubt an so gut wie nichts, aber wenn sie mal an was glaubt, dann so richtig. Die Bärin hat sich getraut, die ist gegangen. Einfach weg. Wie gezaubert. Was Wanda jetzt klar wird und was sie vielleicht insgeheim schon sehr lange weiß und was Toni ihr eventuell sagen wollte, aber ohne es direkt zu sagen: Wenn Wanda gerettet werden will, muss sie sich selbst drum kümmern.
Und jetzt ist da wieder das Ziehen im Körper, das Wanda schon kennt, das sie schon immer hat … seit Toni weg ist noch mehr, aber seit sie bei Sophie und Adam ist, nur noch ab und zu. Das Ziehen, das an ihrem Herz zerrt, als wolle es das aus dem Körper holen und woanders hinbringen. Als gehöre Wandas Herz nie da hin, wo sie gerade ist.
Aber da ist noch was, da ist ein ganz neuer Gedanke. Einer, der größer wird und größer, bis er sich mit dem Ziehen mischt. Ein megagigantischer, zerrender Gedanke, so weitreichend, noch weiter als bis zu dieser Funkelangelegenheit da oben am Nachthimmel und so gigantisch, dass Wanda die Luft wegbleibt: Sie muss gar nicht warten, bis Frau Wilhelm sie abholt! Hören, wie Adam und Sophie Frau Wilhelm das noch mal erklären, warum das nichts wird mit ihnen und Wanda. Sie muss nicht hinter Frau Wilhelm die Treppe runtertrotten, muss nicht auf der Rückbank des roten Autos sitzen und Provence einatmen, bis ihr schwindlig wird. Sie muss nicht nervös hin und her rutschen bis Frau Wilhelm seufzt: Ach, Wandalein, du wirrer Haufen Flöhe, was machen wir nur mit dir? Sie muss nicht die Schultern zucken, muss nicht nicken, muss sich nicht entschuldigen, muss nichts versprechen. Und vor allem: Sie muss nicht ins Heim zurück.
Und ja, klar: Im Heim gibt es nette Menschen, im Heim wird echt viel gelacht, im Heim ist es oft ganz okay. Und trotzdem: Die geballte Sehnsucht macht die Luft dort oft felsenschwer. Vor allem nachts, nachts ist es am schlimmsten, wenn die Sehnsucht der anderen sich mit Wandas Herzziehen mischt. Auf jedem Gang, in jedem Zimmer lungert ein ähnliches Gefühl: noch nicht angekommen zu sein, längst nicht, nicht zu sein, wo man eigentlich hingehört.
Sie kann verschwinden.
Genau wie die Bärin.
Es wird nicht einfach, aber unmöglich ist es nicht.
Über den langen Flur schleicht sie zu ihrem Zimmer, ihr Herz schlägt jetzt so laut, dass sie fürchtet, Sophie und Adam könnten es bis in ihr Schlafzimmer hören. Aber ihre Tür bleibt geschlossen und alles bleibt still. Die Wohnung riecht sommerschwer und ozeanfrisch, weil Sophie vor dem Schlafen alle Fenster weit öffnet und Adam damit jeden Tag leise summend die Dielen wischt, mit Ozeanfrisch Wisch und Weg. Adams und Sophies Wohnung erinnert Wanda an eine im Halbschlaf schnurrende Katze.
Sie tritt in ihr Zimmer, das ja gar nicht mehr ihr Zimmer ist. Sehnsüchtig schaut sie zum Bett. Sich dort zusammenrollen, die flauschige Decke über den Kopf ziehen, schlafen, das würde sie jetzt gerne. Aber dann steht morgen früh Frau Wilhelm da und ruckzuck ist Wanda doch wieder im Heim. Nein, Decke über den Kopf geht gerade nicht. Und es ist natürlich nicht so, dass Wanda einfach so loslatscht, schließlich kennt sie sich mit Waisengeschichten aus. Und wenn man da die Könige und Riesen abzieht und die traurigen alten Männer und die Zauberkraft, dann bleibt eine wichtige Sache übrig: dass man sich gut vorbereiten muss. Und das macht Wanda jetzt.
