Sonne über dunklem Land - Beverley Harper - E-Book
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Sonne über dunklem Land E-Book

Beverley Harper

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Beschreibung

1945 kehren zwei Männer aus dem Krieg nach Zululand, Südafrika, zurück. Sie haben nichts gemeinsam: Joe King ist ein Farmbesitzer britischer Abstammung, Wilson Mpande ist ein Zulu-Stammesmann, aber ihre Lebenswege sind untrennbar miteinander verbunden - ebenso wie die Zukunft ihrer Kinder.

Eine Familiensaga, die unter die Haut geht: Liebe und Hass, Freundschaft und Vertrauen, Feindschaft und Argwohn bestimmen das Schicksal der zwei Familien von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart.

"Eine mitreißende und spannende Lektüre. Ein Page-Turner in der Tradition großer Familiensagas." Herald Sun

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INHALT

CoverInhaltÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungKartePROLOGTEIL EINSKAPITEL EINSKAPITEL ZWEIKAPITEL DREIKAPITEL VIERKAPITEL FÜNFTEIL ZWEIKAPITEL SECHSKAPITEL SIEBENKAPITEL ACHTKAPITEL NEUNTEIL DREIKAPITEL ZEHNKAPITEL ELFKAPITEL ZWÖLFKAPITEL DREIZEHNTEIL VIERKAPITEL VIERZEHNKAPITEL FÜNFZEHNKAPITEL SECHZEHNKAPITEL SIEBZEHNKAPITEL ACHTZEHNKAPITEL NEUNZEHNKAPITEL ZWANZIGKAPITEL EINUNDZWANZIGEPILOG

ÜBER DIESES BUCH

1945 kehren zwei Männer aus dem Krieg nach Zululand, Südafrika, zurück. Sie haben nichts gemeinsam: Joe King ist ein Farmbesitzer britischer Abstammung, Wilson Mpande ist ein Zulu-Stammesmann, aber ihre Lebenswege sind untrennbar miteinander verbunden - ebenso wie die Zukunft ihrer Kinder.

Eine Familiensaga, die unter die Haut geht: Liebe und Hass, Freundschaft und Vertrauen, Feindschaft und Argwohn bestimmen das Schicksal der zwei Familien von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart.

ÜBER DIE AUTORIN

Beverley Harper, geboren in Australien, reist mit sechsundzwanzig Jahren nach Afrika, wo sie ein Jahr bleiben wollte. Es wurden fast zwanzig Jahre, die sie in Botswana, Malawi und Südafrika verbrachte, bevor sie mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen wieder nach Australien zog. Beverley Harper starb 2002 in Beverley Hills. Ihre Asche wurde nach Afrika gebracht.

Beverley Harper

SONNE ÜBER DUNKLEM LAND

Aus dem Australischen von Barbara Ritterbach

beHEARTBEAT

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Copyright © 1999 by Beverley Harper

Published by Arrangement with Robert Harper.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Titel der Originalausgabe: People of Heaven

Copyright der digitalen Neuausgabe © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde unter Verwendung von Motiven © shutterstock: Derek R. Audette | Izuvykova Iaroslava | Martin 175 | Thomas Zsebok | Lyle Gregg

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-3645-0

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Dieses Buch ist meiner Familie gewidmet –Robert, Piers, Miles and Adamfür ihre Unterstützung und ihre Liebeund vor allem dafür, dass sie sind, wer sie sind.

Zu Dank verpflichtet bin ich Anne und Jim Boyd, Ann und Bob Cochrane sowie Beryl und Basil »Mac« McMenamin, dem gesamten Swasiland für drei unglaubliche Tage und Nächte in der Nkankanka Lodge oberhalb des Mlawula-Stroms im Mbuluzi Nationalpark.

Die Geschichten des alten Zululands werden auf ewig in meinem Gedächtnis bleiben.

Gloria Goold und Robin Jones gelten ebenfalls mein herzlicher Dank und meine Liebe, aus Gründen, die zu zahlreich sind, um sie hier zu nennen.

