Sommernächte unter dem Eiffelturm - Lily Martin - E-Book

Sommernächte unter dem Eiffelturm E-Book

Lily Martin

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Beschreibung

Ganz Paris erzählt von der Liebe ... Die Pariser Autorin Aurélie hat eine Schreibblockade. Für ihren Verlag soll sie eine sommerlich-leichte Lovestory verfassen, doch als langjährige Singlefrau fehlt ihr jegliche Inspiration. Sollte sie sich bei einem Datingportal anmelden, um selbst Erfahrungen zu sammeln? Aurélie möchte so gerne an die große Liebe glauben, aber sie hat ihr Herz schon vor Jahren an Mathieu verloren. Der befreundete Buchhändler war stets vergeben. Erst als er Aurélie ein altes Büchlein schenkt, kommt Bewegung in ihr Leben: Es wurde von einer jungen Frau während der Zeit der Résistance verfasst und handelt von einer Liebe in düsteren Zeiten. Die Lektüre berührt Aurélie – und sie spürt, dass hier ein Thema für einen ganz großen Roman auf sie wartet. Und dass es sogar auch für ihre eigene Geschichte ein Happy End geben kann …

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Seitenzahl: 351

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Lily Martin

Sommernächte unter dem Eiffelturm

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Ganz Paris erzählt von der Liebe …

 

Die junge Schriftstellerin Aurélie hat eine Schreibblockade. Für ihren Verlag soll sie eine sommerlich-leichte Lovestory verfassen, doch als langjähriger Singlefrau fehlt ihr dazu jegliche Inspiration. Sollte sie sich bei einem Dating-Portal anmelden, um selbst Erfahrungen zu sammeln? Aurélie möchte so gerne an die große Liebe glauben, aber sie hat ihr Herz schon vor Jahren an Mathieu verloren. Allein: Der befreundete Buchhändler war stets vergeben. Erst als Mathieu sie auf die Spur einer tragischen Liebesgeschichte aus vergangenen Zeiten bringt, kommt Bewegung in Aurélies Leben: Sie spürt, dass hier das Thema für einen ganz großen Roman auf sie wartet. Und dass es auch für ihre eigene Geschichte ein Happy End geben kann …

Vita

Lily Martin ist das Pseudonym der Bestsellerautorin Anne Stern. Während eines Auslandsstudiums in Paris verliebte sie sich in die Stadt und ihre Menschen. Noch heute träumt sie von den warmen Sommerabenden auf den Brücken über der Seine. Nach «Sommertage im Quartier Latin» und «Sommerfarben in der Stadt der Liebe» nimmt sie uns in diesem Roman mit in das aufregende Stadtviertel Montmartre.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2025

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Karte © Imke Trostbach

Covergestaltung FAVORITBUERO, München

Coverabbildung Shutterstock

ISBN 978-3-644-01592-0

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

«Fais de ta vie un rêve

et d’un rêve une réalité.»

 

Mache aus deinem Leben einen Traum

und aus deinem Traum eine Realität.

 

ANTOINE DE SAINT-EXUPÉRY, LE PETIT PRINCE

Prolog

Wissen Sie, weshalb ich so gerne lese?

Ein gutes Buch ist wie ein perfektes Rendezvous. Es bringt uns zum Lachen, es berührt uns, es nimmt uns mit auf eine Reise zu einem unbekannten Ort und führt uns wieder zurück – dorthin, wo wir zu Hause sind. Es wühlt uns auf und bereitet uns bisweilen Schmerz, bringt Tränen, aber auch Freude. Und wenn es ganz nach meinem Geschmack ist, schmeckt es bittersüß …

Leider bezahlt es aber am Ende des Abends nicht die Restaurantrechnung. Das muss ich wohl selbst erledigen. Obwohl, ich sehe schon an der Miene von Patrice, der gerade beim Gläserpolieren mit einem heimlichen Lächeln vom Tresen zu mir herüberschaut und sich unauffällig die Mütze zurechtrückt, dass ich heute vielleicht wieder einmal darum herumkomme. So ist es mit alten Freundschaften, sie brechen nicht mehr. Wenn man es erst einmal so viele Jahrzehnte miteinander ausgehalten hat wie Patrice Laferrière und ich, und das ganz ohne Ringe und Trauschein, dann macht es auch nichts, dass die Haare weiß werden und die Kleider nicht mehr so tadellos sitzen …

Aber halt, darüber wollte ich doch gar nicht mit Ihnen sprechen. Ich wollte Ihnen erzählen, weshalb ich Bücher so liebe. Und ganz besonders dieses hier, auch wenn es schon recht abgegriffen ist: Le Petit Prince.

Ah, ich höre schon, wie Sie stöhnen! Diese alte Kamelle, denken Sie jetzt bestimmt, die in jedem Bücherregal steht und deren Zitate in Poesiealben auf der ganzen Welt geschrieben werden. Ja, Sie haben recht, es ist ein wenig abgeschmackt. Aber wissen Sie, man sollte es doch mal wieder zur Hand nehmen. Es stehen ein paar ganz gute Sätze darin über das Leben und, vor allem, über die Liebe. Aber keine Sorge, ich werde Sie jetzt nicht damit langweilen und daraus vorlesen, Sie müssen ja nur zu Ihrem eigenen Regal gehen, wo es sicher irgendwo wartet, es herausziehen, den Staub fortpusten und es aufblättern, dann kommen die Sätze schon von ganz allein zu Ihnen. Man sieht nur mit dem Herzen gut …

Mon dieu, ich kann es wohl nicht lassen! Aber ich bin schon still, schmökere lieber ganz in Ruhe hier am Bistrotisch weiter in meiner Ausgabe und genieße mein Glas mit süßem Colheita und die letzten Bissen meiner Tartiflette mit dem schmelzenden Reblochon, der sich an die zarten Kartoffeln schmiegt.

Patrice versteht etwas von guter Küche, und ich habe schon immer gern gegessen. Auch darin sind wir ein gutes Team.

Warum ich heute Abend, mitten im tiefsten August, nicht draußen auf der Terrasse bin und den lauen Spätsommerabend wie gewohnt auf der Place de la Contrescarpe genieße, sondern hier drinnen sitze, fragen Sie?

Aber, mes chers amis, sehen Sie doch mal durchs Fenster nach draußen: Es regnet in Paris. Der Himmel hat alle Schleusen geöffnet, und das Wasser rauscht nur so herunter. Die Blätter der Judasbäume rings um den kleinen Platz triefen vor Nässe, der Brunnen in der Mitte droht überzulaufen, und die Terrasse vor dem Café Lola ist menschenleer. Madame Morel hat ihre Hortensien vor dem Blumengeschäft rasch vor dem Guss in Sicherheit gebracht, und beim Delikatessenladen Les Deux Paradis locken heute keine Auslagen mit Artischocken und teuren Weinflaschen, deren Glas in der Sonne glitzert. Nur die einsamen Pflastersteine auf dem Platz glänzen im Laternenschein.

