Sommerfrost - Manuela Martini - E-Book

Sommerfrost E-Book

Manuela Martini

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Beschreibung

Es ist Sommer, die Hitze brütet über Marbella und Lyra genießt die Ferien. Doch dann geschieht etwas Schreckliches. Ein junges Mädchen wird tot aufgefunden. Plötzlich scheinen die verwinkelten Altstadtgässchen zur tödlichen Falle zu werden. Und Lyra hat das Gefühl, dass ihre Mutter ihr etwas verschweigt. Als Lyra auf ein düsteres Geheimnis stößt, weiß sie nicht, wem sie noch trauen kann.

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Kurzbeschreibung:

Es ist Sommer, die Hitze brütet über Marbella und Lyra genießt die Ferien. Doch dann geschieht etwas Schreckliches. Ein junges Mädchen wird tot aufgefunden. Plötzlich scheinen die verwinkelten Altstadtgässchen zur tödlichen Falle zu werden. Und Lyra hat das Gefühl, dass ihre Mutter ihr etwas verschweigt. Als Lyra auf ein düsteres Geheimnis stößt, weiß sie nicht, wem sie noch trauen kann.

Manuela Martini

Sommerfrost

Jugendthriller

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2018 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2009 by Manuela Martini

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-153-9

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

EINS

Da war es wieder. Das Brummen. Mehr ein Dröhnen. Wie von einem fernen Motor. Eins, zwei, drei, vier – aus. Eins, zwei, zählte sie, Pause, dann wieder das Dröhnen. Eins, zwei – aus. Sie wartete, zählte, kam diesmal bis vier, dann fing es wieder an. Jedes Mal, wenn sie sich in den Schlaf fallen lassen wollte, schreckte sie hoch, bis sie Angst hatte einzuschlafen. Angst davor, endlich in die Schwerelosigkeit des Schlafes zu sinken. Jedes Mal riss das Dröhnen sie wieder wie an einer Halteleine zurück, hinderte sie, endlich nur noch zu schweben. Sie wartete, lauschte, sie zog die Bettdecke weit über die Ohren, verkroch sich darunter, doch auch das half nichts. Woher kam es nur? Was war es?

Eine Wasserpumpe wahrscheinlich, meinte ihre Mutter, die das Geräusch aber noch nicht einmal hörte. Eigentlich hörte es niemand. Nur sie. Seit vier Tagen. Ich darf nicht hinhören, sagte sie sich. Versuchte es. Aber da war es schon wieder, das Dröhnen. Nein, es ging nicht. Watte, dachte sie, ich muss mir Watte in die Ohren stopfen.

Sie schlug die Decke zurück, tapste barfüßig über die kalten Fliesen durch den Flur, an der offenen Schlafzimmertür ihrer Mutter vorbei, die tief und gleichmäßig atmete. Warum kann sie schlafen?, dachte Lyra und merkte, wie sie wütend wurde. Ihre Mutter ließ sie abends allein, wenn sie eingeladen war, und amüsierte sich auf Partys, von denen sie jedoch behauptete, sie seien überhaupt nicht oder zumindest nicht annährend so amüsant, wie Lyra sich das vorstellte. Ihre Mutter ging spät ins Bett, fiel sofort in bleiernen Tiefschlaf und stand am Morgen schrecklich gut gelaunt in Lyras Zimmer und posaunte: »Guten Morgen! Ein neuer, wunderbarer Tag, Lyra!«

Lyra hingegen konnte nicht einschlafen, träumte oft verrücktes Zeug und am Morgen fühlte sie sich wie gerädert. Und nun auch noch dieses Dröhnen. Das Leben war so ungerecht!

