Solupp 4: Herbst auf Solupp - Annika Scheffel - E-Book

Solupp 4: Herbst auf Solupp E-Book

Annika Scheffel

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Beschreibung

Entdecke Solupps letztes Geheimnis, für Kinder ab 10 Jahren

So gerne hätte Joon den Sommer genutzt, um Mari, Kurt und Bela auf dem Festland zu besuchen. Doch je weiter er sich von Solupp entfernt, desto mehr hat er das Gefühl, nicht er selbst zu sein. Dann kommt der Herbst, bunt und friedlich, aber auch unberechenbar - denn die Stürme zerren mit ganzer Kraft an der kleinen Insel. Ist vielleicht doch etwas dran an der Legende vom Ungeheuer Skyllfur? Joon ist fest entschlossen, Skyllfur aufzuspüren und Solupp zu beschützen. Vor ihm liegt eine Reise ins Ungewisse, doch glücklicherweise folgen ihm seine Freunde. Und egal, was passiert: Sie alle haben einen Anker, einen, der ihnen stets einen sicheren Hafen bietet: Solupp.

Mit dem Herbst-Band sind nun alle Jahreszeiten komplett.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Das Buch

Der Herbst auf Solupp ist bunt und wunderbar: Endlich kehren die Fröhlichs auf die Insel zurück! Nur Joon kann sich nicht so richtig freuen. Sein Hund Feinur ist verschwunden und Joon hat eine dunkle Ahnung. Ist vielleicht doch etwas dran an der Legende vom Ungeheuer Skyllfugo? Zusammen mit seinen Freunden macht sich Joon auf eine stürmische Reise ins Ungewisse, die ihren ganzen Mut erfordert. Wird es ihnen gelingen, das Geheimnis zu lüften und Feinur wiederzufinden?

In der Solupp-Reihe bisher erschienen:

Sommer auf Solupp

Winter auf Solupp

Frühling auf Solupp

Die Autorin

© Ekko von Schwichow

Annika Scheffel wurde 1983 in Hannover geboren. Sie studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Giessen. Einen Teil ihres Studiums verbrachte sie in Bergen, Norwegen. Seit Ende des Studiums arbeitet sie auch im Drehbuchbereich. Im März 2010 erschien ihr Debütroman „BEN“, der mit dem Förderpreis des Grimmelshausenpreises ausgezeichnet und für die SWR-Bestenliste ausgewählt wurde. Ihr Roman „Hier ist es schön“ erhielt den Robert-Gernhardt-Preis. Annika Scheffel lebt in Berlin.

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

FÜR NINA, JONAS, JURI & JENNAUND FÜR ALLE, DIE SUCHEN.

Annika Scheffel

Herbst auf Solupp

Thienemann

Es gibt diese Orte, zu denen man reisen kann.Und es gibt jene, an die nur der Wind einen trägt.

(Altes Solupper Sprichwort)

Prolog

Echt jetzt! Echt jetzt! Echt jetzt! Wie wunderbar bitte kann das Leben sein? Kurt rast die Treppe hinauf, reißt die Tür auf, zerrt sich die Turnschuhe von den Füßen, stolpert über das Schuhchaos, stößt sich volle Kanne am Schuhschrank, flucht nur kurz, rennt weiter und hinten im Flur fast Tom über den Haufen, dann Paula, schlängelt sich an Bela vorbei, trommelt ungeduldig gegen Maris Zimmertür: »Mari! Echt jetzt, Mari, es ist wichtig!«

»Ist offen!«

Er reißt die Tür auf, knallt sie sofort wieder hinter sich zu. Mari liegt mit ihren Biohausaufgaben auf dem Bett und sieht ihm verwundert entgegen. Kurt strahlt, so wie er das schon lange nicht mehr getan hat. Und Mari weiß natürlich sofort, was das bedeutet, so guckt Kurt nur, wenn es um Joon geht.

Mari grinst: »Na, was schreibt er?«

»Er kommt! Er kommt her!«, ruft Kurt und kann gerade echt nicht anders, als auf der Stelle auf und ab zu hüpfen. Mari ist sofort auf den Beinen, versucht, zu erkennen, was in dem Brief steht, aber den hält Kurt im Klammergriff vor der Brust, den zeigt er nicht und den gibt er schon gar nicht her.

»Jetzt erzähl doch mal! Jetzt sag schon, Kurt! Und Ema? Kommt Ema auch?«

Kurt lässt sich mit dem Brief auf den Schreibtischstuhl plumpsen, und Bela hält es da draußen nicht mehr aus, nur lauschen reicht längst nicht mehr, er hat Fragen, und des­wegen reißt er die Tür auf, stürmt zu seinen Geschwistern ins Zimmer: »Feinur auch? Oh, bitte, Kurt! Sag, dass Feinur auch mitkommt! Bittebittebitte!«

»Oh, bitte, bitte, bitte nicht!«, seufzt Tom von der Tür aus. »So ein riesiger Hund in der Stadt, der arme Kerl!«

»Feinur ist nicht arm!«, ruft Bela empört. »Er hat ja mich! Und mit mir zusammen findet Feinur alles ganz wunderbar!«

»Leute, bitte!«, unterbricht Paula die beiden. »Ganz langsam! Jetzt lasst Kurt doch erst mal vorlesen! Sag schon, Kurt, wie ist es: Kommt Jolka mit? Ach, Jolka fährt doch ganz sicher mit, oder nicht?«

»Stimmt, wie ist das denn geplant? Und sag mal, Kurt, was ist denn eigentlich mit Will? Der ist dann doch auch dabei! Das wär ja was, wenn wir hier so einen richtigen ehemaligen Piraten zu Besuch hätten! Stellt euch mal vor, wie der Hausmeister und Frau Fitzke gucken werden!«, ruft Tom.

Kurt grinst beim Anblick seiner Familie, die ganz und gar und so wie er selbst vollkommen aus dem Häuschen ist. Kein Wunder: Bisher sah es nämlich so aus, als fiele das mit dem Solupper Wiedersehen in diesem Sommer flach. Weil Maris Fußballreise nach Spanien ganze vier Wochen dauert und dazu noch ziemlich teuer ist. Weil Bela zusammen mit Oma zwei Wochen im Familienparadies verbringt. Weil Paula diesen Sommer durcharbeiten muss, und weil Tom zwischendurch noch mal zur Kur fährt und auch unbedingt endlich die Cafésache angehen will.