Die Eingangstür zum Bistro ist nur angelehnt, und dieser Duft nach Regen und nassen Blüten, der zu mir hereinzieht, ist unvergleichlich. Ein abendlicher, warmer Sommerregen in Paris, das ist beinahe noch besser als ein Sonnentag – wussten Sie das nicht?

Kommen Sie, bleiben Sie noch einen Moment bei mir im Trockenen und lassen Sie sich von mir eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte von Büchern und von der Liebe. Morgen ist der Himmel über Paris wieder blau …

1

«War ja klar!», murmelte Aurélie und blickte betrübt auf ihren Schoß. Dort breitete sich rasend schnell ein Fettfleck auf dem hellen Jeansstoff ihres Rockes aus, obwohl sie sofort hektisch mit einer Serviette daran herumtupfte.

Wie immer troff die selbst gemachte Pasta von Fabien nur so vor Butter, und nun hatte auch Aurélies Rock ein wenig davon abbekommen. Schließlich gab sie es auf, legte die Serviette fort und nahm wieder die Gabel zur Hand. Von einer solchen Nebensächlichkeit durfte man sich einen so schönen Sommertag nicht verderben lassen!

Aurélie hatte schon vier Stunden Französischunterricht in der Sprachschule im Quartier Latin hinter sich, wo sie sich als Lehrerin ihr Geld verdiente. Jetzt, in der Mittagspause, saß sie im Café Lola, ihrem Lieblingscafé südlich der Seine, und setzte praktisch ihr ganzes Honorar direkt wieder in die Trigoni al Tartufo in Salbeibutter um. Eine Spezialität von Fabien Roudeaut, dem Küchenchef und Inhaber des Cafés. Aber jeder einzelne Bissen war es wert!

Das Wetter hatte aufgeklart. Nach dem Regenguss gestern stand heute wieder eine strahlende Augustsonne am hellblauen Himmel über dem Platz, und nur ein paar winzige Schönwetterwölkchen schwebten über den kleinen Tischen des Cafés, dem Brunnen und den bunten Geschäften ringsum. Ein paar übrig gebliebene Pfützen trockneten noch zwischen den Pflastersteinen. Direkt neben Aurélies Korbstuhl nahm gerade ein Spatz ein Bad und spritzte ein paar Wassertropfen mit seinen Flügeln durch die Luft.

Die Türen des Blumenladens Fleurs de Morel öffneten sich, und heraus trat die Floristin Liliane, im Arm einen großen Wassereimer mit üppigen roten Rosen darin. Ein gut aussehender, etwas älterer Herr folgte ihr auf die Straße und nahm ihr mit sanfter, aber bestimmter Geste den Eimer aus den Händen. Er stellte ihn schwungvoll neben den vielen anderen Blumen ab, die den schmalen Bürgersteig vor Madame Morels Geschäft schmückten, zog die Floristin dann in seine Arme und küsste sie zärtlich. Sie erwiderte den Kuss und lachte, strich ihm mit der Hand das silbrige Haar aus der Stirn, bückte sich, nahm eine einzelne Rose aus dem Topf und hielt ihm die tiefrote Blüte hin. Noch einmal küssten sie sich, dann verschwand der Mann mit der Blume in der Hand nebenan im Feinkostladen Les Deux Paradis.

Liliane Morel stand noch einen Moment sichtlich verträumt vor ihrem Laden und sah ihm nach. Als sie sich umdrehte, fing sie Aurélies Blick auf – und ihre Wangen färbten sich noch eine Spur rosiger. Ein hilfloses Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Sie hob die Schultern und ließ sie wieder fallen, als wollte sie sagen: L’amour, c’est comme ça!

Dann ging sie wieder in ihren Blumenladen.

Aurélie, die alles beobachtet hatte, seufzte tief. Ja, so war sie, die Liebe. Manchmal jedenfalls, schoss es ihr durch den Sinn. Sie legte die Gabel zur Seite, hob ihre Tasche auf den Schoß und kramte darin herum, bis sie ihr Notizbuch und einen Bleistift fand. Sie blätterte es auf und schrieb ein paar Worte auf eine neue Seite.

Einen Moment zögerte sie, dann setzte sie erneut den Stift an und notierte eine Überschrift, die sie dick unterstrich. Neues Projekt, stand jetzt in geschwungenen Buchstaben oben auf der Seite. Paris und die Liebe. Sie nickte zweimal, klappte das Heftchen zu, nahm wieder ihre Gabel und schob sich den letzten Happen Pasta in den Mund. Sie kaute hingebungsvoll, während sie ihren Blick über den kleinen Platz mit dem Springbrunnen wandern ließ. Fabien balancierte mit einem voll beladenen Tablett an ihr vorbei und lächelte ihr freundlich zu, doch er hatte keine Zeit, um bei ihr stehen zu bleiben. Durch die Glasscheibe des Cafés sah Aurélie seine Freundin Lola an der Espressomaschine stehen und einen Kaffee zubereiten, während ihre kleine Tochter Margot auf einem Hochstuhl daneben saß und genüsslich an einem großen Biscotti nagte.

Aurélie dachte wieder an die Überschrift in ihrem Notizbuch. Leichte Unruhe erfasste sie. Es war höchste Zeit, dass sie einen neuen Roman anfing, das wusste sie genau. Doch immer, wenn sie sich ernsthaft damit auseinandersetzte, was sie als Nächstes schreiben wollte, stieg ein seltsames Gefühl in ihr auf. Eine Art Blockade, die sie daran hinderte, sofort loszulegen.

Früher war ihr das Schreiben leichter von der Hand gegangen, in den ersten Jahren als Schriftstellerin hatte ihr alles offengestanden. Das Romanschreiben war zuerst ein Hobby gewesen, etwas, das ihr Spaß machte. Ein schönes Spiel mit Ideen und Worten, das Aurélie beflügelt hatte. Doch mit den Jahren war der Druck gewachsen. Ihr Verlag wartete nun schon über ein Jahr auf ein neues Projekt, die Leser wünschten sich Nachschub von Aurélie Franck.

Am allergrößten und gleichzeitig am schwersten zu ertragen aber war die Erwartung, die Aurélie selbst an sich stellte. Es war eine Sache, die Welt zu enttäuschen, eine andere jedoch, sich selbst eingestehen zu müssen, dass sie ihren eigenen Ansprüchen nicht mehr genügte und dass das Schreiben immer mehr zu einer Bürde für sie geworden war.

