Somnambul: Gefährte der Nacht - Stephanie Nailik - E-Book

Somnambul: Gefährte der Nacht E-Book

Stephanie Nailik

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Beschreibung

Romantisch und fantastisch – ein Roman, der unter die Haut geht! Die junge Kunsthistorikerin Eliza lernt bei einer abendlichen Führung im Wiener Leopoldmuseum den überaus attraktiven und rätselhaften Valeriu kennen, der sie von Anfang an in seinen Bann schlägt. Sie verlieben sich ineinander, doch Valeriu hütet ein dunkles Geheimnis, vor dem er Eliza verzweifelt zu bewahren versucht. Als ihn die Dämonen seiner Vergangenheit einholen und eine mysteriöse Selbstmordserie die Stadt erschüttert, wird es für beide lebensgefährlich... Somnambul: Gefährte der Nacht verführt alle, die von Vampiren nicht genug bekommen können! Begeisterte Leserstimmen: »Somnambul ist aber aus meiner Sicht einfach grandios.[...] Klare Kaufempfehlung.« »Man taucht ein in die Welt von Valeriu und Eliza und möchte gar nicht mehr zurückkommen.« »Überwältigende[r] Debütroman.« »Somnambul: Gefährte der Nacht« ist ein eBook von feelings –emotional eBooks*. Mehr von uns ausgewählte romantische, prickelnde, herzbeglückende eBooks findest Du auf unserer Facebook-Seite: www.facebook.de/feelings.ebooks. Genieße jede Woche eine neue Liebesgeschichte - wir freuen uns auf Dich!

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Stephanie Nailik

Somnambul: Gefährte der Nacht

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7 Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel
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Eliza blinzelte gegen die Sonne und genoss in vollsten Zügen die prickelnde Wärme auf der sonnenentwöhnten Haut. Ihr Fuß wippte beschwingt im Takt des kraftvollen Rhythmus von David Bowies Song Cat People, der über die kleinen, runden Ohrstöpsel ihres Smartphones direkt in ihren Kopf transportiert wurde. Die USB-Übertragung von ihren heißgeliebten alten Vinyls hatte zu einer eigenartigen und liebenswerten Symbiose geführt, die Musik im MP3-Format mit dem Rauschen und Knacken echter Schallplatten zum Ergebnis hatte.

Es war wohl der letzte spätsommerliche Tag in diesem bisher so verregneten und tristen September, der sich eher wie ein April aufgeführt hatte, und die Menschen bevölkerten in Scharen die Straßen Wiens. Die Temperatur war auf wohlige 24° Celsius geklettert und so hatte sich Eliza für einen der begehrten Plätze vor der Tür des Paolo Bortolotti in der Mariahilfer Straße entschieden. Sie nippte an ihrem Milchshake und beobachtete die Leute, die an ihr vorübergingen. Offenbar hatten alle sehnsüchtig auf das schöne Wetter gewartet, denn die Gesichter der Menschen kamen ihr gelöster und fröhlicher vor als sonst. Die Stimmung war eine ganz andere als in den Tagen zuvor, an denen alle versucht hatten, in geduckter Haltung und mit sputigem Schritt von einem Geschäftseingang zum nächsten zu hetzen, um nicht völlig durchnässt zu werden.

Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft hatte Eliza das Gefühl, tatsächlich in der Stadt zu sein, die sie von so vielen Urlauben und Exkursionen zu kennen geglaubt hatte und die ihre Heimat auf Zeit sein sollte – die sich aber in ihren ersten Wochen hier so ganz anders und so ungeahnt ungastlich präsentiert hatte.

Eben gingen drei alte Damen im eigenwilligen Partnerlook mit dunkelblauen Windjacken und weißen Hosen vorüber, von denen zwei zu allem Überfluss auch noch Schirmmützen mit Schiebedacheffekt trugen, durch deren Öffnung ihr graues, dauergewelltes Haar hervorlugte.

Eliza beobachtete eine junge Mutter im adretten Businesslook, die mit einem kleinen Jungen an der einen und einer Kelly–Bag an der anderen Hand zielstrebig auf den Straßenverkauf des Bortolottis zusteuerte. Doch noch ehe sie die Eistheke erreicht hatten, übersah das Kind im Eifer des Gefechts eine Unebenheit im Bodenbelag und schlug der Länge nach auf den Asphalt. Eliza erwartete Gebrüll, Tränen und herzzerreißende Szenen. Stattdessen zog die Mutter den Jungen rasch auf die Beine.

»Hast du was gefunden?«

Der überrumpelte Junge schüttelte den Kopf.

 »Schade«, lautete die lapidare Antwort der Mutter, ehe die beiden ihren Weg fortsetzten.

Es war keine einzige Träne gekullert.

 Eliza schaute auf ihre Uhr. Vor ihren Augen tanzten dunkle Flecken und es fiel ihr schwer, die Zeiger zu erkennen. Sie zahlte und griff nach ihrer Handtasche und dem Leinenbeutel mit der Aufschrift I’m not a Plastic Bag, in dem sich ein paar Bücher befanden, die sie zuvor als Fernleihen bei der Universitätsbibliothek abgeholt hatte. Sie passte ihren Schritt den schlendernden Passanten an, fühlte sich aber weder den Einheimischen zugehörig noch den Touristen, deren Status sie meinte, nun entwachsen zu sein. Sie nahm sich Zeit, sich die Schaufensterauslagen anzusehen, bog dann auf den Hof des Museumsquartiers ab und schlenderte zum Leopold Museum hinüber. Sie stieg die Außentreppe empor und befand zum wiederholten Mal, dass dieser moderne Museumskubus einfach nicht zu den Werken passen wollte, die er beherbergte.

Ehe sie um 19.30 Uhr ihre Führung absolvieren würde, hatte sie sich vorgenommen, noch ein wenig durch die Sammlung zu flanieren, sich dabei die Route für den späteren Rundgang zu überlegen und bei ihren besonderen Lieblingen vorbeizusehen. Sie begrüßte ihre Kollegin Bianca, die gerade mit einer Führung fertig war und sich für einen Moment auf einer der Sitzinseln niedergelassen hatte. Nach einem kleinen Plausch war Eliza pünktlich zurück im Foyer und erwartete gespannt – und wie immer etwas nervös –, wie viele und welche Art von Gästen sich einfinden würden.

Wenig später hatte sich eine kleine Traube um sie herum gebildet. Eliza machte es Spaß, den Menschen auf den ersten Blick Berufe zuzuordnen, und häufig lag sie mit ihren Vermutungen gar nicht so daneben. Ihre Spezialität war es, Lehrer zu identifizieren, und heute waren mindestens vier davon unter den Anwesenden. Ein alternativ wirkendes Elternpaar mit zwei lebhaften, etwa zehn– und zwölfjährigen Söhnen und ein älteres, sicherlich bereits pensioniertes Ehepaar, bei dem sowohl der Mann als auch die Frau je ein eigenes Exemplar des Museumsführers in der Hand hielt, selbstverständlich jeweils bereits vollgestopft mit kleinen Markierungszetteln, gehörten garantiert der Spezies der Pädagogen an. Hinzu kamen zwei vornehm wirkende alte Damen, die ihre Männer wahrscheinlich bereits überlebt hatten und nun die Art von Reisen unternahmen, zu denen sie in ihren Ehen nicht die Gelegenheit gehabt hatten. Eliza begrüßte ihre kleine Gruppe und schenkte ihr ein verbindliches Lächeln. Sie holte gerade tief Luft, um mit der Einführung zu beginnen, als eine kräftige Männerstimme »Moment!« brüllte, als wollte sie ein startbereites Flugzeug aufhalten. Es handelte sich um ein offenbar neureiches Pärchen, das sich der Gruppe atemlos näherte. Sie trug die Haare wasserstoffblondiert und dazu ein knappes Versace–Ensemble. Er hatte ein Sakko zu seinem T-Shirt mit buntem Aufdruck gewählt. Die beiden wirkten wie amerikanische Touristen, aber ihre Sprache ließ keinen Zweifel an ihrer österreichischen Heimat. Eliza setzte ein zweites Mal an, sagte ein paar einleitende Worte zur Architektur des Ausstellungsgebäudes und zur Sammlung und begab sich dann mit der Gruppe in das vierte Stockwerk, wo man die aktuelle Schau Wien 1900 untergebracht hatte.

Im ersten Saal erläuterte Eliza die Ursprünge der Sezession im Stimmungsimpressionismus und Historismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die beiden unruhigen Kinder schickte sie auf die Suche nach den Bildern, die nicht hierher gehörten. Doch schon unmittelbar darauf hatten sie die Flower–Power–Plakate, die aufgrund ihrer floralen, an den Jugendstil erinnernden Optik hier angebracht worden waren, entdeckt und machten nun umso lautstärker auf ihren Fund aufmerksam.

Eliza wanderte weiter in den Saal, der sich mit Koloman Moser beschäftigte, und von dort zu Gustav Klimt. Endlich schien sich auch die Wasserstoffblondine für etwas in dieser Ausstellung erwärmen zu können – die bunten Farben und das Blattgold in Klimts Bildern hatten es ihr angetan.

»Wahnsinn«, wiederholte sie nun unaufhörlich wie eine Platte, die einen Sprung hatte, nach jedem Satz, den Eliza über Klimt und seine Bilder sagte. Dabei dehnte sie dieses Wort, dessen Aussprache ihr offenbar so viel Freude machte, bedeutungsvoll in seine beiden Silbenbestandteile Wahn–sinn, wobei die Betonung auf einem sehr langen Wahn lag. Offenbar glaubte sie, ihre besondere Begabung für die Intonation dieses Wortes mache sie zur unbestreitbaren Kunstkennerin.

