Somnia - Wenn wir träumen - Julia Fröhlich - E-Book

Somnia - Wenn wir träumen E-Book

Julia Fröhlich

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Beschreibung

3 Länder. 2 starke Frauen. 1 Geschichte, die alle Zeiten überdauert. Somnia - das ist der Ort der Träume - zumindest für Lizzie und Anna ist er das. Denn wo Vergangenheit verarbeitet und Zukunft geschrieben wird, vermischen sich die Welten der jungen Frauen zu einem großen Ganzen. Während Lizzie im Australien der Gegenwart verzweifelt gegen ihren Liebeskummer ankämpft, sieht sie die Welt in der Nacht durch Annas Augen. Gemeinsam mit ihr erlebt sie hautnah, was es bedeutet, im Wien der 1920er Jahre für die eigene Unabhängigkeit einzustehen. Anna - Tochter des weltberühmten Psychologen Sigmund Freud - ist fest entschlossen, ihr Leben in den Dienst der Wissenschaft zu stellen. Doch auch ihre Pläne drohen durch Amors Verstrickungen in Gefahr zu geraten...

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VORWORT UND HINWEIS
Kapitel 1 SYDNEY, NOVEMBER 2022
Kapitel 2 SOMNIA
Kapitel 3 SYDNEY, NOVEMBER 2022
Kapitel 4 SOMNIA
Kapitel 5 SYDNEY, NOVEMBER 2022
Kapitel 6 WIEN, AUGUST 1914
Kapitel 7 SOMNIA
Kapitel 8 SYDNEY, NOVEMBER 2022
Kapitel 9 ENGLAND, AUGUST 1914
Kapitel 10 SOMNIA
Kapitel 11 SYDNEY, NOVEMBER 2022
Kapitel 12 ENGLAND, AUGUST 1914
Kapitel 13 SOMNIA
Kapitel 14 SYDNEY, DEZEMBER 2022
Kapitel 15 ENGLAND, AUGUST 1914
Kapitel 16 SOMNIA
Kapitel 17 SYDNEY, DEZEMBER 2022
Kapitel 18 ENGLAND, AUGUST 1914
Kapitel 19 SOMNIA
Kapitel 20 SYDNEY, DEZEMBER 2022
Kapitel 21 ENGLAND, AUGUST 1914
Kapitel 22 SOMNIA
Kapitel 23 SYDNEY, DEZEMBER 2022
Kapitel 24 WIEN, AUGUST 1914
Kapitel 25 SOMNIA
Kapitel 26 SYDNEY, DEZEMBER 2022
Kapitel 27 WIEN, SEPTEMBER 1914
Kapitel 28 SOMNIA
Kapitel 29 SYDNEY, DEZEMBER 2022
Kapitel 30 WIEN, FEBRUAR 1915
Kapitel 31 SOMNIA
Kapitel 32 SYDNEY, DEZEMBER 2022
Kapitel 33 WIEN, AUGUST 1915
Kapitel 34 SOMNIA
Kapitel 35 SYDNEY, DEZEMBER 2022
Kapitel 36 WIEN, SEPTEMBER 1917
Kapitel 37 SOMNIA
Kapitel 38 SYDNEY, DEZEMBER 2022
Kapitel 39 WIEN, AUGUST 1920
Kapitel 40 SOMNIA
Kapitel 41 SYDNEY, DEZEMBER 2022
Kapitel 42 WIEN, JANUAR 1920
Kapitel 43 SYDNEY, DEZEMBER 2022
Kapitel 44 SOMNIA
Kapitel 45 WIEN, SEPTEMBER 1923
Kapitel 46 SYDNEY, DEZEMBER 2022
Kapitel 47 SOMNIA
Kapitel 48 WIEN, SEPTEMBER 1923
Kapitel 49 SYDNEY, DEZEMBER 2023
Kapitel 50 SOMNIA
Kapitel 51 WIEN, DEZEMBER 1923
Kapitel 52 SYDNEY, DEZEMBER 2022
Kapitel 53 SOMNIA
Kapitel 54 WIEN, DEZEMBER 1925
Kapitel 55 ADELAIDE, DEZEMBER 2022
Kapitel 56 SOMNIA
Kapitel 57 WIEN, JUNI 1930
Kapitel 58 ADELAIDE, DEZEMBER 2022
Kapitel 59 SOMNIA
Kapitel 60 WIEN, AUGUST 1938
Kapitel 61 ADELAIDE, DEZEMBER 2022
Kapitel 62 SOMNIA
Kapitel 63 ADELAIDE, DEZEMBER 2022
Kapitel 64 SOMNIA
Kapitel 65 ENGLAND, DEZEMBER 1938
Kapitel 66 ADELAIDE, JANUAR 2023
Kapitel 67 SOMNIA
Kapitel 68 ENGLAND, MÄRZ 1939
Kapitel 69 ADELAIDE, JANUAR 2023
Kapitel 70 SOMNIA
Kapitel 71 LONDON, SEPTEMBER 1939
Kapitel 72 SYDNEY, JANUAR 2023
Kapitel 73 SOMNIA
Kapitel 74 ENGLAND, FEBRUAR 1940
Kapitel 75 SYDNEY, JANUAR 2023
Kapitel 76 SOMNIA
Kapitel 77 ENGLAND, MAI 1940
Kapitel 78 SYDNEY, JANUAR 2023
Kapitel 79 SOMNIA
Kapitel 80 ENGLAND, SEPTEMBER 1940
Kapitel 81 SYDNEY, JANUAR 2023
Kapitel 82 SOMNIA
Kapitel 83 ENGLAND, MÄRZ 1941
Kapitel 84 SYDNEY, JANUAR 2023
Kapitel 85 SOMNIA
Kapitel 86 SYDNEY, JANUAR 2023
Kapitel 87 ENGLAND, DEZEMBER 1945
Kapitel 88 SOMNIA
Kapitel 89 SYDNEY, FEBRUAR 2023
Kapitel 90 ENGLAND, JANUAR 1946
Kapitel 91 SOMNIA
Kapitel 92 SYDNEY, FEBRUAR 2023
Kapitel 93 ENGLAND, NOVEMBER 1953
Kapitel 94 SOMNIA
Kapitel 95 SYDNEY, MÄRZ 2023
Kapitel 96 SOMNIA
Kapitel 97 SYDNEY, MÄRZ 2023
Kapitel 98 SOMNIA
Kapitel 99 SYDNEY, MÄRZ 2023
Kapitel 100 SOMNIA
Kapitel 101 ENGLAND, DEZEMBER 1953
Kapitel 102 SYDNEY, FEBRUAR 2023
Kapitel 103 SOMNIA
Kapitel 104 ENGLAND, DEZEMBER 1953
Kapitel 105 SYDNEY, FEBRUAR 2023
Kapitel 106 SOMNIA
Kapitel 107 SYDNEY, APRIL 2023
Kapitel 108 SOMNIA
Kapitel 109 SYDNEY, FEBRUAR 2023
Kapitel 110 SOMNIA
Kapitel 111 ENGLAND, APRIL 2023
Kapitel 112 ENGLAND, JANUAR 1954
Kapitel 113 ENGLAND, APRIL 2023
Kapitel 114 SYDNEY, JUNI 2023
Kapitel 115 ENGLAND, JULI 2023
Kapitel 116 SOMNIA
EPILOG
DANKSAGUNG

Julia Fröhlich

 

 

Somnia

Wenn wir träumen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Somnia – Wenn wir träumen

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten.

[email protected]

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags

wiedergegeben werden.

 

 

 

Korrektorat: Lara Späth

Umschlaggestaltung: VAJONA Verlag, unter Verwendung von Canva

Satz: VAJONA Verlag, Oelsnitz

 

 

VAJONA Verlag

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für alle, die den Mut haben, zu träumen – und noch mehr für diejenigen von uns, die ihn verloren haben.

