Sommergewitter - Kristina Dunker - E-Book

Sommergewitter E-Book

Kristina Dunker

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Beschreibung

Wo ist Ginie?  Ein Sommertag, der strahlend schön beginnt und nach dem doch nichts mehr ist, wie es war – das ist der Tag, an dem Annikas Cousine Ginie verschwindet. Eben noch lagen die beiden am Baggersee in der Sonne, nun irrt Annika zusammen mit ihren Freunden durch den Gewitterregen auf der verzweifelten Suche nach Ginie, die nur mal kurz in die Büsche wollte. Was ist mit Ginie passiert? Hat ihr jemand etwas angetan? Mit der Anspannung wachsen die gegenseitigen Vorwürfe, Geschichten kommen an den Tag, von denen Annika nichts ahnte, und bald steht ein ungeheurer Verdacht im Raum: Ist jemand aus der Clique schuld an Ginies Verschwinden?

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Seitenzahl: 201

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Kristina Dunker

Sommergewitter

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Originalausgabe 2011

© 2004Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital– die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41213-1 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-78197-8

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/​ebooks

Prolog

Freitag, 12 Uhr

Freitag, 14 Uhr

Freitag, 15.30 Uhr

Freitag, 18 Uhr

Freitag, 18.35 Uhr

Freitag, 20 Uhr

Freitag, 21 Uhr

Freitag, 21.30 Uhr

Freitag, 22.40 Uhr

Samstag, 0.15 Uhr

Samstag, 19 Uhr

Epilog

[Informationen zum Buch]

[Informationen zur Autorin]

Prolog

Der Kontrolleur kommt. Ruhig bleiben! Ich lehne meinen Kopf an die Scheibe, Augen geschlossen. »Noch jemand zugestiegen?« Er geht weiter. Glück gehabt.

Die Frau auf dem Sitz gegenüber sieht auf, mustert mich, gähnt. Ihre Lippen sind rot, die Zähne schlecht, die Fingernägel lackiert, aber schmutzig. Es interessiert sie nicht, dass ich schwarzfahre.

Ich blinzele nach draußen. Ein Falke rüttelt hoch über einer Wiese. Fängt er die Maus? Schon sind wir vorbei. Passieren ein paar hässliche Häuser, einen leeren Bahnhof. Rapsfelder schütten ihr giftiges Gelb in meine Augen.

Der junge Mann neben mir notiert in winziger Handschrift Worte in sein Tagebuch. Manchmal blättert er verträumt die Seiten zurück und ich kann Überschriften lesen: Mexiko, Peru. Er hat die Welt bereist. In der abgegriffenen Kladde hat er sein Leben festgehalten, das voll ist von farbigen Bildern ferner Länder. Ich habe nichts. Ich würde ihm gern seine Vergangenheit stehlen.

Die Klimaanlage ist zu hoch eingestellt. Mir ist kalt. An meinen bloßen Knien klebt noch Sand. Der Sand, in dem sie vielleicht gelegen hat. Wir bremsen.

Über den Häuserdächern der nächsten Stadt ragt ein Riesenrad in den Himmel. Ich steige aus. Die Kirmes ist nicht weit vom Bahnhof entfernt. Ich renne. Seitenstiche. Mir bricht der Schweiß aus. Hier ist das Gewitter noch nicht angekommen. Hier herrscht noch die Schwüle des Nachmittages.

Auf dem Platz ist es laut. Im mit blinkenden Lichterketten behängten Baum versucht eine schwarze Amsel vergeblich gegen die Musik anzusingen. Ein Mann pinkelt gegen den Stamm. Ein kleines Kind verliert seinen Teddy, hebt ihn wieder auf, drückt ihn an sich. Kaugummi klebt unter meinem Schuh. Geruch nach Zuckerwatte und gebrannten Mandeln. »Jetzt mitspielen, jetzt gewinnen!« Ich habe immer nur Nieten gezogen. Trotzdem mag ich Jahrmärkte, habe schon davon geträumt, einmal auf die Angebote der Schausteller einzugehen und mitzureisen. Jeden Tag eine andere Stadt. Jeden Tag bunte Lichter. Jeden Tag Geschwindigkeit, Alkohol, Rausch.

Ich steige in die Achterbahn. Schnell muss es gehn. Ich will fliegen, stürzen, den Kopf verlieren. Vorher trinke ich mir Mut an. Sie trank kaum, vertrug keinen Alkohol. Ich schon. Sie mochte auch keine Kirmes. Aber an ihrem letzten Abend ist sie auf einer gewesen.