Eliza wandte sich dem Hauptwerk in diesem Raum zu, dem Gemälde Tod und Leben. Sie referierte gerade über die Zweiteilung des Bildraumes und die prägnante Farbsymbolik im Bild.

»Dem Tod sind die kantigen Formen und die düsteren Farben zugeordnet, während die Lebenden gemeinsam ein harmonisches Ganzes bilden. Ihnen sind die fröhlichen, klaren Farben, die runden, weiblichen Formen zugedacht. Keiner von ihnen ist bereit, dem Tod ins Auge zu sehen. Sie verschließen die Augen und scheinen seine Gegenwart nicht wahrzunehmen. Ihr phallusförmiger Kokon scheint es ihm unmöglich zu machen, in ihre Gemeinschaft einzudringen. Doch hat nicht die Unglückselige ganz am äußersten Rand der Gruppe just die Augen geöffnet und wird dem Tod im nächsten Augenblick Zutritt gewähren?«

Erst jetzt bemerkte Eliza, dass ihre Gruppe Zuwachs bekommen hatte. Ein eleganter Mann im anthrazitfarbenen Kaschmirpullover und dunkler Jeans hatte sich ihnen genähert und ihr offenbar bei ihren Ausführungen gespannt gelauscht, schien nun aber unsicher, ob er sich der Führung so einfach anschließen durfte. Mit einem gewissen Abstand folgte er der Gruppe in den Saal zum Thema Psychoanalyse. Eliza sprach ein paar einführende Worte zu Sigmund Freud und seiner auf das neue Jahrhundert vordatierten Traumdeutung, von der ein Exemplar in einer Vitrine zu sehen war. Immer wieder musste sie einen verstohlenen Blick zu dem Fremden hinüberwerfen, der noch immer Abstand hielt. Sie fragte sich, ob er von seiner Position aus verstehen konnte, was sie sagte, und unwillkürlich musste sie noch einmal genauer hinsehen.

Der Mann war außergewöhnlich attraktiv. Er war groß und schlank. Seine Bewegungen waren elegant und flüssig, seine Haltung gerade, irgendwie aristokratisch. Seine aschblonden, etwas längeren Haare hingen ihm von der einen Seite immer wieder locker ins Gesicht. Eliza bedauerte, dass er so weit entfernt stand, denn sie war sich fast sicher, dass zu diesem Mann auch ein besonders schönes Gesicht gehörte, doch sie konnte leider keine Einzelheiten erkennen.

Plötzlich bemerkte Eliza, dass sie ziemlich auffällig zu ihm hinübergestarrt hatte und außerdem eine peinliche Stille eingetreten war, obwohl es doch ihr Job war, diese Leute zu unterhalten. Schnell wandte sie sich Kokoschkas Plakat Pietà zu, und als sie aus den Blicken des Wasserstoffpärchens Unverständnis las, lieferte sie auch noch eine kurze Erklärung zum Begriff der Pietà, die gewöhnlich die um den gerade vom Kreuz abgenommenen Christus trauernde Maria zum Thema hat. Kokoschka hatte die Lithografie als Plakat für sein eigenes expressionistisches Theaterstück Mörder, Hoffnung der Frauen geschaffen.

»Eine bleiche, fast totenköpfige Frau im schwarzen Kleid hält einen muskulösen, puterroten Mann auf ihrem Arm. Sein Körper wirkt wie gehäutet. Beide scheinen miteinander zu ringen und einen erbitterten Kampf auszutragen, den Kampf der Geschlechter«, erläuterte Eliza den Bildinhalt.

Es kostete sie große Konzentration, ihre Gedanken beisammen zu halten und nicht ins Stottern zu geraten. Mit einem kurzen Blick stellte sie beruhigt fest, dass er noch immer da war und offenbar auf ihre weiteren Ausführungen wartete. Sie nahm all ihren Mut zusammen und lächelte aufmunternd zu ihm hinüber. Als es nicht danach aussah, als habe er ihre Aufforderung verstanden, und unverwandt ein paar Meter von der Gruppe entfernt stehen blieb, wandte sich Eliza dem nächsten Kunstwerk zu. Es handelte sich um Egon Schieles Selbstseher II. Tod und Mann, das Werk, das im Zentrum ihrer Promotionsschrift stand, an der sie gerade arbeitete. Es fiel ihr immer besonders schwer, vor Besuchergruppen über dieses Meisterwerk zu referieren, denn zum einen sollte eine Ausstellungsführung nicht zur Antrittsvorlesung ausarten, zum anderen fürchtete sie, dem Bild in der Kürze der Zeit nicht annähernd gerecht zu werden, und drittens stand sie in dieser Angelegenheit einfach nicht genügend über den Dingen und fühlte sich durch unqualifizierte Kommentare zu diesem Werk immer persönlich angegriffen.

Eliza ließ ihren Blick noch einmal prüfend über die Gruppe schweifen. Die beiden Jungen standen belustigt vor einer Jünglingsfigur George Minnes und amüsierten sich köstlich über deren winzigen Penis. Die Blondine kätschelte auf ihrem Kaugummi herum, scheinbar ging ihrem Kopf gerade der Sauerstoff aus. Das pensionierte Lehrerpaar nutzte die kurze Pause und blätterte bereits wieder wie wild in seinen Führern. Offenbar betrachteten sie jedes von Eliza vorgestellte Werk lieber in der winzigen Reproduktion als im Original direkt vor ihrer Nase. Der Fremde hielt immer noch seinen Sicherheitsabstand ein und Eliza konnte sich kaum vorstellen, dass er sie hören konnte. Zumindest redete sie sich das ein, denn aus unerklärlichen Gründen machte sie der Gedanke daran ziemlich nervös. Eliza entschied sich für eine knappe Darstellung des Schiele-Bildes, das in ihren Augen eines der zentralsten seines Œuvres war.

»Es handelt sich hier um ein Doppel-Selbstbildnis, das Schiele 1911 im Alter von 21 Jahren angefertigt hat. Dabei ist der Begriff Selbstbildnis weniger treffend als der Begriff Selbstdarstellung. Der Künstler bildet sich zusammen mit einem bleichen Alter Ego ab, der viele Deutungsmöglichkeiten zulässt. Der Selbstseher ist ein besonders komplexes und vielschichtiges Werk, das sich der großen Menschheitsfrage nach Leben und Tod annimmt.«

Eliza nahm die Unruhe in der Gruppe wahr, und sie forderte die alten Damen auf, ihre Gedanken zum Bild mitzuteilen.

Schließlich ergriff eine der beiden das Wort: »Ich finde es absolut entsetzlich. Das ist ein hässliches und furchtbar unheimliches Bild. Die beiden haben gar keine Augen, wie schrecklich – und es ist schlecht gemalt.«

Eliza wechselte die Farbe wie eine Ampel, doch ehe sie etwas erwidern und Partei für dieses wunderbare Stück Kunstgeschichte ergreifen konnte, meldete sich eine andere Stimme zu Wort. Im scharfen, belehrenden Ton schnitt er seiner Vorrednerin das Wort ab.

»Der Tod hat immer etwas Bedrohliches an sich.«

Mit einem unbeschreiblichen Timbre in der nun herb samtigen Stimme fügte er hinzu: »Doch will man in diesem fahlen Wesen wirklich die Personifikation des Todes sehen, so hat sie in meinen Augen auch etwas durchaus Tröstliches und Schutz Gewährendes.«

Eliza hielt den Atem an, plötzlich stand er direkt neben ihr, und sie hatte ihn nicht einmal näher kommen sehen. Anerkennend nickte sie ihm zu. Ein zartes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Noch niemals hatte sie einen so schönen Menschen gesehen. Hohe, markante Wangenknochen, eine perfekte, gerade Nase und sinnlich geschwungene Lippen prägten sein blasses, schmales, makelloses Antlitz. Doch das Exotischste an ihm waren seine Augen, in denen Eliza augenblicklich zu ertrinken drohte – das linke türkisgrün, das rechte lapislazuliblau. Eliza musste sich förmlich von seinem Anblick losreißen. Sie spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss, und ihre Wangen begannen zu glühen.

»Wenn uns sonst niemand mehr seine Eindrücke zu diesem Bild mitteilen möchte, bitte ich Sie, mir nun in den nächsten Raum zu folgen.«

Der Saal der Architektur, der die Jugendstil-Architektur der Jahrhundertwende in Wien dokumentierte, kam ihr äußerst gelegen. Ein großes Panorama-Fenster mit Blick auf den Ersten Bezirk schlug die Brücke zwischen gestern und heute. Dies war der Raum, der Eliza normalerweise eine Verschnaufpause erlaubte, denn der atemberaubende Blick auf die Stadt und der Film zur Wiener Architekturgeschichte waren für die meisten Besuchergruppen interessant, ohne großer Erklärungen zu bedürfen. Sie trat ans Fenster, um sich einen Moment zu sammeln und zu akklimatisieren.

»Egon Schieles Selbstseher scheint Ihnen sehr am Herzen zu liegen. Schade, dass Sie uns nicht mehr zu diesem beeindruckenden Werk erzählt haben.«

Eliza fuhr herum. Auch dieses Mal hatte sie ihn nicht kommen sehen und unterstellte nun insgeheim, dass er sich einen Spaß daraus machte, sich anzuschleichen und sie zu erschrecken. Er stand neben ihr am Fenster, als stände er dort schon die ganze Zeit. Wieder musste sie wie ein hypnotisiertes Kaninchen seine Augen betrachten. Er war älter, als sie vorhin aus der Entfernung vermutet hätte. Sein athletischer Körper und die blonden Haare machten es schwierig, sein Alter zu schätzen. Doch die leichten Falten um Augen und Mund ließen sie auf Mitte 50 tippen. Dann richtete sie den Blick nach draußen in die Dämmerung, um ihre Antwort stotterfrei formulieren zu können.