Ich hoffe, ihr findet ihn auf Somnia wieder.

 

VORWORT UND HINWEIS

 

Die folgende Erzählung beschreibt eine Geschichte, die zu großen Teilen frei erfunden ist. Trotzdem enthält sie Elemente, die sich in dieser Form genau so zugetragen haben, wie sie im Buch geschildert werden.

 

Sie nimmt Bezug auf Personen und Ereignisse, die wirklich existiert haben, erhebt aber nicht den Anspruch, diese realitätsgetreu wiederzugeben.

 

Wie in Annas und Lizzies Welt verschwimmen auch auf der Reise, die du auf den nächsten Seiten durchlaufen wirst, Traum und Wirklichkeit. Lass dich darauf ein!

Kapitel 1 SYDNEY, NOVEMBER 2022

 

Die Sonne taucht die Wellen des Botany Bay in bunte Farben, als das Flugzeug zur Landung am Sydney Airport ansetzt. Ein langer Flug liegt hinter mir, und ich habe Mühe, meine müden Lider offenzuhalten.

Seit mehr als 24 Stunden bin ich wach, denn vor lauter Aufregung habe ich den ganzen Flug über kein Auge zugetan.

Es ist das erste Mal, dass ich meiner britischen Heimat entfliehe. Entfliehen – das ist tatsächlich das Wort, das meine Reise am besten beschreibt. Wovor genau – ob vor meiner Zukunft oder meiner Vergangenheit – weiß ich nicht.

Das Bordfernsehen hat mich durch die letzten Stunden getragen. Ungeduldig habe ich mich durch die Programme geklickt. Letztendlich bin ich bei einer kitschigen Romcom hängen geblieben, deren Ende mir bereits nach wenigen Minuten vollkommen klar war.

Es zählt zu meinen unliebsamen Talenten, dass ich es verstehe, mich stundenlang in Selbstmitleid zu suhlen.

Und nichts anderes ist es, was die Liebeskomödie in mir ausgelöst hat, denn sie hat mich viel zu sehr und gleichzeitig in so vielen Punkten viel zu wenig an Marc erinnert. Marc, denke ich und blicke aus dem Fenster. Ob dieser Name für mich je an Bedeutung verlieren wird?

Ich schüttele den Kopf und ärgere mich über mich selbst. Diese Reise ist alles, wovon ich je geträumt habe. Und ich werde nicht zulassen, dass sie durch meinen schlimmsten Albtraum überschattet wird.

Ich zappe mich durch das Radioprogramm des Bildschirms und bleibe bei Kelly Clarkson hängen. »Since U Been Gone«, trällert sie energisch in mein Ohr, und ich frage mich, ob mein Selbstbewusstsein je ihre Tonhöhe erreichen wird. Mehrere Oktaven trennen mich davon. Seitdem ich denken kann, habe ich das Gefühl, unsichtbar zu sein. Ich war nie eines der Mädchen, die viele Freunde hatten. Ich war nie besonders beliebt oder begehrt.

Im Gegenteil: Die meisten Tage meines Lebens beobachte ich vom Seitenrand aus, und manchmal habe ich das Gefühl, dass mein Leben genauso an mir vorbeizieht wie die Palmen, die wir gerade mit dem Flugzeug passieren.

Nur noch wenige Meter trennen uns vom Boden – echtem australischen Boden. Ich kann es noch immer nicht fassen. Ich, Lizzie O’Neill, das kleine Mädchen aus dem Reihenhaus im Londoner Norden, das nicht einmal die eigenen Nachbarn erkennen würden, habe es tatsächlich nach Down Under geschafft. Ein zartes Flattern macht sich in meiner Magengegend breit, und gleichzeitig legt sich zum ersten Mal seit Monaten ein Lächeln auf meine Lippen.

Ich ziehe mein Smartphone aus meiner Jackentasche und mache durch die Flugzeugluke ein Bild von der Landebahn. Später werde ich es Grandpa schicken. Er ist es gewesen, der meine Liebe zu diesem Kontinent entfacht hat. Als ich noch klein war, haben wir Stunden damit verbracht, uns Dokus über das ferne Australien anzusehen. Und auch, wenn ich es mir schon damals nicht erklären konnte, hat mich der Kontinent sofort begeistert.

Trotzdem hätte ich nie für möglich gehalten, dass sich dieser Traum schon so bald erfüllen würde: Erst wenige Wochen ist es her, dass ich mich für das Stipendium an der Sydney University beworben habe. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, dass die Hochschulkommission ausgerechnet mich auswählen würde.

Die Bewerbung an sich habe ich am Tag der Trennung verschickt. Ich habe es mehr getan, um mich abzulenken, als dass ich ernsthafte Hoffnungen in sie gesteckt hätte.

Doch tatsächlich hat es auf wundersame Weise funktioniert – und da bin ich nun.

Das Flugzeug ist mittlerweile zum Stehen gekommen und die ersten Passagiere drängeln sich bereits in den Gang.

Es dauert etwa zehn Minuten, bis auch ich an der Reihe bin. Mit der letzten Kraft, die nach der durchgemachten Nacht noch in meinen Muskeln steckt, lade ich meinen Koffer aus dem Gepäckfach und steige die Treppe hinunter Richtung Landeplatz.

Schon bevor ich zum ersten Mal australischen Boden unter meinen Füßen habe, nehme ich den frischen, angenehmen Duft der Stadt wahr.

Die warme, herbe Meeresluft streicht sanft über mein blasses Gesicht. Und auf eine seltsame Art und Weise fühle ich mich zu Hause.

Kapitel 2 SOMNIA

 

Irgendetwas sagt mir, dass es nur ein kurzer Traum sein wird, der mich aus meinem Abenteuer in Sydney zurück in die Vergangenheit zieht.

Widerwillig lasse ich mich fallen – in die Welt, die ich als Kind liebevoll Somnia getauft habe. Es mag seltsam klingen, aber manchmal gefällt es mir dort um einiges besser als in der Realität.

Die spannendsten Geschichten und Abenteuer habe ich hier schon erlebt, und während es für meine große Schwester stets eine Strafe gewesen war, früh ins Bett zu gehen, habe ich es geliebt. Ich habe es kaum erwarten können, mich in die weichen Kissen zu werfen und mich in meinen Träumen zu versenken.

Je älter ich werde, desto eigenartiger erscheint es mir selbst, wie intensiv ich träume. Manchmal wache ich auf und weiß nicht, ob das, was sich gerade vor meinem geistigen Auge abgespielt hat, tatsächlich meiner eigenen Fantasie entsprungen ist oder wirklich so stattgefunden hat. Dabei scheint es manchmal sogar so, als stammen die Bilder, die ich dann vor mir sehe, aus einer anderen Welt.

Auch heute kann ich die Szene, in die ich eintauche, nicht wirklich einordnen:

Ein verworrenes Zusammenspiel aus alten, weißen Gebäuden und seltsam gekleideten Gestalten heißt mich in Somnia willkommen.

Ich spaziere durch eine Stadt, deren Namen ich nicht kenne – und die Leute um mich herum unterhalten sich in einer Sprache, die ich nicht verstehe.

Ratlos suche ich nach Hinweisen darauf, wo ich mich befinde. Die vielen Häuser legen den Verdacht nahe, dass es sich um eine große Stadt handeln muss, doch nach Zügen oder U-Bahnstationen halte ich vergeblich Ausschau.

Und so bin ich der Lösung des Rätsels keinen Schritt näher gekommen, als es mich mit voller Wucht zurück in die Gegenwart katapultiert.