Im Bad vermied sie es, Licht anzuknipsen, da sie sonst nur noch wacher würde, zupfte im Dunkeln aus dem Behälter neben dem Spiegel ein paar Wattefetzen von den Pads zum Abschminken und stopfte sie sich in die Ohren. Wie Odysseus und seine Männer, dachte sie, die den Gesang der Sirenen nicht hören durften, weil sie sonst verloren gewesen wären. Letzte Woche hatten sie in Geschichte einen Test geschrieben und Lyra hatte sämtliche Daten und die Regierungszeiten irgendwelcher dämlichen Könige völlig durcheinandergeworfen. Wozu brauchte man das überhaupt? Wozu musste sie solche Sachen lernen, die doch jeder Erwachsene längst vergessen hatte? Und was nutzte der Geschichtsunterricht, wenn man keine Erkenntnisse für das eigene Leben daraus ziehen konnte? Das brachte einem die Schule natürlich nicht bei … Oder hatten die Lehrer etwa Rezepte parat, wie sie mit einer Mutter zusammenleben sollte, die sich schrecklich gesund ernährte, jeden Tag ins Fitness-Studio rannte und nicht kapieren wollte, dass ihre Tochter das ziemlich bescheuert fand? Und wussten die Lehrer etwa, ob Lyra es gut oder schlecht finden sollte, dass ihre Mutter einen Freund hatte, bei dem sie mehrmals die Woche übernachtete und Lyra allein ließ? Nein, für solche Themen gab es kein Schulfach.

So schrecklich diese schlaflosen Stunden waren, sie eröffneten Lyra einen glasklaren Blick auf die Dinge ihres Lebens.

Doch diese Tatsache half ihr wenig, wenn sie in drei Stunden aufstehen und einen ganzen, langen Schultag durchhalten musste.

Lyra drehte den Wasserhahn auf und trank einen Schluck, als sie innehielt und den Kopf schüttelte. Sie hatte doch tatsächlich vergessen, dass ja seit heute Ferien waren. Wieso nur war sie so durcheinander? Das verdammte Dröhnen musste daran schuld sein.

Sie ging wieder zurück in ihr Zimmer, schlüpfte ins Bett, zog die Decke über die Ohren und lauschte. Nur dumpfe Stille. Kein Dröhnen. Lag es an der Watte oder hatte der Motor – oder was immer diese Geräusche erzeugte – seinen Geist aufgegeben? Nein, da war nichts mehr. Endlich. Endlich konnte sie in ihr weiches Kissen sinken und sich in die süße Schwerelosigkeit des Schlafes fallen lassen.

»Lyra! Lyra, sag mal, bist du taub?«

Sie öffnete ihre Augen. Es war schon hell und das Gesicht ihrer Mutter schwebte über ihr. Warum sprach sie so leise? Nach ein paar Sekunden erinnerte sich Lyra an die Watte in ihren Ohren und nahm sie heraus.

»Hast du Ohrenschmerzen?« Sofort nahm die Stimme ihrer Mutter einen besorgten Tonfall an. Das konnte Lyra überhaupt nicht ausstehen.

»Nein.«

»Ich sag dir immer, dass du deine Ohren nach dem Schwimmen abtrocknen sollst.«

»Ich hab keine Ohrenschmerzen!« Warum konnte ihre Mutter sich niemals mit ihren Erklärungen zufriedengeben? Hörte sie ihr überhaupt zu?

»Und außerdem hab ich Ferien!«, protestierte Lyra.

Ihre Mutter seufzte, als habe sie alle Schuld der Welt auf ihren Schultern zu tragen. Die Mitleidstour ist also wieder angesagt, dachte Lyra und blinzelte in die Sonne, die nun, als ihre Mutter die Vorhänge zurückzog, grell ins Zimmer fiel. Die Reise ins behaglich dunkle Traumland des Schlafs war endgültig vorüber.

»Warum weckst du mich? Ich habe Ferien!«

Ihre Mutter sah sie mit einem ihrer typischen, schrecklich ernsten Blicke an. »Du kennst doch Pia Hellmann.« Die Stimme ihrer Mutter klang plötzlich komisch.

Lyra zuckte die Schultern. »Ja, schon.«

Pia war in Lyras Parallelklasse, sie hatten nicht viel miteinander zu tun, trafen sich nur hin und wieder mal zufällig am Strand. Ihre Mutter setzte sich auf die Bettkante.

