Sonne, Eis und Zuckerschnuten - Christian Kurz - E-Book

Sonne, Eis und Zuckerschnuten E-Book

Christian Kurz

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Beschreibung

Justin Reinhardt, ein ganz normaler Jugendlicher, macht gerade eine Ausbildung zum Metzger, als sich sein Leben auf unerklärliche Weise auf den Kopf stellt. Zuerst hat er eine seltsame Begegnung mit einem älteren Mann, der ihn zu kennen scheint, und noch bevor Justin herausfinden kann, was es damit auf sich hat, wird er von einer Sekunde auf die andere durch die Zeit geschleudert und landet in den 1980ern. In dieser Zeit kennt er niemanden, sein Handy bekommt keine Verbindung, ja überhaupt alles, was er bislang für normal hielt, ist nun nicht mehr vorhanden, einfach weil es zu dieser Zeit noch nicht existiert. Zu seinem Glück trifft er auf Frank, einen gleichaltrigen Jungen, der ihm anbietet, bei sich zu übernachten. Justin hat einige Anpassungsschwierigkeiten, denn in den Achtzigern gab es unter anderem noch keine politische Korrektheit, und der Antischwulenparagraph ist immer noch überall präsent. Erst nach und nach erfährt Justin, dass Frank ebenfalls schwul ist. Er vertraut sich dem 80er-Jahre-Jugendlichen an und erzählt ihm, dass er aus der Zukunft kommt, was er mit seinem Handy beweisen kann, aber für das hochmoderne Telefon existiert in dieser Zeit kein Ladekabel. Frank bringt Justin deswegen zu Klösmann, einem Videothekar, der sich mit Elektronik auskennt. Der Videothekenbesitzer soll für sie das erste USB-Ladekabel der Welt bauen. Weil dies einige Zeit dauert, bringt Frank Justin alles über das unbeschwerte Lebensgefühl der Achtziger Jahre bei, und der unfreiwillige Zeitreisende beginnt zu begreifen, dass jede Zeit ihre Vor- und Nachteile besitzt. Ihre Gefühle zueinander werden immer stärker, wodurch sich auch die Frage stellt, was sie tun sollen, falls Justin wieder in seine Zeit zurückgeschleudert werden würde. Aber auch andere Probleme machen sich unaufhaltsam breit, denn der unfreiwillige Zeitreisende landete im April 1986, und zu dieser Zeit wurde die gesamte Welt durch ein Ereignisse für immer verändert ...

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Christian Kurz

Sonne, Eis und Zuckerschnuten

Von Christian Kurz bisher erschienen:

Allein unter seinesgleichen ISBN, print: 978-3-86361-564

Hasch mich, ISBN print: 978-3-86361-567-3

Regenbogenträumer, ISBN print: 978-3-86361-491-1

Samt sei meine Seele, ISBN print: 978-3-86361-617-5

Die Welt zwischen uns, ISBN print: 978-3-86361-614-4

Fremde Heimat, ISBN 978-3-86361-650-2

Augen voller Sterne, ISBN 978-3-86361-672-4

Eine wilde Woche ISBN print 978-3-86361-723-3

Die Zeit der bitteren Freiheit ISBN print 978-3-86361-717-2

 

Alle Bücher auch als E-book

 

Himmelstürmer Verlag, part of Production House, Hamburg

www.himmelstuermer.de

E-Mail: [email protected]

Originalausgabe, April 2019

© Production House GmbH

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages.

Zuwiderhandeln wird strafrechtlich verfolgt

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage

Cover: 123rf.com

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

 

ISBN print 978-3-86361-762-2

ISBN e-pub 978-3-86361-763-9

ISBN pdf 978-3-86361-764-6

 

 

Alle hier beschriebenen Personen und alle Begebenheiten sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist nicht beabsichtigt.

1. Völlig losgelöst

Der Wecker klingelte wie immer um vier Uhr. Justin streckte seinen Arm aus und betätigte den Ausschaltknopf, bevor er müde gähnte, sich den Schlaf ein wenig aus den Augen rieb und sodann langsam die Decke zur Seite schob. Er nahm sich seine Wasserflasche, die neben dem Bett stand, trank einen Schluck und griff sodann sein Handy, das neben dem Wecker lag. Er überprüfte, ob er seit gestern Abend noch Nachrichten bekommen hatte, aber die einzige, die ihm geschickt wurde, war eine Spammail, die er seit seinem 18. Geburtstag vor einigen Wochen immer wieder bekam und die ihn auf ein „super günstiges Angebot für den Kredit zur ersten eigenen Wohnung“ hinwies. Eine eigene Wohnung wäre zwar durchaus wünschenswert gewesen, aber dazu fehlte ihm momentan einfach das Geld, und so schlecht war „Hotel Mama“ dann auch nicht.

Er stand auf und ging ins Badezimmer, wo er zuerst pinkelte, sich dann die Zähne putzte und anschließend etwas Deo unter die Arme sprühte. Er betrachtete sich im Spiegel – er hatte leichte Augenringe, weil er am Abend zuvor mal wieder zulange im Internet gewesen war, aber das Online-Match, das er geführt hatte, konnte nicht einfach so ohne weiteres beendet werden, und etwas Ablenkung nach einem langen Ausbildungstag tat immer gut.

Leise ging er in die Küche, damit seine Mutter, die ihr Schlafzimmer in unmittelbarer Nähe hatte, nicht aufgeweckt wurde. Er nahm sich eines der Brötchen, die er sich am Abend zuvor noch geschmiert hatte, mit in sein Zimmer, wo er einmal halbherzig abbiss und sich dann langsam anzog. Er blickte immer wieder auf sein Handy, um seinen morgendlichen Internetrundgang zu machen, wobei er ebenfalls überprüfte, ob ihm jemand bei der Datingseite eine Nachricht hinterlassen hatte. Wie so oft fand er mehrere vor, allerdings waren diese Leute allesamt bereits jenseits der Vierzig, manche sogar Fünfzig, und einige wenige auch schon über sechzig Jahre alt. Er hatte in sein Profil extra geschrieben, dass sein Limit bei maximal 24 Jahren lag – er wollte einfach nicht der „Boy“ sein, der sich von einem „Daddy“ abknutschen ließ. Es mochte ja durchaus sein, dass manche darauf standen, aber er selber konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen, mit einem alten Kerl rumzuknutschen. Darauf stand er einfach nicht.

Während er sich ein neues T-Shirt anzog, betrachtete er kurz seinen Bauch. Seitdem er bei der Metzgerei angefangen hatte, bildeten sich bereits einige Bauchmuskeln, auch wenn sein Meister alles in seiner Macht stehende tat, um diese in Fett zu ertränken. Justin wusste, dass der Meister auch heute wieder sagen würde, dass ein schlanker Metzger ein Unding sei und der Junge endlich mal vernünftig essen sollte. Dann würden die anderen Angestellten wieder zustimmen, denn der Meister hatte schließlich immer und mit allem Recht.

Er blickte auf die Uhr: vier Uhr zehn. Er hatte also durchaus noch Zeit, den Laptop anzuschalten und kurz ein Musikvideo anzugucken, oder etwas anderes im Net zu machen. Er entschied sich dafür, seine Videoabos zu überprüfen, bevor er sich zum x-ten Mal das gleiche Video anguckte und sein Handy geschwind für vier Minuten ans USB-Ladekabel anschloss. Er musste es mal wieder komplett aufladen, aber am Abend zuvor hatte er einfach vergessen, es zu erledigen. Seitdem er aus der Schule raus und ins Berufsleben reingeraten war, schien für fast nichts mehr wirklich Zeit zu sein. Zuvor ging er einfach jeden Tag zur Schule, machte seine Hausaufgaben und hatte danach den Rest des Tages für sich selber oder konnte die Zeit mit seinen Freunden verbringen, aber nun hieß es jeden Tag frühmorgens aufstehen, zur Arbeit radeln, schuften bis zum geht-nicht-mehr, dann vielleicht ein wenig in der Stadt herumgehen und schließlich wieder nach Hause, wo er manchmal wegen dem Videospielen nur zwei bis drei Stunden Schlaf bekam. Seine ehemaligen Schulfreunde hatten den Kontakt zu ihm fast komplett verloren, denn auch sie gingen nun ihren eigenen Ausbildungen nach, weshalb man sich nach und nach mehr und mehr aus den Augen verlor und getrennte Wege ging. Vielleicht noch eine SMS hier, eine Sprachnachricht dort, womöglich ein Treffen am Wochenende, aber das unbeschwerte Zusammensein wie früher schien zeitlich einfach nicht mehr möglich.