Hoch über der Stadt, die ich nicht kenne. Angst, Schreien, Adrenalinkick. Und noch einmal: rauf, runter, rauf, runter. Ich trinke und fahre, bis ich abhebe. Ja, ich will fliegen. Neben mir sitzt ein Junge mit Turnschuhen, die aussehen, als bestünden ihre Sohlen aus tausend blauen Sprungfedern. Raketenschuhe. Sein Grinsen ist so blöd wie die Kappe, die er auf dem Kopf trägt. Aber die Schuhe: geil.

Auf der Kirmes spielen sie meist ältere Hits. Damit alle Spaß haben. Sie hatte keinen. Aber ich. Girls wanna have fun! Ich will mitsingen. Hänge kopfüber und die Gedanken fallen heraus. Mein Mund ist offen.

Danach ist mir flau. Zu wenig gegessen. Macht nichts! Man kann in meiner Situation nicht an alles denken.

Ich laufe über den Platz. In der Masse bin ich sicher und unauffindbar. Die Menschen trinken und taumeln, drängeln und schubsen.

Extreme heißt das nächste Karussell. Den Chip kann ich gerade noch bezahlen. Er ist extrem teuer. Umsonst ist nur der Tod.

Die Gondel schießt nach oben. Der Platz neben mir ist diesmal leer. Die Abendlichter flirren um mich herum, die Amsel singt, der Sitz ist rosa und hat Löcher, der Haltebügel drückt in meinen Magen, ich rutsche fast heraus.

Wieder sause ich dem Erdboden entgegen. Senkrecht.

Die Fahrt ist zu Ende. Plötzlich. Neben mir lacht ein Liebespärchen, umarmt und küsst sich. Ich lache nicht, aber ich möchte auch umarmt und geküsst werden, scheißegal von wem.

Freitag, 12Uhr

Der Nachmittag, an dem meine Cousine Ginie verschwand, war heiß.

Zwei Monate hatte es nicht mehr geregnet. Felder, Wiesen, Pferdekoppeln– alles war bräunlich verfärbt und knochentrocken und der Lokalsender des Münsterlands warnte vor Waldbrandgefahr. Seit Tagen hatten wir in der Schule nach der vierten Stunde hitzefrei, aber es freute sich kaum noch jemand darüber, schon um zehn kletterte das Thermometer in tropische Höhen.

Ginie und ihr Vater waren vormittags angekommen, als ich noch in der Schule war. In Berlin hatten sie bereits vor zwei Wochen Sommerferien bekommen, die meisten Bundesländer waren dieses Jahr früher dran als wir und ich fand es ungerecht, immer noch in stickigen Flachbauten sitzen und schwitzen zu müssen.

Auch wäre ich gern dabei gewesen, als meine Eltern unseren Besuch begrüßten und Ginie unser schnuckeliges backsteinrotes Häuschen zeigten. Stattdessen rutschte ich auf meinem klebrigen Plastikdrehstuhl im Biofachraum hin und her und ärgerte mich mit meiner besten Freundin Steffi über meine Mitschülerinnen, die meinten, unseren braun gebrannten Biolehrer kurz vor der Notenvergabe durch hautenge und extrem weit ausgeschnittene Fummel beeindrucken zu können. Yasmin hatte sich sogar in ein lila Paillettenkleid gezwängt, kein Wunder, bei ihr ging es um die Schuljahresversetzung . . .

»Leila macht geiler«, knurrte Steffi wütend. »Warum strenge ich Blöde mich eigentlich an und mache regelmäßig meine Hausaufgaben, wenn andere durch ein bisschen Wimperntusche-Auflegen und Busen-Zeigen auch zum Ziel kommen?«

»Mach dir nichts draus, Steffi. Ich finde, Yasmin sieht aus wie die Wurst in der Pelle. Eine Wurst, deren Verfallsdatum abgelaufen ist, sie ist ja schon ganz lila.«

Steffi stieß mich an und kicherte.