»Stell dir vor, Pia ist gestern nach der Schule nicht nach Hause gekommen. Pias Eltern haben deswegen gestern Abend bei den Köhlers abgesagt.«

Lyra schockierte weniger die Nachricht als die Gesichtsfarbe ihrer Mutter. Kreidebleich war sie geworden, mit einem Stich ins Gelbe, das von ihrer Sonnenbräune kam.

»Vielleicht hat sie einen Freund.« Lyra hasste es, morgens schon mit Problemen belästigt zu werden.

Pia würde schon wieder aufkreuzen. Und was ging sie eigentlich Pia an?

»Aber dann hätte sie doch ihren Eltern Bescheid gegeben!«, sagte ihre Mutter.

Lyra zuckte wieder die Schultern.

»Sei doch nicht so gleichgültig!«, brauste ihre Mutter auf.

Lyra unterdrückte gerade noch ein weiteres Schulterzucken und gähnte nur. »Heute ist mein erster Ferientag! Das hättest du mir auch später sagen können!«

Ihre Mutter überhörte die Bemerkung. »Versprich mir, Herzchen, dass du nie wegbleiben würdest, ohne mich zu verständigen!« Sie hatte Lyras Hände in ihre genommen. Wie theatralisch ihre Mutter sein konnte.

Lyra zog ihre Hand weg, murmelte: »Ja, klar.«

Ihre Mutter sah sie weiter besorgt an und schüttelte den Kopf.

»Ich meine es wirklich ernst, Lyra!«

»Ja, klar.« Lyra schlug schwungvoll die Decke zurück. Jetzt konnte sie sowieso nicht mehr schlafen. Um elf wollte sie mit Bea, Patrick und Oliver am Strand sein. »Ich muss ins Bad.«

»Lyra! Du musst mir immer die Wahrheit sagen! Das musst du mir versprechen! Hörst du?«, rief ihre Mutter ihr nach.

Sie führt sich wirklich albern auf!, dachte Lyra. »Jaaaaa! Versprochen!«, rief sie zurück und schloss geräuschvoll die Badtür. Pia würde schon wieder aufkreuzen. Davon abgesehen, kannte sie sie ja kaum und Lyra hatte genug eigene Probleme. Der Stress in der Schule, die Tatsache, dass ihre beste Freundin Bea alle Jungs um den Finger wickeln konnte, während sie sich immer nur wie eine Zuschauerin vorkam. Und Oliver, der offenbar Bea interessanter fand als sie. Was interessierte sie schon Pia Hellmann! Bestimmt würde ihr Pia heute am Strand über den Weg laufen. Dass ihre Mutter so leicht in Panik zu versetzen war!

»Und denk dran, dass heute Pablo kommt!«, hörte sie ihre Mutter noch rufen, bevor die Tür ins Schloss fiel.

Pablo, ihr Englischlehrer – den hatte sie ganz vergessen! Wieso konnte er nicht auch einfach Ferien machen? Er hatte an ihrer Schule, der Deutschen Schule in Marbella, früher Spanisch und Englisch unterrichtet. Seitdem er pensioniert war, gab er Nachhilfeunterricht. Er wusste genau, wie der Lehrplan aussah und was man lernen musste. Das war das Positive. Das Negative war, dass Pablo ziemlich streng und äußerst ungeduldig war und für vergessene Hausaufgaben keinerlei Verständnis aufbrachte. Doch jetzt wollte Lyra erst mal nicht an den Nachmittag denken.

Sie duschte, zog ihren Bikini an, darüber ein enges Top und ihren kurzen Rock. Die Haare brauchte sie bei der Hitze nicht zu fönen. Sie konnte sich gar nicht mehr vorstellen, in Deutschland zu leben, wo es oft miese Sommer und nasskalte Winter gab. Und einen Strand gab es dort schon mal gar nicht. Ein Glück, dass ihre Mutter sich vor zehn Jahren entschieden hatte, nach Südspanien an die Costa del Sol zu ziehen.

