Songlight - Moira Buffini - E-Book

Songlight E-Book

Moira Buffini

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Beschreibung

Elsa ist es gewohnt, Geheimnisse zu wahren: ihre Gefühle für Rye, ihre Abneigung gegen die von Männern beherrschte Welt und, am wichtigsten, ihre Songlight-Gabe. Als Rye wegen dieser Gabe verschleppt wird, bricht Elsas Welt zusammen. Ihr verzweifelter innerer Schrei dringt bis zu der meilenweit entfernten Nightingale durch. Unerwartet entsteht eine Freundschaft zwischen den beiden. Und diese Freundschaft ist wichtiger denn je, denn ein Krieg zieht auf, und nur gemeinsam haben sie eine Chance, die Grausamkeit in Northaven zu beenden und die Macht des Songlight wieder strahlen zu lassen.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Übersetzung aus dem Englischen von Judith Vogt

© Moira Buffini 2024

Titel der englischen Originalausgabe:

»Songlight«, Faber & Faber, London 2024

© Piper Verlag GmbH, München 2025

Redaktion: Catherine Beck

Illustration und Karte: David Wyatt, 2024

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Guter Punkt, München nach einem Entwurf von Faber

Coverillustration: David Wyatt

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Karte

Zitat

Prolog

Kaira

Teil Eins

1

Elsa

2

Elsa

3

Elsa

4

Rye

5

Elsa

6

Piper

7

Elsa

Teil Zwei

8

Piper

9

Lark

10

Lark

11

Lark

12

Swan

13

Lark

14

Swan

15

Lark

16

Lark

Teil Drei

17

Swan

18

Rye

19

Lark

20

Rye

21

Nightingale

22

Lark

23

Nightingale

24

Lark

25

Nightingale

26

Swan

27

Nightingale

Teil Vier

28

Piper

29

Nightingale

30

Lark

31

Swan

32

Nightingale

33

Lark

34

Rye

35

Lark

36

Nightingale

37

Lark

Teil Fünf

38

Nightingale

39

Lark

40

Swan

41

Nightingale

42

Piper

43

Lark

44

Nightingale

45

Lark

46

Lark

47

Swan

48

Nightingale

49

Swan

50

Lark

51

Piper

52

Nightingale

53

Lark

Dank

Schmuckvignette

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Widmung

Für Midie

Karte

Zitat

Gewähre uns,

die wir das Gleichgewicht suchen,

die Weisheit,

der Schöpfung Hüter zu sein.

Altes Gebet an Gala.

Fragment aus dem Buch des Ungemachs.

Prolog

Kaira

Zum letzten Mal verlasse ich mein Schlafzimmer. Ich kann nichts mitnehmen, denn ich will den Anschein erwecken, ganz normal zum Markt zu gehen. Ich schlüpfe in den Mantel – er ist Jahre alt, und meine Unterarme ragen aus den Ärmeln hervor. Mir ist peinlich, wie lang sie sind, wie nackte Kükenbeine. Im kleinen Spiegel werfe ich mir einen Blick zu, zum letzten Mal. Ich bin siebzehn, doch das sieht man mir nicht an, denn ich bin klein für mein Alter, immer noch dürr von der Krankheit und so unscheinbar wie eine Bohne. Die dicke Brille hilft nicht. Ich wage es nicht, wirklich über mein Vorhaben nachzudenken. Mir hämmert das Herz gegen die Rippen.

Schluss mit dem Grübeln, herrsche ich mich an. Geh einfach. Ich schließe die Zimmertür hinter mir. Der Geruch nach Schinken und Kohl empfängt mich. In der Küche kocht die neueste Mama, und ich tröste mich damit, dass ich ihr labberiges Essen nie wieder werde essen müssen.

»Ich geh zum Markt«, rufe ich.

Ishbella lugt aus der Küche. Als sie zu uns kam, sah sie todschick aus. Die Bundfalten ihrer eleganten Kleider waren wie mit dem Messer geschnitten, ihre Lippen stets rot angemalt. Jetzt sieht sie müde aus, zerknittert an den Rändern – alles, was ich sage und tue, wetzt an ihr wie eine Feile.

»Was ist mit den Reitstiefeln deines Papas?«, seufzt sie.

»Ich habe sie fertig.« Ich lächle und zeige auf das Paar glänzender Reitstiefel.

»Bring mir eine Büchse Geflügelpaste mit«, sagt sie.

»Mach ich nicht«, sage ich in Gedanken und gehe.

Die frische Luft verpasst mir eine schwindelerregende Ohrfeige. Wind peitscht auf dem Weg zum Markt auf mich ein. Doch mein Ziel ist nicht der Markt, sondern die Flucht.

Ich entsende einen Gedankenwedel hoch in die Luft. Cassandra hat mir beigebracht, wie ich eine einzelne, klare Note aus Songlight zielgenau ausschicken kann. Ich fühle, wie sie ihren Geist berührt.

»Ich bin unterwegs«, übermittle ich ihr.

Ich fühle, wie sich Cassandras Präsenz aufhellt, als sie mich in ihr Bewusstsein lässt. Einen Augenblick lang sehe ich die Welt durch ihre Augen. Sie verlässt ihre Arbeitsstelle, geht den Flur hinab Richtung Krankenhauseingang. Im Vorbeigehen nickt sie einem Chefarzt zu.

»Schönen Abend, Schwester«, höre ich ihn sagen.

Cassandra verlässt das Gebäude. Sie geht mit Anmut, mit einem Federn in allen Bewegungen, so ganz anders als ich mit meinem Humpeln. Wenn ich mich im Songlight mit ihr verbinde, verspüre ich solch ein plötzliches und intensives Glücksgefühl, dass es fast schmerzhaft ist. In ihrem Licht gehalten zu werden … ist ein Gefühl wie der perfekteste Sommertag.

Cassandra hat mir als Krankenschwester das Leben gerettet. Sie hat mein Songlight erspürt, bevor ich in der Lage war, es auch nur zu benennen.

»Du weißt, was du bist, oder?«, fragte sie. Sie sprach, ohne ihre Stimme zu benutzen, und doch konnte ich sie verstehen und auf gleiche Weise antworten.

»Ein Unmensch.«

»Nein«, erwiderte sie. »Benutz dieses Wort nicht. Du bist eine Fackel.«

Durch ihre Augen sehe ich, wie die Laternen Pfützen aus Licht auf die Uferpromenade werfen. Die großen Turbinen, die die Stadt wie ein stählerner Wald umstehen, drehen sich in der Brise.

»Weißt du noch, wo wir uns treffen?«, fragt sie.

»Ja«, erwidere ich. »Ich bin bereit.«

Sie spürt meinen Herzschlag, meine Beklommenheit. »Freiheit ist nicht einfach. Sie ist gefährlich. Aber es ist richtig, dass wir sie wagen.«

»Wohin gehen wir?«, frage ich.

»Es ist sicherer, wenn du es nicht weißt. Hab keine Angst, Vögelchen.«

»Hab ich auch nicht.«

Tief im Innern wünschte ich, sie würde mich nicht Vögelchen nennen. Ich weiß, dass sie es aus Sicherheitsgründen tut – wir dürfen einander nie beim Namen nennen, nicht einmal im Songlight, falls eine Sirene mithört. Aber »Vögelchen« sorgt dafür, dass ich mich wie ein Kind fühle, wie etwas, das umsorgt werden muss.

Die Tramstation ragt im großmächtigen Baustil der Gebrüder vor mir auf. Mit langsamen Schritten erklimme ich die Treppe zum Bahnsteig. Schon bin ich erschöpft und muss innehalten, um wieder zu Atem zu kommen. Ich werde mit jedem Tag kräftiger, aber das Schwindfieber hat mich gezeichnet. Ich ermüde schnell, und mein rechtes Bein ist dünner als das linke – an manchen Tagen schmerzt es so schlimm, dass ich einen Stock brauche. Aber ich hatte mehr Glück als viele andere: Ich hab es überlebt.

Auf dem Bahnsteig ist eine Menge los. Auf beiden Seiten der Schienen drängen sich wartende Menschen. Ich versuche, den einsamen Inquisitor nicht anzustarren, der in dunkler Uniform am oberen Ende der Treppe steht. So demütig wie möglich schleiche ich an ihm vorbei und den Bahnsteig entlang. Endlich kommt auch Cassandra an. Sie geht am Inquisitor vorbei und zwinkert mir zu. Freude flammt in mir auf. Ich würde Cassandra zum Mond und zurück folgen.

Ich denke an die Tage, die vor mir liegen – die ich in ihrer Gesellschaft verbringen werde –, und diese Freude wird zu einem Glühen, das meinen ganzen Körper erfüllt und mir neue Kraft verleiht. Die Beklommenheit fällt von mir ab.

Ich werde frei sein.

Ich spüre einen Stich des Bedauerns wegen Papa – doch mein wahres Ich zu verbergen, ist schon lange unerträglich geworden. Ich weiß, dass mein Geheimnis früher oder später herausgekommen wäre – und dann hätte es Papa sehr wehgetan, mich auszumerzen. Ich kann einfach nicht die Tochter sein, die er sich wünscht.