 »Ja, das ist richtig. Ich schreibe gerade meine Doktorarbeit über das Doppelgängermotiv bei Egon Schiele und der Selbstseher steht im Zentrum meiner Arbeit. Die Gruppe erschien mir allerdings zu heterogen, um ausgerechnet dieses sehr hermetische Werk in den Mittelpunkt der Führung zu stellen. Es tut mir leid, wenn Sie gerade an dieser Stelle meines Vortrages die nötige Tiefenschärfe vermisst haben.«

Als Nächstes betrat die Gruppe den Saal der Wiener Werkstätte. Hier waren Exponate aus allen Produktionsbereichen ausgestellt: Möbel, Vasen, Schmuck und Gläser. Eliza nannte ein paar Eckdaten zu dieser künstlerischen Produktionsgemeinschaft, zu deren Gründern Josef Hoffmann und Koloman Moser gehörten und deren Vorbild die britische Arts-and-Crafts-Bewegung gewesen war. Auf einem Podest in der Mitte des Raumes war eine so genannte Sitzmaschine Hoffmanns ausgestellt. Anhand dieses Beispiels erklärte Eliza ihren Zuhörern die Bugholztechnik und erläuterte, dass der voluminöse Körper, die strenge Geometrie und die bewegliche Rückenlehne den Sessel wie eine Maschine wirken ließen. In diesem Raum fühlte sich das Wasserstoff-Pärchen wieder sichtlich wohl. Sie schienen den Ausstellungsraum als Möbelhaus zu betrachten, denn sie schlenderten umher und diskutierten, welche der ausgestellten Stücke in ihr Eigenheim passen könnten.

Wie üblich blieb für die letzten drei Räume der Ausstellung nicht mehr viel Zeit, und Eliza erläuterte lediglich in kurzen Worten die tragische Dreiecksbeziehung zwischen dem Maler Richard Gerstl und dem Ehepaar Schönberg, der sich der nächste Saal widmete. Im Raum der Expressionisten, flankiert von Oskar Kokoschkas Dolomitenlandschaft Tre Croci und Egon Schieles Liebespaar, verabschiedete sie sich von ihrer Gruppe, die ihre Arbeit mit einem kräftigen Applaus belohnte.

Doch der schöne Fremde war verschwunden. Offenbar war es ihm zum Ende der Führung hin zu schnell gegangen und sie hatten ihn in einem der letzten Räume verloren. Eliza war unentschlossen, ob sie noch eine Runde machen sollte, um ihm vielleicht noch einmal zu begegnen. Andererseits war er womöglich absichtlich zurückgeblieben und schien keinen Wert darauf zu legen, sich von ihr zu verabschieden. Langsam und sich beiläufig in alle Richtungen umschauend, machte sie sich schließlich auf den Weg zum Aufzug.

Der Fahrstuhl befand sich laut Anzeige gerade im Untergeschoss, und sie musste warten.

»Ihre Führung hat mir sehr gut gefallen. Besonders Ihre Ausführungen zu Klimts Leben und Tod waren sehr erhellend für mich.«

Wieder war es ihm gelungen, sich völlig geräuschlos zu nähern, obwohl Eliza diesmal sogar nach ihm Ausschau gehalten hatte. Außerdem war es um diese Zeit, kurz vor Schließung des Museums, recht ruhig im Haus, so dass man die Schritte der wenigen Besucher auf dem Parkettboden eigentlich gut, ja fast zu gut hören konnte.

»Es freut mich, dass es Ihnen gefallen hat. Leider sind Sie ja erst recht spät zu uns gestoßen und haben einiges verpasst.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Aufzuges und beide stiegen ein. Die Tür schloss sich, und mit einem Mal waren sie allein. Er stand ihr gegenüber, lässig an die Wand gelehnt, und schaute sie an. Eliza überkam ein eigenartiges Gefühl, das nicht bloß daher rührte, dass sie keine besonders leidenschaftliche Aufzug-Fahrerin war. Noch nie hatte sie den kurzen Aufenthalt in einem Fahrstuhl als solch intime Erfahrung erlebt. Die Anwesenheit des schönen Fremden erfüllte den kleinen Raum mit einer unterschwelligen, kühlen Erotik und brachte Eliza völlig aus dem Konzept. Instinktiv verschränkte sie abweisend die Arme vor der Brust.

»Geht es Ihnen nicht gut? Sie sehen aus, als würden Sie das Fahrstuhlfahren nicht besonders gut vertragen.« Seine Stimme klang aufrichtig besorgt, seine exotischen Augen waren aufmerksam auf sie gerichtet.

»Ach, es geht schon. Ich reagiere auf Fahrstühle oft mit einem flauen Gefühl im Magen.«

»Nur noch ein Stockwerk, dann haben Sie es geschafft. Aber gestatten Sie mir eine Frage? Warum nehmen Sie nicht die Treppe, wenn Sie die Wahl haben?«

Seine bunten Augen fixierten sie noch immer besorgt, doch seine Mundwinkel umspielte ein amüsiertes Lächeln.

In diesem Moment öffnete sich die Tür und Eliza stürzte nach draußen. Sie war ihm noch eine Antwort schuldig.

»Auf diese Weise stelle ich mich meinen Ängsten«, sagte sie selbstbewusst, doch noch immer etwas blass um die Nase.

Offenbar fand er diese Auskunft sehr erheiternd, denn er zog auf äußerst charmante Art eine Augenbraue hoch und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, das seine makellosen weißen Zähne entblößte.

Dann fragte er: »Werden Sie nächste Woche wieder eine dieser wunderbaren Abendführungen leiten?«

»Nein, tut mir leid, nächsten Donnerstag habe ich frei. Aber am Samstagvormittag werde ich hier sein.«

Er wirkte ernsthaft enttäuscht: »Das kann ich leider nicht einrichten.«

Doch gleich darauf hellte sich seine Miene wieder auf und ein Hauch seines gewinnenden Lächelns kehrte zurück: »Der Donnerstagabend hingegen ist für mich wie geschaffen. Hätten Sie vielleicht Zeit und Lust, mir eine Stunde Ihrer kostbaren Zeit zu widmen? Ich würde zu gern noch etwas mehr über den Selbstseher erfahren. Selbstverständlich werde ich Sie für Ihren Zeitaufwand und die Privatführung angemessen entlohnen.«

»Solche nichtöffentlichen Führungen sind im Museum, sofern sie nicht ordnungsgemäß angemeldet werden, leider nicht gern gesehen. Aber wir können uns dort treffen, um uns über die Kunst zu unterhalten.«

Er lächelte sie nun strahlend und offen an und schien sich sichtlich auf ihre Verabredung zu freuen: »Dann um die gleiche Zeit wie heute?«

»Gut, abgemacht.« Sie reichte ihm die Hand und hätte sie fast vor Schreck zurückgezogen, als sie seine eleganten, feingliedrigen Finger berührte. Seine Hand war kalt wie Eis und die Berührung ließ sie unwillkürlich frösteln. Eliza selbst hatte häufig mit kalten Händen und Füßen zu kämpfen und ging kaum einen Abend ohne ein warmes Kirschkernkissen ins Bett. Doch solch unbeschreiblich kalte Hände waren ihr noch nie untergekommen. Offenbar hatte sie den Schrecken nicht verbergen können, denn er schaute sie einen Moment kritisch, geradezu prüfend an. Dann verabschiedete er sich eilig und war im nächsten Augenblick verschwunden.

Eliza musste noch ihre Sachen aus dem Garderobenspind holen, ehe auch sie sich auf den Heimweg machte.

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Als sie das Museumsquartier verließ, war es draußen empfindlich kalt geworden, und Eliza ärgerte sich, dass sie sich von dem herrlichen Sonnenschein am Mittag derart hatte täuschen lassen und lediglich eine dünne Strickjacke mitgenommen hatte, die sich dummerweise nur mit einem Bindebändchen schließen ließ. Zum Glück hatte sie es nicht weit. Eilig bog sie in die Siebensterngasse ein. Obwohl es hier zahlreiche Kneipen und Restaurants gab, war kein Mensch auf der Straße. Dennoch war der Weg vom Leopold Museum zu ihrer Wohnung in der Mondscheingasse eigentlich keiner, auf dem man sich fürchten musste. Es gab keine dunklen Ecken und überall hätte man sich in eine der Gaststätten flüchten können. Trotzdem beschlich Eliza an diesem Abend ein merkwürdiges Gefühl. Mehrmals hatte sie den Eindruck, es folge ihr jemand, obwohl sie keine Schritte und keine Stimmen hören konnte. Als sie allen Mut zusammennahm und sich ganz beiläufig umdrehte, war sie noch immer allein auf der Straße. Weit und breit war niemand zu sehen und es gab auch keine düsteren Hauseingänge, in denen sich jemand versteckt haben könnte. Eliza beschleunigte ihren Schritt nochmals und bog endlich in die Mondscheingasse ein. Sie war froh, als sie die Haustür hinter sich ins Schloss fallen hörte. Hier entschied sie sich gegen den Lift und nahm stattdessen die Treppe in den zweiten Stock.

Mit der Wohnung hatte sie einen wahren Glückstreffer gelandet. Über eine Wohnungsbörse hatte sie Kontakt zu einer Dozentin der Uni Wien aufgenommen, die ein Forschungssemester in Südamerika absolvieren wollte. Auf diese Weise war Eliza zu günstigen Konditionen zu einer wunderbar zentral gelegenen und luxuriös ausgestatteten kleinen Wohnung in einem repräsentativen Altbau gekommen.