Lyras Blick fiel auf die Uhr. Halb elf schon! Sie eilte in ihr Zimmer, um in die Strandtasche noch Handy und iPod zu werfen, als eine vertraute Melodie an ihre Ohren drang. Eine Flöte – vier aufsteigende Töne, dann ein Triller am Ende. Es war der Scherenschleifer. Jede Woche zog er durch das Gassengewirr der Altstadt. Lyra ging zum Fenster und blickte vom ersten Stock hinunter auf die Straße. Hier wohnten sie, seitdem sie hier waren, mitten in der spanischen Altstadt von Marbella, in einer engen Gasse, in einem restaurierten Stadthaus mit Dachterrasse.

Er sieht aus wie ein Hippie, sagte Lyras Mutter immer abfällig, wenn sie den Scherenschleifer sah. Hippies waren für sie alle, die Rastalocken, Sandalen und ausgewaschene, lässige Klamotten trugen. Manchmal dachte Lyra, dass ihre Mutter es eigentlich bedauerte, zur echten Hippie-Zeit in den Siebzigern zu jung gewesen zu sein – und jetzt mit vierzig zu alt dafür war.

Der Scherenschleifer stellte gerade sein Moped mit der Schleifmaschine auf dem Gepäckträger unter Lyras Fenster ab und blies wieder auf der Flöte. Die Tür des Nachbarhauses öffnete sich und die dicke Marta kam heraus, bewaffnet mit zwei langen, blitzenden Messern, die sie ihm entgegenstreckte. Er setzte den Motor des Mopeds in Gang und schärfte an der sich auf dem Gepäckträger drehenden Schleifscheibe die Klingen.

Zweimal schon wollte Lyra ihm die Küchenmesser bringen, doch jedes Mal hatte es ihre Mutter verboten. »Unsere Messer sind scharf genug, Lyra.«

»Was hast du nur gegen ihn?«, hatte Lyra gefragt.

»Ach, nichts. Er erinnert mich nur irgendwie an den Rattenfänger von Hameln.«

Lyra musste an diese schaurige Geschichte denken, als sie zu dem Scherenschleifer hinabschaute. An all die Kinder, die dem Flötenmann damals aus der Stadt hinaus gefolgt waren und niemals wieder zurückkehrten … In dem Moment sah der Scherenschleifer zu ihr hinauf. Die Sonne hatte seine Haut dunkelbraun gebrannt und seine Augen waren hell und blitzend. Sie spürte einen kalten Schauer über ihren Körper laufen. Schnell wandte sie sich vom Fenster ab, holte ihre Tasche und beeilte sich, zum Strand zu kommen.

ZWEI

Lyra entdeckte sie schon von Weitem. Bea, Oliver und Patrick lagerten hinter den Palmen, auf großen Handtüchern, zwischen einem blassen älteren Ehepaar, wahrscheinlich Touristen, und einer Gruppe spanischer Jugendlicher. Weiter weg waren die Sonnenschirme und Liegen, die man mieten konnte. Das Meer glitzerte hellblau und der Sand leuchtete gelb. Lyra musste unwillkürlich grinsen. Zwei Monate nur Sonne, Wasser und Strand! Sie war froh, dass ihre Mutter im Sommer nicht verreisen wollte, da sie in ihrem Büro Hochsaison hatte. Als Immobilienmaklerin war ihre Mutter vollauf beschäftigt. Viele Touristen und Ausländer kamen jetzt und wollten für ein paar Wochen oder Monate eine Wohnung oder ein Haus mieten.

Lyra hatte sich mit ihren Freunden an der Stelle hinter der Dusche verabredet, die einem Elefanten in Originalgröße nachempfunden war.

»Lyra!« Bea hatte sie entdeckt und winkte.

Lyra winkte zurück. Bea war ihre Freundin, ja, aber trotzdem ärgerte es Lyra, dass Bea schon wieder neben Oliver lag. Und neben Oliver lag Patrick, was also bedeutete, dass Lyra nicht neben Oliver liegen würde. Sie konnte einen Seufzer nicht unterdrücken.

Oliver hatte seine coole Brad-Pitt-Sonnenbrille auf die langen blonden Haare geschoben und aalte sich in der Sonne. Patrick war in ein Buch vertieft. Er war seit Jahren ein guter Freund von ihr und letztes Schuljahr hatte Lyra oft mit ihm zusammen gelernt. Vielleicht könnte sie ja Patrick auf die andere Seite rutschen lassen, dann könnte sie doch neben Oliver liegen.