PROLOG

Sie lief, so schnell sie konnte. Panik durchströmte ihren Körper. Schaum stand ihr vor dem Mund. Sie hatte die Grenzen ihrer Belastbarkeit fast erreicht. Es war dunkel, sie konnte kaum noch etwas erkennen. Sie musste hier weg, sich irgendwo verstecken – das war ihre einzige Chance.

Unerträgliche Schmerzen rollten in Wellen durch ihren Körper. Sie rannte immer weiter, Schutz suchend, der Gefahr entfliehend, hatte nur eins im Sinn: einen sicheren Ort zu finden.

Sie stolperte über einen niedrigen Strauch, stürzte fast. Erschrocken holte sie Luft. Ihr Herz hämmerte wild. Ihre Lungen schmerzten, und ihre Beine zitterten vor Müdigkeit, doch sie quälte sich weiter. Hier war sie nirgends sicher. Sie würden sie finden. Sie musste etwas Dichteres, Dunkleres, Undurchdringlicheres finden.

Schließlich konnte sie nicht mehr und ließ sich erschöpft zu Boden fallen. Der Schmerz hatte noch zugenommen, beherrschte sie nun vollkommen – verdrängte sogar ihre Angst. Irgendwo in der Ferne lauerten Hyänen, ihr Furcht erregendes Geheul drang durch die Nacht. Sie würden kommen, würden dem Blutgeruch folgen. Sie musste dringend neue Kraft sammeln.

Sie atmete keuchend. Unerträgliche Schmerzen tobten in ihr. Sie nahm die allerletzten Reserven zusammen, erhob sich mühsam und schleppte sich auf ein dichtes Gebüsch zu. Das musste genügen. Ohne auf die spitzen Dornen zu achten, kroch sie so weit wie möglich hinein und brach dann völlig erschöpft zusammen. Zitternd vor Angst und Schmerzen lag sie da, lauschte auf Anzeichen einer drohenden Gefahr. Ein jagender Leopard gab irgendwo in der Nähe einen sägenden Laut von sich, aber sie wusste, dass er ihr nichts tun würde. Die Hyänen waren weit weg. Schließlich blieb ihr keine Wahl mehr: Sie ergab sich den heranrollenden Wellen des Schmerzes, als ihre Zeit herankam.

Der Drang zu pressen war unwiderstehlich, und sie gab ihrem natürlichen Instinkt nach. Sie hatte keinerlei Erfahrung – es war ihr erstes Baby. Fast eine Stunde lang überwältigten sie Schmerz und Anstrengung. Alles andere – ihre anfängliche Panik und ihre Angst – waren wie fortgeblasen, während sie in den Wehen lag, allein, im Dickicht, in der tiefen Schwärze einer afrikanischen Nacht.

Endlich spürte sie etwas Glitschiges zwischen den Schenkeln. Es kam. Sie presste ein letztes Mal mit aller Kraft, und das Baby glitt aus ihr heraus auf die Erde. Es wimmerte leise. Der frisch gebackenen Mutter blieb keine Zeit zum Ausruhen. Strauchelnd kam sie auf die Beine. Sie wusste, dass sie fortmusste, dass sie das Baby nehmen und von dem Blut und der klebrigen Masse der Nachgeburt fliehen musste, ehe die Hyänen sie fanden.

Erschöpft wie sie war, galt ihr einziger Instinkt dem Schutz ihres neugeborenen Babys. Sie senkte den Kopf und stupste es sanft an, leckte behutsam den Schleim und das Fruchtwasser ab, die sein Gesicht noch bedeckten. Das kleine Wesen fand seine wackeligen Beinchen, und die Mutter stupste es erneut an. Nase an Nase lockte sie ihr Baby mit sanften Tönen von seinem Geburtsort weg, tat einen Schritt rückwärts, wartete, bis es folgte, ehe sie den nächsten Schritt machte. Auf diese Weise überwanden Mutter und Kind eine Strecke von einigen hundert Metern, ehe sie anhielten, um sich eine wohlverdiente Pause zu gönnen.

Das Kleine fand die Zitzen. Erschöpft ließ die Mutter es saugen. Endlich, als im Osten bereits die Morgensonne den Himmel erhellte, schlief das Baby ein, und die Mutter – eine bösartige und aggressive Einzelgängerin – gönnte sich den Luxus liebevoller Gefühle. Alles andere hasste sie. In drei Jahren würde sie auch dieses Kleine hier hassen, aber im Augenblick leckte sie ihr Baby, liebkoste es sanft und genoss die innige Verbindung zu ihm.