Drinnen wurde sie sofort von Felisʼ Schnurren begrüßt. Eliza bückte sich nach der Katze, die ihr in freudiger Erwartung ihrer Abendmahlzeit um die Beine strich. Eliza vergrub für einen Moment das Gesicht in dem seidig-silbrigen Fell, dann war Felis schon wieder einen Meter weiter gelaufen und lotste ihr Frauchen auf diese Weise in die Küche. Eliza öffnete eine Dose Katzenfutter und verteilte den Inhalt auf einem Porzellanteller mit romantischem Rosendekor. Sie setzte sich auf einen der Küchenstühle und schaute Felis dabei zu, wie sie sich über das sogenannte Rinderfilet mit feinem Gemüse hermachte. Schließlich trat Eliza an den Kühlschrank und machte sich selbst ein Käsebrot. Dazu schenkte sie sich ein Glas des leckeren spanischen Weins ein, der noch vom Vorabend übrig war.

 Nach diesem kärglichen Abendessen entschied sich Eliza, gleich ins Bad zu gehen und sich bettfertig zu machen. In Nachthemd und Bademantel ließ es sich viel entspannter fernsehen, und außerdem konnte man später direkten Weges von der Couch ins Bett wechseln.

Eliza kuschelte sich in die Wolldecke und zappte durch das Fernsehprogramm. Schon bald sprang Felis leichtfüßig auf die Sofalehne, tapste wie selbstverständlich über Elizas Füße und blieb einen Moment auf deren Schienbeinen stehen. Obwohl Felis eine schlanke, fast zierliche Vertreterin ihrer Art war, konnte die Verteilung von knapp vier Kilogramm Lebendgewicht auf vier Pfoten à etwa zwei Quadratzentimeter beliebig schwer und schmerzhaft werden. Eliza war entsprechend froh, als Felis sich nach einer zweifachen Drehung um die eigene Achse endlich einen Platz an ihrer Seite gesucht hatte, das Köpfchen an Elizas Hüfte gebettet. Dann gab die Katze einen seufzenden Ton von sich, als hätte sie die größte Anstrengung der Welt vollbracht, und rollte sich schließlich wohlig schnurrend zusammen. Eliza blieb bei einem Kulturmagazin hängen, doch eigentlich hörte sie gar nicht richtig hin. Mit ihren Gedanken war sie bei dem schönen Fremden, mit dem sie nun unverhoffterweise eine Art Rendezvous hatte. Eliza durchfuhr ein leichtes Kribbeln, das sich zu einer latenten Übelkeit steigerte. Der bloße Gedanke verursachte bei ihr ein Gemisch aus Vorfreude und Nervosität.

Als sie so völlig in ihre Gedanken versunken war, klopfte es plötzlich an der Tür. Eliza schreckte hoch, und ihr erster Gedanke galt dem Fremden. Doch woher sollte der wissen, wo sie wohnte? Außerdem hatte es nicht geklingelt, sondern an der Wohnungstür geklopft. Eliza blickte rasch auf die Uhr – es war kurz nach zehn. Zögernd öffnete sie die Tür.

»Du siehst aber furchtbar verhuscht aus, Liebes. Du hast doch nicht etwa schon geschlafen? Aber dein Aufzug ist wirklich ganz entzückend. Erinnert mich an Carrie Bradshaw. Ist das Nachthemd Dior? Sicherlich Vintage. Die Spitze, das zarte Rosa, das süße Röschen am Dekolleté – das kann nur Dior sein. Wirklich ganz entzückend. Und dazu der pinkfarbene Nicki-Bademantel mit den Volants – super romantisch. Man sollte dich für einen der Fashion-Blogs im Netz fotografieren.«

Es war Stephan, ihr Nachbar. Eliza grinste: »Danke für die Komplimente, und ja, es ist ein altes Dior-Nachthemd.«

Ehe sie ihn einladen konnte, hatte Stephan bereits die Wolldecke ein wenig beiseitegeschoben und saß neben Felis auf dem Sofa, deren Hals er umgehend zu kraulen begann.

»Sag mal, ist noch etwas von dem köstlichen Wein von gestern Abend übrig, oder haben wir beiden Schnapsdrosseln die ganze Flasche leergetrunken?«

Sein Blick fiel auf das Weinglas, das auf dem gläsernen Couchtisch stand.

»Ah, Madame hat sich bereits allein ein Gläschen genehmigt?«

Eliza nickte mit gespielt betretener Miene, dann holte sie die Flasche mit dem kümmerlichen Rest zusammen mit einem Weinglas aus der Küche und brachte außerdem eine Packung Crostinis mit. Dann nahm sie sich die Wolldecke und machte es sich im Sessel bequem.

»Wie war dein Tag?«, wollte sie von ihm wissen und hoffte dabei gleichzeitig auf eine Gegenfrage.

»Ich kann mich nicht beklagen. Wir hatten gut zu tun. Die Cartier-Uhr, von der ich dir erzählt habe, ist auch heute weder ausgelöst noch verlängert worden und geht entsprechend in die Auktion. Vielleicht hast du ja doch Interesse?«

Eliza schüttelte den Kopf und Stephan fuhr fort: »Aber die alte Dame mit dem Granatkollier, das sie schon ihrer Enkelin versprochen hatte – du erinnerst dich –, sie war heute da und hat es ausgelöst. Gott sei Dank.«

Eliza musste lächeln. In ihren Augen war Stephan genau der richtige Mann für diesen Job. Er hatte das Herz am rechten Fleck und immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte seiner Kunden. Eliza war froh, dass sie Stephan gleich bei ihrem Einzug kennengelernt hatte. Er bewohnte die Wohnung direkt ihr gegenüber. Vom ersten Tag an war es, als würden sich die beiden schon ewig kennen. Eigentlich handelte es sich erst um sechs Wochen, doch sie gingen bereits so vertraut miteinander um wie alte Freunde, die schon zusammen den Kindergarten besucht hatten. Bei jedem anderen wäre es Eliza höchst unangenehm gewesen, ihm im Nachthemd gegenüberzusitzen, doch bei Stephan machte ihr das gar nichts aus. Er hatte ihr die Eingewöhnung in Wien erheblich erleichtert. In ihren ersten Wochen hier war er mehrmals mit ihr ausgegangen oder hatte sie abends bekocht. Außerdem war Stephan der perfekte Shopping-Partner, der jede Boutique und jeden Second-Hand-Laden Wiens wie seine Westentasche kannte. Stephan war ein schräger Vogel und ein wahrer Fashion-Victim. Seine braunen Haare waren kunstvoll verwuschelt, auf der Nase trug er eine topaktuelle große Hornbrille von Tom Ford.

Endlich stellte er die ersehnte Frage: »Du bist ja so ruhig. Hast du dich heute über irgendetwas geärgert? Wie war deine Führung?«

Obwohl sie darauf brannte, es ihm zu erzählen, fehlten ihr plötzlich die richtigen Worte, und sie druckste herum: »Nein, ich habe mich überhaupt nicht geärgert. Im Gegenteil.«

Eliza machte eine bedeutungsvolle Pause und nippte an ihrem Wein: »Ich habe jemanden kennengelernt. Er hat sich meiner Führung angeschlossen und wollte mehr über den Selbstseher erfahren. Ich habe noch nie einen so unglaublich attraktiven Mann gesehen – und dann erst seine großartige Stimme. Er war so charismatisch.«

Sie geriet ins Schwärmen, und Stephan konnte sehen, wie ihre blauen Augen leuchteten.

»Er will mich nächsten Donnerstag noch einmal im Museum treffen, um über den Selbstseher zu sprechen«, sprudelte es aus ihr heraus.

Stephan schaute sie überrascht an: »Und du hast gleich zugesagt? Das ist doch gar nicht deine Art. Er scheint dir wirklich ausgesprochen gut gefallen zu haben. Nun erzähl schon, wie genau sieht er denn aus? Wie alt ist er? Wie heißt er? Was macht er beruflich?«

Eliza dachte einen Moment nach, ihre Miene verfinsterte sich ein wenig.

»Ehrlich gesagt, weiß ich überhaupt nichts über ihn, außer, dass er sich offenbar für Kunst interessiert und dass er wahnsinnig schön ist«, gab sie kleinlaut zu.