Aurélie hatte die Leichtigkeit verloren. Und sie hatte keine Ahnung, wo sie sie wiederfinden sollte.

Mitten in ihre Gedanken hinein vibrierte ihr Handy. Sie zog es aus der Tasche ihres Jeansrocks und sah aufs Display. Es war die Nummer ihres Verlages, Éditions Rêves. Ein ungutes Gefühl erfasste sie, doch sie nahm den Anruf trotzdem entgegen.

«Salut, Suzanne», sagte sie, «was gibt es denn?»

Sie hörte der Stimme ihrer Lektorin einen Moment zu.

«In etwa zwei Stunden? Äh, ja klar, das schaffe ich», sagte sie. «Ich komme also zu euch ins Verlagshaus, ja?»

Aurélie nickte und verabschiedete sich, dann legte sie auf. Suzanne hatte sie um ein spontanes Treffen gebeten, um sich gegenseitig upzudaten, wie sie gesagt hatte. Nun, daran war erst einmal nichts Ungewöhnliches. Und doch war Aurélie ein wenig mulmig bei der Aussicht, so unvorbereitet mit ihrer Lektorin zu sprechen. Andererseits hatte es ihr in der Vergangenheit schon oft geholfen, Suzanne um Rat zu bitten und gemeinsam ein wenig zu brainstormen.

Sie sollte ganz locker zu dem Treffen gehen und hören, was Suzanne wollte, entschied sie. Und zum Glück hatte sie ja auch noch ein wenig Zeit.

Aurélie griff nach der Menükarte, die neben dem Zuckerstreuer lag, und klappte sie auf. Sie würde zum Espresso auch noch ein Dessert nehmen. Denn wenn Fabiens Kochkünste an der Place de la Contrescarpe berühmt waren, so waren die Patisserien, Törtchen und Eclairs von Lola, der Namensgeberin des Cafés, nahezu legendär!

2

Die Spiegel im Fahrstuhl bei Éditions Rêves schüchterten Aurélie jedes Mal ein, wenn sie in die oberste Etage des Verlagshauses fuhr. Ihr Bild wurde von allen vier Seiten zurückgeworfen und vervielfacht, was ihr Schwindel bereitete.

Zu Hause in ihrem winzigen Appartement in der Rue des Trois Frères in Montmartre war sie eigentlich ganz zufrieden mit ihrem Aussehen gewesen. Dem engen schwarzen Blazer merkte man jedenfalls nicht an, dass er ein Sonderangebot bei La Reine des Abbesses gewesen war, die Secondhand-Boutique ihrer besten Freundin Marwa. Er wirkte edel und schmeichelte mit der schmalen Taille ihrer Figur. Der kurze Jeansrock wiederum gab dem Outfit etwas Lässiges und milderte die professionelle Strenge der Jacke. Und Aurélies kurz geschnittenes Haar glänzte in einem schönen Kastanienbraun und betonte ihre großen dunklen Augen.

Beschwingt von diesem Anblick, hatte sie ihrem Spiegelbild zu Hause eine Kusshand zugeworfen, war die vielen Holzstufen ihres Treppenhauses hinuntergestürmt und eilig zur Métro gelaufen. Auf dem Bahnsteig hatte sie dann einem der vielen Wohnungslosen einen Euro in die Hand gedrückt, weil sie dachte, sie könnte ruhig etwas von ihrer Euphorie abgeben. Und nicht einmal die Trauben von Touristen hatten sie genervt, die in Pigalle einstiegen – so optimistisch war sie gewesen.

Doch hier, in den hundert Spiegelbildern dieser Kiste, die in dem altehrwürdigen Haus nach oben glitt, sah Aurélie plötzlich die Schatten unter ihren Augen und bemerkte einen großen Fettfleck auf dem Rock. Mist! Aber er war nun einmal ihr Lieblingskleidungsstück, in dem sie sich selbstsicher fühlte. Nur dass sie leider vergessen hatte, dass er vorhin beim Mittagessen mit der Salbeibutter enge Bekanntschaft gemacht hatte.

Der Fahrstuhl hielt mit einem Ruck, und die Türen öffneten sich. Aurélie trat ins Foyer mit den gläsernen Wänden, auf denen in Goldbuchstaben der Name des Verlags schimmerte. Eine Empfangsdame, die mit einem Headset hinter einem futuristisch wirkenden Tresen saß, winkte sie wortlos heran, sprach aber weiter unablässig mit ihrem unsichtbaren Gesprächspartner. Aurélie stellte sich abwartend vor den Tresen und ließ die Augen über die Wände mit den Bücherregalen in dezentem Grau gleiten, die glänzenden Holzdielen und die herrschaftlichen Flügelfenster mit Blick auf die Stadt. Durch eine Scheibe entdeckte sie sogar die Silhouette des Eiffelturms. Hier oben merkte man nichts mehr davon, dass das Haus hundertfünfzig Jahre alt war, es war aufs Modernste saniert worden.

Aurélie zupfte sich nervös den Blazer zurecht. Sie hatte es heute wirklich nötig, selbstsicher zu wirken. Ihr letztes Buch war ein Flop gewesen und hatte bereits ein Jahr nach Erscheinen auf den Wühltischen von Gibert Jeune und Fnac in der Rubrik Modernes Antiquariat vor sich hingestaubt. Auch dass ihre Lektorin Suzanne sie heute in den Verlag gebeten hatte, schien ihr kein gutes Zeichen. Normalerweise trafen sie sich in einem hübschen Café oder auf ein Getränk in einer angesagten Bar. Aber es drohte das Abgabedatum für Aurélies nächsten Roman – und von einem fertigen Manuskript konnte noch lange nicht die Rede sein. Viel mehr als ein paar wirre Notizen, hastig in ihr Büchlein gekritzelt, hatte sie seit dem letzten Sommer noch nicht zuwege gebracht.

«Bonjour», sagte die Dame mit dem Headset endlich und sah Aurélie an. «Sie wünschen?»

«Ich … habe einen Termin», sagte Aurélie betreten.

Natürlich, der Verlag hatte viele Autorinnen, und es war wohl zu viel verlangt, dass man ihr Gesicht erkannte. Sie war eine unter vielen und bei Weitem nicht die erfolgreichste Schriftstellerin. Trotzdem gab es ihr einen kleinen Stich, dass sie ihren Namen nennen und ihn sogar buchstabieren musste, ehe die Frau ihn in einer Liste fand.