Er nahm sein Handy vom Ladekabel ab, steckte es ein, stellte den Laptop anschließend auf Stand-by und griff seinen Mp3-Player, damit er den Akku von seinem Handy nicht noch mehr in Anspruch nahm. Der Mp3-Player hatte auch schon mal bessere Tage gesehen, besaß nur lausige 4 GB-Speicher, und es befanden sich nur Lieder drauf, die bereits mehrere Jahre auf dem Buckel hatten, aber es war immerhin besser als nichts. Justin aß den Rest seines Frühstücks und schlich leise aus seinem Zimmer in die Küche, um die drei anderen Brote mitzunehmen und die Wohnung zu verlassen, ohne seine Mutter zu wecken. Er schloss die Tür und ging im Dunkeln das Treppenhaus runter in den Keller, wo er das Licht anschaltete und zu seinem Fahrrad ging, vor dem irgendeiner der anderen Mieter seinen gelben Sack gestellt hatte. Justin verdrehte die Augen und trat den Sack leicht zur Seite, bevor er sein Fahrrad nahm, durch die Kellertür rausging, sich ins rechte Ohr den Hörstöpsel steckte und den Player anschaltete, um sodann in der frühmorgendlichen Dunkelheit zur Metzgerei zu fahren.

Seine Gedanken drehten sich noch leicht schläfrig um mehrere Dinge. Einerseits dachte er an das Spiel von gestern und das hoffentlich bald ein Patch kam, der verhinderte, dass noch mehr Spieler an einer Stelle der Map durch ein Gebäude clippen und dadurch für die anderen Spieler unerreichbar wurden, aber der Hauptteil seiner Gedanken drehte sich wie so häufig um sein brachliegendes Liebesleben. Er kam sich ziemlich benachteiligt vor, denn bislang hatte er nur mit einem einzigen Jungen zaghaft geküsst, und das war es dann auch schon gewesen, und selbst das lag bereits mehrere Monate zurück. Aus diesem Grund hatte er sich bei der Datingseite angemeldet, nur schienen Gleichaltrige kein Interesse an ihm zu haben, was er nun wirklich nicht nachvollziehen konnte. Er war schlank, hatte Bauchmuskeln, keine Tattoos oder gar Ohrringtunnels wie so manche andere, sondern achtete auf sein Äußeres. Dennoch wollte keiner mit ihm anbändeln, und dieser Umstand machte ihm schwer zu schaffen. Immerhin hatte er genügend Filme gesehen, um zu wissen, dass man mit spätestens 18, ja eigentlich schon mit 16, wenn nicht gar bereits mit 15 sein erstes Mal haben sollte, ansonsten endete man noch als alte Jungfer. Tief drinnen wusste er zwar, dass so etwas Blödsinn war, aber die Medien hatten ihm einen anderen Eindruck vermittelt, und diesen loszuwerden oder auch nur zu ignorieren, gestaltete sich als zugegeben etwas schwierig.

Er fuhr um eine Ecke und sah mehrere Autos herumfahren. Um diese Uhrzeit war eigentlich nie so wirklich Verkehr. Er achtete nicht weiter darauf und lauschte lieber dem Lied „Pumped Up Kicks“, auch wenn es wie die anderen auf dem Player gespeicherten Songs schon älter war und er sich normalerweise nicht für alte Dinge interessierte, aber er hatte es schon damals, als es noch neu war, gerne gehört, und im Net gab es einige gute Remixe, die den Bass richtig krachen ließen.

Er kam beim „Metzgerei Traditonsbetrieb Probek“ an und sicherte sein Fahrrad an einer der bereits verbogenen Stangen, die dafür bereitstanden. Er betrat das Gebäude, wo bereits der Meister auf ihn zu warten schien.

„Morgen. Gerade noch pünktlich“, gab Probek, ein dicker, fast schon als prall zu bezeichnender Schrank von einem Mann, mit seiner typischen Art von sich, bei der man nie genau wusste, ob er verärgert war oder einfach nur permanent angesäuert klang.

„Guten Morgen“, sagte Justin. „Ich habe doch noch Zeit.“

„Das denkst aber auch nur du. Heute ist Schlachten angesagt. Das weißt du doch. Und ich erwarte, dass du heute mal mitmachst.“

Er ging zu seinem Spint und zog sich um, wobei er seinen Messerköcher umschnallte. „Ich weiß, aber ...“

„Kein aber“, unterbrach der Meister sofort. „Ein Metzger, der nicht schlachten kann, ist kein Metzger. Ich habe am Anfang ja nichts gesagt, einfach weil ich selber weiß, dass man nicht sofort ein Schwein töten kann, ohne dass einem schlecht wird, aber du bist jetzt schon lange genug hier, also musst du das auch mal machen.“

„Ja schon ... muss das heute sein?“

„Wieso nicht? Was spricht gegen heute?“ Er kam näher. „Wenn du es heute nicht machen willst, sondern nächstes Mal, dann wirst du mir doch nächstes Mal sagen, dass du es nicht machen möchtest, sondern eben das nächste Mal, und so geht das dann auf ewig weiter.“ Er schüttelte den Kopf. „So nicht, so ganz und gar nicht. Du wirst heute dein erstes Schwein schlachten. Ist doch nichts dabei. Du machst alles andere, also kannst du auch das Schwein töten.“

Justin wollte etwas sagen, aber er wusste, dass Probek keine Widerworte gelten ließ.

„Und überhaupt“, sprach der Meister gleich weiter, „solltest du endlich mal etwas Fleisch auf die Rippen bekommen. Wie sieht das denn aus? Ein spindeldürrer Metzger? Das gibt es nicht. Da kannst du auch gleich zu den Teigaffen gehen. Die Bäcker sind ja alle so dürre Gestalten, aber ein Metzger muss was hermachen.“

„Ich möchte aber nicht so viel essen ...“

„Dann kannst du aber auch kein Metzger sein“, meinte er sofort. „Ein Metzger muss was hermachen, das hat mir schon mein Vater immer gesagt. So, und jetzt komm, Timo und Björn bringen die Schweine gleich rein.“

Gemeinsam gingen sie in den Schlachtraum und bereiteten alles vor. Es dauerte ungefähr zehn Minuten, bis die anderen Mitarbeiter mit dem LKW angefahren kamen. Timo, ein bereits stark in die Breite gegangener Kerl mit schütter werdenden Haaren, stieg aus der Fahrerseite aus. „So, Frischfleisch“, sagte er und grinste breit.

Björn verließ die Beifahrerseite. Der nicht ganz so starke Mann ging nach hinten und stieg in den Laderaum, wo sich die Schweine befanden und unruhig quiekten. „Ganz ruhig, ganz ruhig. Ist gleich vorbei. Wir wissen, was man tut“, beruhigte er sie.

„Das erste Schwein macht heute er“, sagte Probek und deutete auf Justin.

Timo tat überrascht. „So? Wurde ja auch Zeit.“

„Genau“, stimmte der Meister zu. „Wer ein Metzger sein will, der muss auch schlachten können. Anders geht das nicht. Also los.“

Björn blieb bei den anderen Schweinen. Timo bugsierte ein Schwein aus dem LKW in den Schlachtraum und ließ es in die Vorrichtung gehen, damit es nicht abhauen konnte. Das Schwein grunzte und quiekte ängstlich. Justin wurde unwohl zumute – er hatte keine Probleme damit, ein bereits getötetes Schwein zu verarbeiten, aber es selber zu töten war ihm einfach zuwider.