Sie war sich eines wesentlichen Umstands nicht im Geringsten bewusst. Ebenso wenig wie der Rest der Welt. Schließlich bedeutete die Geburt eines Spitzmaulnashorns tief in der Wildnis von Zululand vermutlich nichts Besonderes, würde kaum von jemandem wahrgenommen werden.

Aber dieses winzige Wesen symbolisierte Hoffnung.

Hoffnung für eine Spezies, die so sehr vom Aussterben bedroht war. Es gab nur noch wenige frei lebende Exemplare auf der Erde.

Hoffnung, dass dieses Baby Gelegenheit haben würde, zu leben und sich fortzupflanzen, ehe die Spezies für immer ausgerottet sein würde.

Hoffnung, dass der Mensch, in seiner wahnsinnigen Gier nach den angeblich aphrodisierenden Kräften gemahlener Nashornhörner, dieses hier nicht finden und töten würde.

Hoffnung, dass irgendwer irgendwann da draußen in der Welt der Menschen sich besinnen würde, ehe es zu spät war.

Sie war nur ein schwerfälliges, wehrloses Tier, und der Fortbestand ihrer Art lag außerhalb ihres Einflussbereichs. Die Panik, die sie zur Flucht getrieben hatte, war nicht mehr gewesen als der Instinkt, sich vor den Wesen der Nacht zu verstecken, die im afrikanischen Busch lauerten. Sie konnte nicht wissen, dass ihr von den zweibeinigen Wesen am Tag eine weitaus größere Gefahr drohte.

TEIL EINS

1945–1952

KAPITELEINS

Joe King geriet auf dem harten Ledersitz ins Rutschen, als der Zug heftig von einer Seite auf die andere schaukelte. Er hatte die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten gehabt – entweder den Milchzug von Durban nach Empangeni zu nehmen oder zu trampen. Er hatte sich für den Zug entschieden, wünschte sich aber inzwischen, er hätte es nicht getan. Mit gerunzelter Stirn sah er aus dem Fenster in die dunkle Landschaft hinaus, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Er war völlig erschöpft. Sein magerer Körper, in einen viel zu großen Mantel gehüllt, war durchgefroren. Ein Schmerz brannte tief und stechend in seinem rechten Oberarm, wo die Kugel den Knochen zersplittert hatte. Die Quacksalber hatten gesagt, er könne von Glück reden, dass er den Arm überhaupt noch benutzen könnte. Verfluchte Idioten! Was nützte einem denn ein Arm, der nur halb funktionierte?

In der Scheibe konnte er sein Spiegelbild erkennen. Müde fuhr Joe sich mit seiner gesunden Hand durchs Gesicht. Es war voller Stoppeln. Drei Tage lang hatte er sich nicht rasiert. Was würde Claire nur von ihm denken?

Claire! Er konnte sich kaum noch an ihr Gesicht erinnern. Merkwürdig. Er hatte sie doch so sehr geliebt – sie war sein Leben gewesen. Er kramte seine Brieftasche aus dem Mantel und zog ein zerknittertes, verblichenes Foto hervor. Es war lange her, seit Joe es sich das letzte Mal angeschaut hatte. Da. Das da war Claire. Sie stand auf der Veranda ihres Elternhauses, den Kopf lachend in den Nacken gelegt, die schönen langen Beine gespreizt. Eine leichte Brise zerzauste ihr langes blondes Haar und drückte die dünne Baumwolle ihres Kleids gegen ihren festen schlanken Körper.

Nachdenklich betrachtete Joe das Foto seiner Frau. Sie hatten jung geheiratet; sie war damals erst zwanzig gewesen, Joe zweiundzwanzig. Joes Vater hatte seinen Landbesitz unter seinen vier Söhnen aufgeteilt, und Joe, der jüngste von ihnen, hatte fast zehntausend Hektar Land zu bestellen. Er brauchte eine Frau, er war verliebt in Claire, er hatte sein eigenes Stück Land. Was wollte ein Mann mehr?