Cassandra steht in einiger Distanz. Eine Fremde, die auf dieselbe Tram wartet. Ich werde mich nicht fürchten. Ich werde nicht zweifeln. Ich werde mich ihrer Freundschaft und Sorge würdig erweisen. Ich erlaube mir einen Seitenblick und lasse meine Seele vor Dankbarkeit und Liebe aufleuchten.

Und dann geschieht es.

Etwas flackert in der Luft neben ihr. Die Gestalt eines Mannes, der sie anstarrt. Es ist nur das Aufblitzen eines billigen Anzugs, eines Huts auf kahl rasiertem Kopf. Das ist einer von uns, eine Fackel, die gefangen genommen wurde und nun im Tausch gegen sein Leben das eigene Songlight nutzt, um andere zu fangen.

Er ist eine Sirene. Und er hat meine wunderschöne Cassandra im Visier.

Teil Eins

1

Elsa

Schon bevor ich den Hummerfangkorb hebe, weiß ich, dass etwas darin ist. Vom Meeresgrund aus kann ich das Geschöpf erspüren, das ich gefangen habe. Es hat den Köder gefressen und auf jede erdenkliche Weise versucht zu entkommen, doch seine großen Scheren haben seine Flucht vereitelt. Ich arbeite auf und mit der See, weil Northaven Nahrung bitter nötig hat. Die Essenslieferungen aus Brightlinghelm kommen immer unregelmäßiger, und das umliegende Land lässt sich nicht gut bewirtschaften. Oben auf den Klippen gibt es nichts als Moore und Marschen, kein einziges grünes und goldenes Weizenfeld, von denen man aus dem Süden hört. Unsere letzte Ernte wurde vom Sturm zerfetzt. Das ist es, was mir durch den Kopf geht, während ich den Korb am Seil aus dem sandigen Meeresgrund hinauf ins Boot ziehe.

Ich liebe es, wie hier draußen See und Himmel blau verschmelzen. Ich liebe die salzige Gischt und wie ich das Boot auf den Wellen balancieren muss. Ich liebe es, wie die Sonne auf dem Wasser aufblitzt, wie der Wind meine Lebensgeister weckt. Ich glaube, auf See bin ich ein Naturtalent – wie Pa. Mein Bruder Piper ist Kadett kurz vor dem Abschluss der Grundausbildung. Als Pa starb, ging das Boot somit in den Besitz von Ma und mir über. Als Witwe darf Ma das Haus natürlich nicht verlassen, also hab ich mir in den dunklen Jahren seit Pas Tod alles selbst beigebracht. Ich denke, es steckte ohnehin schon in mir. Pa wusste, dass ich das Wasser mochte. Er hat mich schon mit hinaus auf See genommen, als ich kaum laufen konnte. Lachend hat er mir alles im Boot gezeigt – und auch die Wunder des Meeres. Ich liebe die Bewegungen der Wellen so sehr, dass ich mich auf festem Boden immer schwer fühle, wie ihrer beraubt.

Ich betrachte den Hummer: Es ist ein großes Weibchen, die Eiersäcke sind wie Kostbarkeiten an ihrem Bauch befestigt. Ich bewundere ihren blauschwarzen Panzer, die andersweltlichen Augen. Als mir klar wird, dass ich nicht mehr allein bin, öffne ich den Korb.

Ich grinse vor Freude und Aufregung – denn es wird gefährlich. Rye Tern ist gekommen.

»Wie ist der Fang?«, fragt er.

Ich spüre ihn eher, als dass ich ihn sehe. Songlight kann man schwer mit Worten beschreiben. Rye ist bei mir, aber irgendwie auch nicht. Ich sehe ihn, aber irgendwie auch nicht. Er ist mit allen Sinnen hier – doch nur mein sechster kann ihn wahrnehmen. Er lehnt sich auf einen Wischmopp, die Hemdsärmel sind hochgekrempelt. Er befindet sich also irgendwo in den Baracken – trotzdem scheint es mir, als stünde er im Heck. Die Sonne leuchtet durch ihn hindurch, doch als sich unsere Gedanken aneinanderheften, wird er körperlicher. »Hab dein Boot beim Exerzieren gesehen und mir extra Strafdienst aufgehalst, um vorbeizukommen.« Er präsentiert den Wischmopp. Die Art, wie er die Schwierigkeiten weglächelt, stellt mein Herz auf den Kopf.

»Du leichtsinniger Dummkopf.« Ich wende mich meiner Arbeit zu und mustere den Hummer.

Rye tritt näher. »Sie sieht dir ein bisschen ähnlich.«

»Ich kann mich besser verteidigen.« Sein Grinsen lässt mich dahinschmelzen.

Sein Licht ist mir nun so nah, dass ich über keinerlei Verteidigung mehr verfüge.

»Sie trägt Eiersäcke«, erkläre ich ihm. »Also muss ich sie wieder reinschmeißen.«

Ich beuge mich über den Bootsrand und lasse die Hummerkönigin zurück ins Wasser. Ich betrachte, wie sie im Blau verschwindet, und ihre Freiheit macht mich froh.

Rye besucht mich im Boot, wann immer er kann. Es ist der einzige Ort, an dem wir uns sicher fühlen, an dem unsere Liebe nicht verborgen bleiben muss. Hier können wir uns gehen lassen, einander hoch in der Luft umkreisen wie Möwen – oder der Tiefe lauschen. Wir können genau sagen, wann die Heringe kommen – wir spüren ihr Dahingleiten und hören, wie sie alle denselben Ton singen. Manchmal erspüren wir Gelbflossenthunfische, die wie Sternschnuppen unter uns dahinschießen. Quallen finden wir immer, sie treiben in Schwärmen dahin wie die Seelen der Toten.

Doch gerade ist Ryes Songlight das Einzige, was ich wahrnehme, seine Gegenwart verwebt sich mit meiner. Begierde keimt in mir auf, als ich daran denke, wie ich ihn zuletzt wirklich berührt habe … Bei Einbruch der Nacht hörte ich ein Klopfen an meinem Schlafzimmerfenster, und Rye stand im Garten, verletzlich, mit zerrissener Jacke, weil sein Pa ihn verdroschen hatte. Dieses Bild hüte ich wie einen kostbaren Schatz – das Mondlicht schimmerte auf seiner Haut, der Schmerz stand ihm in den Augen. Ich bin aus dem Fenster geklettert, und er hat die Arme um mich geschlungen. Ich hielt ihn fest, wir mussten nicht sprechen. Sein Körper war so unmittelbar, dass er mir den Atem raubte. Sein Geruch, seine starken Arme, seine Lippen an meinem Hals … So nah könnte uns Songlight nie zusammenbringen.

Hand in Hand liefen wir zu Baileys Strand hinunter und schwammen. Danach lagen wir unter den Sternen im Sand und brachen achtlos jede Regel, jeden Zwang. Wenn ich jetzt daran denke – wie wir unsere Körper genauso vereinigten wie unsere Gedanken –, will ich es schon wieder tun. Ich will Rye Tern hier in meinem Boot, ich will ihn riechen, küssen, ihn mit meinen Händen erkunden. Rye ist klar, woran ich denke. Ich spüre auch seine Sehnsucht in jedem Atemzug.

Was wir getan haben, ist verboten. Gemäß der Lobsänge der Reinheit, die wir auswendig können müssen, bin ich nun befleckt. Aber wie kann so etwas ein Verbrechen sein? Wir sind keine sexuellen Verräter, wir sind Elsa und Rye.

»Wir müssen uns treffen«, flüstere ich.

»Ich weiß«, sagt er. »Ich will, dass sich was ändert. Ich will mit dir zusammen sein.«

»Wir treffen uns an Baileys Strand. Heute Nacht. Leibhaftig.«

»Das ist gefährlich.«

»Das weiß ich.«

Unser Songlight schwebt auf einer hohen Note des Begehrens. Ich möchte seine Lippen auf meinen, seinen Bauch an meinem, meine Beine um ihn spüren. Wir halten den Ton und hauchen hinein, was wir brauchen, bis es sich so anfühlt, als würde der ganze Ozean in unseren Gesang einfallen.

Da bemerke ich, wie er über die Schulter blickt. Für einen Augenblick sehe ich die Welt durch seine Augen. Er wischt im Speisesaal den Boden, schwere Schritte nähern sich.

»Da kommt jemand«, sagt er. Sofort weicht seine Wärme, seine Energie zurück.

Er ist fort, lässt mich aufgelöst zurück.

Um mich herum verändern sich die Geräusche. Ich werde mir des Windes wieder bewusst, der Wellen an meinem Boot. Ich hasse es, wenn er einfach so verschwindet.