«Ah, oui!», sagte die Empfangsdame kurz angebunden und nahm schon den nächsten Anruf an. «Suzanne erwartet Sie auf der Terrasse», raunte sie Aurélie halblaut zu. «Gleich hier geradeaus und dann links. Sie können es nicht verfehlen.»

Ehe Aurélie ihr danken konnte, sprach sie schon wieder ins Headset. «Natürlich», sagte sie, und jetzt klang ihre Stimme plötzlich verbindlich, geradezu begeistert, «die Verlegerin hat immer Zeit für ein Mittagessen mit Monsieur Houellebecq, sagen Sie nur, wann …»

Aurélie wandte sich ab und ging den bezeichneten Weg zur Dachterrasse. Als sie die Tür aufdrückte – ebenfalls gläsern, ebenfalls mit den goldschimmernden Worten Éditions Rêves –, sah sie ihre Lektorin mit der schwarz umrandeten Brille bereits an einem Tisch an der Brüstung sitzen, vor sich ihren Laptop und einen Espresso.

Hinter Suzannes silberblondem Haarknoten erstreckte sich die Stadt mit ihren Tausenden Dächern und Schornsteinen, ein Meer aus weißen Steinen, silbrigen Gebäuden und goldenen Kuppeln. Das Verlagshaus war eines der höchsten in der Straße, es lag südwestlich des Montmartre an der Place de Clichy, und der Blick vom Dach in Richtung Champs-Élysées, Invalidendom und Eiffelturm war atemberaubend.

Neben Suzanne saß ein Mann, den Aurélie nicht kannte. Er trug ein helles Sakko mit ein paar Knitterfalten und hatte wirres, grau meliertes Haar. Die beiden waren in ein Gespräch vertieft. Als Aurélie näher kam, sahen sie auf, verstummten abrupt und erhoben sich.

«Da bist du ja», sagte Suzanne und umarmte Aurélie herzlich, ehe sie zu dem Mann hinübersah. Ihr Blick wurde, wie es Aurélie schien, etwas reserviert. «Christian, das ist Aurélie Franck.»

Der Mann begrüßte sie mit zwei Wangenküsschen.

«Christian Renaud, enchanté», stellte er sich vor, «Counseling. Ich habe Suzanne gebeten, dass ich heute mit von der Partie bin. Sie haben doch nichts dagegen?»

Aurélie schüttelte etwas überrumpelt den Kopf. Was sollte sie auch sonst tun? Eigentlich hatte sie gehofft, allein mit ihrer Lektorin sprechen zu können, ihr vielleicht im Vertrauen zu erzählen, dass ihr Schreibfluss schon länger stockte, und gemeinsam mit Suzanne ein paar grobe Ideen zu besprechen. Doch auf einmal hatte sie das unangenehme Gefühl, dass Suzanne ein solches vertrauliches Gespräch vermeiden wollte. Oder weshalb hatte sie sonst diesen Berater dazugebeten, der wahrscheinlich gar nicht richtig in den Verlag gehörte?

«Setzen Sie sich doch», sagte Christian, als sei er der Gastgeber. Aurélie nahm auf dem verchromten Bistrostuhl gegenüber den beiden Platz, die sich ebenfalls wieder hinsetzten. «Möchten Sie auch einen café?»

«Gern», sagte Aurélie, die von zu viel Kaffee eigentlich immer Herzrasen bekam, und sie ahnte, dass das heute alles andere als hilfreich sein würde. Doch sie wollte nicht als Spielverderberin dastehen. «Und ein Wasser, wenn es geht?», setzte sie hinterher, in dem Versuch, ihm zu demonstrieren, dass sie wusste, was ihr zustand.

Christian zeigte ein glattes Lächeln. «Ich brauche auch noch eine Tasse. Wir arbeiten rund um die Uhr.» Er wandte sich an Suzanne. «Würden Sie …?», fragte er.

Suzanne nickte, sprang wieder auf und eilte quer über die Dachterrasse zur Glastür, wo sie im Gebäude verschwand.

Aurélie sah ihr verblüfft hinterher. Suzanne war eine der leitenden Lektorinnen bei Éditions Rêves, und es war seltsam, dass sie zum Kaffeeholen geschickt wurde. Was war hier eigentlich los?

«Wie schön, dass wir uns kennenlernen», sagte Christian und schlug die Beine übereinander. Er trug spitze Schlangenlederschuhe und wippte mit der Schuhspitze auf und ab. «So haben wir Gelegenheit, miteinander zu sprechen. Der Verlag nimmt gerade ein paar Umstrukturierungen vor, und ich als externer Berater werde diese Prozesse eng begleiten, um Éditions Rêves in die wirkliche Welt zu überführen.» Er betrachtete Aurélie, und ihr schien, dass sein Blick kurz an dem Fleck auf ihrem Rock hängen blieb und dann weiter über ihre bloßen Beine bis hinunter zu den Sandaletten wanderte. «Wie lange schreiben Sie eigentlich schon für uns?»

Für uns? Aurélie zuckte erneut zusammen. Sie war doch keine Auftragsschreiberin, die auf Bestellung für einen Verlag schrieb. Sie war Künstlerin! Doch sie beschloss, sich nicht die Blöße zu geben. Auf keinen Fall sollte er denken, sie sei eine Diva.

«Seit drei Jahren», sagte sie, «damals erschien mein Debüt hier im Verlag.»

«Natürlich», sagte Christian, doch sie sah ihm an, dass er keine Ahnung hatte, wie das Buch hieß.

Sie konnte es ihm nicht verdenken, denn damals waren nicht allzu viele Exemplare verkauft worden, wenn es auch ein paar ganz gute Kritiken bekommen hatte. Es war die Geschichte eines fünfzigjährigen Altenpflegers gewesen, der sich in die Frau verliebte, die täglich die frische Wäsche ins Altersheim lieferte. Nach wie vor mochte Aurélie ihre Geschichte sehr gern. Die beiden Frischverliebten, die sich ihre Liebe allerdings noch nicht gestanden hatten, unternahmen gemeinsam mit zwei sehr süßen Senioren eine heimliche Spritztour mit dem Wäsche-Lieferauto ans Meer.

Immer noch musste Aurélie lächeln, wenn sie daran dachte, wie sie das Buch geschrieben hatte. Voller Sympathie für ihre verschrobenen Figuren und voller Hoffnung, dass es sich gut verkaufen würde. Doch das hatte es nicht, und sie war sicher, dass zumindest diese Tatsache auch Christian bewusst war.

«Und Ihr neues Projekt?», fragte er jetzt und rührte überflüssigerweise in seinem leeren Espressotässchen. «Worum geht es da?»