»Wirklich«, sagte ich, »das Kleid passt ihr überhaupt nicht, betont viel zu sehr ihre Speckröllchen. Guck mal, man kann sie richtig zählen, fünf kleine Fleischwurströllchen.«

Steffi fiel fast vom Stuhl vor Lachen. »Zeig da nicht so hin, Annika!«

»Wieso denn nicht?« Ich musste auch lachen und fing mir natürlich einen bösen Blick von Yasmin ein, aber das war mir egal. Wie viele andere Mitschüler auch hielt sie mich wegen meiner guten Noten sowieso für eine Streberin oder zumindest für einen Menschen vom andern Stern. Oft genug hatten Yasmin und die anderen mich das spüren lassen und ich war froh, dass ich wenigstens Steffi in meiner Klasse hatte. Meine Freundin hatte das gleiche Problem wie ich, sie galt auch als »extrem uncool«: schlau, still, ungepierct, ohne älteren Freund mit Auto und zu allem Unglück auch noch Nichtraucherin.

Ich sehnte mich wirklich nach den Ferien und ich freute mich auf meine gleichaltrige Cousine Ginie. Zwar kannte ich Ginie so gut wie gar nicht, aber ich fand die Idee trotzdem toll, dass sie und mein Onkel demnächst zu uns ziehen wollten. Sie sollte den neu ausgebauten Dachboden bekommen, er die kleine Einliegerwohnung im Erdgeschoss, in der mein Opa bis zu seinem Tod im Winter gelebt hatte. Natürlich würde es enger werden in unserem Haus, aber bestimmt auch lustiger.

Zumindest hoffte ich das. Sicher konnte ich mir nicht sein. Was, wenn Ginie mich genau wie Yasmin für eine Streberin hielt? Wenn sie es genau wie Yasmin gewohnt war, von einem älteren Freund mit getuntem Auto und leistungsstarker Stereoanlage von der Schule abgeholt zu werden, während Steffi und ich brav wie zwei Landeier auf unsere Dreigang-Hollandräder stiegen?

Auf der Heimfahrt erzählte ich Steffi von meinen Hoffnungen und Ängsten. Steffi, Jonas und Rüdiger waren der Rahmen in meinem Leben. Unsere Viererfreundschaft war wie ein Glückskleeblatt, selten und wertvoll. Steffi versuchte mich sofort zu beruhigen, indem sie behauptete, meine Cousine müsse, da sie neu an unseren Ort zöge, ja erst mal froh sein, dass sie dort überhaupt jemanden kannte. Das war natürlich richtig, aber trotzdem wurde ich immer aufgeregter, je näher wir unserer Straße kamen, und als Steffi und ich uns vor dem Haus meiner Eltern verabschiedeten, hatte ich richtig Herzklopfen.

»Ach komm, Annika, jetzt tu nicht so verzagt, sie wird dich ganz sicher mögen. Wir mögen dich doch schließlich auch!«, sagte Steffi, lachte und drückte mich kurz. »Vielleicht sehen wir uns später? Ich bin auch neugierig auf die Neue!«

Sie radelte davon, ich ging langsam die Auffahrt zum Haus hinauf. Die Kletterrosen an der Hauswand blühten, die alte getigerte Katze unserer Nachbarn kam, als sie mich sah, aus ihrem Schattenversteck unter einem Busch hervor und schnurrte mir um die Beine. Ich strich ihr kurz über das Fell, atmete tief ein und betrat das Haus.

Meine Mutter hatte heute früh noch schnell einen Generalputz gemacht, ich sah es daran, dass die von ihr gemalten Bilder im Flur ausnahmsweise alle gerade an der Wand hingen. Dort, wo sich sonst ein Haufen von Schuhen knubbelte, stand eine fremde Reisetasche und auf der kleinen Kommode thronte ein großer Blumenstrauß. Der Zettelwust meines Vaters beim Telefon war verschwunden, ebenso die hitzegeschädigten Blumen, die meine Mutter vor einigen Tagen in die kühle Küche verfrachtet hatte und die dort ziemlich viel Platz wegnahmen. Das konnte nur bedeuten, dass auch meine Eltern ein bisschen nervös waren, na wenigstens etwas.

Ginie saß mit ihnen und meinem Onkel auf der Terrasse und trank Sekt. Bei der Hitze!