„Jetzt mach schon“, forderte Probek auf. „Du weißt, wie es geht, und wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“

Timo nickte. „Je länger man wartet, desto unruhiger wird das Schwein. Damit quält man es nur unnötig. Du tust ihm also gerade keinen Gefallen.“

Justin schluckte. „Muss ich unbedingt ...“

„Du musst“, sagte der Meister. „Eigentlich hättest du schon viel früher schlachten müssen.“ Er sah, dass der Auszubildende bleich wurde. „Du musst nicht gleich alle schlachten, aber eines musst du schon machen.“

Justin schüttelte den Kopf. „Das ist ... irgendwie ...“

„Du weißt doch, wie es geht“, sagte Timo und nahm den Wasserschlauch zur Hand, um das Schwein nass zu machen. „Du hast es doch schon oft genug gesehen. Erst wird das Schwein nassgespritzt ... so ...“ Er legte den Schlauch zur Seite und nahm den Elektrostab zur Hand. „Und dann einfach dagegenhalten und abdrücken.“ Er hielt den Stab ans Schwein und betätigte den Knopf – sofort wurde das Tier durch den Strom betäubt und sackte in sich zusammen. „Und fertig. Ganz einfach.“ Er legte den Stab weg, öffnete die Vorrichtung und zog das Tier raus, um es an der Hinterhaxe aufzuhängen. Er nahm sein Messer und stach ihm in den Hals, damit das Blut abfließen konnte und das Schwein starb. „Ich hol das nächste.“ Er ging raus.

Justin blickte zum Schwein, dann zu Probek. „Muss ich das unbedingt machen?“

Der Meister stieß ein wenig Luft durch die Nase. „Hör mal, ich weiß, dass das nicht so schön ist, aber du willst Metzger werden, also musst du es tun.“

Er wollte einwenden, dass er den Beruf nur lernte, weil er nicht wusste, was er eigentlich mit seinem Leben anstellen wollte und es der erstbeste Beruf war, den man ihm empfohlen hatte, aber er ließ es ungesagt. „Ich bin gerade nur ...“, fing er an, als Timo bereits das nächste Tier reinbrachte.

Probek hielt ihm wortlos den Wasserschlauch hin. Justin zögerte für einen Moment, dann nahm er ihn, spritzte das Schwein nass, legte ihn weg, griff sich den Elektrostab und hielt ihn gegen das Tier. Es vergingen gut vier, fünf Sekunden, dann drückte er auf den Knopf. Der Strom ließ das Schwein kurz erzittern, dann sackte es in sich zusammen wie das Tier vor ihm und auch alle anderen nach ihm.

„Na also, geht doch“, lobte Probek.

Timo grinste breit. „Ein echter Killer, hähähähä. Aber du musst es noch selber rausziehen, ist ja schließlich dein Opfer, hähähähä.“ Er ging raus, um das nächste zu holen.

Justin zog das Schwein weg, als der Meister beinahe befehlend sagte: „Das ist dein Schwein. Das musst du jetzt komplett selber verarbeiten. So hat mir mein Vater das auch beigebracht. Das erste Schwein, das man erlegt, muss man selber ohne Hilfe verarbeiten, nur so lernt man das.“

Justin nickte stumm und zog das Schwein zu den Ketten, um es ebenfalls an der Hinterhaxe aufzuhängen. Er nahm ein Messer aus seinem Köcher, schluckte erneut und stach dem Tier sodann in den Hals. Blut spritzte raus und kam auf seine Schürze sowie in sein Gesicht. „Fuck“, stieß er aus und rieb sich das Blut mit dem Handrücken weg.

„Das musst du noch lernen, wie man das Messer richtig reinsticht. Aber das ist einfach. Übung macht den Meister“, meinte Probek und kümmerte sich bereits um das nächste Schwein.

Justin stand neben dem Schwein und wartete, bis das Blut abgelaufen war, dann beförderte er das tote Tier in die Brühmaschine, damit die Borsten abfielen. Die nächsten Stunden verbrachte er damit, das Tier auszuweiden, in den Kühlraum zu legen und beim Putzen des Schlachtraums zu helfen. Dann begann er, zusammen mit seinen Kollegen, das Fleisch zu Wurst zu verarbeiten.

Timo blickte dabei immer wieder zu Justin herüber. „Jeden Moment“, sagte er belustigt.

„Was denn?“, wollte Björn wissen.

„Jeden Moment kotzt er.“

Justin machte gute Miene zum bösen Spiel. „Das hättest du wohl gerne.“

„Du bist bleich wie nochmal was.“

„Natürlich. Ich habe ja auch seit Stunden nichts gegessen.“

„Ja, klar doch“, grinste Timo.

Probek, der sich im Geschäft um den Verkauf kümmerte, kam hinzu. „Alles in Ordnung?“

„Der Junge kotzt gleich“, meinte der Dicke und kicherte, wodurch sein Fettgewölbe in Wallung geriet wie zuvor bei den elektrisierten Schweinen.

„So?“

„Blödsinn“, wehrte Justin ab. „Mir geht es gut.“

Der Meister kam näher und stellte sich neben ihn. „Mmh, etwas bleich um die Nasenspitze bist du aber schon.“

„Mir geht es gut“, versicherte er, als ihm das Messer aus der Hand glitt und auf die Arbeitsfläche fiel. Er hatte nicht das Gefühl, dass es ihm aus den Fingern gerutscht wäre, sondern es fühlte sich seltsamerweise so an, als wäre es durch die Finger an sich hindurchgerutscht, so als hätten diese für einen Moment aufgehört fest zu existieren, was eine absolute Unmöglichkeit war. „Oh ... war keine Absicht“, sagte er sofort.

„Mmh ...“, machte Probek erneut.

Björn mischte sich ein. „Ist doch ganz normal, dass einem so was beim ersten Mal auf den Magen schlägt. Das muss ja auch sein. Wenn einem das nichts ausmachen würde, dann wäre man doch kein Mensch.“

Timo schnaufte regelrecht. „Mir hat das noch nie etwas ausgemacht. Ich habe gar nicht schnell genug mit dem Schlachten anfangen können.“

Björn sah ihn schräg an. „Und das entkräftigt meinen Punkt inwiefern?“

„Blödmann“, sagte er sofort und wandte sich wieder dem Fleisch zu.

Probek stand immer noch neben Justin, weshalb dieser sich fast schon genötigt fühlte, etwas zu sagen. „Es geht mir gut. Wirklich.“

„Du bist bleich“, meinte der Meister.

„Es geht mir gut“, versicherte er erneut.

Probek blickte zu Björn und Timo, dann auf die Arbeitsfläche von Justin. „Na ja, du bist ja bald fertig. Mach dann sauber, dann kannst du für heute gehen. Du bist mit dem Fahrrad hier?“

„Ja“, nickte er.

„Mmh ... nicht, dass du noch umfällst und mit dem Fahrrad einen Unfall baust.“

„Das wird schon nicht passieren.“ Er nahm das Messer wieder an sich, aber erneut hatte er das Gefühl, dass es ihm durch seine Finger hindurch fallen würde, weswegen er es mit der anderen Hand griff.

Probek schüttelte den Kopf. „Das hat keinen Sinn. Zieh dich um und geh nach Hause. Wir machen ausnahmsweise für dich sauber. Soll ich dir ein Taxi rufen?“

„Nein, es geht schon ...“

„Sicher? Nicht, dass dir noch etwas passiert.“

Justin atmete durch. „Es geht schon ... wirklich. Ich fühle mich soweit gut.“

„Soll ich deine Mutter anrufen?“

Er schüttelte schnell den Kopf. „Nein, die arbeitet gerade. Es geht schon, wirklich ...“

Der Meister überlegte. „Gut, wenn du das sagst. Aber auf deine eigene Verantwortung. Du ziehst dich um, nimmst dein Fahrrad, aber du fährst nicht, sondern läufst daneben, damit du dich daran festhalten kannst. Ist das klar?“

„Ja ... wirklich, es geht schon.“

Björn meldete sich wieder zu Wort. „Ich könnte ihn nach Hause fahren.“

Probek sah ihn streng an. „Du machst gefälligst erst deine Arbeit fertig, damit das klar ist.“ Er wandte sich an Justin. „Wir reden morgen darüber. Aber jetzt zieh dich um und geh nach Hause. Nicht, dass du mir noch in die Wurst kotzt.“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verließ er den Raum und ging zurück in den Verkaufsbereich.

Justin blies Luft aus dem Mund und ging zum Waschbereich, um die Messer zu säubern, bevor er raus zu seinem Spint ging und sich umzog. Er stützte sich kurz an der Wand ab – er kam sich dämlich vor. Hatte ihm das Töten des Schweins wirklich so sehr zugesetzt? Er war doch kein Schwächling – sicher, es war nicht schön gewesen, aber irgendwann hätte er es sowieso tun müssen, und wenn er die Ausbildung erfolgreich abschloss, müsste er es sowieso immer wieder tun. Wieso setzte es ihm so sehr zu? Weil er „getötet“ hatte? Nein, das konnte es doch nicht sein. Überhaupt fühlte es sich eher so an, als würde sein ganzer Körper rebellieren und nicht lediglich sein Gewissen, aber das eine schloss das andere nicht aus.