Lyra behielt ihre Flip-Flops an, als sie über den schon heißen Sand ging. Sie war sicher noch vier Schritte von ihren Freunden entfernt, als Bea ihr langes blondes Haar schüttelte und rief:

»Lyra, weißt du schon, dass …«

»Ja, ich weiß«, schnitt ihr Lyra das Wort ab. Bea war eine echte Klatschtante. Es gab kaum etwas Schlimmeres für Bea, als wenn jemand anders zuerst eine Neuigkeit wusste.

»Ist das nicht furchtbar?« Bea setzte sich auf. Sie trug einen Bikini, den Lyra noch nicht kannte. »Pia ist verschwunden!«

»Glaubt ihr, es könnte ihr etwas zugestoßen sein?«, fragte Lyra Oliver und Patrick, die bäuchlings liegen blieben.

»Wenn sie einen Unfall gehabt hätte, dann hätte man es ja gleich erfahren.« Patrick stützte sich auf den Unterarm und blinzelte in die Sonne. Er war schon ziemlich braun. Seine dunklen Locken waren nass. Sicher war er gerade im Wasser gewesen.

»Patrick hat recht!« Bea nickte und cremte ihr Gesicht sorgfältig mit Sonnenmilch ein. »Vielleicht ist sie ertrunken?«

Lyra sah auf das blaue Meer hinaus, das heute so ruhig und harmlos wirkte. Sie dachte an die stürmischen Tage, wenn die Wellen sich tosend vor dem Strand brachen, weiß-graue Gischt auf den Wellenkämmen schäumte und die Wucht der Wogen große Teile des Strandes wegriss. Selbst wenn man sich an solchen Tagen nur bis zu den Knien ins Wasser wagte, zog die Strömung einen sofort hinaus.

»Aber wir hatten keinen Sturm, Leute!«, meinte Oliver und rückte die Sonnenbrille auf seinem Haar zurecht.

»Und wenn sie mit jemandem mitgegangen ist? Vielleicht ist sie in ein Auto eingestiegen«, überlegte Lyra.

Bea zuckte die Schultern und drehte die Sonnencremeflasche zu. »Also, da wäre sie ja echt blöd!«

»He, Bea, du bist doch auch schon bei jemandem ins Auto gestiegen«, sagte Patrick.

»Ich?« Bea schüttelte ihr Haar. »Nur zu Leuten, die ich kenne.«

»Siehst du. Wer sagt dir denn, dass Pia denjenigen oder diejenige nicht auch gekannt hat?«, fragte Patrick.

»Stimmt«, gab Lyra ihm recht. »Das hört man doch immer wieder, dass bei Verbrechen der Mörder aus dem Familien- oder Bekanntenkreis des Opfers kommt.«

Bea verdrehte die Augen. »Das sagen sie in jedem Fernsehkrimi, ich weiß.«

»Ihr habt vielleicht eine blühende Fantasie!« Oliver gähnte. »Ich finde auch, wir sollten nicht gleich das Schlimmste denken. Sie taucht bestimmt bald wieder auf«, sagte Lyra. Sie hatte ihr Handtuch neben Patrick ausgebreitet und legte sich hin. Oliver warf ihr nur einen müden Blick unter seinen blonden langen Haaren zu. Lyra ärgerte sich.

»Vielleicht ist sie ja entführt worden?«, redete Bea unbeirrt weiter. »Ihre Eltern sind ja nicht gerade besonders arm. Wenn ich an die Riesenvilla und die drei dicken Autos denke. Mal fährt ihre Mutter sie im BMW-Cabrio zur Schule, mal in so einem bulligen …«

»X5!«, warf Oliver dazwischen.

»Meinetwegen, und dann haben sie noch einen blauen …«

»Jaguar XJ 3.0«, unterbrach sie Oliver.

»Da ist sicher Geld zu holen!«, beharrte Bea.