»Hi«, sagte ich und hob schüchtern den Arm, um zu grüßen. Meinen Onkel Paul hatte ich häufiger mal gesehen, auch Ginies Gesicht war mir noch vertraut, obwohl ich bisher, wenn ich an sie gedacht hatte, immer noch ihre kindlichen Züge vor Augen hatte. Das runde Gesicht, die großen braunen Augen. Als Kinder hatten wir einmal lange miteinander gespielt, wir hatten uns verkleidet und geschminkt. Sie hatte eine Bärin oder ein anderes wildes Tier sein wollen, daran erinnerte ich mich komischerweise und ertappte mich dabei, wie ich auf ihren Wangen nach Spuren des aufgemalten Fells suchte. Jetzt war sie natürlich sechzehn, so wie ich, unsere gemeinsamen Spiele waren eine Ewigkeit her.

»Annika, setz dich doch zu uns!«, sagte mein Vater fröhlich.

»Gleich.« Ich brauchte noch einen Moment.

»Komm her«, forderte mich auch Ginie auf und winkte.

Das war ein gutes Zeichen. Ich beruhigte mich.

»Ich spring nur schnell unter die Dusche und zieh mich um, dann bin ich da!«, rief ich, lief die Treppen hinauf, befreite mich von meinen verschwitzten Klamotten, knüllte sie zusammen, warf sie in eine Ecke meines Zimmers, hüpfte ins Bad und begann unter dem kalten Wasserstrahl laut zu singen.

In diesem Moment war ich erleichtert, glücklich. Ich war davon überzeugt, dass Ginie und ich uns schnell aneinander gewöhnen würden. Wahrscheinlich würden wir uns in ein paar Monaten fragen, ob sie nicht schon immer bei uns gewohnt hätte.

Ich konnte ja nicht ahnen, dass meine Aufregung bald zurückkehren würde. Und zwar viel stärker als zuvor.

Zunächst aber ließ sich alles gut an. Als ich meine nur notdürftig getrockneten Haare mit Festiger vor dem Spiegel verstrubbelte, kam ich mir schon nicht mehr ganz so landeimäßig vor, und als ich barfuß und in bequemen abgeschnittenen Jeans die Treppen hinuntersprang, klingelte passenderweise das Telefon und Jonas fragte, ob ich am Nachmittag mit der Clique zum Baggersee käme.

»Ja, gerne, und ich frag meine Cousine, ob sie auch mitkommt!« Ich flitzte auf die Terrasse, auf der meine Familie mittlerweile den Grill angezündet und den Tisch gedeckt hatte: Kartoffelsalat, Bauernsalat, Brötchen– mir lief das Wasser im Mund zusammen. Fröhlich und ohne große Einleitung fragte ich Ginie: »Hast du Lust, nach dem Essen mit mir und meinen Freunden zum Baggersee zu fahren?«

Ich dachte, das wäre ein prima Start: frisch, gut gelaunt, locker. Ich dachte, der erste Eindruck, den Ginie von mir haben wird, zählt, und der ist perfekt gelungen. Ich dachte, ich hätte die Idee des Jahrhunderts gehabt.

Wie sollte ich ahnen, was mein Vorschlag auslösen würde?

Meine Mutter riss die Augen auf und warf einen ängstlichen Blick auf meinen Onkel. Der machte ein Gesicht, als hätte ich ihm gerade verkündet, ich wolle Ginie mit zum S-Bahn-Surfen nehmen. Mein Vater räusperte sich und setzte an, um etwas zu sagen: »Annika, vielleicht kannst du heute mal ausnahmsweise nicht . . .« Ich hörte nicht hin. Was interessierten mich die Erwachsenen? Ginie war wichtig. Und die guckte unentschlossen, aber nicht ablehnend.

»Ich habe doch heute noch keine Schwimmsachen dabei«, sagte sie.

»Kein Problem, du kannst einen Bikini von mir oder meiner Mutter haben! Und Handtücher sowieso!«

»Ja gut, dann . . . von mir aus . . .« Sie zuckte die Achseln.

»Das ist vielleicht doch keine so schlechte Idee von Annika«, sagte mein Vater laut und blickte seinen Schwager fest an. »Ginie kann Leute kennenlernen und wir können uns in Ruhe ein bisschen unterhalten.«

»Mein Gott, müssen sie denn gleich an den Baggersee fahren? Können sie nicht einfach ein Eis essen gehen?« Mein Onkel schien sehr besorgt um seine Ginie zu sein.

Das spornte mich erst recht an. Dass ich ein braves Mädchen war, würde Ginie noch früh genug bemerken. Sollte sie jetzt ruhig erst mal den Eindruck bekommen, ich sei mutig und verwegen genug, in einem See zu baden, in dem es nicht offiziell erlaubt war.