Er verließ das Gebäude und ging zu seinem Fahrrad, das er neben sich schob, während er langsam nach Hause ging und sich wie ein Versager vorkam. Er wusste, dass Probek, aber vor allem Timo, es ihm ewig vorhalten würden. Er griff in seine Hosentasche und wollte den Hörstöpsel ins Ohr stecken, um sich durch Musik auf andere Gedanken zu bringen, aber so sehr er auch versuchte, ihn zu fassen zu bekommen, hatte er dennoch konstant das Gefühl, dass es ihm durch die Finger glitt, weswegen er es schließlich bleiben ließ. Auf der anderen Straßenseite sah ihn ein älterer Mann geradezu fragend an, aber Justin ignorierte ihn. Er wollte nur noch nach Hause und sich einfach ein wenig hinlegen ...

 

Das dumme Gefühl hielt zuhause noch ungefähr eine halbe Stunde an, dann verschwand es so schnell wie es gekommen war. Justin kam sich unglaublich dumm vor, aber es half nichts – was geschehen war, konnte nicht wieder rückgängig gemacht werden. Er musste sich also darauf einstellen, sich immer mal wieder Kommentare dazu anhören zu müssen. Er wollte nicht daran denken. Dann war ihm eben schwindlig geworden, ja und? Als wäre er der erste, dem das jemals passierte. Und immerhin war er nicht bereits am frühen Morgen nach Hause geschickt worden, sondern erst kurz vor Feierabend, also konnte man ihm nicht wirklich Vorbehalte machen.

Er versuchte sich abzulenken, indem er zu seinem Laptop ging, das Handy weiter auflud und dabei im Net rumsurfte. Seine Mutter würde sowieso erst in ein paar Stunden von ihrer Arbeit wiederkommen, also blieb ihm noch genügend Zeit, sich eine Folge einer Serie zu streamen oder etwas anderes zu machen, um sich besser zu fühlen.

Er ging auf eine Webseite und klickte einen Techno-Remix an, der ihm auf der Startseite empfohlen wurde. Es war ein älteres Lied, das er vor Urzeiten schon mal gehört haben mochte, als seine Mutter eine Sendung über die größten One-Hit-Wonder ansah und er zwischen zwei Online-Matches dazu kam, aber so genau konnte er sich nicht mehr daran erinnern. Überhaupt verschaffte erst der Techno-Bass dem Song den richtigen Wumms, um ein gutes Lied zu werden. Während das Lied krachte und zischte, öffnete er einen neuen Tab und lud dieselbe Seite erneut, um bei den Trends nachzugucken, was denn heute wichtig wäre. Das führende Video war wie so häufig von einem leicht arroganten Wichtigtuer, der einfach seine unqualifizierte Meinung zu aktuellen Nachrichten kundtat und jeden für einen Vollidioten hielt, der eine andere Ansicht vertrat. Justin hatte schon lange aufgehört, den Kerl anzugucken. Er interessierte ihn einfach nicht, weder vom Inhalt der Videos, noch vom Aussehen – es gab einen anderen auf der Website, den er immer mal wieder anguckte, und das einfach, weil der Kerl eine süße Schnute hatte, bei der Justin sich wünschte, sie mal küssen zu dürfen.

Er öffnete einen dritten Tab und ging auf eine Streaming-Seite, auf der er sich aus tausenden und abertausenden an Filmen und Serien heraussuchen konnte, was er denn gerade sehen wollte. Er ging auf die Serienrubrik, bei der ihm anhand seiner bisherigen Sehgewohnheiten Empfehlungen für andere, aber thematisch gleich gelagerte Serien gemacht wurden. Er blickte auf die Bilder, die ihm nicht wirklich zusagten, und entschied sich dann dafür, mal wieder eine Lieblingsfolge einer Zeichentrickserie anzugucken. Seine Kollegen würden ihn deswegen wahrscheinlich ebenfalls aufziehen, aber das war ihm egal – er mochte die Serie, und es gab schließlich auch Zeichentrick für Erwachsene.

Er pausierte den Techno-Remix und guckte die ersten zehn Minuten der Serie an, bevor er auch sie anhielt und in die Küche ging, um sich etwas zum Trinken aus dem Kühlschrank zu holen. Beim Küchenfenster bemerkte er aus den Augenwinkeln, dass ein Mann auf der anderen Straßenseite stand und zu ihm hochzugucken schien. Justin blickte zu ihm, woraufhin der Mann sofort wegsah und ein wenig herumging, ohne sich wirklich von der Stelle zu bewegen. Der Mann schien derselbe zu sein, der ihn auch schon vor der Metzgerei angeguckt hatte. Hatte der Kerl sich etwa Sorgen gemacht und war ihm deswegen bis hierher gefolgt? Justin trank einen Schluck aus der kalten Limoflasche und sah weiter aus dem Fenster. Jedesmal, wenn der Mann bemerkte, dass man ihn beobachtete, agierte er wieder so, als wäre ihm die Sache unangenehm. Justin nahm noch einen Schluck und ging mit der Flasche in der linken Hand zurück in sein Zimmer. Er überlegte, was das zu bedeuten hatte – höchstwahrscheinlich war der Mann einer von den Kerlen, die ihn auf der schwulen Dating-Seite immer mal wieder anschrieben. Es wäre immerhin möglich gewesen, dass der Kerl ihn vorhin erkannte und darum in Erfahrung bringen wollte, wo Justin denn genau wohnte. Auf solchen Seiten waren schließlich nicht nur wirklich Suchende unterwegs, sondern leider auch einige latent Verrückte.

Justin überprüfte, wie weit sein Handy bereits aufgeladen war, und ging dann am Laptop auf die Datingseite. Er meldete sich an und überprüfte die letzten Meldungen, die man ihm geschickt hatte. Ein Haufen älterer Männer, die ihm auch gelegentlich ungefragt ziemlich offenherzige Bilder mitschickten, füllten die Inbox. Er klickte jedes einzelne an und betrachtete die Profilfotos, aber der Mann war nicht darunter. Das hatte jedoch nicht wirklich allzu viel zu sagen – der Kerl konnte Justins Profil auch einfach so gesehen haben, ohne mit ihm in Kontakt getreten zu sein, aber nun hatte er ihn eben auf der Straße erkannt und war ihm gefolgt ... oder es handelte sich tatsächlich nur um einen ganz einfachen Mann, der sich Sorgen machte, weil er gesehen hatte, dass ein Jugendlicher mit bleichen Gesichtsausdruck durch die Gegend ging.

Justin trank noch einen Schluck und guckte sich den Rest der Folge an. Es war gut, dass er sie bereits öfters gesehen hatte, denn er konnte sich nicht auf die Handlung oder die Witze konzentrieren. Er musste an den Unbekannten denken, mit dem es auch genauso gut nichts auf sich haben konnte. Dann schweiften seine Gedanken zu seinen Kollegen und was diese ihm morgen, und übermorgen, und noch für weitere Wochen wegen dem Schwächeanfall an den Kopf werfen würden. Vor allem sein Meister würde ihm wieder und wieder vorhalten, dass so etwas nicht geschehen wäre, wenn Justin endlich mal ein paar Kilo mehr auf den Rippen hätte. Schlussendlich musste Justin aber auch an das Schwein denken, das er getötet hatte. Es musste sein, das wusste er, aber es machte die Angelegenheit für ihn nicht leichter. Er wollte nicht unbedingt Metzger werden, aber das war eben der einzige Beruf, bei dem man ihn sofort genommen hatte, und er wusste ja sowieso nicht, was er eigentlich machen wollte.