Ich hole die Netze ein und schippere zurück nach Northaven. Dort ist mein Songlight unerwünscht, also vergrabe ich ihn tief unter meiner Lunge. Ich schiebe ihn meine Arme und Beine hinunter und verstecke ihn unter den Fingernägeln. Wenn noch irgendein Mensch in der Stadt Songlight besitzt, so verbirgt er es gut. Soweit ich weiß, sind Rye und ich die Einzigen. In Northaven ist Songlight eine verräterische Bürde. Ab und an verspüre ich zwar einen Ton in der Luft wie Farben am Webstuhl oder das Seufzen, wenn Wasser im Abfluss verschwindet, oder höre Gedankenwedel wie das Prasseln im Feuer. Doch dann bemerkt die Person es, und plötzlich wird alles eng, als bekäme ich keine Luft mehr. Ein nur zu vertrautes Gefühl. Als Great Brother Peregrine die Macht ergriff – damals war Ma noch ein Kind –, wurden die Unmenschen ausgesondert. Unser Gala-Tempel wurde geschlossen und verriegelt. Allen Menschen mit Songlight wurde ein Reif aus Blei um die Stirn gelegt, bevor sie versklavt nach Brightlinghelm gebracht wurden. Alle paar Jahre kommt ein Inquisitor mit seinen Sirenen vorbei, um die Bevölkerung zu untersuchen. Zuletzt hat er die alte Ellie Brambling, Mr Roberts und Geren Young mitgenommen. Damals war ich noch eine Chormaid im ersten Jahr, und mein Songlight war noch nicht vollständig erwacht.

Bevor der Inquisitor ging, klärte er uns Seite an Seite mit den Ältesten über die Anzeichen auf. Wenn wir diese Mutation, diese Verderbnis besaßen, würde sie über kurz oder lang zum Vorschein kommen. Wenn wir auch nur den Hauch davon in uns oder in anderen bemerkten, sollten wir es beichten. Verspürten wir die Gegenwart anderer, auch wenn wir allein waren? Wussten wir manchmal, was andere dachten? Fühlten wir uns ab und an, als würden wir schweben, als könnten wir unseren Körper verlassen? Schien es uns manchmal, als würden wir von einem fremden Willen kontrolliert? Falls wir jemanden der Unmenschlichkeit verdächtigten oder den unmenschlichen Makel auf unserer eigenen Seele bemerkten, sollten wir vortreten und sprechen. Angesichts solcher Ehrlichkeit würde uns kein Leid geschehen. Dann würde unser Songlight lediglich eingedämmt, und wir würden die Möglichkeit erhalten, ihn in den Dienst der Gebrüder zu stellen.

Nein, danke, dachte ich, als sich mein Songlight voll entwickelte. Nacht um Nacht erwachte ich und schwebte hoch über dem Haus. Oder mein Körper saß im Boot, während ich von oben auf ihn herabsah. Dann vernahm ich Vogelgesang wie eine Sprache oder sah die Welt durch die Augen der Seehunde, die mich beim Arbeiten beobachteten. Ich fühlte mich jedem Lebewesen intensiv verbunden. Und davor hatte ich gewaltige Angst.

Und dann tauchte eines Tages Rye Tern in meinem Boot auf. Ich kannte ihn schon mein ganzes Leben lang – er war einer von Pipers Freunden. Er stand im Songlight vor mir, als ich die Netze einholte. Ich versuchte, ihn zu ignorieren, während mein Herz vor Angst hämmerte. Unmensch, Unmensch.

»Ich weiß, dass du mich sehen kannst, Elsa.«

»Lass mich allein, Unmensch«, blaffte ich ihn an.

»Du bist doch auch ein Unmensch, du Dummkopf. Was willst du denn dagegen tun?«, fragte er. »Mich ausliefern?«

Ich konnte nichts sagen; nur eine Träne rann mir langsam die Wange hinab.

»Das ist dein schrecklichster Albtraum, oder?«, fragte Rye leise, und ich nickte.

Eine Weile hatten wir einander umkreist wie Katzen, mit ausgefahrenen Krallen und ohne einen Funken Vertrauen. Aber es war so eine Erleichterung, einen Freund zu haben. Ich war mit meiner Absonderlichkeit so allein gewesen, hatte so viel Angst vor ihrem Aufwallen gehabt. Es war noch viel schlimmer als meine Periode. Die Schmerzen und Blutklumpen waren nichts im Vergleich zu der Angst, wenn mein Geist wieder einmal meinen Körper verließ, wenn ich die Gedanken anderer spürte, wenn ich begriff, was sie fühlten, obwohl sie etwas ganz anderes sagten. Es war ein einsamer Schrecken. Doch Rye und ich hatten ihn gemeinsam. Unsere Absonderlichkeit war uns ein Trost, wann immer wir einander über den Weg liefen. Vielleicht hätte ich mich auch in Rye verliebt, wenn er hässlich wie ein Holzklotz gewesen wäre, weil seine Verletzlichkeit, sein Zorn, seine raue Süße, die Art, wie er selbst in einer finsteren Welt immer etwas zu lachen findet – weil all das schön an ihm ist. Aber ich kenne ihn schon so lange, er ist vom Jungen zum Mann geworden, und das Ergebnis ist alles andere als hässlich. Rye Tern ist ein echter Hingucker. Von den langen Wimpern bis zu den breiten Schultern – jeder Fingerbreit an ihm fasziniert mich.

Wenn wir uns leibhaftig begegnen, gehen wir auf Nummer sicher und bleiben einander fern. Nicht einmal Piper, mein eigener Bruder, weiß, wie gut wir einander kennen. Wir sind wie zwei verwobene Lieder, und dafür gibt es ein Wort.

Wir sind eine Harmonie.

2

Elsa

Ich fahre als Einzige in den Hafen ein und betrachte dabei die Schatten der Windturbinen, die sich wie gottgleiche Schwingen über unseren Häusern drehen. Unser Städtchen zieht sich über die steilen Hügelflanken, wo die Windturbinen die Küstenwinde fangen, von den Mooren herab zum Meer. Ich betrachte die weißen Häuschen, die die Bucht flankieren, die in knalligen Farben bemalten Türen. Ich ignoriere den Stacheldraht, die Gewehrnester und die Wachtürme, ich versuche, die hässliche Fratze des Kriegs zu vergessen.

Northavens Mittelpunkt ist der natürliche Hafen. Der lange Kai schützt uns auf der einen Seite vor der See, auf der anderen Seite führt eine bemooste Landzunge hinab zum goldenen Baileys Strand. Jenseits davon liegen im Norden Moore und Marschen, in denen nur Hirten leben. Im Osten und Süden unserer großen Insel liegt der weite Greensward, ein undurchdringlicher Bergwald, aus dem meine Mutter kommt. Die nomadischen Stämme kommen nur her, um auf dem Markt Handel zu treiben. Auf einem solchen Markt hat meine Ma aus Greensward meinen Pa vom Meer kennengelernt. Es gibt keine Straße quer über die Insel, nur der Seeweg verbindet uns mit der Hauptstadt Brightlinghelm. Transportschiffe kommen und gehen, es dauert zwei Tage, die kriegsumtoste Alma-Enge zu durchqueren. Wenn wir Glück haben, bringen sie Korn, doch sie nehmen Fisch und unsere Männer mit.

Northaven ist eine schöne, tapfere Stadt. Wir haben schon mehr als einmal aylische Plünderer in die Flucht geschlagen. Doch als ich mich dem Hafen nähere, fällt mir das Atmen immer schwerer. Meine Schultern verkrampfen sich. Mein Zuhause.

Mrs Sweeney wartet auf mich. Ihr Mann ist Hafenmeister – doch Mrs Sweeney erledigt all die Arbeit. Er ist viel zu beschäftigt damit, die Spelunke Zum Austernfänger zu unterstützen. Sie ist ebenso wettergegerbt wie die windgepeitschte Brightling-Flagge über ihrem Haus. Mrs Sweeney heißt mich meist mit gut gelaunten Beleidigungen willkommen. Sie mag mich – dabei bin ich unter den Ältesten nicht wohlgelitten, so viel steht fest. Ich erwarte ihr ledriges Grinsen, doch heute hat sie keins für mich parat.

»Du steckst bis zum Hals in Schwierigkeiten, Elsa«, sagt sie. »Emissär Wheeler ist hier.« Ihre großen roten Hände zerren mich vom Boot. »Ist auf dem Transportschiff von Brightlinghelm hergekommen.«

Ich sehe zum größten Anlegeplatz hinüber – dort liegt das Transportschiff mit surrenden Turbinen vor Anker. Rost tropft ihm von den Nieten. Für die Rückreise wird es mit gefrorenem Fisch und Meeresfrüchten beladen. Das Herz wird mir schwer. Emissäre bringen Neuigkeiten und Schiedssprüche zu den Dörfern. Sie verbinden uns mit Brightlinghelm und sprechen mit der Autorität der Gebrüder. Alle hier katzbuckeln vor Emissär Wheeler – und er bringt niemals gute Nachrichten.

»Ich hab die Zeit vergessen«, erwidere ich bestürzt.

Songlight verflicht sich oft mit menschlichen Chorstimmen, und so kann ich unseren Chor schon spüren, der ungeschliffene Klang rieselt mir das Rückgrat hinab. Ich müsste längst dort sein.