«Meine Stoffe habe ich bisher eigentlich nur mit Suzanne besprochen», sagte Aurélie zögernd, «ich weiß nicht …»

«Erzählen Sie es mir», sagte er und beugte sich über den Tisch, sodass sein Gesicht plötzlich ganz nah vor ihrem war. «Machen Sie einen Elevator Pitch für mich, na los.»

«Einen was?», fragte sie verwirrt und fuhr sich durch die kurzen Haare.

«Stellen Sie sich vor, Sie würden mir im Fahrstuhl begegnen», sagte er, «und Sie hätten nur eine Minute Zeit, mich zu überzeugen, Ihre Idee zu kaufen. Na los!»

Aurélie starrte ihn an. «Aber der Verlag hat meine Idee doch bereits gekauft», sagte sie, «ich habe sogar schon einen Vorschuss bekommen.»

«Tun Sie es trotzdem», beharrte er und wippte wieder ungeduldig mit der Fußspitze. Er traf ganz leicht Aurélies Schienbein, schien es jedoch nicht zu bemerken. «Meiner Erfahrung nach wird ein Buch nur gut, wenn der Autor in einer Minute die Essenz rüberbringen kann. Egal wie, egal wann! Ich müsste Sie mitten in der Nacht wecken können, und dann müssten Sie mir sofort sagen können, worum es geht, alles klar?»

Aurélie spürte plötzlich, wie ihr warm wurde. Sie war in Versuchung, sich den Blazer aufzuknöpfen, doch sie befürchtete, er könnte das als verzweifelten Versuch einer Autorin interpretieren, von der fehlenden Essenz – wie er sagte – ihres Buches abzulenken. Also blies sie sich nur unauffällig etwas Luft ins Gesicht und dachte krampfhaft nach.

«Es geht um eine Frau», sagte sie schließlich, «die schon lange nicht mehr an die Liebe glaubt und –»

«Wie alt?», unterbrach er sie.

«Sie ist Anfang oder Mitte dreißig», sagte Aurélie, «etwa so alt wie ich.»

«Viel zu alt», sagte er sofort. «Wann waren Sie zuletzt in einer Buchhandlung, Aurélie? New Adult ist das Genre, das jetzt alle lesen wollen. Und wir bei Éditions Rêves wollen unseren Schwerpunkt auch in diese Richtung verlagern. Da liegt das Geld, wissen Sie! Und wenn die Protagonistin älter als fünfundzwanzig ist, brechen die Umsätze sofort ein, wir haben da genaue Zahlen und Statistiken.» Er rieb sich die Stirn, als schmerze ihn Aurélies Ignoranz. «Übrigens geht die Kurve auch runter, wenn sie nicht blond ist», fügte er hinzu.

«Aber …», begann Aurélie, «in meiner Geschichte ist sie eben schon über dreißig, und das muss sie auch sein, damit sie schon etwas erlebt hat. Schließlich hat es Gründe, dass sie nicht mehr an die Liebe glaubt. Und ihre Haare sind in meinem Konzept dunkelbraun.»

«Meinetwegen», sagte Christian und lehnte sich zurück. «Dann muss aber auf jeden Fall ein Schwimmbad vorkommen. Und am besten auch ein Hund.»

«Ein Schwimmbad?» Aurélie kam schon wieder nicht mehr mit.

«Ja.» Er nickte nachdrücklich und strich sich schwungvoll eine grau melierte Haarsträhne aus der Stirn. «Schwimmbad verkauft sich. Und Hunde auch. Ein Hund im Schwimmbad … Warten Sie, ich habe eine Idee! Diese brünette, aber trotzdem zweifellos sehr hübsche Frau in Ihrer Geschichte ist verzweifelt, sie weint, weil sie einsam ist, sie geht abends weinend an einer Wahnsinnsvilla vorbei, und da findet sie einen Hund, der seinem Besitzer ausgerissen ist. Sie bringt ihn zurück und verliebt sich in den sympathischen Hundebesitzer, und sie haben stundenlang Sex am Pool. Heilung durch Liebe und dazu Wasserplätschern, das ist es!»

Aurélie hätte beinahe laut aufgelacht. Doch als sie in das beflissene Gesicht ihres Gegenübers sah, wurde ihr klar, dass er es vollkommen ernst meinte.

Seine Stirn runzelte sich, ihm kam offenbar noch ein Einfall.

«Oder sie ist auf der Suche nach der Liebe und hat ein Date nach dem anderen, aber sie ist wählerisch, eine moderne Frau eben. So was lesen die Leute auch gern, wissen Sie. Die Heldin datet und ist furchtbar frustriert, bis sie auf den einen trifft, der sie von ihrer Einsamkeit erlöst.» Er überlegte. «Sie kennen sich doch bestimmt mit Dates gut aus, oder?» Er zeigte ein Lächeln, das er selbst wohl als freundlich empfand.

«Das würde ich so nicht sagen», antwortete Aurélie. Ihr letztes Date lag Jahre zurück, und es war ihr ganz recht so. Jedenfalls behauptete sie das immer gegenüber Marwa, wenn sie beide auf das komplizierte Thema Aurélie und die Liebe zu sprechen kamen. Viel gab es ehrlicherweise dazu ohnehin nicht zu sagen.

«Na, dann fangen Sie schleunigst damit an», sagte Christian. «Damit Sie wissen, wovon Sie schreiben. Das merken die Leser, glauben Sie mir!» Er überlegte. «Ein Date unter dem Eiffelturm …», murmelte er. «Und in dem Moment, als die Illumination beginnt, als der Eiffelturm anfängt, zu glitzern und Funken zu sprühen, erkennt die Protagonistin, dass sie den Kerl liebt.» Er schnippte mit dem Finger. «Ihr geht ein Licht auf, verstehen Sie?»

Ehe Aurélie antworten konnte, kam Suzanne mit einem Tablett zurück, auf dem drei dampfende Tassen standen. Sie sah zwischen Christian und Aurélie hin und her, und ein überraschtes Lächeln ging über ihr Gesicht.

«Ihr scheint euch ja ganz gut zu verstehen», sagte sie und stellte das Tablett ab. Doch ein Hauch Skepsis lag in ihren hochgezogenen Augenbrauen.

«Absolut», sagte Christian und nickte so überzeugt, dass sein Haar noch mehr in Unordnung geriet. Er nahm sich eine frische Espressotasse, riss ein Tütchen Zucker auf und streute den Inhalt hinein. Die Hälfte ging daneben und rieselte auf den Tisch, doch er kümmerte sich nicht darum. «Aurélie weiß, worauf es ankommt. Das wird ein Bestseller!»

Sein Lächeln erstarb. Er beugte sich erneut über den Tisch und sah Aurélie eindringlich an.