»Kurt?«, bittet Mari. »Raus jetzt mit der Sprache!«

Alle warten gespannt. »Joon kommt!«, ruft Kurt. Mari stöhnt: »Mensch Kurt! Das wissen wir doch längst, und das sehen wir dir doch sowas von an, dass dein Joonie-Blumi naht! Aber wer kommt noch?«

»Das ist nicht mein Joon! Und schon gar nicht meiny Joonie-Blumi!«

»Joonie-Blumi!«, lacht Bela. »Das ist sooo süß! Das merke ich mir!«

»Boah, ihr nervt gerade alle so was von!«, ruft Kurt, stopft den Brief in seine Tasche und ist schon drauf und dran, aus dem Zimmer zu stürmen.

»Kuuuuuurt!«, betteln die anderen vier Fröhlichs wie aus einem Mund. Und obwohl er das gerade echt nicht will, muss Kurt grinsen: »Okay, okay!« Er holt den Brief wieder aus seiner Tasche, faltet ihn feierlich auf, macht eine extra lange Kunstpause, weil sie sich die gerade echt verdient hat, seine nervige Familie, räuspert sich oberdramatisch, und dann beginnt er zu lesen: Lieber Kurt – Er wird knallrot.

»Ach, Süßer!«, sagt Paula. »Ist doch absolut okay! Ist doch schön!«

»Hä? Warum bist du so rot, Kurt?«, wundert sich Bela. »Stimmt doch! Joon hat dich doch richtig doll lieb! Und du ihn doch auch und ich dich ja eh!«

»Wie wärs, wenn du uns einfach sagst, was drinsteht?«, kommt Mari Kurt zu Hilfe.

Er nickt erleichtert. Darauf hätte er ja eigentlich auch selbst kommen können. Der Brief von Joon geht nämlich niemanden was an. Der ist nur für ihn. Und so wunderschön geschrieben, dass Kurt den bestimmt noch ungefähr hundert Mal lesen wird. Kurt kann sich das so genau vorstellen, wie Joon da sitzt, ganz oben im Solupper Leuchtturm, in seinem Lichtraum auf dem gemütlichen Sofa, hoch konzentriert, die Zungenspitze zwischen den Lippen, weil sie besonders schön aussehen soll, seine Schrift, für Kurt. Und weil Joon es mit dem Schreiben eigentlich nicht so hat, sondern mehr mit dem Wasser, mit dem Wind und mit den Wellen. Wie wird das wohl sein, wenn Joon im Sommer hier ist?

Joon soll es schön haben, am allerwunderschönsten! Dafür wird Kurt schon sorgen! Sie werden all die Dinge tun, die Joon noch nicht kennt, weil es auf Solupp zwar ganz viel gibt, aber einiges eben auch nicht. Und natürlich, logisch, wird Kurt Joon mitnehmen, zum Skatepark, wo seine Leute rumhängen, Lou und Charly und Said und Wida und Desi und Milla und Janne und Mia und Pepe und Marlene. Und die anderen werden staunen, über diesen allermagischsten Menschen, der plötzlich aufgetaucht ist, wie so ein krasser Märchenprinz, nur eben in ganz echt. Und wenn jemand fragt, wer das denn ist, dieser wunderschönste Typ da mit dem Sommergesicht, dann wird Kurt sagen – Kurt weiß so dermaßen ganz genau, wie alles wird, nur eins, das weiß er so überhaupt noch gar nicht: Ob er sich das traut, das Allerwichtigste, Allerbeste, Allerschönste laut aussprechen, es seinen Leuten zu sagen, und rauszufinden, wie die das finden, wie die reagieren, wenn er sagt: Das ist Joon, mein Freund. Nein, nicht wie Kumpel, sondern Freund wie halt Freund, wie krasskrass verliebt, denkt Kurt und muss ein bisschen lächeln.

Und jetzt stupst Tom ihn an: »Kürtchen? Bist du noch da? Bitte, wir warten!«

»Okay, okay! Also: Joon kommt und Ema auch! Gleich am Anfang der Ferien. Er schreibt: so lange es passt. Es passt doch ganz lange, oder?«

Kurt sieht erst Tom, dann Paula mit seinem flehentlichsten Blick an. Und zum Glück unterstützen ihn seine Geschwister dabei. Bela kann das am besten, sein Dackelblick ist echt herzerweichend, der hat schon einiges rum- und raus­gerissen.

Paula lacht: »Da müssen wir uns natürlich mit Jolka kurzschließen, und Mari und Bela sind ja auch nicht die ganzen Ferien hier, aber grundsätzlich: klar, so lange es geht!«

Kurt merkt, dass alle schon wieder ganz erwartungsvoll gucken. Stimmt, er war noch nicht fertig: »Aber Jolka und Feinur kommen leider nicht mit, weil Will nicht alleine bleiben soll, und die Reise für ihn zu anstrengend ist.«

»Okay«, sagt Paula. »Logisch!« Aber ein bisschen enttäuscht ist sie doch, wegen Jolka, das hört Kurt. Genau wie Bela, weil Feinur nicht dabei sein wird.

»Hey, Leute!«, ruft Tom. »Ema und Joon kommen! Das ist doch toll!«

»Ich freu mich ja!«, seufzt Bela. »Auf Ema und auf Kurts Joonie-Blumi, aber mit Feinur wäre es halt noch besser ge­wesen!«

»Im Herbst dann!«, versucht Kurt ihn zu trösten. »Ihr seht euch dann ja im Herbst!«

Bela sieht Kurt vorwurfsvoll an: »Als wenn du das okay gefunden hättest, Joon erst im Herbst wiederzusehen! Mit deiner ganzen Sehnsuchtssache! Die hab ich ja auch, die Sehnsucht! Und überhaupt: immer dieses wenn! Wenn, wenn –«, flucht Bela und stapft aus dem Zimmer.