»Ich kümmere mich um deinen Fang«, sagt Mrs Sweeney. »Jetzt lauf schon!«

Ich bin zur Hälfte den Kai hinauf, als mir wieder einfällt, dass ich drei Makrelen fürs Abendessen dabeihabe. Soll ich sie zurück zum Boot bringen? Ich bin doch ohnehin schon zu spät …

Die ganze Länge der Hafenwand ist von einem bunten Wandgemälde bedeckt. Ich laufe so schnell, dass die Farben verschwimmen. Es zeigt unsere tapferen Jungs und Männer in ihren schwarz-roten Uniformen, wie sie einen Angriff der feindlichen Horden zurückschlagen – die aylischen Schurken in ihrem schmuddeligen Blau. Jeder Blick auf das Gemälde erfüllt mich mit Stolz, denn die Aylen hasse ich mehr als alles andere. Diese wild gewordenen Bastarde haben Pa getötet.

Ich stolpere die Stufen hinauf und auf den Vorplatz. Es ist Waschtag, und die Frauen waschen Laken und Hemden in der öffentlichen Wäscherei, während die Kinder spielen. Überall laufen schwangere Frauen herum. Erstfrauen, Zweitfrauen, Witwen ganz in Grau. Die gedrungene, aber imposante Ältestenhalle ist in Brightling-Flaggen und -Banner gehüllt: unsere schwarz-weißen Raubvögel auf rotem Hintergrund. Im Näherkommen höre ich bereits die Chormaiden unsere Hymne singen. Die Worte und die Melodie sind so vertraut, als wäre ich damit auf die Welt gekommen. Ich fange bereits an, mitzusingen, bevor ich die Tür erreiche.

»Brightland, Brightland, treu und menschlich,

Heimat, nobles Ahnenland,

neu geformt von den Gebrüdern,

halten wir in Reinheit stand …«

Ich stemme mich gegen die schweren Türen und eile hinein, ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden.

»Brightland unser Mut, im Kampf unsre Wut,

Siegreich die Bruderschaft – Freiheit, du Feuersglut …«

Die Tore fallen hinter mir zu, als die Hymne endet. Die gesamte Gemeinschaft starrt mich an. Im Blick unserer Chormutter Hoopoe Guinea flammt Zorn auf. Sie ist verantwortlich für alle Chormaiden Northavens im heiratsfähigen Alter. Sie wird mich ganz sicher dafür ausschimpfen. Alle Blicke folgen mir, als ich im Chor ganz nach hinten eile. Im Seitenschiff verschwimmt der Anblick der Ältesten zu einem Wirbel aus missbilligendem Schwarz. Im luxuriösesten dieser Mäntel steckt Emissär Wheeler. Ich wage es nicht, ihn anzusehen.

Meine Freundin Gailee Roberts macht mir Platz. Entsetzt starrt sie die Makrelen in meiner Hand an. Chaffinch Greening und Tinamou Haines drehen sich um und mustern mich wie ein Untier. Chaffinch – rosa angezogen mit perfekt gelegtem Haar – schenkt meinen Stiefeln noch einen extra spöttischen Blick. Ich starre einfach nach vorn, als wäre das alles hier völlig akzeptabel.

Wheeler tritt vor und inspiziert uns. Er hebt sich seinen missbilligendsten Gesichtsausdruck für mich auf. Er ist groß und strahlt Stärke aus, doch wenn er den Mund aufmacht, ist seine Stimme hoch und dünn.

»Die Zeit ist gekommen, zu der ihr euch als Frauen unter Beweis stellen werdet. Northaven hat euch Tugend gelehrt. Nun habt ihr die Ehre, eure Reinheit auf dem Altar der Ehe zu opfern.«

Was soll das denn heißen? Ergeben die bombastischen Worte irgendeinen Sinn? Ehe?

Ich fühle mich, als würde ich schlafwandeln. Natürlich ist die Ehe unser Schicksal, seit wir klein sind – doch diese Wirklichkeit holt mich gerade erst ein.

»Die fertig ausgebildeten Kadetten ziehen aus. Kurz darauf kehren die altgedienten Helden von Northaven heim auf Hochzeitsurlaub. Die Stadt wird euch mit euren Gatten beschenken, und es ist eure Pflicht, ihnen zu dienen, indem ihr ihnen Söhne schenkt.«

Ich kann mir keinen Reim darauf machen, was er sagt. Die fertig ausgebildeten Kadetten ziehen aus. Etwa Rye und Piper? Wann ziehen sie aus? Ich starre Gailee an, als müsse sie es mir übersetzen. Unsere Brüder gehen? Und eine Horde Männer, die wir nicht mehr gesehen haben, seit wir kleine Mädchen waren, kommen nach Hause und zerren uns in ihre Betten? Ich habe immer gewusst, dass das geschehen wird, aber es erschien mir dennoch unwirklich weit entfernt.

»Endlich …«, flüstert Chaffinch Greening. Sie steht vor Aufregung auf den Zehenspitzen. Bin ich die Einzige, die davon angewidert ist?

»Euer Chormaiden-Unterricht ist fast abgeschlossen«, fährt der Emissär fort. »Nun bleibt eurer Chormutter nur noch, euch über die Mysterien des Ehebetts aufzuklären.«

Er wirft Hoopoe Guinea einen Seitenblick zu und schenkt uns ein schleimiges Lächeln. Nela Lane kichert. Uta Malting versucht, ihr Grinsen zu verstecken. Tinamou Haines stupst Chaffinch Greening an. Wir werden seit Jahren für den Tag unserer Heirat unterwiesen; ich habe immer gedacht, dass ich mich noch irgendwie herauswinden, dass ich mir einen annehmbaren Grund einfallen lassen kann, niemandes Braut zu werden. Wie könnte ich nur einen Fremden heiraten? Ich liebe Rye Tern! Diese Gedanken wirbeln mir durch den Kopf, während Wheeler uns mustert.

»Ihr seid die Hoffnung und die Schönheit von Brightland. Ihr alle seid Sinnbilder unseres Siegs. In den kommenden Tagen«, hechelt er weiter, »werden Listen ausgehängt. Alle, die nicht als Erstfrau ausgewählt werden, können es noch zur Zweitfrau bringen.«

Ich balle die Fäuste, so sehr graust es mich. Ich soll heiraten. Rye soll fortgehen.

»Unsere kämpfenden Helden haben euch als Bräute verdient. Schenkt ihnen jeden eurer Gedanken.«

Ely Greening, unser speichelleckender Bürgermeister, tritt vor.

»Northavens Chormaiden wurden gut ausgebildet – meine eigene Tochter Chaffinch ist unter ihnen. Ich kann Ihnen versichern, dass sie außerordentlich treu und hingebungsvoll sind.«

Er deutet auf Chaffinch. Von hinten sehe ich, wie sie geziert knickst und sich an all der Aufmerksamkeit erfreut. Wheeler nickt ihr wohlmeinend zu. Dann fällt sein Blick auf mich. Er stutzt, mustert mein salzwasserfeuchtes Kleid, den Schweiß unter meinen Achseln, das Durcheinander meiner Haare, die Makrelen in meiner Faust.

»Ich finde es jedoch sehr bedauerlich, dass eine von euch sich anmaßt, zu spät zu kommen und ihr Abendessen mitzubringen.«

»Entschuldige dich, Elsa Crane!«, bellt Hoopoe zornig.

»Es tut mir sehr leid.«

Vermutlich sollte ich ihn »Sir« oder »Emissär« nennen. Oder mich verbeugen. Aber in Wahrheit verachte ich Wheeler, diese Pissalge. Er starrt mich an und wartet ab, ob da noch mehr kommt.

»Manche Mädchen brauchen eine strenge Hand, und ich hoffe, dass es das ist, was dich erwartet«, sagt er. »Mit dem Rausfahren aufs Meer ist Schluss, sobald du erst verheiratet bist.«

Das bringt das Fass zum Überlaufen. Ich muss Rye finden.

Ich haue ab, sobald man uns die Erlaubnis erteilt. Vor der Halle der Ältesten atme ich tief durch. Gailee Roberts folgt mir treusorgend.

»Hast du etwa vergessen, dass heute die Inspektion ansteht?«

»Ja.«

»Geh wieder rein. Vertrag dich wieder mit Hoopoe Guinea. Sag ihr, du hattest Gegenwind.«

»Die Ausrede hat sie schon zu oft gehört.«

Chaffinch stampft heran. »Wie kannst du es wagen, dich so zu uns in den Chor zu stellen, nach altem Hering stinkend!«

»Makrele«, teile ich ihr mit.

»Mit der Einstellung schaffst du es nicht auf die Erstfrauen-Liste, das musst du gar nicht erst denken!«

»Ich habe schon genug Arbeit, Chaffinch. Jeden Tag fahr ich da raus und bringe Nahrung mit zurück, während du nur Sumpfgras im Kopf hast.«

Mir war nicht klar, dass Hoopoe Guinea hinter mir steht.

»Elsa, die Ehe ist unsere wichtigste Pflicht!«, hebt sie an.

Ich schweige betroffen. Jetzt ist die Zeit der Abrechnung gekommen, und Chaffinch genießt jede Sekunde davon.

»Du hast mich vor Emissär Wheeler blamiert. Du hast alle Chormaiden blamiert.«

Es ist nicht so, dass ich Hoopoe nicht mag. Als wir die Nachricht erhielten, dass mein Vater gefallen ist, war sie sehr freundlich zu mir. Seitdem habe ich sie stets enttäuscht.

»Ich hatte Gegenwind«, sage ich belämmert. Es klingt kläglich.