«Und das muss es auch, hören Sie? Noch ein Flop, und Ihr Autorenname ist verbrannt, das wissen Sie ja. Hier bei Éditions Rêves werden schließlich Träume verkauft.»

Aurélie verbrühte sich die Zunge am kochend heißen Espresso und sah mit tränenden Augen auf die sonnenbeschienene Stadt hinaus, über die sich der tiefblaue Sommerhimmel spannte. Gestern noch hatte es wie aus Eimern geschüttet. Doch heute war kein noch so klitzekleines Wölkchen zu sehen.

«Aurélie weiß schon, was sie tut», sagte Suzanne begütigend und legte eine Hand auf Aurélies Arm. «Nicht wahr?»

Aurélie nickte, obwohl es in ihr ebenso kochte wie in ihrer Espressotasse. Sie stand auf.

«Ich muss los», sagte sie unvermittelt.

«Oh.» Suzanne blickte sie prüfend an. «Jetzt schon?» Doch dann glitt ihr Blick zu Christian, der ölig lächelte, und in ihre Miene trat etwas Grimmiges. Sie nickte wissend. «Geh ruhig, chérie, ich rufe dich an», sagte sie, «und dann reden wir in Ruhe.»

Sie betonte die beiden letzten Worte ganz leicht. Und Aurélie war nicht sicher, aber es schien ihr, als hätte Suzanne ganz kurz mit den Augen gerollt. So, dass nur Aurélie, nicht aber Christian Renaud es mitbekam.

Er trank in aller Seelenruhe seinen Kaffee und winkte Aurélie fröhlich zum Abschied zu. In Gedanken war er wahrscheinlich schon wieder an einem Pool und konzipierte den nächsten Bestseller für Éditions Rêves.

3

«Bonsoir, Madame!» Mathieu verabschiedete die alte Dame, die mit einer hübschen Ausgabe von Les Miserables in einem Papiertütchen die Buchhandlung verließ, und blieb einen Moment in der offenen Ladentür auf dem schmalen, sonnigen Bürgersteig stehen. Gleich würde er seinen Laden schließen. Draußen duftete es nach frischem café und gebratener Dorade aus einem der nahe gelegenen Restaurants. Auf der Straße waren noch ein paar Regenpfützen von gestern zu sehen, doch heute war das Wetter makellos gewesen.

Das Holz der Fassade seines Buchladens war taubenblau gestrichen. Es wirkte wie eine Reminiszenz an die vielen Hipsterläden und Trendcafés, die überall in der Stadt aus dem Boden schossen und mit ihren nostalgischen Farbanstrichen gegeneinander wetteiferten – tintenblau, altrosa, buttermilchgelb. Ganz Montmartre war in den letzten Jahren zu einer einzigen Puppenstube geworden, die direkt der Belle Époque entsprungen schien. Doch der Eindruck täuschte. Die Farbe an Mathieus Ladentür blätterte bereits ab, sie war schon mehrere Jahrzehnte alt. Sein kleiner Buchladen Frère Jacques war nicht auf retro gemacht, er war einfach wirklich alt und klapprig. Zum Glück merkten die meisten Kunden den Unterschied aber gar nicht.

Kurz strich er über das sonnenwarme Holz, dann knipste er eine welke Blüte von dem Hortensienstrauch im Topf neben dem Eingang ab, trat zurück in den Laden und schloss die Tür. Er sah sein Spiegelbild im trüben Glas vorbeistreifen – dunkle kurze Locken, ein weißes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln, ein trauriger Mund inmitten eines Dreitagebarts, dazu helle grüne Augen. Mathieu wusste, wie er auf andere Menschen wirkte, vor allem auf Frauen, doch er ignorierte es, so gut er konnte. Für derlei Dinge hatte er schlicht keine Kapazität. Beinahe fürchtete er sich sogar davor, sein Bild in den Augen einer interessierten Frau gespiegelt zu sehen. Ja, er hatte richtiggehend Angst davor, eines Tages von einer von ihnen um etwas gebeten zu werden … denn er wusste nicht, ob er je würde darauf antworten können.

Der Verkaufsraum war menschenleer. Dabei war noch nicht ganz Feierabend, erst in einer halben Stunde würde Mathieu die hölzernen Kisten auf Rollen mit den Angeboten von draußen für die Nacht hereinbringen und die letzten Lücken auf den Büchertischen ringsum auffüllen, während Claude, sein einziger Mitarbeiter, den Kassensturz übernahm. Dieser würde heute leider so ausfallen, wie es die Totenstille im Geschäft vermuten ließ – erbarmungswürdig niedrig.

Doch es gab auch andere Tage. Besonders jetzt im August konnte es vorkommen, dass Touristen von der völlig überlaufenen Place du Tertre erschöpft in die ruhige Rue des Trois Frères stolperten. Dankbar für die Verschnaufpause nach dem ganzen Rummel rund um die Kirche Sacré-Cœur deckten sie sich in Mathieus kleiner, aber gut sortierter internationaler Abteilung mit Lesestoff ein oder kauften bereitwillig Postkarten und andere Mitbringsel für zu Hause.

So kamen Mathieu und Claude meistens ganz gut über die Runden. Dabei halfen auch die zahlreichen Stammkunden aus dem Viertel, die treu bei ihnen einkauften, anstatt zu Fnac an der Gare de l’Est zu gehen, wo es jede Menge Sonderangebote gab. Einige von denen, die regelmäßig kamen, hatten noch seinen Vater Jacques gekannt, nach dem der Buchladen seinen Namen hatte. Frère Jacques. Beinahe jeder zweite Kunde stimmte beim Eintreten erst einmal das bekannte Lied an. Natürlich in den verschiedensten Sprachen – je nachdem, aus welchem Land die fröhlichen Sänger stammten.

Schon oft hatte Mathieu überlegt, sich einen neuen Namen auszudenken und dem Katzenjammer in seinem Laden ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Doch er brachte es nicht übers Herz, die Erinnerung an seinen Vater aus dem Schriftzug über der taubenblauen Tür zu tilgen. Mit Veränderungen kam er nicht gut zurecht, schon gar nicht seit der Sache mit Nadia.

An sie wollte er jetzt aber unter keinen Umständen denken. Er hatte in den vergangenen Jahren mehr als genug an sie gedacht, die Erinnerungen an sie beherrschten sein ganzes Leben. Irgendwann musste damit Schluss sein, aber es war so eine Sache mit den Toten … Die Überlebenden hielten sie unwillkürlich in ihren Köpfen und Herzen lebendig. Und sosehr Mathieu sich manchmal wünschte, er könnte loslassen, lebte Nadia in seinen Gedanken und Träumen, ganz ohne seine Erlaubnis, einfach weiter. Der kleinste Reiz, und sie war da und verdrängte die Wirklichkeit. Ein Duft reichte, den eine andere Frau in ihren Kleidern mit in den Laden brachte – schon lief Nadia durchs Bild. Eine Melodie, die jemand nachts am Ufer der Seine pfiff, während Mathieu dort schlaflos entlangjoggte – und ihm klang Nadias Stimme in den Ohren.