»Dann hätten sich die Entführer doch schon längst gemeldet und Lösegeldforderungen gestellt«, gab Lyra zu bedenken.

Bea schüttelte heftig den Kopf. »Nein, das dauert immer. Im Fernsehen lassen sie die Eltern immer erst mal schmoren. Dann sind sie nämlich eher bereit, alles, was die Entführer verlangen, zu zahlen!« Bea biss sich auf die Lippen. »Wenn Pia … das wäre … unvorstellbar!«

»Was quatschst du für ein dummes Zeug!«, sagte Oliver. »Bestimmt hat sie einfach mal von zu Hause Urlaub gebraucht. Ihre Eltern würden mich total nerven.«

»Welche Eltern nerven nicht!«, meinte Patrick. »Aber deshalb haut man ja nicht gleich ab, oder?«

»Patrick hat recht. Und außerdem, wohin sollte Pia denn gehen?« Lyra konnte sich nicht vorstellen, wo sie ihren dringenden Urlaub von ihrer Mutter nehmen sollte. In Deutschland?

»Vielleicht hat sie eine Affäre am Laufen«, setzte Oliver das Gedankenspiel fort.

Bea stieß einen spitzen Schrei aus. »DIE?«

Oliver zuckte die Schultern. »Warum denn nicht?«

»Pia ist doch viel zu kindlich!« Bea schüttelte ihr Haar und richtete ihren Oberkörper noch weiter auf.

Blöde Kuh, dachte Lyra, das macht sie nur, damit Oliver auf ihren Busen glotzt!

»Stille Wasser sind tief«, bemerkte Patrick grinsend, »sagt meine Oma.«

Bea verdrehte die Augen und stöhnte. »Immer diese Sprüche. Pia hatte auf unserer Schule keinen Freund, das hätte man ja wohl mitgekriegt. Oder nicht?« Fragend schaute sie in die Runde.

Lyra musste ihr zustimmen. »Wer-mit-wem« sprach sich in der Schule immer sehr schnell herum. Es war fast unmöglich, so etwas geheim zu halten. Und Bea gehörte zu denen, die jede Neuigkeit zuerst erfuhren. Kaum wusste sie etwas, hatte sie auch schon das Telefon in der Hand.

»Also, ich sage euch, da ist etwas passiert, hundertpro«, sagte Bea. Oliver winkte ab. »Du willst, dass etwas passiert ist, Bea. Das ist ein kleiner Unterschied.«

»Genau«, pflichtete ihm Patrick bei.

»Was denkt ihr nur von mir?« Bea schlug sich in übertriebener Geste die Hand auf die Brust.

»Nur das Beste.«

Oliver grinste und Patrick schloss sich ihm an.

Lyra überfiel plötzlich ein merkwürdiges Gefühl. Als legte sich ein schweres dunkles Tuch über sie. Sie riss die Arme nach oben, als müsse sie dieses Tuch loswerden, das sie langsam erstickte. »Hört doch auf damit! Hoffen wir, dass Pia bald auftaucht«, sagte sie. Das Tuch war wieder verschwunden.

»Gut, wir werden ja sehen, was passiert. Sollen wir eine Wette abschließen?« Bea blickte herausfordernd in die Runde.

»Du spinnst doch! Um so etwas wettet man nicht«, sagte Patrick und streckte sich auf seinem Handtuch aus.

»Das wäre geschmacklos.« Oliver gähnte und machte wieder die Augen zu.

Bea zuckte mit der rechten Schulter. »Dann eben nicht. War nur so eine Idee. Manchmal seid ihr schrecklich spießig.« Sie zog ihr Handtuch zurecht und legte sich auf den Rücken.

Lyra betrachtete die drei, wie sie bewegungslos in der Sonne lagen. Warum war ihr nur auf einmal so flau im Magen? Vielleicht hätte sie doch frühstücken sollen. Oder war es die Hitze? Aber die war sie doch gewöhnt. Was war nur los mit ihr? Pias Verschwinden beunruhigte sie immer mehr. Seltsam, dabei kannte sie sie doch kaum. Du hast Ferien, sagte sie sich, jetzt entspann dich mal! Lyra streckte sich auf ihrem Handtuch aus.