»Ich weiß, dass deine Mutter dich braucht. Ich weiß, dass du arbeiten musst. Aber die Unterweisung als Ehefrau muss an erster Stelle stehen.«

»Es tut mir leid.«

»Was würde dein Vater nur sagen, wenn er dich so sehen würde?«, fragt sie. »Denkst du, er wäre stolz?«

Ich schüttle den Kopf, den Blick auf den Boden geheftet.

»Gwyn Crane ist in Erfüllung seiner Pflicht gefallen. Wann wirst du anfangen, deine Pflicht zu tun?«

Das trifft mich wie eine Ohrfeige.

Hoopoe lässt mich stehen, die Chormaiden schließen sich ihr an. Chaffinch Greening wendet sich mit scheelem Seitenblick ab. Nur Gailee bleibt bei mir.

Gailee Roberts wird niemals eine Erstfrau sein. Die Einzige, die das nicht weiß, ist sie selbst. Ihre Familie hat eine unmenschliche Befleckung. Als Mr Roberts ins Chrysalidenhaus gebracht wurde, verlor die gesamte Familie ihre Stellung in der Stadt. Seitdem ist alles ein ewiger Kampf für Gailee und ihre Geschwister. Ihre Mutter arbeitet die ganze Nacht hindurch, sie wäscht und flickt die Wäsche anderer. Sie erhält keine Pension wie eine Kriegswitwe, also muss Gailee sich wie eine Mutter um die Kleinen kümmern. Gailee hat kein Songlight – aber manchmal denke ich, dass sie mich trotzdem lesen kann wie ein Buch.

»Soll ich dich heute Abend abholen? Dann gehen wir zusammen zum Unterricht. Du hast immer noch keine besondere Fertigkeit ausgewählt.«

»Ich kann da nichts auswählen, worin ich gut bin.«

»Elsa«, bettelt sie. »Du könntest eine Erstfrau werden. Dein Pa ist als Held gestorben, das gibt dir Punkte!«

Ihren eigenen Pa erwähnt sie nicht.

»Ich komme später vorbei und mach dir die Haare«, schlägt sie vor.

Gailees eigenes Haar ist bereits so gelegt, dass es wie festgeklebt aussieht. Ich sehe, dass sie sich auch an Schminke versucht hat, an Rot auf ihren Lippen und Wangen und einem mit zittriger Hand gezogenen schwarzen Strich auf ihren Lidern.

»Ich kann dir ein paar Tricks beim Nähen beibringen. Das ist eine gute Fertigkeit. Und sie unterscheidet sich doch sicher nicht so sehr vom Flicken der Fischernetze …«

Es müsste mich beeindrucken, wie sehr Gailee von Hoffnung erfüllt ist. Sie schaut es sich bei anderen ab, die auf jeden Fall zur Erstfrau taugen wie Chaffinch oder Tinamou. Sie entschlüsselt deren privilegiertes Gehabe wie eine Fertigkeit, die erlernbar ist. Mir hat Gailee sich angeschlossen, weil ich die anderen davon abhalte, grausam zu ihr zu sein. Sie wird von ihnen arg geplagt. Aber auch ich verliere manchmal die Geduld und bin grausam zu ihr. Sie kann wirklich nerven. Ihr ganzer Daseinszweck, jeder einzelne wache Gedanke, ist darauf gerichtet, den Ältesten zu gefallen. Sie gibt nie auf. Wenn ich an ihren unmenschlichen Pa denke, wird mir das Herz schwer. Wir haben kein einziges Mal darüber gesprochen, wie es war, als sie ihn abgeholt haben. Gailees Ma und ihre Schwestern wurden allesamt vom Inquisitor und seinen Sirenen untersucht, aber offenbar hat ihr Pa ihnen sein Songlight nicht weitervererbt.

»Was ist mit Tanzen?«, fragt sie, als wir hügelan steigen. »Ich wette, du kannst tanzen. Das ist eine besondere Fertigkeit, die Männern bestimmt gefällt. Ich wollte eigentlich Tanzen wählen, aber dann hat Chaffinch gesagt, dass ich mich dabei nur zur Närrin mache.«

»Chaffinch ist wie eine Wespe.« Ich halte ihr zwei Makrelen hin. »Hab ich für deine Ma gefangen«, sage ich. »Wir haben noch genug zu Hause.«

Gailee nimmt sie mit solch überschwänglicher Dankbarkeit entgegen, dass mich auch das schon wieder nervt.

3

Elsa

Die Schatten werden schon lang, als ich an der Ladenzeile vorbeigehe. Die Auslage ist weitestgehend geplündert. Die geschäftige Zeit ist früh am Morgen – schon bevor die Sonne aufgeht, stehen wir Schlange, um Brot in Maltings Bäckerei zu ergattern.

Das Tagwerk am Kai ist mittlerweile getan; alle Fischerboote sind vertäut, und die Hafensperre ist vorgeschoben, damit die Aylen nachts nicht angreifen können. Das ist zwar nicht mehr passiert, seit ich klein war, aber ein Edikt ist ein Edikt.

Am Hafen komme ich an der Statue von Great Brother Peregrine vorbei, Greenings ganzer Stolz. Der Älteste hat eine Menge Geld dafür lockergemacht, hat darauf bestanden, dass jede Familie spendet. Unser Great Brother schaut weise hinaus auf die See, als sähe er dort eine Vision unserer Zukunft. In den Sockel ist etwas eingraviert, aber als Mädchen habe ich natürlich nicht lesen gelernt, daher weiß ich nur von Piper, was dort steht: Das Menschliche überdauert, was ich aus offensichtlichen Gründen sehr verstörend finde.

Niemand redet viel über die Tage vor Peregrine, aber Ma sagte, als sie noch ein Kind war, wurden alle Dörfer von einem Rat geleitet, an dem Menschen mit und ohne Songlightteilhaben konnten. Diese Räte sind nun als Verbrecherringe bekannt. Uns wird beigebracht, dass die Verbrecherringe kleinlich und korrupt waren, kontrolliert von Unmenschen, die die Gedanken anderer verdrehten, um sie klein zu halten. Great Brother Peregrine hob eine Bürgermiliz aus, zerstörte die Verbrecherringe und einte uns. Er hat mithilfe seiner zehn Leutnanten, den Gebrüdern, eine große Nation geformt. Heutzutage können wir von ihren Taten in Sister Swans täglicher Ansprache hören.

Northaven hat mittlerweile zwei Radiobinen. Eine in der Ältestenhalle, die andere im Privatbesitz von Ely Greening. Chaffinch bewacht sie eifersüchtig, und nur ihre engsten Freundinnen dürfen darauf Berney Grebes Musikstunde und Soldat der Woche hören.

Die Radiobine ist eine der zahlreichen Innovationen der Gebrüder. Sie haben ein Ingenieursprogramm gestartet, uns die Turbinenkraft gebracht, und Brother Peregrine hat uns in den Nutzen von Geld eingewiesen. Ma weiß noch, dass sich die Menschen zunächst gesträubt haben. Geld war eine verschollene Idee aus den Tagen der Lichtvolks, und viele waren der Ansicht, dass diese Zeit nicht wiederbelebt werden sollte. Hatte uns das Lichtvolk nicht mehr oder weniger zugrunde gerichtet? Aber Great Brother Peregrine sagt, wir sollen nicht alles aus dem Lichten Zeitalter verteufeln. Geld, so sagt er, wird uns aus der Armut befreien. Und Northaven ist wirklich reicher geworden. Der Hafen hat diese neue Wand, die Ältestenhalle Säulen aus Alabaster, und die Transportschiffe brechen nun täglich nach Brightlinghelm auf. Aber der Krieg mit den Aylen zerrt an uns. Unser Wohlstand beginnt zu schwinden.

Über eine Innovation denke ich niemals nach: das Chrysalidenhaus.

Ich komme an Mr Aboa vorbei, der seine hochschwangere Erstfrau im Arm hat. Die Zweitfrau folgt ihnen, ihre Kleidung deutlich erkennbar auf die Erstfrau abgestimmt, und ermahnt die Kinder zur Eile. Sie trägt außerdem einen schweren Kartoffelsack. Mr Aboa ist Veteran. Er geht an einer Gehstütze und kann nicht mehr kämpfen, aber wie ich das sehe, hat er ausgesorgt. Er erhält eine Pension von den Gebrüdern, und ich wette, er muss keinen Finger rühren. Seine Zweitfrau sieht müde aus. Vielleicht ist sie auch schwanger. Ich sehe ihnen nach und denke an das Schicksal, das mir bevorsteht. Krieg. Heirat.

Ich muss Rye sehen.

Direkt vor unserem Haus befindet sich ein großes Wandgemälde von Sister Swan, der Blume von Brightland. Sie hat den Blick gesenkt und die Arme ausgebreitet, als gäbe sie uns ihren Segen. Wir sollen sie als Inbegriff vollkommener Weiblichkeit verehren. Ich persönlich finde sie zu selbstzufrieden. Mein Magen grummelt wütend, als gäbe mein Hunger diesem Gefühl eine Stimme.