Kurt will hinterher. Er versteht das voll, dass Bela enttäuscht ist!

Aber Tom hält ihn zurück: »Keine Sorge, wir kümmern uns schon um ihn«, verspricht er. »Macht ihr beide euch lieber mal an die Ferienplanung! Und Mari, wie wär’s, wenn du gleich noch Jule Bescheid sagst? Die freut sich sicherlich auch, dass –«

Mari rollt die Augen, hält ihr Handy hoch. Klar, logisch! Hat sie doch schon gemacht und Jule ist natürlich längst auf dem Weg!

»Ich versuche mal, Jolka zu erreichen, wohl am besten per Flaschenpost oder so. Nicht, dass die gar nichts davon weiß, weil das so eine heimliche Aktion von den beiden ist!« Und damit geht Paula, und Tom zieht die Tür hinter sich zu.

Zufrieden dreht Kurt sich auf Maris Schreibtischstuhl im Kreis, stellt sich vor, wie das sein wird, wenn er Joon abholt, vom Bahnhof oder Bus – ob er so ein Willkommens-Schild für ihn machen soll? Wie die Leute in Filmen? Oder Blumen mitbringen? Oder vielleicht –

»Kurt?« Mari stupst ihn unsanft aus seinen Gedanken: »Guck mal! Hier – Das ist doch irgendwie komisch –«

Er schaut auf den goldenen Kompass in Maris Hand. Normalerweise zeigt die feine, fast unsichtbare Nadel in die fünfte Himmelsrichtung. Dahin, wo klein und wunderbar Solupp im Meer liegt. Aber seit ein paar Monaten dreht sie sich schnell und ununterbrochen im Kreis. Als wüsste sie nicht mehr, wo sie hinzeigen, wo die Reise hingehen soll.

»Müsste die jetzt nicht mal stehen bleiben? Jetzt, wo klar ist, dass Ema und Joon kommen?«

Kurt nickt. Mari hat recht: »Seltsam«, murmelt er.

»Ja, und fühl mal!«

Als Mari den Kompass in seine Hand legt, erschrickt er: Das Metall ist nicht wie sonst körperwarm, sondern eisig kalt! Und da ist noch was. Etwas, das sich wie ein Pochen anfühlt und wie das Schlagen eines sehr aufgeregten Herzens. Was bedeutet das nur?

»Ach, das ist sicher okay, das muss ja nichts heißen, kann ja mal vorkommen, bei technischen Geräten, dass die irgendwie durcheinandergeraten –«, sagt er. »Die beiden schaffen das schon, ganz sicher!«

Kurt sieht Maris skeptischen Blick, und er spürt das ja auch selbst, dass hier irgendwas so ganz und gar nicht stimmt.

Erstes Kapitel Aufbruch

Sein Herz rast, pocht stürmisch, als er die schwere Leuchtturmtür hinter sich schließt, als er den Rucksack auf seine Schultern wuchtet, als er sich noch einmal umsieht. Jetzt geht sie also los! Die Reise, zu der Ema und er Jolka ewig über­reden mussten, auf die er sich schon seit Wochen so freut.

Niemals!, hatte sie zunächst gerufen und richtig entsetzt ausgesehen.

Wir schaffen das schon!, hatte Joon beteuert.

Und wir kommen ja auch wieder!, hatte Ema versprochen.

Es könnte sonst was passieren auf dem weiten Weg, und ich weiß gar nicht, ob – Doch mitten im Satz war Jolka verstummt.

Was weißt du nicht?, hatte Ema nachgehakt und Jolka hatte kurz gezögert, und dann hatte sie den Kopf geschüttelt und gleichzeitig die Schultern gezuckt, und gesagt: Ich lasse euch gehen. Aber nur, wenn ihr mir versprecht, zusammenzubleiben, immer und egal, was passiert!

Joon und Ema waren fast beleidigt gewesen, darüber, dass Jolka fürchten könnte, sie würden einander im Stich lassen. Ungefähr Tausendmillionen Mal waren sie alles durchgegangen, fiel Jolka immer wieder etwas Neues ein, das unbedingt besprochen, geplant oder gepackt werden musste. Und erst gestern hatte Jolka dann schließlich gesagt: Mehr kann ich nicht tun, der Rest liegt in eurer Hand!

Und heute ist es endlich so weit und sie sind so was von bereit, endlich, endlich geht es zu Kurt und zu Mari und zu Bela in die Stadt!

»Keine Sorge!«, sagt Joon zu sich selbst. »Du packst das schon!«

So schnell es mit dem schweren Rucksack möglich ist, balanciert er über den steinernen Pfad, der über die Landzunge, vom Leuchtturm bis zum Südstrand führt. Das Meer glitzert und funkelt in der Sommersonne und er muss dem Drang widerstehen, den Rucksack abzuwerfen, das T-Shirt auszuziehen und die Hose, und sich noch ein allerletztes Mal in die Wellen zu stürzen, zum Abschied sozusagen.

»Tu es nicht!«

Joon sieht rüber zum Strand. Da sitzt Ema auf Sumi und wartet auf ihn. Auch Helios ist schon da, tänzelt aufgeregt in der Brandung.

»Echt nicht, Joon! Lass es! Wir sollten jetzt los, und das Meer ist übrigens auch noch da, wenn wir zurückkommen!«

Joon zögert. Aber Ema hat ja recht: natürlich wird das Meer noch da sein, wenn sie aus der Stadt zurückkehren, in spätestens sechs Wochen. Aber dann wird es keine Sommersee mehr sein, sondern längst ein Spätsommermeer, in dem man schon den Herbst riechen kann und seine Stürme und sein Heulen. Wenn sie zurückkommen, beginnt bald die Treibschattenzeit.

»Joon! Echt jetzt! Los jetzt!«

Er schüttelt die Gedanken ab, wie Feinur die Gischt. Alles nur Schauergeschichten, Seemannsgarn, wie Oona und Will es sich ausgedacht haben, am Feuer des Kamins, wenn sich die Tage in ewige Nächte verwandelten. Natürlich glaubt Joon längst nicht mehr daran, weiß er mittlerweile alles über die Gezeiten, über Thermik und Nautik und den Wechsel der Jahreszeiten, bei dem es auf Solupp zwar etwas heftiger zugeht, als im Rest der Welt, der aber trotzdem, immer noch, rein rational und logisch erklärbar ist, und im Rahmen dessen, was möglich ist.