Obwohl sich sein makelloses Gesicht regelrecht in ihren Kopf eingebrannt hatte, fiel es Eliza sehr schwer, ihn zu beschreiben. Angaben über einzelne Merkmale wie seine hohen Wangenknochen und seinen sinnlichen Mund erschienen ihr im Vergleich zu der tatsächlichen überirdischen Harmonie seiner Züge schlicht zu banal und nichtssagend. Also entschied sie sich gegen eine Aufzählung der Details und für eine knappe Schilderung der Fakten: »Er hat zwei unterschiedlich gefärbte Augen, und überhaupt sieht er ein bisschen aus wie David Bowie, nur noch viel, viel besser.«

Nun begannen Stephans Augen zu leuchten: »Besser als David Bowie? Mir ist noch nie jemand begegnet, der besser ausgesehen hätte als David Bowie. Eigentlich ist das schon fast ein Ding der Unmöglichkeit.«

Eliza glaubte, aus Stephans Worten einen Anflug von Ungläubigkeit und unterstellter Übertreibung herauszuhören, und sie beeilte sich zu sagen: »Na ja, ich habe ihn eben als so wahnsinnig schön empfunden. Vielleicht wirkt er ja auf andere gar nicht so außergewöhnlich.«

Doch noch während sie es aussprach, wurde sein Anblick vor ihrem inneren Auge erneut heraufbeschworen: »Nein, mit einem solchen Vergleich wird man ihm ohnehin nicht gerecht.«

Stephan biss genüsslich ein Stück Crostini ab: »Bist du dir sicher, dass der Typ nicht schwul ist? Ich denke, deiner Beschreibung nach würde ich ihn nicht von der Bettkante stoßen.«

Dann wollte Stephan noch zahlreiche Einzelheiten wissen, und sie musste ihm den gesamten Ablauf der Führung minutiös wiedergeben. Immer wenn sie auf den schönen Fremden zu sprechen kam und davon berichtete, wie er die alte Schnepfe in die Schranken gewiesen und Elizas geliebten Selbstseher verteidigt hatte, oder als sie von ihren Gefühlswallungen im Aufzug erzählte, quiekste Stephan wie ein vierzehnjähriges Mädchen. Eliza tat das gut, denn sie hatte nie eine beste Freundin gehabt, mit der sie eben solche Mädchengespräche hätte führen können. Aus diesen Diskussionen hatte sie sich immer herausgehalten und das Gefühl gehabt, einfach erwachsener und abgeklärter zu sein als ihre albernen Altersgenossinnen. Nun saß sie hier mit ihrem schwulen Nachbarn, beide waren Mitte 20, in einer noblen Wiener Altbauwohnung und holte bei einem guten Glas Wein nach, was sie als Jugendliche verpasst hatte. Als Eliza endete, hatte sie von jeder Einzelheit berichtet, an die sie sich erinnern konnte – lediglich ihr immenses Erschrecken bei der Berührung der eiskalten Hand hatte sie verschwiegen. Eliza wusste selbst nicht genau, warum sie es unterließ, dieses Detail zu erwähnen, zumal es für sie noch immer außerordentlich präsent war. Sie brauchte nur daran zu denken, schon lief ihr ein leichter Schauer über den Rücken. Doch sie bemühte sich, diese Empfindung zu verdrängen. Dann wechselten sie das Thema und redeten noch über dies und das.

Als Stephan sich schließlich erhob, theatralisch seine steifen Glieder streckte und sich von Eliza und besonders höflich von der schlummernden Felis verabschiedete, war es fast ein Uhr. Eliza brachte nur noch die Weingläser in die Küche und erhitzte ein Kirschkernkissen in der Mikrowelle, dann begab sie sich auf direktem Wege ins Bett.

Sie wollte unbedingt mit dem Bild des Fremden im Kopf einschlafen, um einen romantischen Traum mit ihm zu erzwingen, doch sie konnte sich kaum mehr auf den Gedanken konzentrieren. Der lange, ereignisreiche Tag und der Wein forderten ihren Tribut und ließen sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf fallen.

 

Auch am nächsten Morgen erwachte Eliza nicht mit den positiven, schwärmerischen Gefühlen, mit denen sie zu Bett gegangen war, sondern vielmehr mit einem undefinierbaren Schreck, der ihr durch die Glieder fuhr und ihren Herzschlag beschleunigte. Es war ein bisschen, als habe eine kalte Hand ihre Wange berührt. Das Bild des schönen Fremden, wie er ihr lächelnd im Fahrstuhl gegenüberstand, huschte durch ihren Kopf. Abrupt setzte sie sich im Bett auf und blickte angestrengt in das Halbdunkel des gemütlichen Schlafzimmers. Da der Rollladen nicht gut schloss, fiel immer ein klein wenig Licht von der Straße ins Zimmer, und offenbar ging draußen gerade zaghaft die Sonne auf. Dennoch fingerte Eliza nach dem Lichtschalter der dämmrigen Leselampe. Noch einmal schaute sie sich im Zimmer um, doch es gab nichts Ungewöhnliches zu sehen. Felis lag friedlich schlummernd zu ihren Füßen.

Es war noch früh, lange vor der Zeit, um die sie üblicherweise aufstand, und vollkommen ruhig im Haus. Eliza war schlaftrunken und versuchte ihre Sinne zu schärfen. Es gab kein Anzeichen dafür, dass irgendein Geräusch oder eine sonstige Regung für ihr plötzliches, schreckhaftes Erwachen verantwortlich war. Sie horchte, doch die Türklingel und das Telefon blieben still. Eliza fröstelte. Sie streckte die Hand nach Felis aus und strich ein paar Mal über deren samtiges Fell. Die Katze begann umgehend wohlig zu schnurren und drückte ihr Köpfchen gegen Elizas Hand. Sie knipste das Licht aus, drehte sich auf die Seite, der Katze zugewandt, und zog die Bettdecke bis ans Kinn hoch. Im Halbschlaf dachte sie noch einmal an den vorigen Abend, und Unruhe erfasste sie bei dem Gedanken, dass sie nun eine volle Woche auf ein Wiedersehen mit dem Fremden warten musste. Gleichzeitig aber verursachte der Gedanke, mit ihm allein eine feste Verabredung zu haben, erneut dieses nervöse, ängstliche Grummeln in der Magengegend. Schließlich aber siegte die Vorfreude, und während Eliza eindöste, kam sie doch noch zu den ersehnten schwärmerischen Träumereien, die ihr am Abend versagt geblieben waren.

Als sie gegen elf Uhr erneut erwachte, fühlte sie sich ganz anders, völlig entspannt und gut erholt.

 

Die nächsten Tage verbrachte Eliza hauptsächlich mit Recherche und Lektüre für ihre Doktorarbeit. Mehrmals machte sie sich auf den Weg zur Universitätsbibliothek, weil Fernleihen für sie eingetroffen waren oder weil sie bestimmte Dinge im Präsenzbestand nachschlagen musste. Doch eigentlich arbeitete sie lieber zu Hause, wo sie niemand störte, mit Büchern, die ihr selbst gehörten. Einen großen Teil der Bände, die sie für ihre Arbeit benötigte, hatte sie mittlerweile, zumeist antiquarisch via Internet, käuflich erworben oder ersteigert und damit eine ansehnliche Privatbibliothek zur Kunst der Jahrhundertwende in Wien aufgebaut. Jedes Buch, das als Päckchen bei ihr eintraf, wurde mit Sorgfalt gereinigt und in einen ansprechenden Zustand versetzt. Im Hinblick auf Bücher und ganz besonders auf Kunstbände hatte Eliza über die Jahre eine beachtliche Sammelleidenschaft entwickelt, die mit einer sehr liebevollen Behandlung ihrer Schätze einherging. Sie konnte es nicht ertragen, wenn jemand mit schmutzigen Fingern in einem Buch blätterte, die Seiten schroff umschlug und dabei Knicke verursachte, ein Buch auf seine Nase legte oder gar Flecken und Eselsohren fabrizierte. Bereits zuhause bei ihren Eltern in Kassel hatte sie als Schülerin und Studentin eine bemerkenswerte Büchersammlung zusammengetragen, die ihren Freundeskreis witzeln ließ, wenn Eliza einmal ausziehen werde, dann nur, um mehr Platz für ihre geliebten Bücher zu haben. Entsprechend schwer fiel es ihr auch, viele ihrer Lieblinge daheim zurückzulassen, als sie nach Wien ging. Am liebsten hätte sie einen ganzen Umzugswagen mit all ihren Büchern gepackt und mit sich genommen. Doch sie hatte sich entscheiden müssen und nur die Bände einpacken können, die für ihre Studien hier von Belang waren. Trotzdem fehlte hier und da immer wieder ein Werk, das ihr ihre Mutter dann gut geschützt zusenden musste.

Immer wenn Eliza in der folgenden Woche ihre Wohnung verließ, sei es auf dem Weg zur Universität, zum Einkaufen oder um mit Stephan Kaffee trinken zu gehen, ertappte sie sich dabei, wie sie sich mehr als gewöhnlich umsah und nach dem Fremden Ausschau hielt. Dann sagte sie sich, dass Wien eine Millionenstadt war und es völlig unwahrscheinlich wäre, hier jemanden zufällig zu treffen. Auch bei ihrer Führung am Samstagvormittag hatte sie die unterschwellige Hoffnung, er könnte, entgegen seiner Absage, plötzlich auftauchen. Doch er kam nicht.

Jeden Morgen erwachte Eliza mit dem merkwürdigen Kribbeln im Bauch, und manchmal hatte sie auch das unbestimmte Gefühl, nicht allein zu sein, wenn sie aufwachte. Doch sie schob diesen albernen Gedanken jedes Mal beiseite und schrieb ihn ihrer latenten Schwärmerei und der intensiven Beschäftigung mit Astralleibern und Geisterfotografie im Zusammenhang mit ihrer Doktorarbeit zu. Die beängstigende Empfindung bei der Berührung der eiskalten Hand kehrte jedoch nicht mehr wieder.

Dann kam der Donnerstag.