In ihren Rucksack kommt alles, was man zum Alleinklarkommen braucht: Zwei Schokoriegel, eine Plastikflasche mit Leitungswasser, eine Tüte Fusilli, drei Gummihaarbänder, Klamotten, Badeanzug, die Zahnbürste und natürlich Schrippe, der streng geheime Gorilla.
Leise schließt sie die Wohnungstür hinter sich, schlüpft in ihre Schuhe. Die Stiefel sind schwer und drei Nummern zu groß, weil: von Toni. Damit kann dir niemand was, Zwergi! Nur Toni darf sie so nennen, weil sie das nicht böse meint oder fies. Und das mit den Stiefeln ist echt wahr: Wenn Wanda die anhat, fühlt sie sich sicher und viel weniger verloren. Als wäre sie so ein alter, tiefverwurzelter Baum, als gehörte sie doch genau da hin, wo sie steht. Von Toni hat sie auch den lila Pulli, der ist riesig und warm und weich, ganz genau wie Toni. Zu der durfte Wanda manchmal ins Bett, wenn es gar nicht mehr ging. Wegen der Traurigkeit und wegen der Träume und der nervigen Unruhe im ganzen Körper. Lieg gefälligst still, hat Toni geknurrt und Wanda schraubstockfest in die Arme genommen und dann war Ruhe, in Wanda und um sie rum. Das war schön.
Jedenfalls: Tonis Pulli reicht ihr bis fast zu den Knien, ist so groß, dass Wanda notfalls drin wohnen kann und das ist echt super, wenn man ansonsten keine Ahnung hat, wohin eigentlich.
Im Treppenhaus muss man nah am Geländer gehen, dann knarrt es nicht so. Echt wahr. Ganz alter Trick, kannst du in jedem zweiten Waisenbuch nachlesen. Unten im Hausflur zieht Wanda sich die Kapuze wieder über den Kopf. Zur Tarnung: so wenig wie möglich wie ein noch nicht ganz dreizehnjähriger, ziemlich planloser und sehr, sehr aufgeregter Mensch aussehen.
Du schaffst das Zwergi, jubelt Toni. Yeah!
Ich hab’s geschafft, dann schaffst du das auch, brummt die Bärin.
Ich warne dich, Wanda!, ruft Frau Wilhelm. Das ist gegen die Regeln –
»Nee, Frau Wilhelm«, flüstert Wanda. »Echt jetzt mal, Schluss damit! Ich muss mich aufs Abhauen konzentrieren!«
Und während hinter ihr die Haustür schwer ins Schloss fällt, tritt Wanda hinaus in die Sommernacht, in der zuerst eine Bärin verschwunden ist und jetzt also Wanda.
Es ist so still. Im warmen Licht der Gaslaternen sieht die Straße aus, als ob sie nach Früher führt, dabei geht’s da geradewegs schlicht und einfach nur zum Getränkemarkt und weiter zum Aldi. Die Bäume fangen zu rauschen an, flüstern Geheimnisse. Wanda versteht sie nicht. Wo soll sie hin?
Was Frau Wilhelm erzählt hat, als sie Wanda gebracht hat: Wenn man nach links geht, immerimmer und immer weiter links, am Aldi vorbei und dann noch ein Stück, werden die Häuser allmählich niedriger und die Gehwege breiter, verwandeln sich in Vorgärten, in Gärten und irgendwann kommen nur noch Wiesen, Felder, Seen, Wälder. Frau Wilhelm hat gesagt, dass sie gerne weiterfahren würde, zusammen mit Harry, vorbei an der ganzen Landschaft, bis in die Provence. Aber natürlich ist Frau Wilhelm nicht weitergefahren. Sie hat in zweiter Reihe vor der Tür geparkt und dabei leise geflucht, und dann hat sie Wanda hochgebracht und noch einen Kaffee getrunken mit Sophie und Adam, so, wie sie das immer macht. Ein Geheimnis: Eigentlich mag Frau Wilhelm keinen Kaffee, aber sie sagt, dass die Leute sich wohler fühlen, wenn sie ihr was aufkochen und einschenken dürfen. Deswegen lehnt Frau Wilhelm den nie ab. Nachdem sie zwei Schluck getrunken hat, ist sie mit Wanda in ihr Zimmer. Da standen echte Blumen auf dem Schreibtisch und es roch nach Ozeanfrisch, zum Glück kein Lavendel.