Achtzehn Monate lang waren sie glücklich gewesen. Claire war eine Frau, auf die ein Mann stolz sein konnte. Sie führte den Haushalt und kümmerte sich um die Buchhaltung. Sie beschäftigte die Gärtner und hielt eine feste, aber gerechte Hand über das Hauspersonal, sodass Joe genug Zeit blieb, sich auf die Plantage zu konzentrieren. Und sogar seine abendlichen Annäherungen ließ sie willig über sich ergehen. Der Wunsch nach Intimität ging zwar nie von ihr aus, aber sie erfand auch nie irgendwelche Kopfschmerzen wie die Frauen seiner Freunde, die sich darüber häufig beklagten. Wenn Claire sagte, sie hätte Kopfschmerzen, dann hatte Claire Kopfschmerzen.

Als sie ihm schließlich verkündet hatte, sie sei schwanger, hatte Joe geglaubt, sein Glück sei komplett. Er genoss es zuzusehen, wie das Kind in seiner Frau heranwuchs. Er genoss die harmlosen Frotzeleien seiner Freunde. Er stellte sich vor, wie es sein würde, wenn er seinem Sohn eines Tages beibrachte, Cricket und Rugby zu spielen.

Claire blühte auf, aber die Anforderungen des Elterndaseins führten schon bald dazu, dass Joe sich wieder nach dem Frieden und der Ruhe sehnte, die er gehabt hatte, ehe sein Sohn geboren worden war. Zu spät wurde ihm klar, dass es ein Fehler gewesen war, sich Hals über Kopf in eine Ehe und die Gründung einer Familie zu stürzen. Er hatte sich vorher nicht genug Zeit zum Leben genommen. Claire war seine erste Liebe gewesen, aber als die Verantwortung plötzlich schwer auf ihm lastete, begann er auch daran zu zweifeln.

Dann kam der Krieg. Wie alle anderen gesunden jungen Männer hatte auch Joe die Vorbereitungen mit großem Interesse verfolgt. Und während sich die jungen Ehefrauen um ihre Männer gesorgt und sich geängstigt hatten, hatten diese dem Krieg regelrecht entgegengefiebert und von Heldentaten, Ruhm und Ehre geträumt. Auch Joe und Claire waren da keine Ausnahme gewesen.

Mein Gott, dachte Joe, während er in dem schaukelnden Eisenbahnwaggon saß. Hätten wir es doch nur geahnt. Männer waren verkrüppelt oder sogar getötet worden, andere wurden noch immer von schrecklichen Erinnerungen gequält. War es das, wovor sich die Frauen gefürchtet hatten? Er seufzte und steckte das Foto zurück in seine Brieftasche. Aus den Augen, aus dem Sinn. So funktionierte es. Nicht ganz allerdings: Es gab Dinge, an die er sich nur allzu gut erinnerte.

Er erinnerte sich noch immer an jede Linie ihres Körpers, an das Gefühl ihrer Haut unter seinen Händen, an den Duft ihrer Haare und an ihre Weichheit an dieser ganz intimen Stelle zwischen ihren Beinen. Manchmal in den zurückliegenden drei Jahren, wenn er völlig verzweifelt gewesen war, hatte er die Augen geschlossen und sich vorgestellt, sie läge unter ihm und seine heißen Stöße gingen nicht in seine Hand auf der von Flöhen wimmelnden Matratze. Manchmal hatte es geholfen. Doch meistens hatte es seine Qual und seine Frustration noch verschlimmert, bis er heiße Tränen der Hoffnungslosigkeit und der Verzweiflung geweint hatte. Vor allem als er schließlich zu krank und schwach geworden war, um diese Bedürfnisse überhaupt noch zu verspüren. Oder besser gesagt, um sie zu befriedigen, wenn er sie verspürt hatte.