Eliza schlief in dieser Nacht unruhig und war völlig verspannt, als sie aufwachte. Am liebsten hätte sie bis zum Nachmittag geschlafen, da sie nicht wusste, wie sie die Stunden bis zu ihrer Verabredung verbringen sollte. Doch egal, wie sie sich in ihrem Bett hin- und herdrehte, sie konnte nicht mehr einschlafen und war bereits hellwach. Der Blick in den Spiegel gab in Form von tiefen Augenringen und völlig zerzaustem Haar Kunde von ihrem unruhigen Schlaf. Eliza stöhnte und stolperte auf dem Weg in die Küche über ihre eigenen Hausschuhe. Sie entschied sich für einen Instant-Cappuccino und hievte drei Teelöffel Pulver in ihre Tasse. Dann stellte sie den Wasserkocher an. Beim Versuch, das heiße Wasser in die Tasse zu gießen, versagte sie jedoch kläglich und verschüttete die Hälfte. Ihre Finger bekamen nur ein paar Tropfen ab, doch die waren heiß genug, um sie aufschreien zu lassen. Entnervt wischte sie die dampfende Pfütze weg. Dann widmete sie sich erneut ihrem Kaffee. Die Tasse war randvoll mit kochendem Wasser. Vorsichtig rührte sie mit ihrem Löffel darin herum, doch das Pulver wollte sich in dem zu heißen Wasser nicht lösen, und so schwammen oben unansehnliche und vor allem ungenießbare Cappuccino-Klumpen. Darum bemüht, nicht nochmals alles zu verschütten, balancierte Eliza die Tasse von der Anrichte hinüber zu dem kleinen Küchentisch. Dann griff sie nach der Schachtel mit Schokoladenkeksen, die auf der Fensterbank stand. Eigentlich war sie ein Mensch, der auf die erste Mahlzeit des Tages problemlos hätte verzichten können. Doch die vielen Jahre unter der Obhut ihrer fürsorglichen Mutter hatten ihr dieses auf ein Minimum reduzierte Ritual des Frühstückens in Fleisch und Blut übergehen lassen. So saß sie nun hier, wo niemand ihre Essgewohnheiten schelten oder gar kontrollieren konnte, und aß, der Macht der Gewohnheit folgend, ihren Keks. Anschließend, noch immer in Nachthemd und Bademantel, begab sie sich ins Arbeitszimmer. Es handelte sich um einen kleinen, doch hellen Raum mit einer geschmackvollen, modernen, aber nicht sterilen Einrichtung und einem imposanten, für den Raum etwas zu großen gläsernen Schreibtisch. An den Wänden waren ringsum Bücherregale angebracht, in denen hauptsächlich die biologischen Fachbücher der eigentlichen Bewohnerin dieser Wohnung standen. Doch die Regalböden waren so tief, dass man bequem zwei Reihen Bücher in ihnen anordnen konnte, und so hatte Eliza begonnen, für die Zeit ihres Aufenthaltes ihre eigenen Bücher vor den alten Bestand zu stellen.

Um jedoch ernsthaft zu arbeiten, war Elizas Kopf nicht frei genug, und so begann sie mit der stupidesten Tätigkeit, die ihr einfiel. Sie räumte den Schreibtisch auf. Sie wusste genau, dass das mitten in einer wissenschaftlichen Arbeit eigentlich vergebene Liebesmühe war und ihr Arbeitsplatz schon bald wieder genauso unordentlich aussehen würde wie zuvor. Doch für den Moment war es die ideale Beschäftigung, und so sortierte sie eifrig Bücher, Post-its, Ausdrucke und Ringbücher, bis man die gläserne Oberfläche des Schreibtisches wieder sehen konnte.

Als sie mit ihrem Werk zufrieden war, begab sie sich ins Bad, wo sie die nächste Stunde mit Schönheitspflege zubrachte. Sie schlüpfte in ihre schmale, weiche Lieblingsjeans und wählte dazu eine leichte weiße Bluse mit witzigen Retro-Details. Den Gedanken, dass sie sich auch noch überlegen musste, was sie am Abend tragen würde, schob sie weit beiseite. Dann beschloss sie, einkaufen zu gehen – nicht shoppen, sondern die notwendigen Besorgungen zu erledigen. Als sie vor die Haustür trat, stellte sie fest, dass es zwar wieder deutlich kälter geworden war, aber immerhin nicht regnete. Eliza entschied sich für den Supermarkt in der Neubaugasse. Da sie unbedingt Katzenfutter kaufen musste und außerdem Fruchtsaft und Wein mitbringen wollte, war der kurze Weg von Vorteil. Auch im Laden trödelte sie herum und kaufte einiges, das nicht auf ihrer Einkaufsliste stand. Am Nachmittag griff sie doch noch zu einem Fachbuch und machte es sich zusammen mit Felis auf der Couch im Wohnzimmer bequem. Sie las eine Weile und machte sich auch ein paar Notizen. Aber, wie bereits am Morgen befürchtet, fehlte es ihr an der nötigen Konzentration und ihre Gedanken schweiften immer wieder in Richtung des Fremden und der Verabredung am Abend. Eliza ertappte sich, wie sie, die Augen auf ihr Buch geheftet, eigentlich durch die Zeilen hindurchsah, regelrecht so tat, als lese sie, und dabei an etwas völlig anderes dachte. Die Situation war wahrlich grotesk, denn anders als beispielsweise bei der Lektüre in der Schule, war hier kein Lehrer anwesend, der ihr vorgeschrieben hätte, in ihr Buch zu schauen. Sie hätte es auch ganz einfach weglegen und ihren Gedanken nachhängen können. Unwillkürlich musste sie mit dem Kopf schütteln, als sie über die Absurdität ihres Verhaltens sinnierte. Dann klopfte es an der Tür, und wie bereits genau eine Woche zuvor schreckte Eliza auf und öffnete mit pochendem Herzen.

»Ich bin gar nicht erst bei mir drüben gewesen. Komme direkt von der Arbeit hierher. Du willst das aber nicht anbehalten, oder?«

Stephan scannte sie und ihr Outfit mit dem Kennerblick eines Couturiers und unterzog sie dann schnell und gekonnt der Prozedur der drei französischen Bussis auf die Wangen, dann war er bereits an Eliza vorbei in die Wohnung getreten. Eliza blickte etwas verunsichert an sich hinunter.

»Ich wollte mich schon noch umziehen, aber ich wusste noch nicht so recht, was.«

Stephan grinste breit: »Genau das wollte ich hören. Also – Modenschau?«

Sofort wurde Eliza von seiner fröhlichen Stimmung angesteckt, und sie ging ihm voran ins Schlafzimmer. Obwohl sie einen großen Teil ihrer Garderobe hatte zuhause lassen müssen, hatte sie hier einen sehr vollen und mit den unterschiedlichsten Trends und Moden bestückten Kleiderschrank, der auf den Betrachter ähnlich einem Theaterfundus wirken musste. Es handelte sich um eine bunte Mischung aus Designer-Mode und Kaufhausteilen, von Petticoats aus den Fünfzigern über den Glamrock der Siebziger bis hin zu den aktuell angesagten Leder-Leggins. Der Blick in diesen Schrank kam einer Zeitreise gleich. Selbst ein absoluter Laie auf dem Feld der Mode erkannte beim Anblick dieses Kleiderschrankes, dass hier viel Aufmerksamkeit, Zeit und Geld investiert worden war. Eliza hatte ein beachtliches Talent dafür entwickelt, mit einem nicht allzu großen Budget das ganze Spektrum abzudecken, das die Modewelt zu bieten hatte. Ihre Designer-Sachen kamen nur zu einem kleinen Teil aus der aktuellen Saison und aus den Fachboutiquen. Es handelte sich lediglich jeweils um eine kleine Auswahl der angesagtesten  Trendteile, die als Highlights ihrer Outfits dienten. Der überwiegende Teil ihrer Designermode hingegen stammte aus Online-Auktionen, Second-Hand-Shops, Designer-Outlets und von Flohmärkten.

Stephan ließ sich auf dem Rand des Bettes nieder und schlug die Beine übereinander. Seine Pose erinnerte an die eines Moderedakteurs in der Front Row einer Fashion-Show. Als Erstes griff Eliza nach einem kuscheligen silbergrauen Alpaka-Rock von Strenesse, doch Stephans Urteil lautete: »Zu winterlich«.

Dann hielt sie ein kurzes violettes Sixties-Strickkleid mit großen Zierknöpfen am weiten Rundhalsausschnitt hoch, das sie gern mit schwarzen Strumpfhosen kombiniert hätte, doch Stephan fand das Ensemble zu mädchenhaft. Unvermittelt ließ Eliza das Kleidungsstück fallen, das sie gerade in der Hand gehalten hatte, und setzte sich neben Stephan auf das Bett. Blitzartig war ihre Miene angespannt:

»Was mache ich, wenn er mich versetzt? Oder wenn er auf einmal mit seiner Frau oder mit seiner Freundin auftaucht? So ein Mann kann doch gar nicht mehr frei sein. Das ginge doch überhaupt nicht mit rechten Dingen zu.«

Plötzlich lag das ganze Unglück dieser Welt in ihrer Stimme, und Stephan nahm sie liebevoll in den Arm: »Erstens hat er sich deiner Führung angeschlossen, sich für dein Lieblingsbild interessiert und sich mit dir verabredet und nicht umgekehrt. Außerdem bist du doch auch noch zu haben. Bei einer Frau wie dir dürfte das dann auch nicht mit rechten Dingen zugehen.«

Elizas herabhängende Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. Sie erwiderte Stephans Umarmung und flüsterte: »Du bist ein Schatz, Stephan.«

Dann stand sie auf und widmete sich wieder dem Kleiderschrank und seinem Inhalt. Nach einigen weiteren Versuchen einigten sie sich auf ein klassisches Jersey-Wickelkleid von Diane von Fürstenberg. Der obere Teil des Kleides war mit einem schwarz-weißen Op-Art-Muster bedruckt und mit einer Art Polokragen versehen. Der Rock-Teil war schwarz und etwas über knielang. Dazu wählten sie ein Paar hochhackige schwarze Vintage-Schnürstiefeletten, die ein wenig an die Schuhmode des französischen Rokoko erinnerten, und einen modern interpretierten schwarz-changierenden Trenchcoat von Burberry, den Eliza im Schlussverkauf erstanden hatte. Wie das Kleid hatte der schmal geschnittene Mantel dreiviertellange Ärmel, was dem Outfit einen witzigen Aspekt verlieh.  