Komm, komm.

Joon versucht, die Stimme zu ignorieren, die ihn ruft, die sagt, dass er kommen soll, zurückzurück. Er hört sie schon, seit er denken kann, aber er weiß nicht, was sie meint. Was das für ein Ort ist, an den er zurückkehren soll. Denn: Joons Zuhause ist doch hier, auf Solupp, schon so lange. Und trotzdem hört sie nicht auf, ihn zu rufen. Er kann mit niemandem da­rüber sprechen. Nicht mit Jolka, nicht mit Will und schon gar nicht mit Ema. Schließlich sind sie sich doch einig, mittlerweile, dass sie beide genau hierher gehören, nach Solupp und nirgendwohin sonst. Aber vielleicht kann er Kurt ja davon erzählen? Ausgerechnet Kurt, der nur glaubt, was er sehen und anfassen und denken kann. Dem solche unerklärlichen Dinge Angst machen? Auch, wenn er das niemals zugeben würde? Vielleicht besser nicht …

»Jooooooon!«

Er beeilt sich, zu Ema zu kommen, die verständlicher­weise langsam die Geduld verliert: »Ich dachte echt, du springst da jetzt noch mal rein!

»Wäre ich auch fast, aber wir müssen ja los!«

Ema zieht die Augenbrauen hoch: »Müssen?«

Joon lacht: »Wollen! Wollen, wollen, wollen! Unbedingt!«

»Schon viel besser!«, sagt Ema zufrieden. »Dann über­rede Helios mal, dass er mit seinem Algengemampfe aufhört, schwing dich auf seinen Rücken und los gehts!«

Stimmt! Das wird schwierig genug, den Weg zu finden und im Dunkeln ja auch nicht besser. Joon schnalzt einmal leise mit der Zunge, Helios spitzt die Ohren, schnappt sich noch ein Büschel Julialgen und setzt sich dann in Bewegung. Allerdings direkt in Richtung Hafen. Joon muss sich beeilen, um ihn einzuholen. Mit dem Rucksack ist es gar nicht so einfach, auf den Ponyrücken zu kommen. Er braucht drei Versuche, dann geht es los, zur Möwe, die so ungeduldig auf den sanften Wellen tanzt, als ahne sie, dass hier eine ganz besondere Reise beginnt.

Auch Jolka, Will und Feinur warten schon am Hafen auf sie, wünschen eine gute Fahrt und viel Spaß und verkneifen es sich, die beiden vor irgendetwas zu warnen. Weil sie alles ja schon Hundertmillionen Mal besprochen haben. Und, mal ganz ehrlich gesagt: Wo soll man da auch anfangen und wo aufhören, wenn es um die Entdeckung der Welt geht?

»Das ist eure Reise!«, sagt Jolka zum Abschied. »Macht es gut, ihr beiden und kommt heil zurück!«

Und dann umarmt sie fest Ema und dann auch Joon, und Will klopft Joon mit seiner schwieligen Hand auf die Schultern und seufzt ziemlich tief: »Dann werden wir mal sehen, ob das gut geht, oder ob nicht doch was dran ist, an dieser Sache –«

»Welche Sache?«, fragt Joon, und ihm entgeht nicht der mahnende Blick, den Jolka Will zuwirft und wie der kurz zögert, bevor er spricht: »… dass du nun mal zum Meer gehörst, wie –«

»Will!«, mahnt Jolka.

»Na, wie alle … alle Freibeuter, Schmuggler und Walfänger eben!«, ruft Will. »Du weißt schon!«

Irgendwie hat Joon das Gefühl, dass der alte Pirat eigentlich etwas ganz anderes sagen wollte. Und trotzdem nickt er. Als hätte er irgendetwas mit Piraten und Schmugglern und Walfängern zu tun, als wüsste er, wessen Kind er ist.

»Komm jetzt, Joonie, Nachfahre der Meermenschen! Die Ponys werden unruhig!«, ruft Ema und jetzt fängt Feinur aufgeregt zu jaulen an, springt an Joon hoch. Sich von dem Hund zu verabschieden, das fällt Joon am allerschwersten.

»Nein, Feinur, du kannst leider nicht mit!«, sagt Jolka.

Joon hockt sich neben den Hund, umarmt ihn zum Abschied ein letztes Mal: »Wir sehen uns ganz bald wieder, versprochen!«

Und dann führen er und Ema Sumi und Helios an Bord, binden die Ponys dort fest. Am Anleger bellt Feinur, und als Joon den Motor anwirft und nach dem Ruder greift, winken Jolka und Will ihnen hinterher. So haben sie es vereinbart: dass die beiden so lange winken, bis sie Ema und Joon nicht mehr erkennen können, bis die beiden für sie verschwunden sind und Joon und Ema damit vollkommen auf sich selbst gestellt.

Die Überfahrt ist kein Ding, die kennt Joon mittlerweile schon gut. Schließlich fährt er regelmäßig hin und her, übernimmt die Rolle des Fährmanns: holt Essen und Feriengäste und Briefe: Von Mari und Bela und Paula und Tom und vor allem aber von Kurt:

Und weißt du, Joon, manchmal habe ich

echt Angst, dass das mit Solupp alles nur so

ein verdammter Traum ist. Dass es dich in

echt vielleicht gar nicht gibt. Du bist so krass

unvorstellbar, hier in der Stadt!