Nach einer Weile richtete sich Bea mit einem Schrei auf. »Mein Gott! Mir fällt da was ein!«

»Schon wieder?«, sagte Oliver gelangweilt.

Bea ignorierte seine Bemerkung. »Bei uns macht jede Woche so ein Typ mit seinem Moped die Runde. Zuerst hab ich gedacht, das ist ein Witz oder die drehen gerade einen historischen Film. Aber er schleift tatsächlich Scheren und Messer! Ja, so was gibt’s echt noch! Und jetzt kommt das Beste.« Sie hielt die Luft an und blickte triumphierend in die Runde.

»Komm schon, Bea, spann uns nicht auf die Folter!«, drängte Oliver.

»Ich habe Pia ab und zu beobachtet, wie sie mit diesem Scherenschleifer geredet hat.«

Lyra merkte, wie ihr trotz der Hitze ein Schauer über den Rücken lief. Der Scherenschleifer. Der war ihr heute Morgen doch auch aufgefallen. Warum eigentlich?

Bea blies sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Meint ihr, wir sollten es der Polizei sagen?«

»Du tickst wohl nicht richtig!« Oliver stützte sich auf die Ellbogen und schüttelte den Kopf. »Nur, weil die miteinander geredet haben? Was hast du denn gegen den Typen?«

»Ich?« Bea zeigte auf ihre Brust. »Überhaupt nichts. Aber er hat etwas ... etwas Unheimliches. Und wenn Pia mit ihm was hatte, sollte man ihn vielleicht mal vernehmen.«

»So was Blödes«, sagte Patrick.

»Wieso?« Bea sah ihn herausfordernd an und schüttelte ihr Haar, wie schon zum millionsten Mal an diesem Tag.

»Ach, weil er total harmlos ist«, antwortete Oliver an Patricks Stelle und strich sich eine lange blonde Strähne aus der Stirn. »Er kifft ab und zu und schiebt sein Moped durch die Gegend. Macht ein paar Euro mit diesem dämlichen Scherenschleifen. Das ist alles.«

Patrick nickte. »Du bist ganz einfach hysterisch, Bea!«

»Idiot!« Bea wandte sich an Lyra. »Weißt du, die meisten Menschen sehen nicht richtig hin. Wenn man sie fragt, ob jemand einen Schnurrbart oder eine Brille hat, können sie sich nicht mehr daran erinnern. Jeder behauptet dann etwas anderes. Aber wenn ich jetzt darüber nachdenke, ob Pia etwas mit dem Scherenschleifer hatte, dann werde ich immer sicherer. Ja, da war etwas Besonderes in ihrem Umgang miteinander.«

»Dr. Psycho Bea Hochstätter!«, höhnte Oliver.

Patrick lachte.

»Ihr seid blöd.« Bea schüttelte ihre Mähne. »Jungs haben von Psychologie null Ahnung! Stimmt’s Lyra?« Bea sah Lyra Beifall heischend an.

»Ist was? Du siehst auf einmal so komisch aus.«

Alle sahen sie an. Endlich würdigte auch Oliver sie eines längeren Blickes. Wieso sah sie komisch aus? Sie konnten doch nicht sehen, dass sie innerlich zitterte und sich zusammenreißen musste, weil ihr übel war. Sie wusste selbst nicht, was plötzlich mit ihr los war.

»Was soll denn sein?« Lyra kramte den iPod aus ihrer Tasche, steckte sich die Kopfhörer ins Ohr und legte sich wieder hin.

Bestimmt würde es ihr gleich besser gehen.

Patrick rüttelte leicht an Lyras Schulter. Er hielt eine Chipstüte in der Hand. Sie wollte nicht mehr an Pia denken. Ganz bestimmt würde sich alles aufklären. Dankbar griff sie in die Tüte und schob sich schnell ein paar Chips in den Mund.

Um halb zwei war es am Strand unerträglich heiß geworden. Ihre Freunde gingen dann immer nach Hause, weil ihre Mütter um zwei Uhr das Mittagessen fertig hatten. Alle Mütter – außer Lyras!