Joe blinzelte, und die Vergangenheit war verschwunden. Er schaute wieder hinaus in die Dunkelheit, die das Land einhüllte, in dem er geboren worden war. Dort hinten lag der heiße, feuchte Zuckerrohr-Gürtel von Zululand. Er wollte das Fenster öffnen und seinen Geruch einatmen, aber es war zu kalt. »Willkommen zu Hause«, sagte er höhnisch zu seinem Spiegelbild. »Willkommen bei alldem, für dessen Erhalt du in den Krieg gezogen bist.« Joe schnaubte verächtlich. Alles Lug und Trug, dachte er. Er war aus Abenteuerlust in den Krieg gezogen. Er war in den Krieg gezogen, weil er die Realität seines Lebens erkannt und sie ihn zu Tode geängstigt hatte. Sechsundzwanzig, verheiratet, eine Familie und eine Plantage am Hals. Joe war in den Krieg gezogen, um das Leben kennen zu lernen, ehe es an ihm vorbeiging. Wenn der Krieg nicht gekommen wäre, hätte er sein Leben in stumpfer Eintönigkeit verbracht. Aber der Krieg war gekommen, und Joe hatte die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und sich eingeredet, es ginge um König und Vaterland. Gut, es ging auch um einen König, um ihn – Joe King.

Oktober 1939 – Joe war bei den Ersten gewesen, die sich gemeldet hatten. Da er zu ungeduldig gewesen war, auf Südafrika zu warten, hatte Joe sich auf das Geburtsland seiner Eltern und seinen britischen Pass berufen und war in die Royal Air Force eingetreten. Er konnte immer noch Claire vor sich sehen, wie sie tränenüberströmt die Hand ihres Sohnes gehalten hatte, während das Schiff abgelegt und von Durban aus langsam den Indischen Ozean angesteuert hatte. Michael war erst drei Jahre alt gewesen. Der Anblick hatte Joe völlig ungerührt gelassen.

Im Gegenteil, er hatte es eher als Erleichterung empfunden zuzusehen, wie Claire mit zunehmender Entfernung immer kleiner wurde. Er hatte sie geliebt, aber sie hatte für alles in seinem Leben gestanden, das ihn einengte.

Wie wird es wohl jetzt sein, fragte Joe sich. Es ist fünf Jahre her. Ich habe mich verändert. Ob sie sich auch verändert hat? Werde ich sie noch lieben? Kann ich das? Will ich das?

Er fragte sich, ob sein Sohn immer noch so anstrengend sein würde wie damals. Michael war inzwischen fast acht. Herrje, dachte Joe, ich habe einen achtjährigen Sohn, den ich nicht kenne, und eine Frau, an die ich mich kaum erinnern kann. Wir sind uns völlig fremd.

Er war damals noch so jung gewesen, und der Tod weit, weit entfernt.

Joe hatte vor dem Krieg sein eigenes Flugzeug geflogen, und das hatte sich die Royal Air Force zunutze gemacht. Wieder und wieder hatten sie ihn auf die Deutschen gehetzt. Verzweifelte Luftkämpfe über dem englischen Kanal, Bombenangriffe auf Berlin, Einsätze von Fallschirmspringern über Frankreich in mondlosen Nächten.

Joe genoss es in vollen Zügen. Das Bier war gut, nachdem er sich einmal daran gewöhnt hatte. Die Männer, die mit dem Tod vor Augen lebten, waren eine wilde, hemmungslose Horde. Frauen, die sich den Männern für England hingaben, angespornt von der Vorstellung, jede Liebesnacht könnte die letzte sein, waren im Überfluss zu haben. Joe vergaß Claire, vergaß seinen Sohn, seine Farm, am Ende sogar sein Land. Er hatte Spaß, genoss den Schwindel erregenden Nervenkitzel und machte sich vor Angst fast in die Hose. Er lebte in der Hoffnung auf Glanz und Gloria und mit dunklen, entsetzlichen Albträumen. Nicht dass er sie sich je eingestanden hätte. Er war Joe King; er war hart, und er würde ewig leben.

Bis er über Frankreich abgeschossen wurde und beinahe im Cockpit seiner Maschine verbrannt wäre. Nur die Besonnenheit von zwei mutigen Landarbeitern hielt ihn am Leben, aber er erlitt schwere Verbrennungen an beiden Beinen. Seine Erleichterung über die Rettung war nur von kurzer Dauer. Noch ehe er von seinem Wrack fortgetragen werden konnte, wurde er gefangen genommen. Seine Uniform rettete ihm das Leben; die Franzosen hatten nicht so viel Glück – sie wurden an Ort und Stelle mit erhobenen Händen niedergeschossen.