»Och, da, wo wir immer baden, ist es nicht weiter gefährlich«, sagte ich. »Da stehen zwar immer noch die rostigen alten Warnschilder von wegen Kiesabbau, Spülsand, Strömungen, Lebensgefahr und so, aber da wird nicht mehr gearbeitet, da kann heute nichts mehr passieren! Da müsste man sich schon ziemlich blöd . . .«

Mein Vater warf mir einen warnenden Blick zu und ich brach ab. Klar, ich wollte ein bisschen vor Ginie angeben, aber musste er mich deshalb gleich so böse ansehen?! Sonst erlaubten sie doch auch, dass ich zum Baggersee fuhr. Was hatten sie denn auf einmal?

»Also, wie auch immer, ich finde es eine tolle Idee, dass Annika und Ginie heute etwas zusammen unternehmen. Sie sollen ruhig zum See fahren«, sagte meine Mutter sehr langsam und legte einen Arm um ihren Bruder. In geschwollenem Tonfall fuhr sie fort: »Paul, ich bin überzeugt davon, dass es eine sehr gute Entscheidung von dir war, mit deiner Tochter wieder hierher zu ziehen. Und je eher sie sich hier einlebt, desto eher wirst du sehen, dass es wirklich richtig war, nach diesen vielen Jahren des Vagabundenlebens endlich nach Hause zurückzukehren.«

Ich fragte mich, ob Ginie die Entscheidung ihres Vaters auch so gut fand. Es sah ehrlich gesagt nicht ganz danach aus. Sie zog eine gezupfte Augenbraue hoch, nur die linke, in der ein silberner Piercingring mit einem rubinroten Steinchen steckte, musterte meine Mutter mit einem zweifelnden Blick, machte einen Schmollmund und sagte: »Na, hoffentlich finde ich die Entscheidung auch irgendwann mal gut! Im Moment weiß ich noch nicht, was ich hier soll.«

»Ach, Ginie-Maus, wir haben doch oft genug darüber gesprochen!« Mein Onkel verzog das Gesicht und auch ich fühlte, wie meine gute Laune einen Dämpfer bekam. Außerdem kam meine Enttäuschung wieder hoch, dass Ginie den Willkommensbrief, den ich vor einigen Wochen geschickt hatte, nicht beantwortet hatte.

»Lass mal, Paul, aller Anfang ist schwer. Aber Ginie, es wird dir bestimmt guttun, hier in einer richtigen Familie zu leben«, sagte meine Mutter und lächelte sie an.

Meine Cousine rollte mit den Augen. »Ich steh nicht unbedingt auf Idylle.«

»Tjaa . . .«, sagte meine Mutter und tauschte einen Blick mit ihrem Bruder, der nur die Achseln zuckte und meinen Vater anblickte. Aber auch der schien nicht vorzuhaben, auf Ginies Kommentar zu antworten, sondern beschäftigte sich damit, einen Marienkäfer, der auf sein Hemd geflogen war, vorsichtig auf ein abgepflücktes Blatt zu lotsen.

»Und die Eltern guckten stumm auf dem ganzen Tisch herum«, murmelte ich, lachte über diesen alten Kinderreim und setzte mich dann demonstrativ neben Ginie.

Eigentlich konnte ich es ganz gut nachvollziehen, dass Ginie so abweisend war: Sie hatte sich bestimmt nicht darum gerissen, schon wieder umzuziehen und Schule und Freunde zu wechseln. Und dann auch noch aufs Land zu Onkel und Tante. So wie ich Paul einschätzte, hatte er sie sicher nicht nach ihrer Meinung gefragt. Meine Eltern hatten oft angedeutet, dass Paul mit seiner Lebensweise wenig Rücksicht auf die Bedürfnisse seiner Tochter nahm. Er hatte in den letzten Jahren als Journalist in verschiedenen Großstädten gewohnt, sodass Ginie kaum Gelegenheit gehabt hatte, sich irgendwo wirklich zu Hause zu fühlen. Zeitweise war er auch im Ausland gewesen und Ginie hatte ein Internat besucht.

Wie das wohl gewesen war? Lustig und spannend wie eine lange Klassenfahrt? Wohl kaum, aber abwechslungsreicher als mein Leben bestimmt.