 

Kapitel 3 SYDNEY, NOVEMBER 2022

 

Die Busfahrt vom Flughafen zur Uni dauert nur 30 Minuten, aber tatsächlich schaffe ich es, die erste Hälfte davon zu verschlafen.

Verwirrt blinzle ich und öffne die Augen. Wieder einmal kann ich mir absolut keinen Reim aus meinen Träumen machen.

Ich blicke nach draußen. Durch die vergilbten Fenster des alten Busses sehe ich Schulen, Cafés und kleine Bars an mir vorüberziehen. Die Straßen Sydneys sind auch spätabends noch voller Leben, und die Energie der Stadt hätte kaum gegensätzlicher sein können zum tristen Grau des Londoner Winters.

Froh darüber, der ungeliebten Jahreszeit und der britischen Kühle entkommen zu sein, hieve ich zum letzten Mal an diesem Tag meinen Koffer auf die Straße. Kraftlos ziehe ich mein Gepäck hinter mir in Richtung des Universitätsgebäudes, das ich schon von der Bushaltestelle aus gut sehen kann. Ich folge der Beschilderung zum Infoschalter und stelle mit Erleichterung fest, dass er auch um diese Uhrzeit noch besetzt ist.

Die freundliche Sekretärin erinnert mich mit ihren langen blonden Haaren und der gebräunten Haut an die Hauptdarstellerin aus der schwedischen Rom-Com, die ich mir im Flugzeug angesehen habe.

Sie stellt sich mir als Anna vor und erkundigt sich, ob ich eine angenehme Reise gehabt hätte.

»It was fine«, antwortete ich und hoffe, dass sie nicht weiter nachhakt. Small Talk zählt nicht gerade zu meinen Stärken, und heute bin ich noch weniger in der Stimmung dazu als sonst. Alles in mir sehnt sich nach einem Bett und mindestens zehn Stunden Schlaf.

Anna scheint mir meine Erschöpfung anzumerken und schenkt mir einen mitfühlenden Blick.

»Es gibt noch ein paar Formulare, die du ausfüllen musst«, teilt sie mir in australischem Akzent mit, »aber das machen wir morgen.«

Sie lächelt und ihre Grübchen treten hervor. »Jetzt zeige ich dir erst einmal dein Zimmer.«

Ich atme erleichtert auf und folge ihr die langen Gänge entlang zum Ostflügel des Gebäudes.

Ich bin mir absolut sicher, dass ich den Weg zurück in hundert Jahren nicht finden werde, aber das ist mir – zumindest in diesem Augenblick – egal.

Vor dem Dorm Nr. 73 bleibt Anna stehen. Sie übergibt mir die Schlüssel für die Eingangshalle und mein Zimmer und wünscht mir eine gute Nacht, bevor sie mich meinem Schicksal überlässt.

Ich nehme den kleineren Schlüssel der beiden und stecke ihn in das Schloss. Es klackt, und ich öffne die Tür. Ich mache einen Schritt in das Zimmer hinein und befinde mich schon fast in der Mitte des Raumes.

Tatsächlich ist es kleiner, als ich es mir vorgestellt habe, aber für eine Person reicht es allemal aus. Auf wenigen Quadratmetern war das Apartment mit allem ausgestattet, was man zum Leben braucht: Das schmale Schlafsofa und die Kleiderstange machen bereits den Großteil des Zimmers aus. Neben dem einzigen Fenster im Raum entdecke ich einen einklappbaren Schreibtisch, der an der Wand angebracht ist. Das Bad besteht nur aus einem Waschbecken, einer Toilette oder eine Dusche suche ich vergeblich.

Ich erinnere mich an die Infomail der Uni, die mich kurz vor meinem Abflug erreicht hat: Einige Dorms teilen sich die sanitären Anlagen. Es muss also irgendwo noch ein Gemeinschaftsbad geben.

Ich stelle meinen Koffer neben mein Bett und trete noch einmal heraus auf den Gang. Und tatsächlich: Wenige Meter neben meinem Zimmer erkenne ich ein Schild, das den Raum daneben als Bathroom ausweist.

Gähnend schlurfe ich in den Raum, gehe kurz zur Toilette und wasche mir Hände und Gesicht. Für mehr bringe ich heute keine Kraft mehr auf.

Eine knappe Minute später liege ich in meinem blau-weiß-gestreiften Pyjama in meinem Bett – endlich. Ich schließe die Augen. Heute dauert es nur wenige Sekunden, bis ich in einen tiefen Schlaf finde.

 

Kapitel 4 SOMNIA

 

Es beginnt – wie immer – mit vagen Bildern. Bruchteile von Szenen, kurze Momentaufnahmen blitzen vor mir auf, nur um kurz darauf wieder zu verschwinden.

Der Schauplatz meiner Träume ist, wie schon beim letzten Mal, eine belebte Großstadt – doch es ist mit Sicherheit weder London noch Sydney.

Irgendetwas in mir erkennt die Stadt, doch ich vermag ihren Namen noch nicht auszumachen. Ich bin Teil von ihr, das kann ich spüren.

Ich sehe mich um. Ich bin umgeben von prunkvollen Gebäuden mit stuckverzierten Fassaden. Alte Lindenbäume säumen die imposante Allee, die voller Menschen ist.

Die meisten von ihnen sehen irgendwie alt aus, oder wohl besser: wie Menschen aus einer alten Zeit. Die Männer tragen allesamt Jackett und Zylinder, und einige von ihnen rauchen Zigarre. Und auch die Garderobe der Damen wirkt hochwertig, elegant und schlicht. Ihre mittellangen Röcke oder Kleider aus fließenden Stoffen wehen sanft im Wind, der wie eine angenehme Brise durch die Gassen zieht.

Unweit von mir entdecke ich eine kleine Gruppe von Menschen, die rege diskutiert. Es sind mehrere Männer mittleren Alters und eine Frau, die deutlich jünger ist. Sie hebt sich zweifelsohne von der Masse ab.

Ihr orangefarbenes Kleid und der kurze Haarschnitt, wie er einst in den 20er-Jahren auch in London in Mode war, verleihen ihr beinahe etwas Exzentrisches.

Die Frau scheint mich bemerkt zu haben, denn auf einmal dreht sie sich in meine Richtung. Sie mustert mich. Dann geht sie zielstrebig auf mich zu. Als sie vor mir steht, stelle ich fest, dass sie kaum älter ist als ich.

»Kommst du?«, fragt sie mich und gibt mir mit einer ausholenden Geste zu verstehen, dass ich mich beeilen soll. »Dein Vater wartet schon.«

 

 

Kapitel 5 SYDNEY, NOVEMBER 2022

 

Meine erste Nacht in Sydney dauert ganze 14 Stunden. Erst gegen 11:00 Uhr öffne ich verschlafen die Augen.

Ich greife nach meinem Smartphone, das neben meinem Bett auf dem Boden liegt, und beantworte ein paar Nachrichten. Mum und meine Schwester haben sich nach meinem Befinden erkundigt, und auch eine Nachricht von Grandpa ploppt auf: »Wie geht es meiner Weltenbummlerin?«, lese ich laut. »Liebe Grüße, dein Grandpa Michael O’Neill«.

Ich grinse. So oft schon habe ich ihm gesagt, dass er seinen Namen nicht jedes Mal unter die Nachricht schreiben muss. Aber bestimmte Dinge sind für ihn nicht mehr so leicht zu verstehen. Und seit seiner Demenzdiagnose vor ein paar Monaten ist es natürlich noch schwieriger geworden.

Ich schicke Grandpa das Bild, das ich gestern aus dem Flugzeug heraus gemacht habe, und lege das Handy wieder zur Seite.