Ist doch ganz schön, oder?, hat Frau Wilhelm gesagt und Wanda hoffnungsvoll angesehen. Und Wanda hat genickt, auch wenn sie vor allem nervös war, trotz der bunt angemalten Tonistiefel, trotz der extra schicken Nägel in allen Farben des Regenbogens plus einmal Silber, einmal Glitzergold und einmal Schwarz, trotz des Herznasenclips. Das wird schon, hat Frau Wilhelm versprochen, mit einer Stimme, die daran nicht mehr so richtig glaubt. Frau Wilhelm hat viel Erfahrung und ein bisschen davon dank Wanda.
Sie ist gegangen, ohne Wanda zu umarmen. Weil sie andere Menschen und deren Gefühle eh lieber auf Abstand hält und weil sie Wanda ziemlich gut kennt. Schon lange. Frau Wilhelm weiß, dass man Wanda nicht einfach mal so eben anfassen darf. Mach’s gut, Wanda, hat Frau Wilhelm zum Abschied gesagt. Bemüh dich. Das Gleiche hat sie übrigens auch zu Sophie und Adam gesagt, vorne an der Tür. Das sagt Frau Wilhelm immer, wenn sie Kinder bringt, das ist ihr Zauberspruch. Und dabei hat Frau Wilhelm längst damit aufgehört, an Zauberei zu glauben. Vielleicht, denkt Wanda, funktioniert’s deshalb nicht.
Aus dem Fenster hat sie gesehen, wie Frau Wilhelm in ihr Auto gestiegen ist. Losgefahren ist sie aber nicht. Sie hat noch eine ganze Weile gesessen, vor sich hin geguckt und vermutlich auch ein bisschen geseufzt. Wanda war super gespannt, was Frau Wilhelm jetzt macht, für welche Richtung sie sich entscheidet. Und als sie nach rechts abbog, war Wanda richtig enttäuscht. Es ist nämlich so: Wenn man sich rechts hält, werden die Gehwege schmaler, die Häuser höher und höher, türmt sich die Stadt um und über einem auf, fast bis zum Himmel. Also, nach rechts geht’s mal garantiert so was von nicht in die Provence, da kommt man wieder zurück in die Stadt.
Wanda wirft die einzige Münze, die sie bei sich hat: zehn Cent, Kopf oder Zahl. Kopf sagt nach links, aber nach kurzem Zögern nimmt sie trotzdem den Weg in die Stadt. Dort kennt sie sich besser aus als in den Wäldern. Außerdem ist es wahrscheinlich einfacher, in Häuserschluchten und Menschenmengen unterzutauchen, als hinter einem Baum oder in einem Lavendelfeld. Was aber das Wichtigste ist: In der Stadt haben die Leute anderes zu tun, als ihr anzusehen, dass Wanda kein Zuhause hat, dass sie nirgendwo dazugehört.
Echt jetzt, sie glaubt wirklich nicht an Zeichen oder so was, aber das heißt ja nicht, dass es keine gibt. Da vorne, am dunklen Rand des kleinen Parks, leuchtet grell eine Haltestelle. Und ausgerechnet genau jetzt kommt der Bus! Wanda rennt los, winkt mit beiden Armen. Der Bus ist schon fast vorbei, macht aber eine Vollbremsung, als sie knapp vor ihm über die Straße läuft. Unauffällig geht anders. Laut zischend öffnen sich die Türen.
»Fast hätte ich dich plattgemacht, Kleene!«, ruft die Busfahrerin gut gelaunt. Sie hat ihr Haar knapp über der Stirn zu einem Riesendutt aufgetürmt, trägt eine silbrige Glitzerjacke über ihrer Busfahrerinnenweste und erinnert Wanda an ein Einhorn.