Der Abspann rollte über den Monitor. Er beendete das Video, trank noch einen Schluck und ging zurück in die Küche. Er blickte wieder aus dem Fenster – der Mann war verschwunden, oder zumindest außer Sichtweite. Justin entschied sich, nicht weiter darüber nachzudenken. Sollte der Kerl tatsächlich an der Tür klingeln oder etwas anderes Dummes probieren, so würde er schon mit ihm fertig werden. Außerdem würde seine Mutter ja auch in zwei bis drei Stunden von der Arbeit kommen, also musste er sich keine Gedanken machen. Dennoch nahm er sich vor, in Zukunft etwas vorsichtiger mit den Bildern zu sein, die er auf der Datingseite hochlud – zwar schrieben die meisten einen nicht an, wenn man kein klares Gesichtsbild von sich im Profil besaß, aber das Risiko, dass jemand Fremdes einen erkannte oder auf Umwegen über das Net finden und ausspionieren konnte, war nicht von der Hand zu weisen. Aus diesem Grund hatte er auch kein Nacktbild oder Penisfoto von sich in seinem Profil gespeichert, einfach weil er fand, dass man sich nicht gleich so anbieten sollte. Überhaupt wollten hauptsächlich ältere Männer Nacktbilder von jüngeren Kerlen, und das war nun wirklich nicht sein Ding. Aber Gleichaltrige schrieben ihn nicht an, und er wusste einfach nicht, woran es lag. Er sah doch gut aus, und das Profilbild zeigte ihn von seiner besten Seite – er hatte immerhin nicht umsonst über vierzig Bilder von sich geschossen, bis er endlich eines besaß, das er süß und aussagekräftig genug fand.

Er stellte die Flasche zurück in den Kühlschrank und ging ins Badezimmer, um zu pinkeln. Während er sein Teil hielt, dachte er darüber nach, wann er denn endlich mal Sex mit jemanden haben würde. Das bisschen Küssen, das er bislang erlebt hatte, galt schließlich nicht wirklich als sexuelle Erfahrung. Er wollte einen netten Kerl kennenlernen, mit dem man lieben, zusammen sein und auch gemeinsam Computer spielen konnte. Das wäre immerhin schon mal ein Anfang. Überall konnte er lesen, dass Schwule immer und überall Sex haben konnten, aber selber hatte er diese Erfahrung leider noch nicht gemacht.

Er steckte sein Teil wieder in die Hose und spülte runter, bevor er in sein Zimmer zurückging und sich vor den Laptop setzte. Er überlegte, ob er sich noch eine Folge anguckte oder doch lieber ein wenig Online spielte, als er sich dazu entschied, die Hand in die Hose gleiten zu lassen und an seinem Penis rumzukneten. Er hatte immerhin noch etwas Zeit, bevor seine Mutter wiederkam, also konnte er durchaus auch etwas Stress abbauen.

Er schaltete den Monitor aus und legte sich aufs Bett, um dort seine Hose ein wenig runterzuziehen und an seinem Harten zu spielen. Es dauerte nicht lange, bis sich das Sperma entlud – er schaffte es gerade noch rechtzeitig, sein T-Shirt nach oben wegzuziehen, damit sich hinterher keine verräterischen Spuren darauf befanden. Er suchte anschließend nach einem Taschentuch und wischte sich sauber, bevor er sich wieder anzog und zurück zum Laptop ging. Er überprüfte sein Handy – es war erst zur Hälfte aufgeladen. Er zog es dennoch vom USB-Ladekabel, steckte es in die Hosentasche und stellte den Laptop wieder auf Stand-By, weil er ein wenig durch die Stadt gehen wollte. Vielleicht würde er da noch jemanden treffen, und selbst wenn nicht, hatte er auf diese Weise wenigstens etwas zusätzliche Ablenkung gehabt. Als Kind konnte er gar nicht lange genug draußen sein, aber nun, mit dem Eintritt ins Arbeitsleben, bestand sein Alltag fast nur aus engen Räumen. Er wollte sich nicht einmal auch nur im entferntesten vorstellen, wie es wäre, wenn er einen Bürojob lernen würde – das käme einem lebendig begraben sein unglaublich nahe.

Er zog seine Schuhe an, als ihm für einen Moment wieder schwindlig wurde. Der Flur schien sich zu drehen, weshalb er sich an der Wand abstützte. Dann war das Gefühl wieder weg. Er wunderte sich – er hatte doch genügend gegessen, und er befand sich nicht in einer Stresssituation wie zuvor beim Schlachten. Hatte er sich etwa eine Grippe eingefangen? Möglich, aber dann müsste ihm doch permanent schlecht sein, oder nicht? Er wusste es nicht, aber er strich sich dennoch über die Stirn, um zu überprüfen, ob sich kalter Schweiß gebildet hatte. Es war alles in Ordnung, weswegen er leicht zerknirscht lächelte, um sich damit selber zu versichern, dass kein Grund zur Beunruhigung bestand. Es war eben alles einfach etwas zu viel gewesen.

Er schrieb schnell auf einen Zettel, dass er noch in der Stadt unterwegs sei, und verließ dann die Wohnung. Unten vor dem Haus blickte er sich um, konnte den unbekannten Mann allerdings nicht ausfindig machen. Für einen Moment überlegte Justin, ob er mit dem Fahrrad herumfahren sollte, aber es erschien ihm nicht richtig – die Gefahr, dabei einen Schwindelanfall zu erleiden, schien ihm dann doch zu groß.

Er setzte sich in Bewegung und ging relativ gelassen in Richtung Stadt, wobei er nach ungefähr fünf Minuten sein Handy rausholte und kurz drauf sah, um nochmal die Ladekapazität zu überprüfen. Er würde es später über Nacht aufladen lassen, aber für jetzt musste es reichen. Er steckte es wieder ein und kam an der alten Videothek vorbei, die vor zwei Monaten wegen mangelndem Umsatz schließen musste. Es wunderte Justin rückblickend, dass die Videothek an sich solange geöffnet blieb – immerhin liehen die Leute schon seit Jahren keine DVDs mehr, sondern benutzten Streamingdienste. Das schien sowieso am einfachsten – er konnte sich daran erinnern, wie er als kleines Kind von seinem Vater jeden Samstag in die Videothek mitgenommen wurde und sich einen Zeichentrickfilm ausleihen durfte, und manchmal war der neuste Film, den er wollte, bereits ausgeliehen, weswegen er mit einem anderen vorliebnehmen musste. So etwas gab es bei Online-Diensten nicht – dort war jeder Film jederzeit verfügbar, selbst wenn zehntausend Kunden ihn zur selben Zeit ansahen. Überhaupt war das Angebot einer Videothek im Vergleich zu dem von Streamingseiten unglaublich begrenzt, aber dennoch dachte Justin gerne daran zurück, wie sein Vater ab und zu mal ein Auge zudrückte und ihn auch im Alter von acht Jahren einen Film auslieh, der eigentlich erst ab zwölf war. Dann aber wurde die Erinnerung wieder durch das Wissen getrübt, dass sein Vater ein paar Jahre später seinen Schwanz nicht in der Hose behalten konnte und mit einer Kollegin rummachte, weshalb die Familie auseinanderbrach und Justin bei seiner Mutter blieb. Sein Vater wollte nach der Scheidung nichts mehr von ihnen wissen und war mit der neuen Frau in eine andere Stadt gezogen, so als wäre die Familie, die er gegründet hatte, nun nichts mehr, an das er denken wollte.

Während Justin durch das dreckige Schaufenster in den dahinterliegenden leeren Bereich blickte, der vor nicht allzu langer Zeit mit vielen DVDs gefüllt war, bemerkte er in der spiegelnden Scheibe den fremden Mann, der an einer Ecke auf der anderen Straßenseite stand und zu ihm rüberguckte. Justin tat so, als würde er ihn nicht sehen, aber er behielt ihn dennoch im Auge, um zu beobachten, wie sich der Mann verhielt. Es dauerte nicht lange, bis er glaubte, Gewissheit zu haben, dass der Unbekannte nicht einfach zufällig in der Gegend war, sondern ihn im Gegenteil ganz eindeutig immer wieder anguckte. Ohne zu zögern entschied Justin sich, der Angelegenheit auf den Grund zu gehen. Er drehte sich um, guckte den Mann an, stellte sodann sicher, dass er die Straße problemlos überqueren konnte, und ging auf den Unbekannten zu. Der ältere Mann mit den bereits an den Schläfen ergrauten Haaren wirkte ertappt, versuchte aber dennoch sichtbar gefasst zu wirken. „Entschuldigung, aber verfolgen Sie mich?“, gab Justin von sich.

Der Mann blickte ihn stumm an.

„Verfolgen Sie mich? Ich habe Sie vor der Metzgerei gesehen, dann vor meinem Haus, und jetzt sind Sie hier. Das kann ja meinetwegen Zufall sein, aber mir kommt das gerade seltsam vor“, sagte er weiter.