»Du siehst absolut fabelhaft aus«, befand Stephan und zog die Schleife des Bindegürtels vom Kleid zurecht. Wieder war er in die Rolle des Modeschöpfers geschlüpft, in der er sich sichtlich gefiel.

»Zusammen mit deinen blonden Haaren ist das ganze Ensemble sehr Deneuve«, philosophierte er: »Klassisch und sexy wie Belle de Jour«.

Beide waren große Filmfans und Liebhaber des klassischen europäischen Kinos. Daher erschrak Eliza, als Stephan diesen Vergleich aufstellte.

»Findest du es zu overdressed oder zu gewagt?«, wollte sie besorgt wissen.

Stephans Antwort kam prompt und absolut glaubhaft: »Unsinn, Liebes. Du siehst umwerfend aus. Punkt. Das ist doch schließlich der Sinn der Übung.«

Zur Unterstreichung seiner Worte und um die Diskussion als beendet zu erklären, stupste Stephan Eliza liebevoll mit dem Zeigefinger auf die Nase.

»Und darf ich jetzt noch an deine Haare?«

Eliza stöhnte auf, doch es handelte sich eher um ein gespieltes Augenverdrehen, denn Stephan war wirklich gut im Frisieren. Er nahm ihre blonden Locken locker am Hinterkopf zusammen und fixierte sie so geschickt, dass das Ergebnis sehr elegant, aber dabei völlig natürlich wirkte.

»So, nun haben wir aus der Deneuve ruck, zuck eine Michelle Pfeiffer gezaubert«, lobte Stephan seine Arbeit.

Zufrieden betrachtete Eliza sich im Spiegel. Sie musste sich ein wenig recken, um Stephan einen Kuss auf die Wange zu geben:

»Was täte ich nur ohne dich?«

Dann lud sie ihn zum Essen und zu einem Glas Wein ein. Eliza machte einen bunten Salat, während Stephan den Tisch deckte. Er ließ es sich richtig schmecken und lobte Elizas pikantes Dressing, doch sie selbst stocherte nur in ihrem Salat herum und bekam kaum etwas hinunter. Stephan schaute sie besorgt an.

Sie zuckte mit den Achseln: »Ich weiß auch nicht, warum mich dieser Mann so nervös macht. Es ist doch eine völlig zwanglose Verabredung an einem absolut unverfänglichen Ort. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass dieser Abend irgendwie bedeutend sein wird.«

Stephan machte große Augen und hörte einen Moment lang auf zu kauen. Dann sagte er lapidar: »Du hast dich verliebt, Liebes.«

So schnell verliebt man sich nicht, wollte Eliza entgegnen, schon gar nicht ich, aber sie spürte, dass sie diesen Gedanken nicht mit glaubhafter Intonation würde aussprechen können.

Als sie auf die Uhr sah, war es schon fast Viertel nach sieben.

»Ich muss los«, sagte sie aufgeregt und mit einer deutlichen Vorfreude in der Stimme.

Stephan half ihr in den Mantel: »Hast du ein Handy dabei, Eliza? Wenn irgendetwas ist, ruf mich an.«

Eliza gab ihm erneut einen Kuss auf die Wange.

»Lass einfach alles stehen, ich räume später auf«, rief sie ihm über die Schulter zu.

Dann fiel die Haustür ins Schloss.

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Eliza erreichte den Hof des Museumsquartiers um Punkt halb acht. Sie ließ den Blick über den Platz wandern, doch die unsäglichen, überdimensionalen roten Kunststoffbänke waren bis auf eine einzige, auf der ein Touristenpärchen mit einem Stadtplan Platz genommen hatte, alle unbesetzt, und insgesamt war es äußerst ruhig an diesem Donnerstagabend. Es ging ein kalter Wind, und Eliza fröstelte an ihren unbedeckten Unterarmen. Sie entschloss sich, drinnen im Foyer zu warten, und hoffte, dass er die gleiche Entscheidung getroffen hatte und schon dort sein würde. Doch noch ehe sie die steile Außentreppe erreichte, hörte sie seine schöne, melodische Stimme ihren Namen sagen.

»Frau Hoffmann, ich freue mich sehr, dass Sie wirklich gekommen sind.«

Eliza wandte sich ihm zu. Wieder stand er plötzlich neben ihr. Wie machte er das bloß? Elizas Herz vergaß für einen Augenblick zu schlagen, nicht weil er sie so sehr erschrocken hätte, sondern weil er so atemberaubend gut aussah. Als es wieder in die Gänge kam, klopfte es übermütig drauf los, als wollte es die verpassten Schläge doppelt und dreifach nachholen. Wahrscheinlich hätte sie ihn nicht wiedererkannt, wenn er sie nicht mit seiner unverwechselbaren Stimme angesprochen hätte. Er trug einen schwarzen Kurzmantel und hatte einen Schal in unterschiedlichen Grau-Schattierungen lässig um den Hals geschlungen. Seine blonden Haare trug er noch auf die gleiche Weise, doch sein Gesicht hatte sich verändert. Die Fältchen um Augen und Mund waren komplett verschwunden. Seine exotischen, wunderbaren Augen wirkten noch farbintensiver und sahen fast aus, als seien sie mit Kajal umrandet worden. Seine sinnlichen Lippen waren diesmal leicht gerötet, was im hübschen Kontrast zu seinem blassen, fast elfenbeinfarbenen Teint stand. Eliza war es ein Rätsel, wie sie ihn hatte auf über 50 schätzen können. Heute sah er kaum älter aus als sie selbst, und sie fragte sich, wie so etwas möglich sein konnte. Sicherlich konnten Stress, Kummer, zu viel Arbeit, Übernächtigung oder Krankheit Augenringe verursachen und einen Menschen ein paar Jahre älter aussehen lassen, was – sobald die Anspannung von ihm abgefallen war – auch wieder nachlassen konnte. Doch eine Verjüngung wie in seinem Fall war mehr als ungewöhnlich.

Eliza versuchte ihre Verwunderung zu verbergen und fragte stattdessen nach etwas, das sie ebenfalls irritiert hatte: »Woher kennen Sie meinen Namen? Wir haben einander, soweit ich mich erinnere, noch gar nicht vorgestellt.«

Noch während sie es aussprach, stellte sie fest, dass ihre Stimme einen viel zu misstrauischen Unterton angenommen hatte und dass sie lieber hätte sagen sollen, dass auch sie sich freute, ihn zu sehen. Sollte er tatsächlich etwas von den abenteuerlichen Verschwörungstheorien um sein plötzliches, lautloses Auftauchen und um seine wundersame Verjüngung bemerkt haben, die ihr durch den Kopf geisterten, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.

Er lächelte entspannt, als er ihr antwortete: »Oh, verzeihen Sie, wie unhöflich von mir. Mein Name ist Valeriu Bazon-Arany.«

Er reichte ihr die Hand und deutete eine Verbeugung an. Ein wenig zögernd griff sie zu, doch diesmal blieb der Kälteschock aus. Seine Hand war zwar deutlich kälter als ihre eigene, aber bei weitem nicht so frostig wie beim letzten Mal. Dennoch sah Eliza ihn erstaunt an.

»Das ist ein sehr exotischer Name. Woher stammen Sie?«

Er antwortete freundlich, aber für Elizas Geschmack ein wenig zu kurz: »Mein Name ist teils rumänischen, teils ungarischen Ursprungs.«

Dann fuhr er fort: »Aber um auf Ihre eigentliche Frage zurückzukommen: Sie haben Ihren Namen letzte Woche bei Ihrer Führung genannt. Erinnern Sie sich nicht?«

Tatsächlich nannte Eliza zu Beginn jeder Führung ihren Namen. Aber Valeriu war erst viel später zu der Gruppe hinzugestoßen. Sie behielt diesen Einwand jedoch für sich und vermutete, dass ein anderer Teilnehmer der Führung sie wohl mit Namen angesprochen und er ihn sich gemerkt hatte. Deshalb nickte sie bloß, als habe seine Erklärung ihre Zweifel zerstreut.

Mit einem Mal sah er sie wieder mit diesem intensiven, analytischen Blick seiner bunten Augen so besorgt an, wie er es im Aufzug getan hatte.

»Aber Sie frieren ja«, bemerkte er.

Offenbar war ihm die Gänsehaut an ihren Unterarmen aufgefallen, die sie durch Verschränkung selbiger zu verdecken versucht hatte. Sie entschieden, dass man die Unterhaltung auch drinnen im Warmen fortsetzen konnte, und stiegen gemeinsam die steile Treppe zum Leopold Museum hinauf.

 Während Eliza diese Treppe immer ein klein wenig ins Schwitzen brachte, schienen ihm die Stufen überhaupt nichts auszumachen. Aus dem Augenwinkel beobachtete Eliza diesen besonderen, gleichermaßen kraftvollen wie geschmeidigen Gang, der ihr schon bei ihrer letzten Begegnung aufgefallen war. Jede seiner Bewegungen und Gesten strahlte Sicherheit und Eleganz aus. Jeder einzelne seiner Schritte war von einer kraftvollen, aber gemessenen Männlichkeit, gepaart mit einer natürlichen Anmut, wie Eliza sie noch nie bei jemandem wahrgenommen hatte. Im Vergleich mit ihm erschienen ihr die Männer aus ihrem Umfeld allesamt plump und schwerfällig. Ihm war eine ungewöhnliche, mächtige Präsenz eigen, die auf Eliza äußerst anziehend und, wie sie zugeben musste, sehr erotisch wirkte. Ihre Oma Sibylle hätte das Gemisch aus Charisma, Selbstsicherheit und Energie, das diesen Mann umgab, wohl eine starke Aura genannt.