Bisweilen war er sich gar nicht mehr sicher, ob es ihm noch um sie als Person ging. Manchmal schien sie ihm heute seltsam fern, fast wie eine Unbekannte. Sie war ja auch schon seit über zwei Jahren tot. Und sie waren ohnehin nur kurz verheiratet gewesen. Die Zeit hatte sich niemals auf ihre Seite gestellt.

Mathieu hatte vor allem Furcht vor dem Loch, das ihr Tod gerissen hatte, vor der Lücke in seiner Existenz. Und solange er noch an sie dachte, war das Loch nicht gar so bedrohlich. Die ständige Erinnerung an Nadia war vielmehr wie ein Pflaster, das eine Wunde notdürftig verschloss. Aber gleichzeitig hielt genau dieses Pflaster die Wunde auch offen, so paradox dies sein mochte. Mathieu wusste, dass es längst Zeit war, das Pflaster abzureißen und nach vorn zu schauen. Seine verstorbene Frau jedoch mit Gewalt aus seiner Vorstellung zu tilgen, schien ihm, als würde sie ein zweites Mal sterben, und das erste Mal hatte ihm schon mehr als gereicht.

Glückwunsch, dachte er bitter, nun war er schon wieder in diesen widersprüchlichen Strudel hinabgesprungen und kreiselte hilflos in den tückischen Untiefen seines Bewusstseins.

«Claude?», rief er nach hinten.

Kurz darauf klimperte der bunte Perlenvorhang, der den Verkaufsraum vom Büro abtrennte, und sein älterer Mitarbeiter stand vor ihm. So groß und schlank, wie Mathieu war, war Claude klein und rund. Sie mussten ein lustiges Paar bilden. Pat et Patachon, hatte Nadia manchmal gesagt und ihr sanftes Lächeln gezeigt, das Mathieu so liebte und von dem er nie genug bekommen hatte. Bis heute studierte er ihr Lächeln auf seinem Lieblingsfoto von ihr, das unauffällig hinter der Kasse im Regal in einem kleinen goldenen Rahmen stand.

«Ja, Boss?», fragte Claude, wie immer mit einem ironischen Blitzen in den Äuglein, und schob sich das grüne Barett zurecht, das sein schütteres Haar verstecken sollte. «Bist du dem massiven Ansturm hier vorne nicht gewachsen, mein Lieber?»

«Ich dachte, wir könnten eine Partie Schach spielen», sagte Mathieu, «ich brauche ein bisschen Ablenkung.»

«Ah.» Claude strich sich über die weiß gestoppelten Wangen. «Wieder die dunklen Gedanken, ja?»

Mathieu nickte widerstrebend. Er kannte Claude schon sein ganzes Leben, der ältere Buchhändler hatte schon für seinen Vater gearbeitet und wusste beinahe alles, was in Mathieus Leben vor sich ging. Er schien auch stets seine Gedanken und Gefühle zu kennen. Manchmal störte Mathieu das, und manchmal war es eine ungeheure Erleichterung, dass es wenigstens einen Menschen auf der Welt gab, vor dem er sich nicht verstellen musste.

«Na dann», sagte Claude, «on y va! Aber ich werde dich vernichten, das ist dir hoffentlich klar.»

Er schlurfte nach hinten und kam mit dem Holzkoffer zurück, in dem das Schachspiel war. Er hatte Mathieu schon als Kind die Regeln beigebracht, und seitdem spielten sie beinahe täglich.

Claude klappte den Koffer auf, stellte das Brett auf eine freie Ecke des Verkaufstischs und brachte die Figuren in Position. Dann ging er um den Tisch herum und hievte sich mit einem Schnaufer auf den hohen Hocker.

«Alors», sagte er und baumelte mit seinen kurzen Beinen, «l’ouverture! Du fängst an.»

Mathieu lehnte sich von der anderen Seite im Stehen an den Tisch. Mit geübter Geste zog er seinen weißen Pion, einen Bauern, nach vorn. Claude bewegte ebenfalls eine Figur, und so ging es ein wenig hin und her. Am Anfang einer Partie machte niemand von ihnen einen Fehler, dafür waren sie zu eingespielt. Mathieu vertiefte sich immer mehr in das Spiel, und erst, als die Eingangstür geöffnet wurde, sah er auf.

«Salut, Mathieu», sagte die junge Frau mit dem Kurzhaarschnitt, die von der sonnigen Straße hereinkam. «Bonsoir, Claude. Lasst euch bitte nicht stören, ich gucke erst mal nur. Ich brauche ein bisschen Inspiration.»

Mathieu nickte ihr zu und konzentrierte sich wieder aufs Spiel. Claudes Springer hatte seine Königin in arge Bedrängnis gebracht, und er biss sich auf die Lippen und überlegte, wie er sich aus der Klemme befreien konnte.

Claude wusste besser, was sich gehörte. «Salut, Aurélie», sagte er und rutschte vom Hocker. Er kam hinter dem Kassentisch hervor und breitete seine kurzen, stämmigen Arme in einer Willkommensgeste aus. «Dich haben wir ja eine Ewigkeit nicht gesehen.»

«Ich arbeite eben zu viel», sagte sie.

Mathieu sah erneut kurz auf. Aurélie lächelte ihm zu, es brachte ihr schmales Gesicht zum Leuchten. Trotzdem schien ihm ihre Miene heute ein wenig melancholischer als sonst. Er senkte wieder den Kopf über das Schachbrett, grübelte einen Moment über seinen nächsten Zug nach, dann sah er wieder hoch. Jetzt erst bemerkte er, dass Aurélie einen schwarzen Blazer trug und etwas formeller wirkte als gewohnt. Sie sah darin nicht aus wie eine Schriftstellerin, dachte er zerstreut, sondern eher wie eine Finanzbeamtin. Aber, das musste man ihr lassen, eine sehr hübsche Finanzbeamtin.

«Schreibst du gerade einen neuen Roman?», fragte Claude eifrig. «Es wird nämlich Zeit, dein letzter setzt schon Schimmel an.»

Er kicherte boshaft und deutete auf ein Buch mit einem unscheinbaren Einband, das einen Gnadenplatz auf der hintersten Ecke eines der Auslagentische bekommen hatte.