Der Unbekannte zögerte. „Ich bin wohl zu früh.“

„Zu früh? Was soll das heißen?“

„Nichts. Tut mir leid.“ Der Mann lächelte und ging.

Justin blickte ihm verwirrt hinterher. Was sollte das denn bedeuten? Wollte man ihn reinlegen? Was hatte es damit auf sich? Er wusste es nicht, weswegen er hinter ihm herging. „Was meinen Sie damit? Haben Sie etwas vor?“, gab er leicht ungehalten von sich.

Der Mann blieb stehen. „Nein. Wirklich nicht. Es tut mir leid. Vergessen Sie es.“ Er ging weiter.

Justin blieb verwirrt stehen. Wollte der Kerl ihn etwa entführen oder sonst etwas antun? „Pass bloß auf“, blaffte er ihm hinterher, um sich nicht schwach zu fühlen, dann ging er in die entgegengesetzte Richtung in die Stadt.

Ohne ein bestimmtes Ziel zu haben, streunte er regelrecht herum, blieb mal hier, mal dort stehen und dachte an alles Mögliche, wobei er immer mal wieder kurz auf sein Handy blickte. Er überlegte sich, ob er sich etwas zum Trinken kaufen sollte, und überprüfte vorsichtshalber, wieviel Geld er bei sich hatte. In seiner Brieftasche waren etwas über fünfundzwanzig Euro, weshalb er in den kleinen Gemischtwarenladen ging und sich eine Limo-Dose kaufte. Er öffnete sie draußen und nippte daran. Der Geschmack kam ihm für einen flüchtigen Moment seltsam vor, so als wäre es fast schon übertrieben künstlich, dann war alles wieder normal. Er nahm einen neuen Schluck, und die Limo schmeckte wie immer. Er ging weiter und blickte sich immer mal wieder um, ob der Mann ihn immer noch verfolgte, jedoch konnte er ihn nirgendwo entdecken.

Nach einigen Minuten überlegte Justin, ob er in einen der Läden reingehen und nachgucken sollte, ob es schon ein neues Spiel gab, das ihn interessierte. Er entschied sich dagegen, denn er konnte immer noch zuhause bequem im Online-Game-Store gucken, was es neu gab und sich dann eine Gratis-Demo runterladen, um zu entscheiden, ob er den Rest des Spiels haben wollte oder nicht.

Er ging weiter und setzte sich auf eine Bank, auf der er den Rest der Dose austrank und sie dann in den nächstbesten Mülleimer warf, ohne sich um das Pfandgeld zu kümmern. Er blickte erneut auf sein Handy. Seine Mutter müsste bald kommen, dann gab es Abendessen. Er stand auf und machte sich wieder auf den Nachhauseweg. Als er bei der ehemaligen Videothek vorbeikam, wurde ihm mit einem Mal wieder schwindlig, ja sogar richtiggehend übel, weshalb er sich an der Schaufensterscheibe abstützte. Er griff sich an die Stirn und fühlte kalten Schweiß – was war denn los? Hatte er sich eine verschleppte Grippe eingefangen? Er wusste es nicht, aber alles in seinem Magen, sogar seinem gesamten Körper schien zu routieren. Es fühlte sich an, als würde jede einzelne Faser seines Körpers von irgendetwas durchdrungen und neu ausgerichtet werden, als wäre oben plötzlich unten und links wurde zu rechts und umgekehrt.

Justin fühlte sich elend. Er blickte hilfesuchend um sich, aber keiner der wenigen anderen Passanten schien ihn zur Kenntnis zu nehmen – sie gingen einfach an ihm vorbei, so als wäre er für sie nur Luft. Wahrscheinlich dachten sie, dass er zu viel gesoffen hatte oder Drogen nahm und wollten deswegen nichts mit ihm zu tun haben. Er öffnete seinen Mund und wollte etwas sagen, aber ihm kam kein Laut über die Lippen. Benommen glitt er an der Schaufensterscheibe runter und kniete auf dem dreckigen Boden, dann wurde alles um ihn herum schwarz ...

2. Irgendwie, irgendwo, irgendwann

„Ist alles in Ordnung?“, sagte eine unbekannte Stimme, die durch die Dunkelheit drang. „Alter, ich red mit dir. Ist alles in Ordnung?“

Justin öffnete die Augen. Das ungute Gefühl war verschwunden, aber er fühlte sich dennoch wie gerädert, so als hätte er eine Woche am Stück gearbeitet. „Was?“, kam es aus ihm heraus, als er den Typen vor sich betrachtete.

Der Jugendliche war ungefähr genauso alt wie er selber, aber die Klamotten wirkten extrem eigenartig – die Hose war sehr bunt, und das rosa Trägershirt tat ein Übriges. Die gegeelten Haare standen aufgepumpt hoch, so dass es den Eindruck erweckte, dass der Kerl zum Karneval gehen wollte. „Ist alles in Ordnung mit dir? Du sitzt hier einfach so rum. Das hat der Klösmann nicht so gerne, wenn man vor seinem Laden rumgammelt.“

Justin erhob sich. „Mir geht es gut, danke. Mir war nur schwindelig ...“ Er stoppte, weil ihm aus den Augenwinkeln auffiel, dass sich hinter der Scheibe Licht befand. Er blickte in das Geschäft hinein und traute seinen Augen nicht: die Videothek war wieder komplett gefüllt. „Was soll denn der Unsinn?“

„Was meinst du?“, wunderte sich der Gleichaltrige. „Ist wirklich alles in Ordnung?“

Justin starrte durch die Scheibe. Das war doch nicht möglich – wie lange hatte er geschlafen? Der gesamte Innenraum der Videothek war wieder voll mit Spielfilmen, und auch einige Kunden, die ebenfalls seltsam gekleidet waren, gingen durch die Reihen und überlegten, was sie ausleihen sollten. „Der Laden ist doch geschlossen ...“, gab er perplex von sich.

„Nee, das wüsste ich aber. Ich komme hier öfters her. Klösmann hat nur sonntags zu.“ Er blickte ihn beinahe besorgt an. „Ist wirklich alles in Ordnung?“

Justin nickte automatisch. „Ja, schon, klar, sicher ...“ Er griff in seine Hosentasche und holte sein Handy heraus, um zu überprüfen, wie spät es war, damit er wusste, wie lange er besinnungslos gewesen sein musste. Es waren nur fünf Minuten vergangen.

„Was ist das?“, wunderte sich der Typ.

„Mein Handy.“

„Hänn-die?“

„Smartphone.“

Er verstand immer noch nicht. „Was ist ein Schmartt-fohn?“

Justin sah ihn verdutzt an. „Das weiß man doch.“

„Ich weiß das nicht. Ist das so ein schnurloses Funktelefon?“

Er nickte. „Ja ... so kann man sagen, ja ...“

Der Jugendliche machte ein erstauntes Gesicht. „Oho, dann bist du wohl Dagobert persönlich, wenn du dir so was leisten kannst. Ich kenn das nur aus Filmen.“ Er blickte ihn weiterhin besorgt an. „Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?“

„Schon ...“ Justin wollte zuhause anrufen, aber er hatte kein Netz. „Fuck.“

„Fack?“, wiederholte er erneut seltsam betont. „Bist du Ami?“

„Was? Nein. Das sagt man doch so ... Ich krieg kein Netz.“

Der Jugendliche wunderte sich. „Kein Netz? Bist du Fischer?“

Justin schüttelte den Kopf. „Fischer? Was hat denn das jetzt mit irgendwas zu tun? Ich bin gerade nur etwas verwirrt, das ist alles.“

„Sicher?“

„Ja. Danke ... es geht schon.“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging er weg.

Der Typ sah ihm hinterher. „Pass auf dich auf“, sagte er freundlich, dann ging er in die Videothek hinein.