An der Garderobe entledigten sie sich ihrer Mäntel.

Der Blick, mit dem Valeriu sie nun von oben bis unten betrachtete, war ungewöhnlich direkt, aber nicht einen Augenblick aufdringlich oder unangenehm. Es war nicht der dreiste Röntgenblick eines Machos, der versuchte, sie mit den Augen auszuziehen. Vielmehr betrachtete er sie mit höchster Aufmerksamkeit, wie man ein Kunstwerk in Augenschein nimmt.

Gemessen an der Intensität seiner Beobachtung, fiel sein Kommentar recht knapp aus: »Sie sind wunderschön.«

Gerade die Schlichtheit dieser Worte und die Allgemeingültigkeit der Feststellung, verbunden mit der Aufrichtigkeit in seiner Stimme, ließ Eliza erröten. Ein bezauberndes Lächeln huschte über ihre Lippen, dann schlüpfte sie schnell in die schützende Rolle der Kunstwissenschaftlerin und erklärte, dass ihnen, wenn sie den Selbstseher für sich allein haben wollten, nur noch eine gute halbe Stunde bliebe, bis ihre Kollegin mit ihrer Abendführung den Psychoanalyse-Saal bevölkern würde. Also begaben sie sich zu dem Bild, das der Anlass ihres Treffens war, und Eliza war gespannt, ob sich ihr Begleiter tatsächlich so sehr für das Gemälde interessieren würde, wie er vorgegeben hatte, oder ob er andere Gründe hatte, sie wiedersehen zu wollen. Eigentlich waren ihr beide Varianten auf ihre jeweilige Weise recht. Es würde ihr gefallen, in diesem überirdisch schönen Mann einen wahren Kunstliebhaber zu entdecken, der tatsächlich ihre tiefe Leidenschaft für Egon Schiele teilte. Ebenso hätte es ihr aber auch geschmeichelt, wenn ein Mann wie er sich nur ihretwegen an Schieles Selbstbildnis interessiert gezeigt hätte.

Eigentlich handelte es sich beim Selbstseher um ein eher unscheinbares Werk mit nahezu quadratischem Format von etwa 80 mal 80 Zentimetern. Auch wies es keine eruptiven Körperdrehungen und keine sexuellen Darstellungen auf, die Palette war tonig. Vor einem unbestimmten Hintergrund mit expressiver Pinselführung waren zwei Figuren dargestellt, die eng aneinander geschmiegt hintereinanderstanden. Die vordere Figur stand im Bildmittelpunkt. Ihr Körper wirkte durch den schmalen Hals und die kantigen Konturen dürr und labil, leicht nach vorn gebeugt und dadurch bucklig zusammengesunken. Die Figur war in eine Art dunkle Mönchskutte gewandet und glatzköpfig dargestellt, so dass die vielen tiefen Falten auf der Stirn stark betont wurden. Die Person kreuzte vor der Brust die Hände, die Finger waren lang, knochig und übergroß und muteten im Bereich der Knöchel skelettartig an. Die Haut erschien hier verrunzelt und alt und man meinte den gelblichen Horn der Nägel zu erkennen. Doch das Auffälligste an der Figur waren ihre Augen, an deren Stelle lediglich übergroße, rötliche, leere Augenhöhlen saßen. Die nach links versetzt hinter der ersten Person stehende zweite Figur war deutlich heller und nebulöser gestaltet.

Mindestens zehn Minuten standen sie einfach so nebeneinander vor dem Gemälde, und keiner von beiden sprach ein Wort. Eliza fühlte sich an ihre Studentenzeit erinnert, in der solche »Übungen vor Originalen« an der Tagesordnung gewesen waren und man bei einer von ihr sehr geschätzten Professorin oft weit über eine Stunde vor einem Bild stehen und es auf sich wirken lassen, ja sich in es versenken musste. Anfangs hatte ihr Kreislauf dabei regelmäßig versagt, doch Übung machte auch in derlei Dingen den Meister, und sie war häufig mit besonderen Eindrücken und tiefen Einblicken belohnt worden. Heute jedoch war Eliza unschlüssig, ob Valeriu sich in eben einer solchen Meditation befand oder ob er darauf wartete, dass sie ihm endlich Erklärungen lieferte. Einen Moment lang betrachtete sie sein wunderbares Profil, das mit dem langen Hinterkopf, dem vollen, perfekt liegenden Haar und der langen geraden Nase einen vollkommenen Scherenschnitt abgegeben hätte. Eine Haarsträhne fiel ihm über die Wange, seine Augen waren ernst und aufmerksam auf das Gemälde gerichtet, als würde er Zwiesprache mit ihm halten.

Dann schließlich wandte er seinen Blick so plötzlich von dem Bild ab und Eliza zu, als sei er soeben aus den Tiefen des Ozeans aufgetaucht. Sie fühlte sich ertappt. Doch sofort nahm er ihr die Unsicherheit, indem er ihr sein unwiderstehliches Lächeln schenkte.

 »Bitte lassen Sie mich ein wenig teilhaben an Ihrem Wissen um das Mysterium dieses ungewöhnlichen Kunstwerkes.«

Also begann sie: »Unser Gemälde nimmt in der langen Reihe der Selbstbildnisse Egon Schieles eine exponierte Stellung ein. Es handelt sich um ein besonders verrätseltes Werk mit stark allegorischen Tendenzen. Es fällt insofern aus dem Rahmen, da es nicht der großen Zahl stark typisierter Selbstportraits angehört, bei denen sich Schiele mit großen dunklen Augen, mit vollem schwarzem Haar und in oft sexualisierter Pose darstellt. Schiele ist hier nur ansatzweise in der vorderen Figur zu erkennen. Die zweite Figur hingegen würde sich allein gesehen nur schwerlich als Selbstbildnis deuten lassen. Ihren Status als Selbstdarstellung bezieht sie nur durch ihre Ähnlichkeit zur vorderen Figur.«

Valeriu war noch einen Schritt näher an Eliza herangetreten und hatte das Kinn nachdenklich und konzentriert auf Daumen und Zeigefinger gestützt. Es war eine vollendete Variante der klassischen Melancholiker-Geste.

Dann fragte er: »Warum nennt er sein Bild Selbstseher?«

»Nun, das ist in der Tat eine gute Frage. Die beiden abgebildeten Figuren schauen einander nicht an, sondern jede schaut für sich aus dem Bild heraus, ihre Blicke werden sich nicht treffen. Die visuelle Konfrontation der beiden dargestellten Personen miteinander kann also im Bildtitel nicht gemeint sein. Zunächst stellt sich daher die Frage der Malsituation. Einen Spiegel vorausgesetzt, schaut sich der Künstler selbst an. Im Gemälde verdoppelt er die Spiegelung seiner selbst. Statt sich allein, sieht Schiele im Spiegel, bzw. im Gemälde zwei Personen, nämlich sich selbst und eine Art fahlen, schattenhaften Doppelgänger. Anstelle des bei vielen traditionellen Spiegel-Selbstbildnissen anzutreffenden prüfenden Blicks des Malers treten aber hier die geschlossenen Augen bei der vorderen Figur sowie die leeren Augenhöhlen bei der hinteren Figur. Der Spiegel ist hier also reines Handwerksmedium, das die Voraussetzungen für ein fiktives, experimentelles Selbstbild des Künstlers schafft.«

Noch immer lauschte Valeriu ihren Worten wie gebannt. Dann bat er: »Erzählen Sie mir mehr über die Augen, über die zweite Figur und über ihre Nähe zum Tod.«

Also fuhr Eliza fort: »Die leeren Augenhöhlen sind ein Attribut des Totenschädels und mit ihm des personifizierten Todes. Schon der vordere Mann weist mit seinem überlängten, kahlen Schädel, mit seinen kantigen Konturen und den eingefallenen Wangen Aspekte des Totenkopfes auf. Seine Augen erscheinen auf den ersten Blick wie rötliche tiefe Augenhöhlen. Schaut man jedoch ganz genau hin, kann man am unteren Rand dieser Augen angedeutete rote Wimpern erahnen. Diese Augen sind also nicht leer, sondern lediglich geschlossen. Insbesondere das Gesicht der hinteren Figur weist große Ähnlichkeiten mit dem klassischen Totenschädel auf. Die leeren Augenhöhlen sind nahezu rund, der Wangenknochen steht spitz hervor, die Nase erscheint wie eingefallen und besteht nur aus dunklen Nasenlöchern. Das Kinn ist kantig und fleischlos. Dass diese Figur den Tod symbolisiert, ist eindeutig.«

Valeriu hatte den Blick wieder auf das Gemälde gerichtet und nickte fast unmerklich, doch eindeutig zustimmend. Durch sein offensichtlich nicht abebbendes Interesse fühlte sich Eliza ermutigt, in ihren Ausführungen fortzufahren: »Die beiden Protagonisten sind sich nah, doch scheint hier nicht der Moment des Abschieds aus der Welt der Lebenden dargestellt. Der Tod ist noch nicht Verführer, wie in anderen Werken Schieles, der Lebende noch nicht bereit, ihm in sein Reich zu folgen. Der Körper des Todes ist noch diffus, wenig konkret, seine Färbung bleich, fahl und seine leeren Augenhöhlen irisierend und irrlichternd. Er hat keinen direkten Kontakt zu seinem Vordermann. Er umhüllt und umfängt ihn wie eine Wolke, schaut ihm über die Schulter, aber er berührt ihn nicht.«