Ich nähere mich unserem Haus mit der gelben Tür, einer Farbe, die wir uns in glücklicheren Zeiten ausgesucht haben und die Wind und Wetter nun abblättern lassen. Drinnen schnippelt meine Mutter Gemüse. Curlew Crane oder »Curl«, wie Pa sie immer genannt hat. Der Witwenschleier rahmt ihr Gesicht ein. Sie trägt ihn, seit er gestorben ist. Ich war damals zehn.

»Mrs Sweeney kam vorbei«, sagt Ma, als ich eintrete. »Sie sagte, du hast den Chor verpasst.«

»Nicht den ganzen«, erwidere ich. »Tut mir leid.« Die Worte stehen abgenutzt im Raum.

Ma sieht mich mit müder Enttäuschung an. Ich lege die letzte Makrele ab wie eine Besänftigung.

»Ist das alles?«, fragt sie.

»Die anderen habe ich Gailee gegeben.«

Darüber ärgert sie sich nicht. »Nun ja. Wir haben schon genug.«

Sie schiebt das Gemüse in einen Topf, hält den Kopf gesenkt. Etwas schmerzt sie. Sie hat die Neuigkeiten also schon gehört …

»Geh zu deinem Bruder«, murmelt sie. »Er ist im Garten.«

Great Brother Peregrine sagt, Jungs müssen sich aufeinander verlassen, nicht auf ihre Familien. Deshalb leben Piper, Rye und die anderen Kadetten in den Baracken, seit sie elf sind. Sie besuchen ihr Zuhause nur am Sonntag, deshalb ist es selten, dass ich Piper an einem Dienstagabend zu sehen bekomme.

Die Kadetten ziehen in den Krieg.

Ich werde Rye verlieren – und ich weiß nicht, was ich dagegen tun kann.

Ich betrachte Piper eine Weile, bevor er mich bemerkt. Er pflanzt junge Kartoffeln, bedeckt sie mit Erde, als wollte er sichergehen, dass wir ohne ihn nicht verhungern. Er ist jetzt ausgewachsen, muskulös und schlank. Ich bin froh, dass er so stark ist, obwohl körperliche Stärke einen Mann im Krieg nicht schützen kann. Aber anders als ich ist Piper da, wo er ist, genau richtig. Er ist Hauptmann, der höchstmögliche Rang in seinem Jahrgang. Er wünscht sich, für Brightland zu kämpfen wie unser Vater. Ich versuche, ihn mir in zehn Jahren vorzustellen, wenn es für ihn an der Zeit ist zu heiraten. Wie er an Bord eines Transportschiffs steht, die Heimkehrer anführt; stolz, gedient zu haben, frei, sich eine Frau zu wählen.

Oder ist von ihm dann nur ein Stein übrig geblieben, in den sein Name gemeißelt ist, in einer ordentlichen Reihe mit all den anderen Steinen, dort oben bei den Turbinentürmen? Dort hat auch Papa einen Stein. Gwyn Crane steht darauf und das Datum, an dem er starb. Diese Buchstaben kenne ich gut genug. Doch darunter liegt kein Körper. Im Kampf vermisst, heißt es. Jahrelang dachte ich, dass er noch am Leben sein könnte, dass die Aylen ihn in ein weit entferntes Gefangenenlager gebracht haben. Aber Rye hat mir den Kopf gerade gerückt. Im Kampf vermisst, das schreiben sie, wenn jemand so in Stücke gesprengt wurde, dass seine Kameraden nicht mal seine Teile finden konnten.

Nach Pas Tod schlug Stille über unserem Haus zusammen. Wir waren noch so klein, als er in den Krieg zog, aber die Hoffnung auf seine Rückkehr war uns ein Licht. Pa war groß und warmherzig. Sein Mut schimmerte wie der Sonnenschein auf See. Als wir die Nachricht bekamen, stieg Mas Trauer langsam über uns wie eine Flut. Sie wollte uns davor beschützen, war aber selbst schon in blaugrauer Tiefe untergegangen und kam kaum zu Atem. Sie gab sich solche Mühe, stark zu sein, aber ich sah oft, wie sie mit Unglauben seinen leeren Stuhl anstarrte. Ma sieht immer noch schön aus – die dunkle, makellose Haut, die hohen Wangenknochen –, aber ihre Augen sind Fenster in die Welt ihres Verlusts.

Piper gräbt immer noch im Garten. So möchte ich ihn in Erinnerung behalten. Wie sein Haar nie gehorcht, wie seine feinen Brauen sich runzeln, wie er sich Mühe gibt, alles ordentlich zu machen.

Eine weitere Erinnerung treibt an die Oberfläche. Kurz nach Pas Tod war ich an einem windigen Tag an Baileys Strand, und immer neue Wellen sprangen auf mich zu und erhoben ihre Häupter wie Ungeheuer auf der Jagd. Ich bekämpfte sie mit allem, was ich hatte – aber dann konnte ich den Boden unter den Füßen nicht mehr spüren, und mir wurde klar, dass ich mich zu weit hinausgewagt hatte. Die See riss mich fort. Es war Ebbe, und jede Welle zog mich weiter hinaus. Piper hörte mich rufen, warf sich todesmutig in die Fluten und brachte mich wieder an Land – und dann schimpfte er mich aus, weil ich eine solche Närrin gewesen war. Ich hielt mich so sehr an ihm fest. Dieses Gefühl, das Gefühl, von jeder Welle weiter vom Ufer fortgerissen zu werden, gegen eine unüberwindliche Macht anzukämpfen – das spüre ich jetzt wieder. Dieser Krieg ist wie die Gezeiten, die niemand aufhalten kann.

Piper bemerkt mich.

»Stimmt es, dass die Kadetten entsendet werden?«, frage ich.

»Am Thaltag. Das Transportschiff kommt frühmorgens.« Seine Worte hinterlassen eine seltsame Stille, die ich mit keinem Wort füllen könnte. Er zieht die nächste ordentliche Furche für die Kartoffeln.

Es ist merkwürdig, dass mein Bruder kein Songlight hat. Andererseits haben wir bis auf unser Aussehen wenig gemeinsam. Piper mag gerade Linien. Regeln und Routine geben ihm ein Gefühl von Sicherheit, während sie mir das Gefühl geben, um mich treten zu müssen. Er mag es, Dinge mit den Händen zu machen, während ich zwei linke Hände habe. Piper kann aus einem Stück Papier einen Schwan falten. Sein altes Kinderzimmer ist voller Papiervögel und empfindlicher Modellfluggeräte, die er aus Karton und Holzstückchen gefertigt hat. Ich erinnere mich daran, wie er neben Ma saß; während sie ihre Tiere schnitzte, baute er seine Flugzeuge und studierte dabei ein Schriftstück über die Prinzipien des Flugs, das sein Sergeant ihm gegeben hatte. Spielen durfte ich damit nie.

Als mein Songlight aufflammte, griff ich in meiner Verzweiflung damit nach Piper, probierte flüsternd Noten an ihm aus, streichelte ihn mit Gedankenwedeln, um zu sehen, ob er mir antwortete. Das geschah nicht. Piper war immer schon in sich gekehrt. Manchmal glaube ich, er war schon genervt davon, dass ich geboren wurde. Vorher hatte er unsere Eltern für sich. Ich hab ihn vom Platz an Mas Brust vertrieben, und ich glaube, ich war immer Pas Liebling. Ich habe Piper nicht einmal weinen sehen, nachdem Pa tot war. Die Gefühle schüttelten ihn, doch Tränen schloss er in sich ein. Über Nacht wurde er zum Mann in unserer Familie. Ma wollte, dass er noch Kind bleiben konnte – er sollte spielen, rennen, unbekümmert sein. Aber Piper machte alles mit sich selbst aus. Jetzt sieht er mich mit seinen tiefbraunen Augen an, als wäre ich nur eine weitere Bürde für ihn.

»Wenn ich weg bin«, sagt er, »musst du dich um Ma kümmern.«

»Das mach ich, das weißt du. Und Ma kann sich außerdem um sich selbst kümmern.«

»Sorg dafür, dass du auf den Erstfrau-Listen landest.«

»Du weißt, dass ich darauf keinen Einfluss habe.«

»Doch, hast du. Mir kommt immer nur zu Ohren, wie mürrisch und verschlossen du bist.«

»Wer sagt das?«

»Conrad Haines.«

»Das ist nur, weil seine grässliche Schwester Tinamou über mich lästert. Sie weiß, dass ich sie nicht ausstehen kann.«

Piper tritt näher. Es ist ihm sehr ernst. »Ich will Pilot werden. Du weißt, wie hart ich dafür gearbeitet habe. Es schadet meinem Status, wenn du nur Zweitfrau wirst.«

Ich lege den Kopf schief. »Also dient meine Ehe deinem Zweck?«

»Sie dient Brightlands Zwecken und deinen eigenen. Wie kannst du es nur ertragen, nicht die Beste zu sein? Merkst du nicht Pas Blick auf uns?«

Das erwischt mich kalt. Einen Moment lang spüre ich den Druck, den Piper verspürt, diesen erschöpfenden Drang, so gut zu sein wie Pa. Das macht mich traurig.

»Ich geb mir mehr Mühe«, sage ich.

»Versprich es mir«, beharrt er.

Ich will so etwas nicht versprechen. Es wäre eine Lüge.