Dann stehe ich auf, schlüpfe in meine Birkenstocks und öffne die Zimmertür. Gähnend bewege ich mich in Richtung Badezimmer. Die Gemeinschaftsbäder sind sogar relativ modern eingerichtet, stelle ich fest – das ist mir in meiner Müdigkeit gestern Abend gar nicht aufgefallen. Große Fliesen in modernem Betongrau zieren die Duschkabinen, die man mit einer kleinen Tür abschließen kann.

Außer mir ist niemand sonst hier, und ich vermute, dass die meisten Studenten schon in ihren Vorlesungen sitzen. Schließlich geht es schon auf die Mittagszeit zu.

Ich bin froh, dass heute außer einer Begrüßungsveranstaltung am Abend noch nichts auf dem Programm steht. So werde ich heute genug Zeit haben, noch ein wenig die Gegend zu erkunden und dann ganz gemächlich in mein Abenteuer zu starten.

Nachdem ich viel zu lange und viel zu heiß geduscht habe, schlüpfe ich in meinen Bademantel und gehe zum Waschbecken zurück. Ich putze mir die Zähne und creme mich ein. Schminken werde ich mich heute nicht.

Ich lege meine nassen Haare mit meinem Handtuch in einen Turban, sammele meine Sachen zusammen und tappe schließlich zurück in mein Zimmer.

Die Wetteranzeige auf meinem Handy verrät, dass es angenehm warm draußen sein muss, und so krame ich Jeans und T-Shirt aus meinem Koffer hervor und ziehe mich um. Den Rest werde ich später auspacken und in den Schrank räumen. Mein Geldbeutel und mein Schlüssel liegen auf dem Schreibtisch – direkt neben den Zetteln, die mir Anna gestern mitgegeben hat. Ich seufze. Ich dachte immer, nur wir Engländer haben einen Faible für Gedrucktes und Bürokratie. Aber auch die Australier scheinen Freude daran zu finden.

Es sind vor allem Hinweisblätter und Datenschutzerklärungen, die ich unterschreiben muss. Ich überfliege die Texte und setze mein Autogramm darunter. Als ich den Papierkram endlich erledigt habe, packe ich die Zettel in meinen Rucksack. Dann schlüpfe ich in meine Sneakers und ziehe die Tür hinter mir zu.

Ein wenig orientierungslos folge ich den langen Gängen, durch die mich Anna gestern geführt hat, und tatsächlich: Nur wenige Minuten später finde ich mich zu meiner eigenen Überraschung direkt vor dem Infoschalter wieder. Annas Schicht scheint bereits vorbei zu sein, denn an ihrem Platz sitzt ein braunhaariger junger Mann, den ich auf Ende Zwanzig schätze.

Ich überreiche ihm pflichtbewusst die Papiere, die ich noch abzugeben habe, und gehe dann durch die Tür im Eingangsbereich hinaus ins Freie.

Bei Tageslicht wirkt der Campus noch größer auf mich als am vergangenen Abend, aber nicht weniger beeindruckend. Das Hauptgebäude der Universität ist aus rotbraunen Ziegelsteinen errichtet worden und bestimmt schon einige Jahrzehnte alt. Es strahlt etwas Ruhiges, Friedliches aus und fügt sich mit seinen Naturtönen perfekt in die weitläufige Umgebung ein.

Der restliche Teil des Campus besteht mehr oder weniger aus einer einzigen großen Parkanlage, welche sich von den Dorms über die Uni bis zur Cafeteria erstreckt.

Ein wellenförmig angelegter Fußweg verbindet die einzelnen Anlagen miteinander. Ich folge dem Weg, um zur Bushaltestation der Uni zu gelangen, die sich direkt neben der Cafeteria befindet.

Über die Landkarte an der Haltestation versuche ich, mir einen Überblick über die nähere Umgebung zu verschaffen. Viele der bekannteren Schauplätze Sydneys – auch das weltberühmte Sydney Opera-House – scheinen sich ganz in der Nähe zu befinden. Noch während ich in meinem Kopf »ganz in der Nähe« sage, muss ich über mich selber lachen. Es ist eine Angewohnheit von mir, immer und überallhin zu Fuß zu gehen. Und tatsächlich sind es auch dieses Mal mehr als 60 Minuten Wegstrecke, die nach meinem Maßstab noch unter die Kategorie »Katzensprung« fallen.

Noch nie habe ich bei einem Stadtspaziergang so viel Natur erlebt wie hier. Die gepflegten Parkanlagen strahlen eine tiefe Ruhe aus, und ich fühle mich auf Anhieb sehr wohl in den Straßen, die ich heute zum ersten Mal betrete.

Auf dem Weg gibt es so viel zu betrachten und zu bestaunen, dass ich meinen knurrenden Magen erst registriere, als ich auf der Karte auf meinem Display das Wort »Fishmarket« entdecke. Ich beschließe, doch noch nicht zur Hauptsehenswürdigkeit der Stadt – der Oper – zu spazieren, sondern vorbei am Victoria Park und Wentword Park direkt zum Fischmarkt.

Die Sydneysiders, wie die Bewohner Sydneys genannt werden, erinnern mich wieder an die Schauspieler aus der schwedischen Romcom. Sie wirken glücklicher als die Briten, und in ihren Augen erkenne ich einen Glanz, der einem in England eher seltener begegnet. Viele tragen legere Kleidung am Körper und ein Lächeln auf ihrem Gesicht.

Nach zwanzig Minuten Fußweg erreiche ich den Sydney Fish Market, und beschwingten Schrittes schreite ich durch die Pforten des hellblau gestrichenen Gebäudes.

Bereits beim Betreten der Markthalle nehme ich den vielversprechenden Duft von frisch geräuchertem Fisch wahr. Das Knurren in meiner Magengegend wird lauter. Ich beschließe, mir die hinteren Stände später anzusehen und erst einmal meinen Hunger zu stillen. Die Schlange am ersten kleinen Verkaufshäuschen ist überschaubar und so ergreife ich meine Chance.

Nur wenige Minuten dauert es, bis ich an der Reihe bin. Der Verkäufer, der mich in typisch-australischer Manier freundlich begrüßt, empfiehlt mir ein Sandwich mit frischem Lachs. Dankbar folge ich seinem Rat, denn tatsächlich fällt es mir unglaublich schwer, eine Entscheidung zu treffen, wenn mein Magen bereits lautstark nach Essen schreit.

Genüsslich beiße ich in das lauwarme Brötchen, und ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass es mit Abstand das beste Sandwich ist, das ich in meinem Leben gegessen habe.

Und das ist beileibe keine Auszeichnung, die ich leichtfertig vergebe: Während meiner Highschool-Zeit ist kein Schultag vergangen, an dem meine Mum mir nicht ein bunt belegtes Sandwich in meinen Rucksack gepackt hat. Ich erinnere mich daran, wie meine beste Freundin Nelly mich immer um die bunten Kreationen meiner Mum beneidet hat. Irgendwann habe ich Mum gebeten, mir auch für Nelly ein Pausenbrot mitzugeben.

Ich muss grinsen, obwohl sich die Erinnerung noch immer bittersüß anfühlt. Seit Nellys Tod vor zwei Jahren gibt es kaum einen Tag, an dem ich nicht an sie denke.

Sie hätte es hier geliebt, denke ich, als ich die Markthalle durchquere und die Eindrücke auf mich wirken lasse. Wie gerne wäre ich mit meiner besten Freundin hier entlang geschlendert.

Nelly und ich waren so unterschiedlich und uns doch so ähnlich, wie es Freundinnen nur sein können. Es gab nie wieder jemanden, der mich so verstehen konnte, wie sie es getan hat. Wie immer schmerzt der Gedanke ein wenig, und gleichzeitig zaubert er mir ein Lächeln ins Gesicht. Ich frage mich, ob sie mit mir hier wäre, wenn ihr das Leben ihre Träume nicht zu früh geraubt hätte. Und gleichzeitig ist mir so, als wäre sie es.