Justin ging den Gehweg entlang, um nach Hause zu kommen, wobei er hauptsächlich Augen für sein Handy besaß. Er hatte nicht einen einzigen Ladebalken fürs Internet – es war fast so, als würde das Net überhaupt nicht existieren. Nach mehreren Metern gab er für den Moment auf und steckte sein Handy wieder ein, um darüber nachzudenken, was es zu bedeuten hatte, dass die Videothek wieder gefüllt war. Das war doch einfach ein Ding der Unmöglichkeit – so schnell konnte man das Geschäft nicht wieder bestücken. Wahrscheinlich hatte er sich einfach nur getäuscht. Es musste eine Halluzination gewesen sein, ganz einfach. Das war die logischste Erklärung. Alternativ konnte er sich vielleicht noch denken, dass man ihn reinlegen wollte, aber wenn irgend so eine Fernsehsendung mit versteckter Kamera agierte, dann hatten sie sich aber gründlich getäuscht. Er war ja durchaus für Späße zu haben, aber das Ganze funktionierte nur, wenn sie ihm ein Betäubungsmittel verabreicht hätten, und das wäre Körperverletzung und damit strafbar. Überhaupt mussten die TV-Sender wegen der Datenschutzverordnung eine unterschriebene Erlaubnis von ihm einholen, um das gefilmte Material verwerten zu dürfen, und diese Genehmigung würde er ihnen nicht erteilen. Er hatte genügend Probleme wegen dem Schwächeanfall beim Metzger, da brauchte er es nicht noch zusätzlich, dass ihn alle anderen auch noch auslachten, weil eine TV-Sendung ihn reingelegt hatte. Wer guckte überhaupt noch Fernsehen? Und wenn es so ein dämlicher Internet-Pseudo-Star wäre, der ihn verarschen wollte, dann würde er ihm erst recht keine Genehmigung erteilen.

Während er weiterging, bemerkte er die Leute, die allesamt seltsame Kleidung und gewöhnungsbedürftige Frisuren zur Schau stellten. Wenn man ihn wirklich reinlegen wollte, dann strengten sie sich schon gewaltig an, denn die gesamte Stadt schien mitzumachen. Erst nach einigen Sekunden fiel ihm auf, dass nicht nur die Passanten, sondern auch die Gebäude stellenweise anders wirkten. Bei einigen war er sich sicher, dass sie zuvor einen anderen Anstrich hatten, und bei anderen befanden sich völlig andere Geschäfte drin. Er entschied sich, nicht direkt zu einem Laden zu gehen, damit er den Scherzbolden nicht noch mehr Material lieferte. Wer konnte schließlich sagen, ob es nicht doch irgendwie eine Möglichkeit für diese Leute gab, die Aufnahmen auch ohne seine Genehmigung zu verwenden? Wenn etwas erst mal ins Net hochgeladen war, konnte es selbst mit einer gerichtlichen Verfügung so gut wie nicht mehr komplett gelöscht werden – irgendjemand machte sich immer Kopien davon.

Justin begab sich deswegen so schnell er konnte zum Wohnhaus und erschrak regelrecht: es hatte nicht den normalen weißen Anstrich, den er gewohnt war, sondern einen beigen, fast schon ins gelbliche gehenden Grundton. Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen. Er war doch nur fünf Minuten ohnmächtig gewesen – in dieser Zeit konnte man doch nicht die gesamte Stadt umgestalten. Sicher, es wäre vielleicht durch erheblichen Aufwand möglich gewesen, dass die Streichespieler das Wohnhaus umstrichen, wenn sie über genügend Leute verfügten, aber selbst das konnten sie nicht einfach so ohne eine Genehmigung tun, davon war Justin überzeugt.

Ungläubig ging er zu den Briefkästen und las die Namen. Er kannte keinen einzigen davon. Selbst der Name seiner Mutter war nicht vorhanden. Er wollte die Haustür aufschließen, aber bereits ein schneller Blick machte ihm deutlich, dass es sich nicht um die gewohnte Glastür mit dem Sicherheitsschloss handelte, die er von klein auf kannte, sondern um eine dicke, undurchsichtige Tür, die eher klobig und abweisend wirkte.

Er blickte mehrere Sekunden auf die Tür, dann die Briefkästen, bevor er wieder sein Handy zur Hand nahm und erneut versuchte, eine Telefonverbindung aufzubauen, aber es zeigte ihm immer noch an, dass kein Netzzugang herrschte. Er steckte es wieder ein und entschied sich, zur Videothek zurückzugehen, um dort nachzuprüfen, was eigentlich vor sich ging.

Auf dem Weg kam er wieder an den Geschäften vorbei und betrat eines, um sich dort etwas näher umzusehen. Die gesamte Ausstattung wirkte auf ihn ungewohnt, geradezu seltsam. Er ging herum und kam an den Zeitungsstand, bei der er eine Tageszeitung ungläubig zur Hand nahm: das Datum war Samstag, der 26. April 1986. Wie aus Zwang nahm er wieder sein Handy zur Hand – in der Ecke stand eindeutig als Datum Freitag, der 3. Mai 2019. Er blickte erneut auf die Zeitung und blinzelte. Das konnte doch nicht sein, es musste ein schlechter Scherz sein. Er legte die Zeitung wieder zurück und nahm eine andere an sich, aber auch diese besaß das gleiche Datum.

„Erst kaufen, dann lesen“, sagte die Verkäuferin salopp.

„Ist die von heute?“, wollte er wissen.

„Natürlich, die habe ich heute morgen selber eingeräumt. Oder liegt da noch eine von gestern?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein ... danke.“ Er legte die Zeitung hin und sah nochmal auf sein Handy, bevor er den Laden verließ. Draußen blickte er sich um – hatte er etwa eine Zeitreise gemacht? Das war doch unmöglich. Es gab zwar genügend Filme, in denen so etwas immer wieder passierte, aber da wurde immer eine Art Zeitreisemaschine verwendet. Und selbst das war unlogisch, denn eine solche Apparatur müsste nicht nur Unmengen an Energie aufwenden, sondern, wie Justin aus einem sehr informativen Internet-Video wusste, auch noch in der Lage sein, durch den Raum zu reisen, denn das Universum dehnt sich konstant aus, und wenn man nur in der Zeit zurückging ohne den Standort zu ändern, würde man unweigerlich im Weltall landen. Es war also eine absolut irrsinnige Vorstellung, dass er sich nun tatsächlich im Jahr 1986 befinden sollte ... aber dennoch sprach alles dafür.

Er entschied sich, auf Nummer Sicher zu gehen und setzte sich wieder in Bewegung. Sollte es sich tatsächlich um einen Scherz einer Fernsehsendung handeln, dann hätten sie sich wirklich über Gebühr angestrengt. Absolut alles sah anders aus, weswegen es langsam aber sicher zur Gewissheit wurde, dass es kein Streich, sondern wirklich eine Zeitreise gewesen sein musste. Justin wollte es aber noch nicht als Tatsache anerkennen, einfach weil sich sein Verstand dagegen weigerte – es war eine Sache, es in einem Film oder einer Zeichentrickserie als Handlungspunkt zu akzeptieren, aber es war etwas vollkommen anderes, wenn es einem selber passierte. Und wieso war es ihm überhaupt passiert? Er hatte sich ja nicht aus Versehen auf eine Zeitmaschine gesetzt oder gar mit einem Zauberbuch hantiert, also warum sollte ausgerechnet er in der Zeit zurückreisen, und dann auch noch 33 Jahre? War es bei Zeitreisen nicht üblich, dass man eine runde Zahl zurückging, also 30 Jahre, oder 50, vielleicht auch 100? Warum 33? Er hatte keine Ahnung, aber er versuchte, nicht die Fassung zu verlieren. Er musste allerdings daran denken, dass er in dieser Zeit vollkommen auf sich alleine gestellt wäre, aber zunächst brauchte er Sicherheit, dass er tatsächlich in einer anderen Zeit feststeckte.

Er ging die Straße entlang und sah die Autos, von denen er die meisten Modelle in dieser Form gar nicht kannte. Auch die Passanten waren allesamt komisch gekleidet, aber so, wie sie ihn ansahen, wirkte er auf sie ebenfalls eigenartig, jedoch konnte es auch durchaus sein, dass er sich ihre Blicke nur einbildete. Nach mehreren Minuten kam er schließlich zur Metzgerei, deren äußere Fassade so aussah, wie er sie kannte. Lediglich die Fahrradständer waren nicht verbogen, sondern absolut in Ordnung. Mit einem mulmigen Gefühl betrat er den Verkaufsraum und sah den Vater von seinem Meister, den er nur von Bildern kannte, weil der Alte bereits Anfang 2002 an einem Herzinfakt gestorben war. Nun aber stand der Alte hinter der Theke und bediente eine Frau, deren Fönwelle ziemlich viel Platz einnahm.