Während die Erwachsenen mit nichtssagenden Bemerkungen wieder ein Gespräch in Gang brachten, betrachtete ich neugierig meine Cousine. Sie hatte von Natur aus die gleiche Haarfarbe wie ich, dunkelbraun, das wusste ich von früher. Doch im Gegensatz zu mir, die ich meine Haare stets ein bisschen blondierte, hatte sie ihre tiefschwarz gefärbt. Ihr Gesicht wirkte so für die Jahreszeit ein wenig blass, unter ihren wachen braunen Augen lagen dunkle Ringe und sie war so mager, dass ich mir neben ihr regelrecht rosig und pausbäckig vorkam.

Auch sonst schienen wir auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam zu haben: Während ich ständig unsicher war und Angst hatte, unattraktiv zu wirken, strahlte Ginie Selbstbewusstsein aus; während ich beim Duft des Grillfleisches anfing, hungrig mit Messer und Gabel zu scharren, hatte sie als Vegetarierin dafür nur ihr Augenbrauenzucken übrig, und während ich mich mit den Erwachsenen unterhielt und mit ihnen über Erlebnisse aus ihrer und meiner Kindheit lachte, sagte sie die ganze Zeit gar nichts.

Gut, ich konnte mich auch nicht mehr daran erinnern, wie mein Onkel mir als Zweijähriger eine Bademütze aufgesetzt hatte und ich wie am Spieß gebrüllt hatte, weil ich als Kleinkind Mützen hasste, oder dass ich Ginie in der Krabbelgruppe mal ein Bauklötzchen an den Kopf gedonnert hatte. Auch an ihre Mutter konnte ich mich nur schwach erinnern, sie war früh gestorben, damals waren Ginie und ich gerade vier Jahre alt gewesen. Ginie aber schien ihre gesamte Vergangenheit aus ihrem Kopf gestrichen zu haben oder sie fand es einfach albern und unter ihrer Würde, sich darüber zu amüsieren, wie ich als Achtjährige bei Opas Geburtstag unbedingt die Torte tragen wollte und sie dann prompt fallen ließ.

Trotzdem fing ich an diesem Mittag an, Ginie zu mögen.

Ihr sparsames Lächeln zeigte sie nur mir. Ihre Bitte, sich einen Hund aus dem Tierheim holen und halten zu dürfen, sobald sie hier wohnte, gefiel mir. Ihr Wunsch, ich solle ihr beim Aussuchen helfen, freute mich.

Und auf meine Frage hin, an welche Rasse sie denn so gedacht habe, sagte sie: »Einen Rottweiler oder eine Dogge. Einen, der mindestens achtzig Zentimeter Schulterhöhe hat und der uns beschützen kann, wenn wir zwei hier abends durch die Pampa zur nächsten Disco gehen.«

Ich fand das toll und konnte in dem Moment über das entsetzte Aufquieken meiner Mutter, die lieber Katzen hatte, nur grinsen.

»So ein Riesenkalb kommt mir nicht ins Haus. Höchstens ein Collie. Für so einen Kampfhund brauchst du ja schon einen Waffenschein!«

»Den brauchst du für meine Tochter auch, Katrin!«, scherzte mein Onkel und wir lachten alle, auch meine Mutter.

Die irritierenden Wölkchen am Stimmungshimmel hatten sich wieder verzogen. Alles würde gut werden!

Insgeheim hatte ich mir schon immer ein zweites Mädchen im Haus gewünscht. Jetzt malte ich mir aus, wie ich mit Ginie Kleider anprobieren, CDs tauschen und über Mitschüler lästern würde. Einen großen Hund? Discobesuche? Warum nicht?

Nach dem Essen zeigte ich ihr mein Zimmer und den Dachboden, machte ihr Vorschläge, an welche Stelle sie ihren Schreibtisch und wohin sie ihr Bett stellen könnte.

»Da fällt mir schon was ein, Annika, danke.«

»Ich meine ja nur, Ginie, wenn ich den großen Boden hier hätte, ich würde es mir supergemütlich machen! Eine Couch mit bunten Kissen, einen Teetisch, ein richtiges Zuhause.«

»Vielleicht lasse ich alles so kahl. Das sieht luftiger aus.«

Ich nickte. Natürlich. Ich war mal wieder zu überschäumend gewesen. Verlegen blickte ich auf meine nackten Füße. Eine Freundin von Yasmin hatte mich mal einen »pummeligen Muttityp« genannt. Wahrscheinlich hatte sie recht damit.