Ich lasse meinen Blick über die Marktstände schweifen und frage mich, an welchem davon Nelly wohl Halt gemacht hätte.

Die Entscheidung fällt mir nicht schwer.

Vor einem Stand mit einer herrlichen Auswahl an selbst gemachter Schokolade bleibe ich stehen.

»Einmal die Tafel weiße Schokolade mit den Macadamias bitte.« Ich lächele die Verkäuferin an und deute auf das Körbchen rechts vor mir, in dem die Tafeln drapiert sind. Hübsch sehen sie aus, eingewickelt in Seidenpapier und mit einer Spitzenbordüre verziert.

Die Tafel kostet mich 3 Dollar, was für Australien okay ist. Ich ziehe meinen Geldbeutel aus meiner Tasche und reiche der Verkäuferin drei Dollar-Scheine.

»Here you go«, sagt sie, reicht mir meine Tafel und wünscht mir noch einen schönen Tag.

Mit meinem Nachtisch beschließe ich, den Markt wieder zu verlassen. Bestimmt habe ich in den nächsten Wochen und Monaten noch genug Gelegenheit, mich durch das Sortiment zu testen.

Unweit der Menschenmassen in der Markthalle wird es ruhiger um mich herum. Das Stimmengewirr wird leiser und das Meeresrauschen lauter.

Ich schlage den Weg in Richtung der Sydney Opera ein. Ein schmaler Weg führt direkt an der Küste entlang, direkt zum Wahrzeichen der Stadt.

Ich denke über meine Eindrücke nach, die ich in diesem fremden Land bisher gesammelt habe – in diesem Land, das mir schon jetzt nicht mehr fremd ist.

Irgendwie kommt es mir so vor, als wäre ich hier schon einmal gewesen. Vielleicht liegt es an den vielen Dokus, die ich mit Grandpa zusammengesucht habe. Vielleicht ist mir dieser Ort deshalb so vertraut.

Vielleicht fühle ich mich aber auch deshalb so wohl, weil ich zum ersten Mal etwas tue, einfach, weil ich es mir für mich selbst wünsche. Nicht, weil es jemand von mir erwartet. Nicht, weil es sich so gehört. Einfach, weil ich weiß, dass es genau das ist, was mir guttut. Wenn es einen Ort gibt, an dem ich Antworten finden werde, dann ist es dieser, da bin ich mir sicher. Aber zunächst einmal werde ich mich daran versuchen müssen, meine Fragen zu katalysieren.

Unweigerlich wandern meine Gedanken zurück zur letzten Nacht. Wie immer erinnere ich mich an jedes einzelne, noch so unwichtige Detail des Traumes.

Ich halte kurz inne und blicke auf das weite Meer hinaus, das sich direkt zu meiner Linken an die Umrisse der Stadt schmiegt. Die Wellen bringen die Bilder aus Somnia wieder zurück vor mein geistiges Auge.

Der gestrige Traum hat mich nicht weniger verwirrt zurückgelassen als seine Artverwandten, die mich im Laufe meines Lebens heimgesucht haben – und einfach nicht mehr aus meiner Erinnerung verschwinden wollen.

Denn während sich die meisten Menschen mit dem Älterwerden immer weniger an das erinnern können, was sie im Schlaf vor sich sehen, kann ich meine Träume selbst Jahre später noch genau beschreiben. Wieso ich dieses »Talent« besitze, ist nicht nur mir, sondern auch meinem Umfeld schleierhaft.

Insgeheim weiß ich, dass ich nicht nur mein Studium, sondern auch die Reise hier gewählt habe, um genau diesem Rätsel auf die Spur zu kommen.

Es muss einfach psychologische Gründe dafür geben, oder irgendeine Erklärung auf neuronaler Ebene. Entweder mein Gehirn funktioniert ein wenig anders, als es sollte – oder ich trage eine Persönlichkeitsstörung in mir, die dringend therapiert werden muss. Wie auch immer – mein ganzes Leben möchte ich sicherlich nicht in dieser Ungewissheit verbringen, die all meine Träume umfasst und gleichzeitig imstande ist, mich nächtelang meines Schlafes zu berauben.

Ich hänge noch ein wenig meinen Gedanken nach, die wie die Wellen des Meeres kommen und gehen. Mein Puls beruhigt sich. Die Sorgen werden leiser.

Allmählich ist es an der Zeit, umzukehren. Dieses Mal folge ich dem Cahill Walk, der vom Opernhaus zum Circular Quay führt. Ich passiere eine aufgeregte Gruppe von Touristen, in etwa im Alter meiner Mum: Es sind zwei Pärchen, die angestrengt auf einen Stadtplan starren, den eine der Frauen vor ihnen ausgebreitet hat. Sie unterhalten sich auf Französisch.

Tatsächlich ist es die Zeit des Jahres, in der die Leute aus aller Welt nach Australien strömen, um auf diesem faszinierenden Kontinent noch ein paar Wochen länger den Sommer zu genießen. Nachdem ich die Touristengruppe hinter mir gelassen habe, bemerke ich zu meiner Rechten ein kleines Café: Original Australian Coffee Roastery steht da auf dem kleinen bronzefarbenen Schild, das seitlich über dem Wegesrand ragt. Das Häuschen, zu dem es gehört, ist nicht größer als mein Dorm, und es ist gerade so hoch, dass sein Dach nicht die Sicht auf den Ozean versperrt.

Ganz anders als das Opernhaus, das sich nur wenige Meter entfernt befindet, erinnert das Café an ein kleines Bistro, wie sie in Südengland zuhauf zu finden sind. Es wirkt älter als die meisten Gebäude hier. Neugierig trete ich näher. Die Eingangstür ist einen Spalt geöffnet, und das Schild, das an der Klinke angebracht ist, verkündet, dass das Café OPEN ist.

Der Gedanke an Kaffee lässt mein Herz instant höherschlagen. Aber heute ist nicht mehr genügend Zeit dafür. So beschließe ich, an einem anderen Tag zurückzukehren. Ich mache ein Foto mit meinem Handy und sende mir den Standort im Chat, um sicherzugehen, dass ich später dorthin zurückfinden werde. Dann trete ich den Nachhauseweg an.

Kapitel 6 WIEN, AUGUST 1914

 

In keinem Jahr meines Lebens lagen Traum und Wirklichkeit so nah beieinander wie im Jahr 1914.

Und obwohl seitdem so viele Jahre vergangen sind, erinnere ich mich daran, als wäre es gestern gewesen:

Den Januar habe ich – wie die meiste Zeit meiner Jugend – in der Bibliothek meines Vaters verbracht. Stundenlang habe ich dort auf dem Boden gesessen, Berichte studiert, Geschichten gewälzt und Gedichte geschrieben. Ich war eine ungewöhnliche Achtzehnjährige – und wenn ich mich heute an das Mädchen erinnere, das ich damals war, wird mir klar, wie ähnlich wir uns heute noch sind.

Wir hatten schon immer unseren eigenen Willen, wir beide – und wir mögen es nicht, von der Gesellschaft in eine Schablone gedrückt zu werden.

Genau das aber war es, das im Jahr 1914 seinen Anfang nahm.

Als die Kirschblüten bereits verblüht und der Zauber des Frühlings verflogen waren, legte ich meine erste Lehramtsprüfung ab.

Seitdem ich das Lyzeum selbst vor zwei Jahren verlassen hatte, war ich folgsam dem Weg einer angehenden Lehrerin gefolgt – jener Tätigkeit, die mein Vater für mich vorgesehen hatte. Es war eine der wenigen Alternativen, die uns Frauen zu einem hausmütterlichen Dasein eingeräumt worden waren.