Justin blickte sich kurz um und wollte wieder gehen, als aus der Verbindungstür zum Schlachtraum ein junger Kerl reinkam. Der spindeldürre Junge, der vielleicht erst vor kurzem volljährig geworden sein mochte, lächelte ihn an. „Hallo. Darf’s was Bestimmtes sein?“

Justin erkannte in dem dünnen Mann seinen Meister. „Ähm ... ich gucke nur, danke ...“

„Leberkäsebrötchen wäre heute im Angebot.“

Der Alte kassierte bei der Frau ab und wandte sich zu seinem Sohn. „Das solltest lieber mal du essen. Du brauchst was auf die Rippen. Ein dünner Metzger ist ein Unding.“

„Ich esse genug“, sagte er und wandte sich wieder an Justin. „Oder wie wäre es mit einer Bratwurst? Kostet nur eine Mark.“

Justin stutzte. Er holte seinen Geldbeutel heraus und nahm einen Fünf-Euro-Schein zur Hand. „Ich habe nur so was ...“

Der zukünftige Meister blickte verwirrt darauf. „Wo ist denn das her? Bist du aus Ungarn? Die haben doch so buntes Geld.“

„Nein, ich bin nicht ...“, fing er an.

Der Alte unterbrach. „Oder Kanada. Die haben auch so Spielgeld.“

Die Frau packte ihren Einkauf in ihre Tragetasche. „Ich war mal in Griechenland. Die Drachmen von denen sehen auch urig aus.“

Der alte Meister nickte. „Da haben Sie recht, aber wir sind hier in Deutschland, und da zahlt man gefälligst mit D-Mark. Wäre ja noch schöner, wenn wir den Griechen das Geld abnehmen würden. Tzatziki kommt mir nicht an meine deutsche Wurst.“

Die Frau lachte. „Ja, da sagen Sie etwas Wahres. Gibt sowieso schon genügend von diesem Baschacken-Pack hier bei uns. Im Nachbarhaus, da sind jetzt so ein paar Kümmeltürken eingezogen. Sie glauben gar nicht, wie sehr das jetzt nach Knoblauch stinkt.“ Sie sagte die Worte nicht hasserfüllt, sondern völlig normal.

Der Alte nickte. „Ja, da muss man aufpassen. Diese Emigranten wuseln sich überall rein.“ Er blickte zu Justin. „Was ist nun? Was kaufen oder rausgehen, eins von beiden.“

Ohne ein Wort zu verlieren, steckte Justin seinen Geldbeutel wieder ein und verließ das Geschäft, um nun doch wieder zur Videothek zurückzugehen. Nun war kein Zweifel mehr möglich, der Anblick seines noch jungen Meisters hatte es klargestellt: er befand sich tatsächlich in der Vergangenheit. Aber wie? Und warum ausgerechnet 1986? Das war ganze fünfzehn Jahre vor seiner Geburt. Er kannte zwar die Stadt, auch wenn sie verändert aussah, aber er hatte niemanden, an den er sich wenden könnte. Die Polizei würde ihm nicht glauben, also brauchte er nicht zu ihr hinzugehen – sie würden ihn entweder auslachen oder für irre halten. Verwandte hatte er technisch gesehen noch nicht, eben weil er ja erst geboren werden müsste – selbst seine Mutter wäre jetzt erst sieben Jahre alt. Und das Geld, das er bei sich trug, war in dieser Zeit nichts wert. Er war also wirklich komplett auf sich alleine gestellt.

Er ging zur Videothek zurück und ging zu der Stelle, bei der ihm schlecht geworden war. Gab es hier etwa eine Art Raum-Zeit-Wurmloch? War an dieser Stelle das Gefüge zwischen dem Damals und dem Jetzt so dünn, dass er hindurchgleiten konnte? Es hörte sich dämlich an, aber es gab keine andere Erklärung; alles um ihn herum machte ihm deutlich, dass er eine Zeitreise unternommen hatte, auch wenn er es sich selber nicht vollkommen erklären konnte.

Er blickte aufmerksam auf die Stelle, um zu erkennen, ob er irgendwo etwas sah, was nicht dorthin gehörte, quasi ein leichtes Flirren, oder etwas anderes, wodurch deutlich wurde, dass er nur dort wieder hindurch musste, um in seiner Zeit zu landen, aber er konnte nichts dergleichen erkennen. So sehr er sich auch anstrengte, es hatte keinen Sinn.

„Hast du was verloren?“, erklang die gleiche Stimme wie zuvor hinter ihm.

Justin drehte sich um und sah den Jugendlichen, der sich vorhin erkundigt hatte. „Nein“, sagte er und rang sich ein Lächeln ab. „Ich gucke nur ... vorsichtshalber.“

„Ach so. Ist wirklich alles in Ordnung?“

Er schüttelte den Kopf. „Nicht so wirklich ...“ Er biss sich kurz auf die Unterlippe. „Wir haben 1986, ja?“

„Ja“, stimmte der Jugendliche ohne Zögern zu. „Bist du vielleicht auf den Kopf gefallen?“

„Nein ... ich wollte nur sichergehen.“

„Verstehe.“

Justin sah ihn wieder an. „Versteh mich nicht falsch, aber ... weißt du, wo man hier umsonst übernachten kann?“

„Umsonst übernachten?“

„Ja. Ich habe zwar Geld, aber das bringt hier nichts.“

„Wieso?“, wollte der Gleichaltrige wissen.

Justin holte seine Geldbörse heraus und zeigte ihm die Scheine, ohne sie ihm direkt in die Hand zu geben. „Die gelten hier nichts.“

„Nein, denke ich auch nicht. Woher bist du denn? Bist du Jugoslawe?“

„Nein. Ich bin ...“ Er zögerte. „Ich war unterwegs. Jetzt habe ich kein Geld.“

„Und keinen Platz zum Schlafen, was?“

Er nickte.

Der Jugendliche sah ihn flüchtig von oben nach unten musternd an. „Haben deine Alten dich rausgeworfen, oder was?“

„Nein. Aber ich kann gerade nicht zu ihnen.“

„Wieso nicht?“ Da keine Antwort kam, fügte er nach einigem Zögern etwas hinzu. „Na ja, geht mich ja so gesehen auch nichts an. Aber wenn du irgendwo poofen willst ... keine Ahnung.“

Justin nickte. „Dann muss ich mich umgucken. Trotzdem danke.“

Er musterte ihn erneut. „Du bist jetzt aber kein Junkie, oder?“

„Meinst du Drogen? So was nehme ich nicht.“

„Hast du Ärger mit den Bullen?“

„Nein. Wirklich nicht“, versicherte Justin ehrlich.

„Mmh. Vielleicht kann ich dir ja was organisieren. Mal gucken. Ich meine ... wenn du willst.“

Er nickte. „Das wäre sehr nett, danke.“

Der Gleichaltrige streckte die Hand aus. „Bin der Frank.“

Er reichte ihm die Hand. „Justin.“

„Justin?“, wunderte er sich. „Also doch Ami?“

„Nein. Meine Mutter hat mich wegen Justin Timberlake so genannt. Sie mag die Musik von denen“, sagte er beinahe automatisch, da er hin und wieder nach der Bedeutung seines Namens gefragt wurde. Dann aber erkannte er, dass Frank noch gar nichts von Timberlake gehört haben konnte, geschweige denn, in welcher Boyband dieser sein würde. „Egal, vergiss es“, winkte er sofort ab und hoffte, dass keine weiteren Nachfragen kamen.

„Meinetwegen. Du bist aber sicher, dass du nicht auf den Kopf gefallen bist?“

„Ganz sicher.“

„Gut.“ Frank sah zur Schaufensterscheibe. „Ich muss noch kurz drinnen was erledigen, dann kann ich wegen einer Übernachtungsmöglichkeit für dich gucken. Kannst ja mitkommen.“

„Sicher.“ Er folgte ihm in die Videothek. Nun erst erkannte er, dass es sich bei den auszuleihenden Filmen nicht um DVDs, sondern ausnahmslos um Videokassetten handelte. Er ging neugierig zu einigen Hüllen und nahm sie in die Hand. Unter den Hüllen war mit einem roten, blauen und einem gelben Kleber angezeigt, ob es den betreffenden Film als Beta, VHS oder Video2000 gab. Justin nahm Der Bomber in die Hand und sah hinten drauf, dann stellte er ihn wieder zurück und machte das gleiche mit Zwei wie Pech und Schwefel, Bingo Bingo, Ghostbusters