Und kurz darauf, kurz nachdem er diesen Brief gelesen hat, hat Joon entschieden, dass er Kurt das unbedingt beweisen will, dass es ihn natürlich überall geben kann, nicht nur auf Solupp. Dass er nicht irgend so ein seltsamer Märchenprinz ist, so eine Phantasiegestalt, und dass er sich schon gar nicht in Luft auflösen wird, sobald er die Insel verlässt. Und überhaupt: echt jetzt mal! Was denkt Kurt sich denn da? Aus­gerechnet der ernste Kurt, der in nichts so verliebt ist, wie in die Realität! Und für den es nichts Schöneres gibt, als seine unzähligen Sachbücher, die ihm die immer wieder bestätigen. Wobei: Rumhängen mit Joon, das findet Kurt erwiesenermaßen auch sehr schön! Jedenfalls: Joon hatte sich gleich hingesetzt und seine Antwort geschrieben, bei Jolka in der Küche. Und er hatte sich nur ein bisschen über die Buchstaben geärgert, die vor ihm auf dem Papier hin und her und durcheinander wirbelten, wie ein Haufen verlorener Luftgammlerküken auf den Wellen, sodass er ständig von vorne anfangen musste, damit der auch lesbar war und vielleicht sogar schön aussah, sein Brief mit der wichtigen Nachricht:

Echt jetzt, Kurt! Was denkst du dir denn aus!

Du wirst schon sehen, dass es mich gibt!

Und wie! Und zwar nicht nur auf Solupp.

Ich komme!

Zusammen mit Ema. Sobald der Sommer beginnt!

Wie findest du das?

Ganz krass wunderbar! fand Kurt das. Ich freue mich so dermaßen! Seine Buchstaben hopsten und tanzten über das Papier wie Möwenjunge bei ihrem ersten Flug durch den Himmel, vor lauter Begeisterung. Und jetzt ist es so weit, jetzt sind sie tatsächlich unterwegs. Und weil Ema sich mittlerweile mindestens genauso gut mit der Möwe auskennt wie er, weil auch sie ab und zu die Überfahrt übernimmt, kann Joon zwischendurch einfach kurz mal an Bug stehen und die Arme weit ausbreiten, und die Sonne auf der Haut spüren und den Fahrtwind, weil das nämlich fast wie Fliegen ist, so, wie er sich Fliegen vorstellt. Und die Stimme ruft ihn schon wieder Bleib, bleib, bleib bloß am Meer!

Und vielleicht sollte er darüber mal mit Paula sprechen, Kurts Mama, die Ärztin ist und sich ein bisschen auskennt, mit Dingen, die im Kopf passieren und im Körper, und die einen vom Weg abbringen oder einen im Sofa versinken lassen, so wie es mit Jolka passiert ist, im letzten Winter.

»Joon? Ich bräuchte dich hier mal zum Anlegen!«

Zur Sturmböe auch!, wieso driftet er nur ständig ab? Ausgerechnet heute, wo er ja wirklich reist, endlich zu Kurt, und das nicht in Gedanken tun muss? Joon schnappt sich das Tau, klettert damit auf die Reling –

»Warte, ich fahr dich noch ein Stück weiter ran!«, ruft Ema.

»Ich kann doch aber auch schwimmen!«

Komm, komm, komm zurück –

»Du bleibst hier oben! Wirklich, Joon, was ist denn los mit dir?«

Das weiß er ja auch nicht! Es fühlt sich ein bisschen an wie die Sehnsucht, die er sonst ständig nach Kurt hat. Nur tiefer, stechender, ziehend –

»So, jetzt müsste es gehen!«, ruft Ema.

Joon springt und landet auf der Kaimauer, befestigt das schwere Tau an einem der wuchtigen Poller. Gekonnt manövriert Ema die Möwe neben die seepockennarbige Mauer, schaltet den Motor aus und springt dann selbst an Land. Und wie immer, nach der Überfahrt, und obwohl sie beide ja längst echte Profis sind, und obwohl sie mittlerweile wissen, dass sie das schaffen, selbst bei Sturm, Gewitter und Packeis, fallen sie sich auch dieses Mal erleichtert in die Arme.

Was anders ist als sonst: heute geht ihre Reise hier erst richtig los.

Sie holen die Ponys von Bord, lassen sie auf der Wiese neben dem kleinen Fährhaus grasen und bereiten dann gemeinsam die Möwe auf ihre Liegezeit vor. Sie schließen die Läden vor den Bullaugen, polstern die Außenhaut gut mit den langen Fendern ab, obwohl so mitten im Sommer natürlich nicht mit Stürmen zu rechnen ist. Dann wuchten sie ihre Ruck­säcke von Bord, setzen sich auf die Poller und holen ihre Schuhe raus. Die braucht man in der Stadt. Auch im Sommer, hat Jolka sie ermahnt. Fühlt sich aber komisch an, findet Joon. So schrecklich eng und hart. Er schlüpft schnell wieder raus.

»Solange ich auf Helios sitze, muss das ja noch nicht sein«, entscheidet er und stopft die neuen Turnschuhe in seinen Rucksack zurück.

Ema lacht: »Okay, aber wehe, du rennst barfuß durch die Stadt! Ich will nicht, dass Mari und Kurt sich für uns schämen oder denken, wir hätten keine Ahnung von der Welt!«

Das will Joon ja auch nicht. Auf keinen Fall will er das. Unsicher sieht er zu seinem Rucksack: »Soll ich die vielleicht doch lieber gleich wieder anziehen?«

Ema winkt ab: »Lass doch! Bringt ja auch nichts, wenn du dich unwohl fühlst beim Reiten!«

Und damit ist das entschieden und Joon ist schon wieder sehr froh und sehr dankbar, dass Ema dabei ist.

»Wollen wir?«, fragt sie.

Joon steht auf: »Klar! Je schneller wir da sind, desto besser!«

»Hat da etwa jemand Sehnsucht?«, fragt Ema.

»Du etwa nicht?«

»Doch!«, gibt Ema zu. »Sogar sehr!«

Zweites Kapitel Die Stimme

Die ersten Meter sind ganz einfach. Im leichten Trab verlassen sie das Hafengelände, reiten die Straße hinunter, und erst denkt Joon, dass das Ziehen in seinem Bauch vom Hunger kommt. Vor Aufregung und Nervosität hat er heute Morgen nämlich keinen einzigen Bissen gegessen. Er angelt sich ein Zimtbrötchen aus der Satteltasche. Aber komisch, auch das kriegt er nicht hinunter. Joon schaudert, als vom Meer her ein kalter Luftzug um ihn herumwirbelt, bekommt eine Gänsehaut am ganzen Körper, als er sieht, wie der Wind von ihm ablässt und das hellgrüne Laub der Allee zum Zittern bringt.