Mathieu wusste, warum es dort hinten lag – sie hatten nur ein paar Exemplare davon verkauft. Es war ein echter Ladenhüter, was wahrscheinlich an dem farblosen Cover und dem einfallslos geschriebenen Klappentext lag. Vielleicht auch am Thema, dabei mochte er die Geschichte von Aurélies zweitem Roman selbst sehr gern. Er handelte von einem alten Leuchtturmwärter, der einem gestrandeten Paar in einer Sturmnacht seine Lebensgeschichte erzählt. Die Geschichte war mäandernd wie ein Fischschwarm und stark wie der Sog des Meeres, an dem sie spielte, und schon ein paarmal hatte Mathieu sich gefragt, weshalb eine noch recht junge Autorin über derartige Dinge schrieb. Sie verstand ihr Handwerk, fand er. Doch es war keine Massenware. Man musste sich auf die Geschichte und die Figur des schrulligen alten Mannes mit den Narben auf der Seele einlassen. Ihm selbst war das nicht schwergefallen, doch er war nun einmal nicht der Durchschnitt der Leserschaft. Der Durchschnitt wollte sommerliches Flair und ewig frische Liebe, wollte sexy Bad Boys und dunkle Lords, mit denen die Protagonistin ihre wilde Seite entdecken konnte. Aber nichts davon boten die Romane von Aurélie Franck.

Das schien sie selbst am besten zu wissen. Sie seufzte abgrundtief und fuhr sich bekümmert durchs rotbraune Haar.

«Ich habe tatsächlich angefangen, ein neues Buch zu schreiben», sagte sie, «aber hauptsächlich arbeite ich in der Sprachschule im Quartier Latin. Jetzt im Sommer ist die Stadt voller internationaler Schüler, und ich muss schließlich irgendwie meine Miete bezahlen.»

«Die Kunst ist eben brotlos», brummte Claude. «Aber irgendwann kommst du ganz groß raus, und dann kannst du das Imparfait und das Passé Simple an den Nagel hängen und als Schriftstellerin ein luxuriöses Leben führen.»

«Ja, wie die meisten Schriftstellerinnen es tun, das weiß ja jeder», murmelte Aurélie. «In meiner Schreibvilla in Saint-Tropez …»

Gedankenverloren strich sie über einen Stapel Bücher mit pastellfarbenem Einband, auf dem in Glitzerschrift der originelle Titel Je ne t’aime pas inmitten von Sternenstaub prangte. Das ne und das pas waren heller gedruckt, damit der Eindruck entstand, man müsste sie nicht mitlesen. So verkehrte sich die Aussage «Ich liebe dich nicht mehr» ins romantische Gegenteil.

Von diesem Buch hatte Mathieu allein in dieser Woche bereits zweiundzwanzig Stück verkauft. Erst heute früh hatte er beim Großhändler nachordern wollen und war belehrt worden, dass es der Bestseller des Sommers sei und man zunächst nachdrucken müsse.

Bei dem bitteren Ton in Aurélies Stimme hatte Mathieu aufgehorcht. Er riss sich vom Schachbrett los und trat zu ihr und Claude an den Büchertisch.

«Alles in Ordnung?», fragte er. «Du wirkst heute irgendwie bedrückt.»

«Ich hatte vorhin ein ganz mieses Treffen bei meinem Verlag», sagte sie und sah ihn mit ihren dunklen, ausdrucksstarken Augen an, in denen jetzt Missmut stand. «Die wollen sich mehr auf New Adult spezialisieren, und ich soll mich anpassen. Der neue Berater, der den Verlag auf Vordermann bringen soll, hat mir ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, dass sie einen bestsellertauglichen Stoff von mir erwarten. Sonst war es das letzte Buch, das sie von mir verlegen.»

Mathieu machte große Augen, sie sah einfach zu kläglich aus, aber gleichzeitig meinte er, in ihrem Blick einen Rest Galgenhumor zu erkennen. Aurélie war seit Jahren Stammkundin bei Frère Jacques, und sie gehörte wie ein Teil des Inventars in dieses Viertel. In Mathieus Vorstellung war sie ebenso ein Bestandteil davon wie die bunten Farbpaletten der Straßenmaler auf der Place du Tertre oder das Moulin Rouge mit dem leuchtend roten Flügelrad. Er wusste, dass sie nur ein paar Hausnummern weiter wohnte, sie kam oft vorbei und kaufte Bücher in rauen Mengen. Über persönliche Dinge redeten sie nicht oft miteinander. Mathieu vermied es eigentlich sowieso nach Möglichkeit, mit anderen über Persönliches zu reden, das barg zu viele Untiefen und Unwägbarkeiten und führte allzu schnell aufs Glatteis seiner Traurigkeit. Und das wollte er niemand anderem als höchstens ab und zu dem langmütigen Claude zumuten.

«Vielleicht solltest du eine Geschichte schreiben, die im Schwimmbad spielt», sagte er achselzuckend. «Oder in der zumindest ein Hund vorkommt, das läuft immer.»

Aurélie starrte ihn so entgeistert an, dass ihm unheimlich wurde. «Nicht du auch noch», stöhnte sie.

«Habe ich was Falsches gesagt?», fragte er.

«Mathieu hat vollkommen recht», warf Claude ein und deutete auf einen anderen hohen Bücherstapel. «Pfötchen klärt auf», las er den Titel vor, «ein Hundekrimi in der Bretagne. Die Leute kaufen das wie frisches Baguette, sage ich dir.»

«Aber das ist überhaupt nicht das, was ich schreiben will», erwiderte Aurélie mit verzweifeltem Unterton. «Man kann schließlich nicht einfach nur des Geldes wegen und ohne echte Liebe zum Thema irgendetwas schreiben, das merken doch die Leser.»

«Vielleicht», sagte Mathieu und hob die Schultern. «Es ehrt dich jedenfalls, dass du so denkst, finde ich.»

«Am liebsten würde ich etwas Historisches schreiben», sinnierte Aurélie, «mir spukt schon lange eine Geschichte von einer Frau im Kopf herum, die unter widrigen Umständen lebt, vielleicht im Krieg oder so, und die sich dann wider Erwarten verliebt, sich ihren Platz zurück im Leben erkämpft …» Hilfe suchend sah sie zu Mathieu, dann zu Claude. «Klingt zu kompliziert für den aktuellen Markt, oder?»

Mathieu und Claude schwiegen beide, und in Aurélies Gesicht trat Enttäuschung.

«Ich merke schon», seufzte sie, «das wird nichts.»

Mathieu fand als Erster die Sprache wieder. «Wenn dich bei diesem Thema die Muse küsst, dann ist es das richtige», sagte er und legte ihr einen Moment aufmunternd die Hand auf den Unterarm.