»Elsa, versprich es mir.«

»Ich versprech es dir«, murmle ich.

Piper wendet sich ab, zieht sich die Jacke an, stampft mit den Stiefeln auf. »Wir kriegen morgen frei, um mit unseren Familien zu essen. Ein Abschiedsessen. Bis dann.«

Vom Gartentor aus wirft er mir noch ein flüchtiges Lächeln zu. Dann ist er fort.

Meine Mutter steht am Schrein, als ich wieder ins Haus trete. Sie betet zu Gala – zur Schöpfung, Lebenskraft; zu Gala, der Mutter. Alle Gala-Tempel wurden geschlossen, als Great Brother Peregrine die Macht ergriff, denn viele aus der Priesterschaft waren Unmenschen. Aber es ist erlaubt, ihr zu Hause zu huldigen. Gala erhält, sie lässt wachsen und heilt, und ihre Kraft sorgt dafür, dass die Gifte und Narben, die das Lichtvolk unserer Erde zugefügt haben, langsam vergehen. Nach Jahrtausenden werden die Stürme schwächer, und die großen Wüsten schrumpfen. Für meine Mutter ist Gala die Lebenskraft der Erde.

Wenn Ma nur mehr Kinder hätte, die sie trösten könnten … Doch Piper und ich waren beinahe zu viel für ihren Körper. Beide Schwangerschaften waren ein einziges Leiden für sie. Sie hat meine Geburt überlebt – aber ihr Schoß kann keine weiteren Kinder mehr austragen. Deshalb wurde sie auch nicht gedrängt, neu zu heiraten. Die meisten jungen Witwen müssen neu heiraten, um mehr Söhne zu gebären. Ma hilft nun anderen Frauen durch die Geburt. Dass wir so eine kleine Familie sind, macht uns jedoch in Northaven zu einer Ausnahme. Kein Wunder, dass Piper es so schwer hat, irgendwo hineinzupassen.

Ma setzt sich nach dem Essen nach draußen in die letzten Strahlen der Sonne. Sie lenkt sich mit Schnitzereien ab. Sie hat so eine Art, mit der sie ein Stück Holz betrachten kann und dann ein Geschöpf hervorlockt. Auf meinem Fensterbrett steht ein kleiner Delfin, der aus geschnitzten Wellen springt. Auf Pipers steht ein kleines Reh. Heute schnitzt sie einen Reiher. Er spendet ihr keinen Trost.

»Mit elf Jahren schon werden unsere Jungs in diese Baracken gesperrt«, seufzt sie. »Einen Tag hier, eine Nacht da – länger haben sie uns Piper nicht gegönnt. Welche Weisheit soll darin liegen, uns von unseren Söhnen zu trennen? Männer sollten zusammen mit Frauen aufwachsen.«

»Piper ist der beste Kadett von allen, Ma. Alle sagen das.«

»Das wird ihn nicht retten, wenn …« Sie unterbricht sich und atmet durch.

Ich suche nach tröstlichen Worten. »Ich weiß, wir haben Pa verloren … aber das heißt nicht, dass wir auch Piper verlieren.« Ich mache es nur noch schlimmer. »Ich hab gehört, dass unsere Streitkräfte seit der Montsan-Bucht guten Fortschritt machen …«

Ma lächelt gezwungen, als wäre ich noch klein. »Als Heron Mikane die Schlacht um die Montsan-Bucht gewonnen hatte, sagten sie, dass wir bis zum ersten Schnee in Reem sein würden. Das war vor zwei Jahren. Und Reem steht immer noch …«

Ich ertrage diesen alles erstickenden Krieg einfach nicht mehr. Sollen die Aylen verrecken für alles, was sie tun! Ich muss mich mit Rye treffen. Ich muss zu ihm, bevor mich dieser Zorn auffrisst. Leichtsinnig sende ich mein Songlight wie einen Strahl aus und suche nach seiner Gegenwart. Sofort spürt er mich. Er zieht mich zu sich, obwohl er sich der Gefahr bewusst ist. Wir werden diese Verbindung nicht lange aufrechterhalten. Es ist, als stünde ich vor seinem Schlafsaal und sähe durch ein beschlagenes Fenster hinein. Er packt einen Seesack wie all seine Kameraden.

»Baileys Strand«, sage ich im Songlight. »Komm schnell.«

Rye spürt mein Drängen. Er ist bereit. Er wird dort sein. Er sagt kein Wort, und wir trennen uns wieder.

Im Garten stehe ich auf, mime eine Ruhe, die ich nicht empfinde. Ich sehe Ma an, die ihren Vogel schnitzt.

»Ich könnte für morgen Abend Meerfenchel pflücken gehen«, schlage ich vor. »Den liebt Piper doch.«

»Bald wird es dunkel.«

»Er schmeckt am besten, wenn man ihn in der Dämmerung pflückt. Dann liegt der Abendtau darauf.« Ich küsse sie auf die Wange, bevor sie widersprechen kann.

Dann renne ich auch schon über die Landzunge. Das grasbewachsene Kap wird auf drei Seiten von Felsen und Klippen begrenzt. Baileys Strand liegt auf der entgegengesetzten Seite. Oben auf dem Kap bleibe ich nie lange, denn hier stehen die städtischen Galgen und bieten einen schrecklichen Anblick: Ein ehebrecherisches Pärchen aus dem Süden, das vor einem Monat erwischt wurde, hängt immer noch dort. Ich halte mit weichen Knien inne und muss betrachten, was von dem Mann und der Frau übrig geblieben ist, die dort im Wind verrotten. Es waren sexuelle Verräter auf der Flucht Richtung Norden. Ich wende mich ab, doch ihr Bild hat sich mir eingebrannt. An ihrer Stelle sehe ich Rye und mich. Die Chormaiden sagen, hier spukt es, und ich zweifle nicht daran. Ehebrecher, Degenerierte, Flüchtige und Diebe – ihre Körper werden hängen gelassen, damit die ganze Stadt sie sehen kann. Nicht nur Menschen mit Songlight müssen um ihr Leben fürchten.

Ich reiße mich zusammen und steige den Klippenpfad hinab. Große Sanddünen erheben sich, wo die Landzunge aufs Festland stößt. Dort wächst der beste Meerfenchel. Ich blicke hinunter – Rye kraxelt in einiger Entfernung nah an den Klippen vorbei und versucht, ungesehen zum anderen Ende des Strands zu kommen. Er hält beim Kormoranfelsen inne und lässt ein paar Steine auf den Wellen titschen. Ich sammle Meerfenchel, um zu erklären, warum ich hier bin, falls mich jemand sieht. Dann sende ich mein Songlight aus.

»Rye!«

Er spürt mich. »Warum bist du nicht körperlich hier?« Vor Enttäuschung spricht er laut und nutzt sein Songlight nicht.

»Ich wollte kommen. Aber dann hab ich die Galgen gesehen.«

Ich zeige ihm das Bild: das Pärchen, dessen Kleidung in Fetzen hängt, die Gesichter von Krähen und Raubvögeln zerpickt. Rye betrachtet es.

»Der Blitz soll uns treffen für das, was wir ihnen angetan haben«, sagt er. »Was haben sie uns getan? Nichts. Northaven ist verflucht, das schwöre ich.«

Ich kenne Ryes Zorn. Er brennt in ihm, kommt noch häufiger an die Oberfläche als der meine. Er ist wütend auf seinen Vater, die Ältesten, auf Emissär Wheeler und jeden anderen hochnäsigen Heuchler, der herumstolziert, als würde ihm das alles gehören. Normalerweise beruhigt es ihn, wenn ich ihn zu den sicheren Orten führe, die in unserer Vorstellungskraft existieren. Dort haben wir uns eine Insel geschaffen, wir leben dort in einer kleinen Hütte aus Treibholz und anderem Unsinn. Aber heute kann es diese Flucht für uns nicht geben.

»Ich habe gehört, dass sie euch fortschicken«, beginne ich. »Wheeler hat es uns gesagt – und das ist noch nicht alles. Er sagt, die Heimkehrer kommen zurück. Mein Hochzeitstag steht an.«

Rye spürt meine Düsternis und ich die heißen Kohlen seiner Frustration.

»Also müssen wir uns jetzt entscheiden, richtig?«

Ich nicke. Diese Entscheidung steht uns schon lange bevor.

»Wenn du zur Ehe gezwungen wirst, wie lange kannst du dann wohl noch verbergen, was du bist?«, fragt er.

Ich schüttle den Kopf. »Ich müsste zu einem Geist werden, um die Ehe zu ertragen.«

»Dann müssen wir fortlaufen«, sagt Rye schlicht, und es klingt so leicht.

»Wie das Paar am Galgen?«

»Komm runter«, drängt er mich. »Wir müssen jetzt los, ohne zu zögern. Über die Felsen, solange die Ebbe anhält – dann hoch zum Moor. Wir sind hier weit jenseits der Wachtürme. Niemand würde uns sehen.«

Als er es ausspricht, wird mir klar, was heute den ganzen Tag unbewusst in meinen Gedanken gelauert hat. Was bleibt uns denn auch übrig?

»Wir riskieren unser Leben«, sage ich.