Bevor ich diesem Pfad aber weiter folgte, stand noch ein weiteres Ereignis bevor – eine Reise, die ich viele Wochen zuvor und noch viele Jahre danach inbrünstig herbeigesehnt hatte.

Eigentlich hätte Vater die Fahrt nach England selbst auf sich nehmen wollen, um seinen langjährigen Kollegen zu treffen, doch seine universitären Verpflichtungen hatten es ihm nicht möglich gemacht, den Termin wahrzunehmen.

Da mich sowieso nach einer Belohnung dürstete, hatte er kurzerhand mich dazu ermutigt, die Gelegenheit wahrzunehmen – nicht wissend, welche Reihe an glücklichen und unglücklichen Fügungen er damit lostreten würde.

Nach dem Frühling also kam der Sommer, und an einem heißen Julitag bereitete sich ein hageres achtzehnjähriges Mädchen auf die Abreise nach England vor.

Monatelang hatte ich diesem Tag entgegengefiebert. Ich konnte es kaum glauben, dass ich auf väterlichen Auftrag hin im Dienste der Wissenschaft unterwegs war. Seit ich denken konnte, brannte ich für die Forschung. Für mich war es immer klar gewesen, dass das die Sache war, der ich mein Leben widmen wollte – genau wie mein Vater vor mir.

Vater hatte es zu Ruhm und Ansehen in der Welt der Dichter und Denker gebracht. Er zählte zu den renommiertesten Psychologen seiner Zeit. Das erfüllte ihn schon im Jahr 1914 gleichermaßen mit Sorge und Stolz.

Er hatte begriffen, dass aus seinem Wissen auch eine Verantwortung erwuchs – eine Verantwortung, die heute auch auf meinen Schultern lastet. Denn welch gravierende Aufgabe vermochte es schon zu geben, als sich um das Seelenheil der Menschheit zu kümmern, das nichts Geringeres sicherstellt als den Fortbestand unserer Art?

Mein Vater jedenfalls nahm die wissenschaftliche Mission sehr ernst. Ihr galten seine nächtlichen Träume und seine Anstrengungen am Tage. Morgen, Mittag und Abend waren ihr vorbehalten, wohingegen sich seine Familie in der Hierarchie unterordnen musste.

Außer mir lebten meine fünf älteren Geschwister im elterlichen Hause, doch je schneller die Zeit voranschritt, desto mehr von ihnen verließen das Nest.

Allesamt waren wir unterschiedlich, aber die größten Gegensätze gab es zwischen mir und meiner Schwester Sophie. Wie Feuer und Wasser waren wir: Ruhig und unscheinbar verhielt sich mein Temperament, während Eva warmherzig und voller Leben war – und wunderschön. Meine Gestalt dagegen war hager und blass, und meine durchscheinende Haut ließ mich vor jeder Wand in den Hintergrund treten – wo ich mich am allerliebsten wiederfand.

Ich war beileibe niemand, um den sich die Leute scharten, doch genau diesem Umstand verdankte ich es, dass ich im Gegensatz zu meiner Schwester noch nicht verheiratet worden war.

Wie in allen jüdischen Familien war es auch bei uns Aufgabe der Eltern, Gemahl oder Gemahlin der Kinder auszuwählen. Mein Vater aber hatte meiner Mutter mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass er für mich – zumindest in den nächsten Jahren – andere Pläne hatte.

Ich war dankbar für die Schonfrist, die mir damit eingeräumt worden war, und gleichzeitig ärgerte ich mich darüber, dass ich die Zeit, die mir damit geschenkt worden war, nicht dem widmen durfte, was mich wirklich faszinierte.

Umso glücklicher war ich nun darüber, dass ich einige Wochen bei dem Bekannten meines Vaters in England verbringen konnte – und ich hätte mir keine schönere Belohnung für die Anstrengungen der letzten Wochen vorstellen können.

Heute, am Tag der Abreise, machte sich ein aufgeregtes Kribbeln in meiner Magengegend breit.

Ich freute mich nicht auf den theoretischen Diskurs, sondern auch darauf, ein neues Land kennenzulernen.

Es war meine erste richtige Reise, und ich hatte keine Vorstellung davon, wie eine solche vonstattengehen würde.

Zumindest aber hatte mir mein Vater versichert, dass mich sein Bekannter am Bahnhof abholen würde.

Dr. Ernest Jones stand noch am Beginn seiner Karriere. Er lehrte seit Kurzem in Toronto, befand sich aber aktuell in seiner Heimat Großbritannien.

Vater hielt viel auf Jones, zumindest in fachlicher Hinsicht, und ich war gespannt auf die Ansichten des aufstrebenden britischen Psychologen.

Die bahnbrechendsten naturwissenschaftlichen Theorien entstammten der Feder britischer Forscher – man denke nur an die Newtonschen Gesetze oder die Erfindung der Dampfmaschine, und ich war mir sicher, dass es auch in der jüngsten naturwissenschaftlichen Disziplin – der Psychologie – ähnlich verhalten würde.

Aber nicht nur die Brillanz der Briten reizte mich, auch die malerischen Landschaften, von denen mein Vater mir häufig schon berichtet hatte, zogen mich in ihren Bann, bevor ich sie auch nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen hatte.

»Nicht mehr lange«, flüsterte ich und öffnete den alten Holzkoffer, den ich vor meinem Bett auf den Fußboden gelegt hatte. Und während ich begann, meine wenigen Habseligkeiten darin zu verstauen, traten die Bilder der gestrigen Nacht nochmals vor mein geistiges Auge.

 

Kapitel 7 SOMNIA

 

Der Traum ist voller Farben gewesen, und es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich entschlüsselt habe, wo er sich abgespielt hatte.

Heute weiß ich, dass es die wunderschönen, bunten Wiesen der britischen Prärie gewesen sind, zu denen mich mein Unterbewusstsein an diesem Tag entführt hat.

Bunte Blumen haben das saftige Grün geschmückt, und die Sonne hat dem weiten Feld einen angenehmen Glanz verliehen. Es ist ein Bild gewesen, wie man es sonst nur auf Leinwänden zu sehen bekommt – ein Gemälde der Freiheit.

Ein wohliges Gefühl hat die Illusion begleitet, und alles in allem hat der Traum etwas sehr Sanftes, Beruhigendes an sich gehabt. Und während im realen Leben oft die passende Hintergrundmusik fehlt, ist mir der Traum vorgekommen wie eine harmonische Melodie.

Ein paar Takte später aber hat sich die Stimmung verändert: Aus dem heiteren Dur ist ein tristes Moll geworden, und die fröhlichen Farben sind tristen Gestalten gewichen. Hagere Männer und Frauen haben die Bildfläche betreten und begonnen, vor mir auf und abzulaufen: Kleine Kinder mit leeren Auen haben mir traurige Blicke zugeworfen.

Mir ist schon im Traum klar gewesen, dass ich ihnen irgendwie helfen muss, doch ich habe schnell gespürt, dass auch ich Angst habe. Weder ist es mir möglich gewesen, zu beschreiben, wem diese Angst gilt, noch habe ich mich zu diesem Zeitpunkt imstande gefühlt, sie zu überwinden.

Als ich mich ein letztes Mal im Traum umgesehen habe, ist mein Blick an einem der ausgehungerten Männer hängen geblieben, der seine rechte Schulter seltsam nach sich gezogen hat.

Seltsamerweise habe ich sofort das Gefühl gehabt, dass ich ihm schon einmal begegnet bin.

Bei näherem Hinsehen ist mir aufgefallen, dass sein Arm kurz nach der Schulter endet. Und dort, wo einmal seine Hand und sein Unterarm gewesen ist, hingen nur noch die leeren Enden seiner Jacke herab.