Bleib. Bleib, wispert die Stimme, aber mit jedem Ponyschritt, den sie sich weiter vom Hafen entfernen, wird sie schwächer, bis sie schließlich nur noch ein Raunen ist, das auch vom Sommerwind stammen könnte.

»Was ist mit dir?«, fragt Ema besorgt. »Du bist ganz blass!«

»Nee, geht schon«, behauptet Joon. Das wird bestimmt gleich besser, versichert er sich selbst.

Wird es aber leider nicht, ganz im Gegenteil: Je weiter sie sich vom Hafen entfernen, desto stärker wird das Ziehen in seinem Bauch, reißt an seinen Muskeln, gräbt sich tief in Joons Knochen, bis in sein Herz. Was ist das nur? Was ist bloß mit ihm los? So hat er sich noch nie zuvor gefühlt, solche Schmerzen hatte er noch nie im Leben! Wenn nur Jolka da wäre, die könnte ihm sicherlich helfen! Die würde ihn wieder beruhigen! Die würde ihm versichern, dass alles gut ist, dass ihm nichts passiert, nur weil er auf einem Pony eine ewig lange Straße entlangreitet in Richtung einer riesengroßen Stadt …

»Joon? Joon? Echt jetzt, ist wirklich alles okay?« Vor ihm hat Ema Sumi zum Stehen gebracht.

»Ich hab ein bisschen Bauchschmerzen«, murmelt Joon. Er will nicht, dass Ema sich Sorgen macht. Und er will auf keinen Fall wieder zurück. Kurt wartet doch! Und Mari und Bela, die gesamte Familie Fröhlich geht davon aus, dass sie kommen!

»Sollen wir lieber eine Pause machen?«

Joon sieht zum Himmel hinauf. Die Sonne steht hoch, es ist schon fast Mittag, wenn sie noch vor Einbruch der Nacht ankommen wollen, haben sie keine Zeit für eine Pause. Er schüttelt den Kopf. Ema studiert die Karte vom Festland, die Jolka ihnen mitgegeben hat: »Wenn wir in dem Tempo weiterreiten, müsste demnächst eine kleine Stadt kommen. Dann haben wir die Hälfte des Weges geschafft. Da ruhen wir uns dann aber auf jeden Fall aus, ja?«

»Okay, super, so machen wir das!«

Aber insgeheim weiß Joon nicht, wie er das schaffen soll, im Trab, im Galopp, im Schritt, dieses demnächst. Er ist sich nicht mal sicher, ob er noch ein, zwei Minuten länger auf Helios’ Rücken überstehen kann. Sein Herz rast, in seinen Ohren, in seinem Kopf, in seinem ganzen Körper tobt das Blut, wild wie das Meer in einer Sturmnacht, ihm ist so schwindlig.

Als sie nach mehreren Ewigkeiten endlich den Ort erreichen, hängt Joon auf Helios’ Rücken, kraftlos wie eine angeschwemmte Qualle am heißen Sommerstrand. Seine Lippen sind trocken. Das gleißende Nachmittagslicht brennt in seinen Augen. Verschwommen kann er Gebäude sehen, sehr viele, sehr hohe Häuser, er hört Autos und erschrickt, obwohl er das natürlich weiß, aus Filmen und Büchern und Erzählungen, dass so was existiert: Autos und Motorräder und Elektroroller und Orte, an denen es sehr, sehr viele Menschen auf einmal gibt.

»Ich bring dich da rüber, zu dem Baum, da ist Schatten!«

Stimmt, unter dem Baum ist es schattig, aber kaum haben sie sich neben dem dicken Stamm niedergelassen, sind da auch Leute, die ihn mustern, die ihn anstarren, als hätten sie noch nie einen halb bewusstlosen Solupper Jungen gesehen. Schnell bildet sich um sie herum eine Menschentraube.

»Braucht ihr Hilfe?«

»Bestimmt hat der Junge ’nen Sonnenstich!«

»Komische Kinder!«

Sie kommen näher auf Ema und ihn zu. Die vielen Menschen machen Joon Angst. Was wollen sie? Warum gucken sie so? Dürfen sie hier vielleicht gar nicht sein?

»Ema«, flüstert Joon, »es tut mir so leid, aber ich glaube, ich kann das nicht! Ich ruh mich kurz aus und dann reite ich zurück, ja? Du schaffst das ganz sicher auch alleine, bis in die Stadt. Kannst du Kurt grüßen und die anderen? Kannst du ihm sagen, dass es mir leid tut? Kannst du vielleicht eine Ausrede erfinden für mich? Dass ich irgendwas für Will machen muss, ganz dringend, oder so?«

»Nee, Joonie, das kann ich absolut sicher alles ganz überhaupt nicht!«, sagt Ema entschieden. »Und das will ich auch gar nicht!« Sie hält Joon die Wasserflasche direkt an die Lippen. Geduldig wartet sie, bis er getrunken hat.

Das hilft, das hilft ein bisschen gegen den Schwindel. Aber sein Körper fühlt sich immer noch an, als würde er zerreißen und wie Nadeln und Messer, sein Herz liegt schwer in seiner Brust, ihm ist eiskalt und brennend heiß zugleich, er weiß nicht, wie lange er sich noch aufrecht halten kann, alles schwankt.

»Der Junge hier braucht dringend einen Arzt!«

Joon sieht zu der Person hoch, die vor ihnen steht. Sie sieht nett aus. Und trotzdem –

»Bitte, bring uns hier weg!«, flüstert er und hofft, dass nur Ema ihn hören kann. Sie nickt ihm leicht zu.

»Danke«, sagt Ema zu der Person, »aber das geht schon. Wir sind gleich wieder zu Hause, und da ruht er sich dann aus und –«

»Ich weiß aber nicht«, sagt der Mensch, »ob ich euch in dem Zustand gehen lassen kann!«

»Nein!«, ruft eine andere Person bestimmt. »Das können wir ganz sicher nicht! Hier stimmt doch was nicht! Sehen Sie doch: der Junge hier hat ja nicht mal Schuhe! Und so ein olles T-Shirt und die schäbige Hose! Ich hab schon den Krankenwagen gerufen, aber wir holen doch gleich besser auch noch die Polizei dazu! Das Kind sieht ja aus wie ein Geist! Wo bitte sind denn die Eltern?«

»Ich –«, beginnt Joon.