Aber wenn wir erst mal die Dogge haben würden . . .

»Wenn ich Gemütlichkeit suche, komme ich zu dir runter, hier oben lasse ich es lieber so, wie’s ist. Das passt mehr zu mir.« Sie breitete die Arme aus und durchmaß das Zimmer mit ein paar Schritten. »Eine Tanzfläche wäre auch nicht schlecht. Der Holzboden ist gut dafür.«

Ich lächelte unsicher. »Steffi und ich waren letztes Jahr in der Tanzschule. Hier gehen alle hin, es gibt nichts anderes. Aber du meinst bestimmt so richtig rockig-fetziges Jazz- oder Salsa-Tanzen? Das würde ich auch gern lernen, allerdings weiß ich nicht, ob ich Talent dazu hab. Und dazu dann so einen richtigen scharfen Fummel anziehen, ein Glitzerkleid oder so . . .« Irritiert über meine eigenen Worte brach ich ab und fügte schnell hinzu: ». . . aber das steht mir wahrscheinlich gar nicht.«

»Och, wieso nicht?« Ginie sah mich neugierig an. »Wir könnten hier tolle Partys feiern.« Sie lächelte.

»Was . . . äh . . . was hörst du für Musik?«, fragte ich, doch in dem Moment erklang unten die Türklingel. »Oh, meine Freunde!«, rief ich entschuldigend und lief, ohne auf sie zu warten, die Treppe hinunter.

Jonas, Rüdiger und Steffi waren damals mit ihren Familien gleichzeitig mit uns in die Reihenhaussiedlung gezogen. Unsere Eltern gingen zusammen kegeln und zum Kanalfest, unsere Häuser waren gleich geschnitten und ähnelten sich bis in die Einrichtung. Die einzige Ausnahme war die, dass bei ihnen im Dachgeschoss ihre älteren Geschwister wohnten, während es bei uns bisher leer gestanden hatte und nun für meine Cousine hergerichtet worden war. Meine Freunde und ich kannten uns schon seit der Krabbelgruppe, hatten so gut wie alles zusammen erlebt, als Kinder eine Bande gegründet und uns mit den Größeren aus der Nachbarschaft angelegt, mit Feuereifer auf Baustellen gespielt, jeden Sommer im Garten gezeltet und später auch die ersten Ausflüge nach Münster gemeinsam unternommen. Ich vertraute ihnen voll und ganz.

»Irgendwann werden wir bestimmt gemeinsam Hochzeit feiern, mit unseren Frauen und Männern in eine andere Neubausiedlung ziehen und dort vereint und glücklich leben, bis man uns gemeinsam beerdigt«, hatte Rüdiger irgendwann einmal überspitzt gesagt und wir hatten alle gelacht.

»Oder wir heiraten uns gegenseitig. So Leute wie Yasmin und ihre Clique passen doch gar nicht zu uns!«, hatte Steffi hinzugefügt und auch darüber hatten wir herzhaft gelacht.

Wir waren eben mit uns selbst immer ganz glücklich gewesen. Jonas hatte die verrückten Ideen und sorgte für gute Laune. Rüdiger war zurückhaltender und stiller, aber absolut zuverlässig. Steffi war ziemlich schlau und vernünftig, trotzdem nicht langweilig. Als Kind war sie es immer, die irgendwelche unheimlichen Sachen entdeckte, die wir dann gemeinsam erforschten und auskundschafteten, Jonas und Rüdiger mutig voran. Sie ging reiten und war sehr musikalisch, spielte Klavier, sang und tanzte Ballett, hatte aus Jux sogar mal versucht, Jonas und Rüdiger ein paar Schritte beizubringen.

Wir vier kannten uns in- und auswendig. Ich wusste, welche Sprüche meine Freunde draufhatten und welche Berufe sie später ausüben wollten, was sie am liebsten aßen und welchen Rocksänger sie nicht ausstehen konnten. Ich fühlte mich also auch an diesem Tag wohl und sicher.

Während meine Freunde Ginie begrüßten, holte ich für sie das Mountainbike meines Vaters aus der Garage.

»Sollen wir dir den Sattel niedriger stellen?« Mein Vater und mein Onkel waren hilfsbereit zu uns gekommen, begannen an Lenker und Sattel herumzuschrauben, ließen Ginie Fahrproben machen, die sie leicht genervt über sich ergehen ließ: »Danke, ich weiß, wie man Rad fährt.«