Ich habe keine Ahnung gehabt, was dem Mann widerfahren war. Doch eine leise Vorahnung sagte mir, dass ich es schon bald am eigenen Leib erfahren würde.

Doch noch ehe ich mir darüber den Kopf hätte zerbrechen können, in welcher Zeit dieses Szenario spielte, hat der Traum so abrupt geendet, wie er begonnen hatte.

Kapitel 8 SYDNEY, NOVEMBER 2022

 

Gerade rechtzeitig husche ich in den großen Hörsaal im Erdgeschoss des Main Tracts, und meine erste offizielle Vorlesung an der Sydney University, die eigentlich gar keine ist, beginnt. Der Hörsaal ist vergleichsweise klein, doch gerade deshalb kommt er mir auf eine tröstliche Art und Weise vertraut vor.

Ich setze mich in die zweite Reihe neben ein sommersprossiges Mädchen, das sich mir als Mary vorstellt. Mary stammt aus Adelaide, wie sie mir verrät, einer kleinen Stadt im Süden Australiens. Sie ist erst vor wenigen Tagen nach Sydney gezogen. Wir stellen uns vor und tauschen ein paar Belanglosigkeiten aus.

Camilla, die in der Zwischenzeit rechts von mir Platz genommen hat, kommt wie ich und ihre royale Namensvetterin aus London. Schon komisch, denke ich, dass wir uns an meiner alten Uni nie über den Weg gelaufen sind, und ausgerechnet am anderen Ende der Welt kreuzen sich unsere Pfade.

Inzwischen sind alle Plätze belegt, und außer mir sind noch zwanzig weitere Studenten anwesend. Einige davon sind offensichtlich wie ich Internationals. Andere wiederum scheinen aus der Umgebung zu kommen.

Vor dem Whiteboard haben sich drei Dozenten und eine Professorin eingefunden. Einer nach dem anderen stellt sich uns vor. Allesamt strahlen sie eine angenehme Herzlichkeit aus, dass man gar nicht anders kann, als sich sofort heimisch zu fühlen.

Das australische Studiensystem unterscheidet sich – wie uns Mr. Powery, ein schon etwas betagterer Lehrender verriet – an einigen Punkten von dem starren und elitären Pendant in England: Der Umgang hier ist weitaus persönlicher, und die Größe der Kurse bei weitem kleiner als an der Londoner Uni. Mein Masterjahrgang umfasst gerade einmal 24 Studenten – also nur wenige mehr als heute anwesend sind.

Mr. Smith, der Leiter des International Office, berichtet ein wenig über die Kooperationen der Uni mit anderen Ländern. Es gibt Verbindungen nach Südamerika, Indien, in die USA und nach England. Letztere ermöglicht mir meinen Traum vom Studium in Australien.

Mr. McGomery schließlich, der dritte Mann im Bunde, stellt sich als Studiendekan vor und gibt uns einen Überblick über unseren Stundenplan. Tatsächlich werden die Kurse von der Hochschulleitung geplant und es gibt für jeden Studiengang und jedes Semester einen einheitlichen Stundenplan. Das erspart mir einiges an Organisationsarbeit, denke ich mir und erinnere mich an das Chaos zu Beginn jedes Semesters, das in London mit der Kurszusammenstellung verbunden war.

Mrs. Ciley schließlich – Linda – stellt sich als unser Main Tutor direkt mit ihrem Vornamen vor. Sie wird uns in den meisten Fächern unterrichten und ist daher auch unsere Hauptansprechpartnerin. Wie alle Australier, die ich bisher kennengelernt habe, wirkt auch sie überaus freundlich und aufgeschlossen.

Mit leuchtenden Augen weiht sie unsere kleine Runde in die Themengebiete ein, die wir in den nächsten Tagen erkunden werden:

Für das erste Semester stehen hauptsächlich psychoanalytische Verfahren auf der Agenda – die Arbeit mit dem Unterbewusstsein, die mich schon immer so sehr fasziniert – und in der ich hoffe, Antworten auf meine vielen Fragen zu finden.

Beginnen werden wir die Reise dort, wo sie auch aus historischer Sicht begonnen hat: In den Studien von Sigmund Freud, dem Begründer und Entdecker der Psychoanalyse.

Kapitel 9 ENGLAND, AUGUST 1914

 

Die Reise nach England war lang und beschwerlich gewesen, und einige Male hatte ich mich nach dem Beistand meines Vaters gesehnt, der in jeder Situation zu wissen schien, was zu tun war.

Doch am Ende erreichte ich London wohlbehalten und voller Vorfreude. Ein Gefühl von Stolz verriet mir, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, alleine herzukommen.

Dr. Ernest Jones – der Bekannte meines Vaters – hatte angekündigt, mich direkt am Bahnhof abzuholen, damit ich mich nicht alleine in der ungewohnten Umgebung zurechtfinden musste. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich meinen Koffer aus dem Zug auf das Bahnhofspflaster hievte und nach einem dunkelhaarigen Mittdreißiger Ausschau hielt.

»Braune Haare, dafür umso blassere Haut, hager, ansonsten eher gewöhnlich«, erinnerte ich mich an die nicht gerade charmante Beschreibung, die mir mein Vater vor meiner Abreise mit an die Hand gegeben hatte.

Verzweifelt suchten meine Augen die wartende Menge ab, die vor dem Gleis stand, um die aussteigenden Passagiere in Empfang zu nehmen. Doch niemand, der auch nur halbwegs der Beschreibung meines Vaters entsprach, erwiderte meinen Blick.

Ich beschloss, mich auf den Weg Richtung Bahnhofsgebäude zu machen, für den Fall, dass Mr. Jones dort auf mich wartete. Ich wollte gerade losgehen, da tippte es zögerlich auf meine Schulter. »Anna?«, vernahm ich eine fragende Stimme. Ich drehte mich auf dem Absatz um.

Ein Paar hellblauer Augen fixierte mich. »Mr. Jones?«, antwortete ich und machte einen Schritt auf den Mann zu, der unmöglich fast zwanzig Jahre älter sein konnte als ich.

Seine blassen, schmalen Lippen verzogen sich zu einem unsicheren Lächeln. Unbeholfen streckte er mir seine Hand hin. »Freut mich, Ms«, sagte er und streckte mir seine Hand hin. Das R rollte er in typisch britischem Akzent.

Ich schüttelte seine Hand, ohne meinen Blick von seinen Augen abzuwenden. Es wunderte mich, dass Vater mir dieses markante Detail verschwiegen hatte, waren seine Beschreibungen doch sonst immer so treffend genau.

Unserer Begrüßung folgten einige Sekunden unangenehmen Schweigens, in denen es mir endlich gelang, mich vom beunruhigenden Blau seiner Augen loszureißen. Stattdessen richtete ich meinen Blick verlegen auf einen der dunkelgrauen Pflastersteine, die den Wartebereich vor dem Gleis zierten.

»Wollen wir dann los«, räusperte sich Mr. Jones schließlich und nahm mir meinen großen, mit braunem Leder überzogenen Koffer ab, in dem ich alle Habseligkeiten, die ich für die Reise zu benötigen glaubte, verstaut hatte. Ich nickte stumm und lächelte Mr. Jones dankbar an. Selbst für meine achtzehn Jahre war ich ungewöhnlich schmächtig, und länger als zehn Minuten hätte ich das schwere Gepäck kaum tragen können. So aber verblieb lediglich die kleine Umhängetasche in meiner Hand, die neben dem englischen Geld nur das Heft mit meinen Gedichten enthielt.

Eigentlich hatte ich gehofft, auf der Zugfahrt ein wenig Zeit zum Schreiben zu finden, doch vor lauter Nervosität hatte ich nur ein paar unbeholfene Reime hineingekritzelt, die mir im Nachhinein schrecklich konstruiert vorkamen.