»Shhh!«, weist der Mensch ihn zurecht, und beginnt aufgeregt in sein Telefon zu sprechen. Joon würde ihm gerne erklären, warum das so ist und wie genau. Dass er nun mal eben keine Eltern mehr hat, aber bisher trotzdem immer ganz gut klarkam. Dass Jolka da war und Ema eh und auch Will, wenn er doch mal jemanden brauchte. Und Oona, die war auch immer irgendwie da, sorgte aus dem Hintergrund dafür, dass er sich sicher fühlte auf Solupp. Und Feinur und die Ponys und das Meer und eben Kurt – Und dass das mit dem T-Shirt und den Schuhen wirklich gar nichts damit zu tun hat, ob sie klarkommen, ganz grundsätzlich, Ema und er, oder nicht. Dass das nun mal sein Lieblings-T-Shirt ist, dass er das so gut wie jeden Tag trägt, so viele T-Shirts ja auch gar nicht besitzt, geschweige denn braucht, und dass es deshalb nun mal ein paar Löcher hat. Macht doch nichts, im Sommer. Und dass er ja Schuhe besitzt, ganz neue, richtig, richtig schöne, dass die im Rucksack sind, dass er die auch anziehen will, selbstverständlich, wenn sie jemals die Stadt erreichen, damit Kurt sich nicht schämt, und weil er ja weiß, dass man das so macht, in der Stadt, auch im Sommer. Und er will sagen, dass ein Krankenhaus ihm sicherlich nichts hilft, dass er vor allem nach Hause nach Solupp muss, und ganz unbedingt, ganz dringend, ganz schnell zurück ans Meer. Aber seine Stimme ist weg, er bringt kein Wort mehr raus.

Ema aber, zum Glück ist Ema da: »Super, danke! Dann holen wir nur noch schnell unsere Sachen!« Sie beugt sich zu Joon, flüstert ihm ins Ohr: »Schaffst du es bis zu Helios? Wenn ich direkt neben dir bin?«

Er nickt. Anders geht es ja nicht. Als sie sich im Schneckentempo auf die Ponys zubewegen, ertönt plötzlich ein schrilles, markerschütterndes Kreischen, schlimmer als jedes Nebelhorn. Erschrocken presst Joon seine Hände gegen die Ohren, kauert sich auf den Boden.

»Da kommt der Krankenwagen!«, ruft jemand.

Ema zieht ihn wieder auf die Füße: »Schneller, Joon!«, ruft sie durch den Lärm.

Aber es geht nicht schneller, es geht jetzt nicht mal mehr so, wie es gerade eben noch ging. Er taumelt. Und zum Glück kennt Helios ihn so gut, hat das Pony einen sechsten Sinn, was Joon betrifft, ist es neben ihm, als er strauchelt, knickt es in die Knie, sodass er sich mit letzter Kraft auf seinen Rücken ziehen kann.

»Was soll das denn jetzt?«, hört er den Menschen hinter sich fluchen.

»Vielen Dank für Ihre Hilfe!«, ruft Ema. »Aber das wird schon! Wir kriegen das schon hin! Keine Sorge!«

Und dann galoppieren Helios und Sumi los, springen ganz knapp am Rettungswagen vorbei, der mit quietschenden Reifen direkt vor ihnen hält. Es ist alles so laut! Joon würde sich gerne wieder die Ohren zuhalten, aber er braucht seine Hände, um sich an Helios’ Mähne festzuklammern. Bloß nicht runterfallen, auf keinen Fall das Bewusstsein verlieren!

Und während er in einem seltsamen Dämmerzustand auf Helios’ Rücken, gefolgt von Sumi und Ema schnellschnellschnell runter von der Straße, querfeldein, raus aus der Stadt, weg von dem Lärm und den vielen, vielen Menschen rast, denkt Joon, dass Kurt vielleicht recht hatte, in seinem Brief: Dass Joon, je weiter er sich von der Insel entfernt, immer weniger wird. Bis er, jenseits und weiter als eine Meeresbrise, als einen Albatrossflügelschlag vom Meer entfernt, vielleicht einfach und tatsächlich zu existieren aufhört.

»Durchhalten, Joon, wir haben sie abgehängt und gleich haben wir es geschafft, dann sind wir beim Hafen!«, ruft Ema.

Aber so ist es leider nicht, es ist, als würde sich jedes Stück Straße, das sie hinter sich gebracht haben, vor ihnen wieder neu ausrollen. Ewig und ewig zieht sich die Allee. Doch dann spürt er, wie der Wind stärker wird, riecht das Salz in der Luft, und neben dem dumpfen Pochen seines Herzens kann Joon endlich wieder das Rauschen des Meeres hören.

Komm, komm.

Hört Helios das etwa auch? Das Pony galoppiert durch die Brandung, watet dann bis zum Bauch ins Meer, so tief, bis Joon das kühle Wasser an seinen Füßen spüren kann, und wie das Ziehen und Beißen und Stechen ein kleines bisschen weniger wird. Oh, tut das gut!

»Joon! Wirklich! Keine Badeaktionen jetzt! Wir sollten schnell los! Nicht, dass die uns ihren Krankenwagen hinterherschicken oder sogar die Polizei!« Ema pfeift, und Helios watet langsam zurück an den Strand, so vorsichtig, als wüsste er, dass Joon kurz davor ist, das Gleichgewicht zu verlieren, vom Ponyrücken runterzurutschen, in die schäumende Gischt.

Ema führt die Ponys direkt auf die Möwe, hilft Joon von Helios’ Rücken, ist dicht hinter ihm, als er die drei Stufen hinab in den Bauch des Schiffes stolpert, durchs Halbdunkel der Kombüse, bis nach ganz hinten in die winzige Koje.

»Es tut mir so leid, Ema!«, flüstert er, als er endlich auf der weichen Matratze liegt, die Decke hochgezogen bis zur Nasenspitze.