Joe schüttelte den Kopf, versuchte so, die Vergangenheit loszuwerden. Aber sie stand in seinem Spiegelbild geschrieben, in dem ausgemergelten Gesicht und dem gehetzten Blick, in den schmalen Lippen und den herabhängenden Schultern. »Diese Schweine!« Joe war nicht gut zu sprechen auf die Deutschen. Nicht wegen ihrer Arroganz und Grausamkeit. Nicht weil sie der Feind gewesen waren. Sondern weil sie aus ihm einen alten Mann gemacht hatten. Sein vormals pechschwarzes Haar war grau geworden. Sein einst kräftiger Körper war ausgezehrt und schmerzte.

Solange er lebte, würde Joe seine Gefangenschaft und die drei Jahre Hölle nicht vergessen. Sein erster Eindruck von dem Lager hatte sich auf ewig in seinem Gedächtnis eingebrannt. Es war Winter gewesen. Der Boden war aufgewühlt und steinhart gefroren. Drei verschiedene Stacheldrahtzäune umgaben das Lager. Das 16 Hektar große Gelände war mithilfe von noch mehr Stacheldraht und von parallel verlaufenden Gräben in einzelne Segmente aufgeteilt.

Holzbaracken oder zweckentfremdete Scheunen beherbergten die Gefangenen, in jedem Gebäude wohnten etwa 200 Männer. Sie schliefen auf Holzbrettern, die mit einer dünnen Schicht Stroh bedeckt waren, eng zusammengepresst wie Ölsardinen. Kein Gedanke an Komfort oder Privatsphäre. Es gab keine wärmenden Decken, kein Licht, keine Heizung. Die Gefangenen drängten sich aneinander, der Körperkontakt war ihre einzige Wärmequelle.

Das Lageressen war so dürftig, dass alle Männer schnell an Kondition verloren. Brot und Kaffee am Morgen, mittags eine dünne Suppe aus Kichererbsen, Linsen oder Fadennudeln, abends dasselbe.

Die Stärksten, in der Regel die Neuzugänge, wurden zum Straßenbau in der Umgebung herangezogen. Sobald die Unterernährung ihren Tribut forderte, gab man ihnen leichtere Aufgaben – Hütten säubern, Latrinen leeren, die Toten begraben oder was sonst noch notwendig war, um den Lagerbetrieb aufrechtzuerhalten. Trotz seiner schweren Verbrennungen verlangte man von Joe, sich an den anstrengenden Straßenbauarbeiten zu beteiligen. Seine Beine heilten zwar irgendwann, aber es blieben schreckliche Narben. Und sie schmerzten – oh Gott, wie sehr sie schmerzten, vor allem in der Kälte des Winters. Aber wenigstens blieb er am Leben.

Die Toten wurden nackt begraben. Es gab keine neuen Kleider, und die Männer mussten sich Ersatz beschaffen, wo immer es ihnen möglich war. In seinem zweiten Winter im Lager, als die bittere Kälte seine Füße aufriss, überwand Joe seinen Ekel und trug die Schuhe eines Toten.

Am schlimmsten waren die Lagerappelle. Viermal am Tag, bei jedem Wetter, hatten sich die Männer zu versammeln – manchmal bis zu einer Stunde lang. Man verlangte von ihnen, regungslos zu stehen, jeglicher Verstoß wurde mit einem sofortigen unbarmherzigen Schlag mit dem Gewehrkolben geahndet.

Trotz dieser strengen Appelle wurde die Bewachung erstaunlich locker gehandhabt. Joe wurde rasch klar, dass seine beste Chance zu fliehen darin bestand, sich von den Straßenbautrupps zu entfernen, die außerhalb des Lagers arbeiteten. Die Deutschen waren in der Minderzahl. Die Arbeitergruppen bestanden aus ungefähr 400 Männern, die nie von mehr als acht Wachposten beaufsichtigt wurden. Wenn einer der Gefangenen durchblicken ließ, dass er fliehen wollte, versuchten die anderen ein Ablenkungsmanöver. Die Deutschen sahen das relativ gelassen. Viele Gefangene versuchten zu fliehen. Soweit Joe wusste, war es nur einem gelungen. Das Problem war die karge Landschaft. Es gab ganz einfach nichts, wo man sich verstecken konnte.