»Wir haben es nicht weit«, rief mir Mr. Jones zu und bahnte sich seinen Weg durch die Menschenmenge, die noch immer den gesamten Wartebereich vor dem Gleis vereinnahmte. Es war noch gar nicht so lange her, dass die Eisenbahn erfunden worden war, und so kam es nicht selten vor, dass die Ein- und Abfahrt der dampfenden Maschinen von Dutzenden Schaulustigen bejubelt wurden.

Wir erreichten das Bahnhofsgebäude, das ebenfalls erst wenige Jahre alt sein durfte. »Sind Sie hungrig?«, fragte mich Mr. Jones und deutete auf eine kleine Bäckerei im hinteren Winkel des Komplexes. »No, thank you«, antwortete ich und gähnte laut. »Ich bin so müde, dass ich nicht einmal Hunger habe.« Dr. Jones schenkte mir einen aufmunternden Blick. »Dann sehen wir zu, dass wir schnell nach Hause kommen.«

Kapitel 10 SOMNIA

 

In der Nacht zieht es mich wieder in die anmutige, prunkvolle Stadt zurück, die mir so vertraut und fremd zugleich ist, wie es ein Ort nur sein kann.

Wieder tragen die Menschen altbackene Kostüme und Zylinder, und zu meiner Überraschung erkenne ich unter den Spaziergängern einige bekannte Gesichter.

Ich gehe eine kleine Seitengasse entlang, die wie immer voller Menschen ist. Mitten unter ihnen entdecke ich einen älteren Mann, der mir auf seltsame Art und Weise bekannt vorkommt.

Er geht am Stock und raucht Zigarre, und ich bilde mir ein, dass er auch mich prüfend mustert. Ich zucke die Achseln und gehe weiter. Es ist nicht das erste Mal, dass ich in meinen Träumen eine Art Déjà-vu erlebe.

Doch nur kurze Zeit, nachdem ich ihn passiert habe, spürte ich plötzlich, wie mich eine Hand unsanft an der Schulter packte. Erschrocken bleibe ich stehen.

»Wo willst du hin, Anna?«, ruft mir eine tiefe Stimme zu. Sie scheint zur selben Person zu gehören wie die Hand, die auf meiner Schulter liegt. Und als ich mich umdrehe, um zu sehen, mit wem ich es zu tun habe, blicke ich direkt in die dunklen Augen des alten Mannes.

Kapitel 11 SYDNEY, NOVEMBER 2022

 

Erst ein paar Tage sind seit meiner Ankunft vergangen, doch gleichzeitig fühlt es sich an wie eine Ewigkeit. Normalerweise habe ich Schwierigkeiten damit, mich in einer neuen Umgebung zurechtzufinden, aber Sydney macht es mir leicht.

Das Wetter ist bisher konstant gut gewesen, der Campus überschaubar und die Stadt einfach wunderschön. Von den Vorlesungen her geht es – wie Linda versprochen hat – ganz gemächlich los, mehr als zwei Einheiten pro Tag haben wir bisher nicht gehabt. Trotzdem hat es der Lernstoff in sich. Wir beschäftigen uns viel mit dem Es, dem Ich und dem Über-Ich aus Freuds Konstruktionen. Manchmal frage ich mich, ob er bei seinen konfusen Gedankengängen nicht selbst irgendwann verrückt geworden ist.

Linda jedenfalls ist total begeistert von ihm, und sie taucht ihre Vorträge stets in so viel Enthusiasmus, dass wir gar nicht anders können, als ihr gebannt zu lauschen.

Mittlerweile sind wir vollzählig im Kurs, aber wahrscheinlich wird es eine Weile dauern, bis ich mir alle Namen eingeprägt habe. Mein Gedächtnis ist, was das angeht, wahrlich nicht das Beste.

Gestern Abend war ich mit Mary, Camilla und ein paar anderen aus dem Kurs noch in einer Cocktailbar in der Stadt, und wir haben uns endlich ein bisschen besser kennengelernt.

Sara und Lucía kommen beide aus Barcelona, und ich habe versucht, mich mit den beiden ein wenig auf Spanisch zu unterhalten.

Michelle, die ebenfalls mitgekommen ist, stammt aus Irland. Rosie und Lily aus Australien.

Es ist ein lustiger Abend gewesen, der bis in die frühen Morgenstunden gedauert hat, und der Mangoonai und Sydney Sunrise Sunshine, mit denen wir Bekanntschaft geschlossen haben, hängen uns heute noch immer in den Knochen.

»Nie wieder trinke ich Alkohol, das sage ich dir«, seufzt Mary, die mir in der Cafeteria gegenüber sitzt. Ich grinse, denn mir geht es ähnlich. »Ich erinnere dich beim nächsten Mal daran«, erwidere ich und zwinkere ihr zu. Dann beiße ich genüsslich in mein Sandwich, das genau das ist, was mein Magen jetzt braucht.

»Schade, dass die Jungs nicht dabei waren, oder?«, sagt Camilla, die links von mir Platz genommen hat. Sie deutet mit dem Kopf zum Tisch neben uns, wo Ron, Nic und Álvaro zusammensitzen.

Tatsächlich haben wir eine sehr hohe Frauenquote im Kurs. Neben den dreien gibt es nur noch zwei weitere Männer im Kurs: José und Ignacio, die – wie sich herausgestellt hat – als Pärchen hergekommen sind.

»Du bist unmöglich, Camilla«, antwortet Mary und verdreht die Augen.

Camilla lacht. Sie ist – wie sie uns bereits am ersten Tag auf die Nase gebunden hat – seit einem halben Jahr Single und – um es in ihren Worten auszudrücken »ja nicht zum Spaß hier«.

Ich grinse nur und esse mein Sandwich zu Ende. Dann ist es Zeit, wieder zum Hörsaal zu gehen. Ich bringe mein Tablett zurück und renne dabei fast in Nic hinein, der offensichtlich dasselbe vorhat. Ich entschuldige mich und muss schmunzeln, weil ich für einen kurzen Moment an die schlecht gemachte Romcom aus dem Flugzeug denken muss.

Wir tauschen ein paar Worte aus und finden heraus, dass Nic der Verkäufer ist, der mir an meinem ersten Tag hier »So klein ist die Welt«, rufen wir wie aus einem Munde. Dann machen wir uns auf den Weg zur nächsten Einheit Sigmund Freud.

Den Nachmittag verbringen wir mit einigen schwer verdaulichen Texten Freuds, die uns Linda mitgebracht hat. Mir tun die ausländischen Studierenden leid, die nicht wie ich mit Englisch als Muttersprache gesegnet sind. Sara und Lucía haben sichtlich Probleme dabei, den Text zu verstehen.

Gegen 17:00 Uhr ist auch dieser Tag beendet. Noch immer hat es über 20 Grad. Mary und ich beschließen, noch ein wenig in Richtung Zentrum zu spazieren, während sich Camilla auf ihr Zimmer verabschiedet.

»Haben deine britischen Füße schon Bekanntschaft mit dem Ozean geschlossen?«, fragt mich Mary und deutet auf meine blassen Zehen, die aus den dunkeblauen Birkenstocks hervorragten. »Im Ernst, du machst mir beinahe Konkurrenz«, lacht sie und hält ihr rechtes Bein nach vorne, das abgesehen von den hellroten Sommersprossen beinahe durchscheinend fahl ist.

»Nein, noch nicht«, antworte ich wahrheitsgemäß und muss ebenfalls lachen. Auch, wenn ich sonst relativ schnell braun werde, sehen meine Füße wirklich schrecklich ungesund aus, so weiß sind sie.

Wir passieren die Bushaltestelle, die sich gegenüber der Universität befindet.

---ENDE DER LESEPROBE---