»Noch mehr, wenn wir hierbleiben …« Er seufzt tief. »Sie werden dich aufspüren. Und ich will nicht in einem Krieg sterben, an den ich nicht glaube.«

Das beunruhigt mich. Niemand hasst den Krieg mehr als ich, aber ich zweifle nicht daran, dass dieser Krieg herrschen muss.

»Natürlich glaubst du an den Krieg.«

Er schüttelt den Kopf.

»Rye, die Aylen sind unsere Feinde! Sie würden uns alle töten.«

»Woher sollen wir das wissen? Great Brother Peregrine lügt, was das Songlight angeht. Wir wissen sehr gut, dass wir Menschen sind wie alle anderen. Genauso, wie wir wissen, dass die beiden am Galgen nichts falsch gemacht haben. In welcher Hinsicht haben uns die Gebrüder also noch belogen? Was, wenn auch der Krieg nichts als eine Lüge ist?«

»Die Aylen haben meinen Pa getötet, sie haben Daniel getötet. Sie sind Monster!«

Eine Welle des Schmerzes durchläuft Rye, ich hätte es wissen müssen. Das passiert immer, wenn er den Namen seines Bruders hört. Daniel Tern war einundzwanzig. Sein Körper kam in einem versiegelten Sarg zurück – was bedeutete, dass sein schrecklicher Anblick unzumutbar war. Als der Schmerz vorbeizieht, sieht Rye zu mir auf.

»Wer ist dein wahrer Feind?«, fragt er. »Die Aylen mögen Ungeheuer sein, aber wenn die Gebrüder herausfinden, was wir sind, bringen sie uns ins Chrysalidenhaus und schneiden uns das Songlight aus dem Hirn. Das ist doch noch ungeheuerlicher! Nicht gegen die Aylen sollten wir kämpfen, sondern gegen Peregrine und die Gebrüder.«

Ich schweige verdattert. So ketzerisch hat er noch nie gesprochen. Oben auf der Landzunge, wo ich nach Meerfenchel suche, scheint die Erde unter meinen Füßen wegzubrechen. Ich blicke hinaus aufs Meer. Hole tief Luft, und dann nähere ich mich Rye wieder in Gedanken.

»Rye, sie werden uns jagen, und das weißt du.«

»Komm schon«, bettelt er. »Wir kommen schon im Morgengrauen im Ödland an. Von da aus können wir nach Süden, in den Schutz des Greenswards.«

Ein Schmerz erfüllt mich, den ich kaum ertragen kann. Ich will bei ihm sein unter den Sternen. Ich will frei sein. Ich will es ihm gerade sagen, als ich etwas spüre. Vielleicht irre ich mich, und es sind nur die seltsamen Laute der Kormorane und das Rauschen der Wellen.

»Ist dir jemand gefolgt?«, frage ich.

»Nein.«

»Sicher?«

»Ja.« Er gestikuliert ungeduldig in Richtung des weiten, leeren Strands. »Denkst du nicht, es gibt da draußen noch andere wie uns, die wollen, dass die Dinge besser werden? Nicht alle Ausreißer werden gehängt. Ich hab gehört, dass sich Leute mit Songlight im Greensward verstecken. Wir könnten uns ihnen anschließen.«

Es zerreißt mir das Herz. »Was ist mit meiner Mutter? Wenn ich fort bin, hat sie niemanden mehr.«

»Wenn sie dich liebt, wird sie wollen, dass du frei bist.«

Ich sehe die Leidenschaft in Ryes Augen. Ich will ihn wieder und wieder küssen. Ich möchte mich mit ihm im Sand wälzen und eine ganz andere Art von Harmonie finden. Aber ich arbeite mit dem Meer, und das macht mich zur Pragmatikerin.

»Mit meinem Boot haben wir bessere Chancen. Wenn wir jetzt gehen, haben wir nichts. Wir brauchen Nahrung und Geld, um zu überleben. Ich hole meine Ersparnisse. Dich darf man nicht als Kadett erkennen. Ich bringe dir alte Kleidung von Pa mit.«

»Wann?«

»Die Hafensperre ist schon vorgeschoben. Morgen bei Einbruch der Nacht. Ich treffe dich dort.«

Ich fühle seine Erleichterung. Im Songlight halten wir einander schweigend fest.

»Bei Einbruch der Nacht«, flüstert er, und das besiegelt unseren Pakt.

Schließlich löse ich mich von ihm. Ich liebkose ihn mit meinen Gedanken und erhebe mich mit den Möwen.

Ich werde mit ihm gehen.

Ich werde mit ihm kämpfen.

Ich werde bei ihm liegen und seine Frau sein.

Ich werde mit ihm leben.

Oder sterben.

4

Rye

Nachdem sie fort ist, starre ich aufs Meer hinaus. Meine Füße stecken im Sand, doch mein Herz in der Zukunft. Freude, Nervosität, mir egal, wie man es nennt. Wir verlassen Northaven! Elsa Crane wird mit mir kommen. Sie leuchtet noch in jeder meiner Zellen nach. Elsa. Ich lasse einen glatten Stein auf den Wellen tanzen und zähle acht Hüpfer, bevor er im Meer versinkt. Das ist sogar für mich ein Rekord, und ich interpretiere es als gutes Omen. Acht. Wir werden diesen Ort hinter uns lassen, und ich werde ein besserer Mann sein als mein Pa.

Ich denke an ihn, an Pa, der nach schalem Whisky stinkt, dieser schäbige Bastard in seinem Ältesten-Anzug, wie er in der Taverne Nacht für Nacht Hof hält. Ich denke an meine Ma, seine Zweitfrau, an ihr Leben in Mühsal, wie sie uns alle großgezogen hat, wie sie all die schmutzige Arbeit erledigt. Ich denke daran, wie Pa sie benutzt, wie er mit ihr spricht. »Frau, hier, Frau, da, Frau, schenk mir nach!« Ma muss ihm auch noch gehorchen, wenn er sturzbetrunken und abgrundtief gemein ist. Als ich ungefähr sieben Jahre alt war, fiel mir das Bällchen, mit dem ich spielte, in sein Bier. »Komm her, du kleiner Haufen Scheiße«, sagte er und verdrosch mich mit dem Gürtel. Mein Pa, Mozen Tern. Ich werde nicht werden wie er. Ich werde jeden Tag versuchen, Elsas Leben ein Stückchen besser zu machen.

Die Kormorane richten sich auf den Felsen für die Nacht ein, während ich mich wieder der Stadt zuwende. Ich muss mich in den Schlafsaal zurückschleichen. Für den Fall, dass ich geschnappt werde, habe ich mir aber schon eine Entschuldigung zurechtgelegt. Ich sage, dass ich oben auf den Klippen am Grab meines Bruders war, um Dan zum letzten Mal Respekt zu zollen. Sie wissen ja, dass es mir bald genauso geht wie dem armen Tropf. Das sollte also …

Doch da passiert etwas, das alles verändert.

Eine Gestalt tritt vor mir auf den Weg, ordentlich geschniegelt in der Kadettenuniform. Er hat mich verfolgt.

»Piper.«

Er sieht bleich aus und legt sofort los: »Ich habe dich reden hören. Mit wem hast du gesprochen? Du hast gesagt, Brother Peregrine ist ein Lügner! Die Gebrüder seien die wahren Feinde.« Er deutet auf mich. »Unmensch!«

Diese Anschuldigung trifft mich wie ein Peitschenhieb. Ich fürchte sie seit Jahren, und jetzt ist sie endlich da und macht, dass die Realität sich unwirklich anfühlt.

»Unmensch«, wiederholt er, und seine Stimme klingt, als hätte ich ihn verraten. Ich mustere Piper und fasse einen Plan. Es ist vorbei. Ich muss jetzt weg, sofort. Aber sein Blick hält mich fest, und bevor ich meinen Körper in Bewegung setzen kann, stürzt er sich auf mich. Er ist blitzschnell, angetrieben von seiner Wut. Mein Verrat trifft ihn tief – er trieft geradezu davon. Ich widerstehe der Wucht seines Angriffs und wehre ihn ab, fühle, wie mich die Jahre unserer nun zerbrochenen Freundschaft wieder packen. Wir fallen, zermalmen Muscheln unter uns. Er versucht, mich zu Boden zu drücken. Wir winden uns umeinander wie Skorpione, Sand wolkt auf. Piper ist stark, aber nicht so gebaut wie ich. Er ist athletisch, ich bin muskulös – und ich kämpfe um mein Leben. Was soll ich tun? Ihn bewusstlos schlagen? Ihn umbringen?

Dieser Junge war einmal mein engster Freund. Wir sind gleich alt, wir schliefen im selben Stockbett. Ich weiß, wie sein Schnarchen klingt, ich weiß, wie ehrgeizig er ist. Ich sehe, wie er jeden Tag darum kämpft, etwas zu sein, das keiner von uns sein sollte – ein Held, ein Held in diesem ausgehöhlten Krieg, in dem es nur Kanonenfutter gibt.

Ich werfe ihn wie einen Käfer auf den Rücken.

»Ich will dir nicht wehtun!«

»Du hast mir immer schon wehgetan!«, schreit er. »Mich von dir gestoßen. Jetzt weiß ich, warum – Unmensch!«