»’tschuldigung.« Wanda zieht die Kapuze noch weiter runter, setzt sich in die allerletzte Reihe. Bis auf sie und die Fahrerin ist der Bus leer. Ob das an der Uhrzeit liegt? Oder –
»Hey, du, Pullovergespenst! Lebst du hinterm Mond?«, dröhnt die Stimme der Busfahrerin aus dem Lautsprecher. »Du solltest zu dieser Zeit nicht hier draußen sein, du weißt doch, was sie sagen: die Bärin könnte jederzeit überall auftauchen!« Die Busfahrerin lacht scheppernd, kling hocherfreut und so, als hätte sie eigentlich große Lust, die Bärin im Bus durch die Stadt zu karren. »Wird Zeit, dass sie das Tierchen mal finden! Ich dachte ja, die ist schon über alle Berge, aber dann tauchen doch immer wieder Spuren auf. Macht einen ganz kirre. Weißt du, viele weigern sich ja, nachts zu fahren. Haben Bärenangst. Aber nee, hab ich mir gedacht, was ist, wenn doch jemand wartet? So ein kleenes, gestrandetes Etwas wie du zum Beispiel!«
Im Spiegel sieht sie Wanda vielsagend an und die guckt lieber schnell weg.
»Na ja, allerspätestens jetzt bin ich wirklich froh, dass ich doch noch mal aus dem Depot gerollt bin!«
Wanda auch. Sehr sogar. Draußen ist es nämlich mittlerweile richtig, richtig dunkel.
»Wo willst du denn eigentlich hin?«
»Ich muss nach Hause«, murmelt Wanda. Stimmt sogar, also fast. Sie muss nach Hause, ganz dringend. Sie weiß nur noch nicht, wo das ist.
»Was hast du da in deinen Bart genuschelt?«
»Dass ich nach Haus muss!«, sagt Wanda noch mal. In Laut fühlt sich das doch ein bisschen wie eine Lüge an.
Aber die Busfahrerin nickt: »Schön, schön, verstehe, na denn! Wollen wir mal, was?«
Vor dem Fenster sind die Straßen menschenleer, nur selten begegnen ihnen andere Autos. Die allermeisten sind schwarz und haben riesige Scheinwerfer auf dem Dach, so dermaßen grell, dass Wanda die Augen zukneift. Sie suchen die Bärin, Tag und Nacht, ununterbrochen.
»Man kann auch übertreiben!«, schimpft die Busfahrerin. »Ich meine, wie soll ich denn bei dem Licht schlafen?« Sie lacht ausgiebig über ihren eigenen Witz, drückt dann gleich mehrmals auf die Hupe.
»Ich sag’s dir: So habe ich die Stadt noch nie erlebt! Nicht in meinen zweihundert Jahren hinterm Steuer und davor eigentlich auch nicht!«
Wanda spürt, dass die Busfahrerin sie im Spiegel beobachtet. Was sie wohl sieht? Nur eine Gestalt im übergroßen Pullover? Oder mehr? Sieht sie vielleicht, wer Wanda wirklich ist? Eine elternlose, planlose, todmüde Ausreißerin?
»Schicker Nasenclip!«, ruft die Busfahrerin so plötzlich in Wandas Gedanken hinein, dass sie heftig zusammenzuckt. »Und keine Sorge, Kleene, was immer du vorhast, ich misch mich nicht ein, aber ich bring dich garantiert heil durch die Nacht!«
Ihr bleibt nichts anderes übrig, als der Einhornfrau zu glauben.
Brummend und quietschend streift der Bus durch die Nacht. Das gleichmäßige Wiegen, die leisen Motorengeräusche – Wanda fällt es echt schwer, wach zu bleiben. Aber schlafen darf man nur, wenn man in Sicherheit ist. Träge blinzelt Wanda durch die Scheibe. Davor strömen Häuser vorbei, in vielen Fenstern brennt Licht. Es sieht gemütlich aus, aber auch wie Feiern, zu denen man als Einzige nicht eingeladen ist.
»Ziemlich seltsam das alles, was?«, knistert der Lautsprecher.
Wanda drückt ihren Rucksack fester an sich. Alles, was sie hat, ist da drin. Die Nudeln, die Schokolade, Schrippe, der geheime Gorilla. Selbst die struppige Zahnbürste beruhigt sie. Ganz allein ist sie nicht.
»Sag’ mal, du, stört es dich, wenn ich Musik anmache?«, fragt die Busfahrerin. Wanda schüttelt den Kopf. Musik ist immer super.