»Nicht schlimm, wirklich nicht schlimm, Joon. Wir versuchen es einfach noch mal.«

»Aber Kurt –«

»Du schreibst ihm, schreib, dass es gerade nicht geht, aber dass wir kommen, sobald es möglich ist, ja? Du musst nicht lügen, aber du muss ja auch nicht unbedingt die ganze Wahrheit erzählen. Ich meine, wir wissen ja selbst nicht mal so richtig, was das eben war. Und guck mal, Joon, wir haben noch so viel Zeit: der Sommer hat doch gerade erst begonnen!«

Ema spricht noch weiter, Joon hört ihre Stimme, aber er versteht sie nicht mehr. Seine Lider werden schwer, seine Augen fallen zu, er hört das Schnauben der Ponys an Deck, er hört das Tuckern des Motors, und er hört, wie die Wellen sanft um den Bootsrumpf streichen. Das nächste Mal! Das nächste Mal klappt es bestimmt. Langsam, ganz langsam, treibt Joon davon, treibt hinüber in einen tiefen Schlaf.

Drittes Kapitel Um ihn zu retten

Joon schläft drei Tage durch, dann wacht er auf, streckt und reckt und schüttelt sich und fühlt sich wieder bereit. Jolka haben sie erzählt, dass er sich auf der Reise den Magen verdorben hat. Sie gibt ihnen Julialgentee mit und Solbeerensud, weil das gegen Übelkeit helfen kann.

»Also, das wäre ja was! Junge, Junge, wenn du wirklich –«

»Will!«, mahnt Jolka. »Nicht das!«

»Wenn du dir jetzt wirklich die Seekrankheit eingefangen hättest!«, ruft Will. Und schon wieder hat Joon das Gefühl, dass der ehemalige Freibeuter eigentlich etwas ganz anderes sagen wollte.

»Nein, Will!«, schimpft Jolka. »Schluss jetzt! Mit Joon ist alles in Ordnung, und selbst wenn es ein Problem geben sollte: das kriegen wir schon hin!«

»Neenee«, grummelt Will, »ich habs ja immer gesagt, ich wusste doch, dass das früher oder später schiefgeht!«

Joon sieht genau und versteht nicht so ganz, warum Jolka Will nun so böse anfunkelt. Schließlich hat der ehemalige Pirat recht und kennt sich aus: Eine Seekrankheit, die gehört sich bestimmt nicht für einen echten Solupper! Das waren früher schließlich alles mal Schmuggler und Fischerinnen und Seeräuber und Leuchtturmwärterinnen und Walfänger und so.

»Hör nicht auf ihn!«, sagt Jolka. »Der Kerl ist ungefähr hundertzwanzig Jahre alt und wurde aller Wahrscheinlichkeit nach von schwer abergläubischen Tiefseeanemonen großgezogen, die ihm Nacht für Nacht ihre ängstlichen Geschichten zugeraunt haben!«

Joon lacht. Wie das schon klingt: großgezogen! Als wenn jemand an Will gezerrt hätte, so lange, bis er eben war, wie er jetzt ist. Aber der Gedanke bleibt doch: Das gehört sich nicht. Und Joon fragt sich, wer das eigentlich bestimmt und entscheidet, was sich gehört und was nicht. Und wo eigentlich jeweils was gilt: wo man im Sommer Schuhe anziehen muss, und wo man unter Seekrankheit leiden darf.

Wieder steigen Ema und er auf die Möwe. Wieder ist die Überfahrt kein Problem, auch wenn Joons Herz bis in den Hals hinein trommelt. Doch dieses Mal gelangen sie nicht mal bis zu der Kleinstadt, klammert Joon sich schon auf halber Strecke zum Ort zitternd an Helios fest, lässt Ema Sumi neben ihnen hertraben, setzt sie sich schließlich vorsichtshalber lieber hinter Joon, damit er nicht vom Ponyrücken rutscht.

»Keine Angst, wir schaffen das!«, versichert sie ihm immer und immer wieder, den ganzen Rückweg zum Hafen, bis sie ihn in der Koje verstaut hat und sich erneut hinter das Ruder der Möwe stellt, den Kopf voller schwerer, wirrer Gedanken und im Bauch ein mulmiges Gefühl.

Das hast du davon, raunt die Stimme in Joons Träume. Das hast du davon, wenn du gehst!

Dieses Mal dauert es eine Woche, bis Joon sich erholt hat. Noch einmal erzählt Ema Jolka eine Geschichte. Davon, dass da wohl was dran ist, an dieser Sache mit der Seekrankheit, von der Will gesprochen hat. Und Jolka wiegt nachdenklich den Kopf und fragt Ema, ob sie das wirklich noch einmal versuchen wollen und still sich selbst, ob sie das erlauben darf.

Und Ema nickt heftig: Jajaja! Und Jolka weiß, dass sie den beiden diese Reise nicht verbieten kann, so gerne sie möchte, sosehr es sie beruhigen würde, die Kinder sicher auf Solupp zu wissen.

Und weil das alles ist, was sie in diesem Fall tun kann, was in ihren Händen liegt, geht sie jetzt los, mit dem großen Korb, sammelt Kräuter und Beeren und eine goldschimmernde Alge, die man einzig im kalten Wasser der Nordküste findet, und dort nur am scharfen Rand der Klammklippen, an die sie im Winter von den höchsten Eiswellen gespült wird und wo sie den Frühling und Sommer über das Licht einfängt. Daraus und aus Zimt, Anis und Muskat braut Jolka einen Tee, den Joon während der Überfahrt ganz langsam trinken, und der seinen Körper egal wo er ist, fest auf Solupp verankern soll. Und sie ahnt, dass dieser Tee nichts ausrichten kann, gegen die mächtigen Elemente und gegen die Mythen und Legenden, die in ihnen leben.

Und Will verdreht die Augen und grummelt Geschichten in seinen Bart, die davon handeln, was es früher gegeben hat und was angeblich nicht, was er gelassen und was er getan hat, was nicht gefühlt und was nicht gefürchtet und wie das früher ja irgendwie sowieso alles besser war.