»Kannst gern mit zu uns kommen.« Patrick klopfte sich den Sand von den Shorts. »Meine Mutter hat Tacos gemacht. Und darin ist sie echt eine Meisterin.«

»Danke!«, sagte Lyra. »Aber ich kann nicht. Ich hab Nachhilfe.« Unwillkürlich verzog sie das Gesicht zu einer Grimasse. Auf Pablo und seine Grammatikübungen hatte sie gerade überhaupt keine Lust.

»Du Ärmste«, meinte Patrick.

Lyra seufzte. »Ich muss mich beeilen.« Sie winkte den anderen zu und stieg widerwillig die Treppen zur Promenade hinauf.

DREI

Der Heimweg führte Lyra an gut besetzten Cafés und Restaurants vorbei. Der Gedanke an Pia und den Scherenschleifer ließ sie nicht los. Sie fühlte sich, als würde sie vor einer verschlossenen Tür stehen, von der sie wusste, dass in dem Raum dahinter ein Geheimnis oder eine schreckliche Wahrheit lauerte. Nur hatte sie keine Ahnung, was für eine Wahrheit das sein konnte.

Blödsinn, Lyra, sagte sie sich, wahrscheinlich liegt es an der Flötenmelodie, die hat so was Schauerliches. In diesem Moment blieb sie mit ihren Flip-Flops irgendwo hängen und stolperte. Es ging blitzschnell, sie war schon im Fallen, als sie ein fester Griff am Handgelenk vor einem schmerzhaften Sturz bewahrte.

»Hoppla!« Ein Mann hielt ihren Arm fest und lächelte sie an.

»Perdón!«, brachte sie hervor und sah den Mann dankbar an. Er war gerade noch rechtzeitig von seinem Stuhl an dem kleinen Tisch aufgesprungen, um ihr zu helfen. Jetzt erst fiel ihr auf, dass er Hoppla gesagt hatte – ein deutsches Wort.

»Danke«, sagte sie also. Wie peinlich die Situation war!

»Ah, du sprichst Deutsch! Darf ich Du sagen?«

Wer war er? Ein Tourist? Er trug ein weißes Poloshirt mit hochgestelltem Kragen, tarnfarbene Bermudas und war sonnengebräunt.

»So alt bin ich nun ja auch wieder nicht«, antwortete sie.

Er strahlte sie an. »Nein! Ich heiße Leander.«

Sie betrachtete ihn näher. Ein bisschen ähnelte er Oliver, mit seinem blonden, längeren Haar und der Sonnenbrille darauf.

Aber er sah viel besser und viel erwachsener aus. Bea wäre ganz schön neidisch …

»Ich heiße Lyra. Ich weiß auch nicht, ich bin über irgendwas gestolpert!« Sie sah sich um, konnte aber weder einen Stein noch eine lose Bodenplatte oder irgendetwas anderes Verdächtiges finden.

Er winkte ab. »Passiert halt mal. Darf ich dich auf ein Getränk einladen?«

Am liebsten hätte sie Ja gesagt. Warum musste Pablo ausgerechnet heute kommen? »Ich muss leider …«, fing sie an.

Er ließ sie gar nicht ausreden. »Zehn Minuten?«

Wie er sie anlächelte! Zehn Minuten? Ja, das schaffte sie locker! »Okay.« Sie nickte und lächelte zurück. Lächle nicht so viel, sagte sie sich. Er muss ja nicht gleich merken, dass du ihn gut findest!

Er schob ihr den Stuhl zurecht. Sie fühlte sich wie eine richtige Frau. Oliver oder Patrick hätten so was niemals getan! Wenn Bea sie jetzt sehen könnte!

»Was möchtest du trinken?«, fragte er.

»Eine Cola.«

Leander bestellte beim Kellner zwei Colas. Sein Spanisch hörte sich etwas unbeholfen an. Machte er hier Urlaub?

»Machst du hier Ferien?«, fragte er sie in diesem Moment.

Die blonden Haare auf seinen Armen schimmerten golden, stellte Lyra fest. »Äh … nein, ich wohne hier und du?«