Im Spiegel zeigt die Busfahrerin ihr den Daumen. Ihr Lächeln ist breiter als die Straße. Und jetzt strömt Musik durch den Bus und die Fahrerin nickt dazu knapp am Takt vorbei mit dem Kopf, singt gar nicht mal so schief in ihr Mikro. »Das ist mein absoluter Lieblingssong!«, ruft sie. »Kennst du den?«
»Mhm.«
»Komm doch mal vor! Ich kann dich gar nicht hören, wenn du da hinten vor dich hinflüsterst!«
Wanda zögert: Ist das ein Trick? Ahnt die Busfahrerin was?
»Wie du willst, ich zwinge niemanden«, verkündet die jetzt fröhlich. »Aber ich dachte, wenn du und ich schon so was wie die letzten Menschen auf dem Planeten sind, dann wär’s doch gut, einander Gesellschaft zu leisten. Meinst du nicht?«
Doch. Schon. Von klebriger Haltestange zu klebriger Haltestange hangelt Wanda sich nach vorne, setzt sich in die erste Reihe, schräg neben die Busfahrerin. S.Schmidt steht auf ihrem Schild – S wie Scarlett vielleicht, Selma oder Seraphine.
»Hallo, du!«, sagt Frau Schmidt. »Schön, dass du da bist!«
Das hat schon lange niemand mehr zu Wanda gesagt.
Frau Schmidt lächelt superlieb, echt einhornmäßig, und so, als wüsste sie was: »Ich mach noch mal zurück und dann starten wir den Song von vorne, okay? Aber dann so richtig, ja? Richtig, richtig! Volle Power!«
Und bevor Wanda was dazu sagen kann, dröhnt die Musik erneut los und Frau Schmidt singt laut mit und lächelt Wanda dabei an. Und krass auch, wie dieses Lied machen kann, dass sich alles gleich viel weniger groß und gruselig anfühlt und Hundertprozent mehr nach Abenteuer und trotz der Dunkelheit vor dem Fenster nach strahlendem Sonnenschein: »I’m walking on sunshine, wooah –«, singt Frau Schmidt, immer wieder und dann noch mal von vorne und so richtig laut. Bestimmt zehnmal und ab und zu hupt die Busfahrerin, die vielleicht Signe heißt oder Sida oder Samira oder ganz anders, fröhlich im Takt und das ist okay, weil auf den Straßen außer den riesigen Suchautos ja sonst niemand ist.
Und dann –
Ist es vorbei: »Weiter fährt mein Bus nicht« – Frau Schmidt sieht verdammt traurig aus. »Wobei –« Sie lächelt: »Wer sagt das eigentlich? Ich bin ja zum Glück keine Tram, ich fahr ja nicht auf Schienen! Ich kann hin, wo ich will! Oder du – wo du hinwillst. Also, wo willst du hin, Kleene, ich fahre dich!«
»Wirklich?« Wanda kann nicht glauben, dass Frau Schmidt das für sie tun will.
»Na klaro! Also?«
Tja. Wanda hat keine Ahnung, wo sie hinsoll. Wie es wohl wäre, einfach im Bus zu bleiben und immer weiterzufahren mit dieser dröhnend lauten Busfahrerin, die eventuell Sadhira, Sadana oder Sanya heißt? So lange, bis es endlich wieder Tag wird. Die Vorstellung gefällt ihr gut, aber natürlich ist das unmöglich. Irgendwann würde auch Frau Schmidt misstrauisch werden. Sie würde anfangen, Fragen zu stellen und dann würde sie Wanda loswerden wollen und dann würde Wanda eben doch wieder bei Frau Wilhelm und Harry landen, oder sogar bei der Polizei, aber auf jeden Fall am Ende wieder im Heim.
»Das ist supernett«, versichert sie hastig, »aber von hier aus ist es nur noch ein kleines Stückchen, das schaff ich schon!«
»Musst du aber gar nicht! Ich fahr dich wirklich gern!«
»Nee, echt! Ich schaff das!«, ruft Wanda und weiß selbst nicht so richtig, warum das jetzt so heftig klingt. Vielleicht, weil sich gegen den Willen was wünschen sehr viel Kraft braucht. »Ich schaff das schon«, wiederholt sie, aber dieses Mal ganz leise.
Frau Schmidt betrachtet sie nachdenklich, runzelt die Stirn, aber dann nickt sie: »Okay, meine Süße! Aber versprich mir, dass du gut auf dich aufpasst, okay?«