Joe hatte einen Mann gesehen, der verzweifelt fortwollte und zu rennen begonnen hatte, als die Wachen ihn aufforderten, stehen zu bleiben. Ihm wurde in den Rücken geschossen. Die Deutschen ließen ihn einfach liegen, als grausame Mahnung für die anderen. Diejenigen, die bei einem Fluchtversuch erwischt wurden, wurden mit zweiwöchiger Einzelhaft bestraft, bei Brot und Wasser. Die Bedingungen im Lager waren unerträglich, aber die Isolierung war noch viel schlimmer. Solange die anderen Männer um ihn herum waren, wusste Joe wenigstens, dass er mit seinem Schicksal nicht allein war. Trotzdem hatte ihn die Aussicht auf Einzelhaft nie an einem Fluchtversuch gehindert. Er hatte es versucht, Gott, wie oft hatte er es versucht! Einmal bekam er zwei Wochen. Dabei hatte er bei dieser Gelegenheit sogar ziemliches Glück gehabt. Es hatte so heftig geschneit, dass es ganze dreißig Minuten gedauert hatte, ehe seine Abwesenheit überhaupt bemerkt wurde. Aber sie hatten ihn trotzdem gefunden. Der französische Farmer, der ihn bei sich versteckt hatte, wurde erschossen. Armer Kerl!

Gegen Ende des letzten Sommers tauchten Gerüchte im Lager auf, begannen sich zu verbreiten. Es hatte immer Gerüchte gegeben, aber diesmal war es anders. Sogar das Verhalten der Wachen hatte sich verändert, sie wirkten verschlossener als sonst. Und bald waren die Gefangenen davon überzeugt, dass sich etwas Großes anbahnte. »Hast du schon gehört?«, sagte ein Mann zu Joe. »Paris ist gefallen. Die Deutschen sind auf der Flucht.«

»Woher weißt du das?«

»Ich habe mitbekommen, wie sich zwei Wachen darüber unterhalten haben.«

Da war Joe schon zu schwach gewesen, um sich weiter darum zu kümmern, aber als am nächsten Morgen alle Lagerinsassen zusammengerufen und darüber informiert wurden, dass sie in ein anderes Lager verlegt werden würden, sah er seine letzte Chance zur Flucht. Eine Stunde später verließen sie das Lager. Sie liefen zwei und zwei, die Starken halfen den Schwachen. Joe wartete, bis die Wachen abgelenkt waren, dann verließ er einfach die Straße. Die Aufforderung, sofort stehen zu bleiben, kam unverzüglich, aber er ignorierte sie. Er wollte unbedingt weg. Der Tod erschien ihm weniger bedrohlich als dieses Dahinvegetieren im Lager. Man schoss auf ihn. Sein rechter Arm explodierte in rasendem Schmerz, ehe er richtig begriff, was geschehen war.

Er hatte fest damit gerechnet, dass sie ihn töten würden. Er rührte sich nicht von der Stelle, hielt seinen zerfetzten Arm und wartete auf die nächste Kugel. Stattdessen wurde er grob in die Reihe zurückgeschoben, und der Marsch wurde fortgesetzt. Sie marschierten zwei Tage lang. Niemand hatte die leiseste Ahnung, wohin sie gingen. Neue Gerüchte. »Österreich. Deutschland.« Spekulationen mischten sich mit Vermutungen und Drohungen. Die Deutschen hielten ein zügiges Tempo, niemand bekam die Gelegenheit sich auszuruhen. Dann, nach zwei Tagen, erreichten sie ein anderes Lager. Es war besser befestigt, und es gab mehr Wachen. Der Fußmarsch mit all seinen Qualen war vorüber, aber ihre Bewacher wandten sich, vielleicht aus Verbitterung oder Wut über den Verlauf des Krieges, gegen die Gefangenen und unternahmen keinerlei Anstrengungen, die Neuankömmlinge unterzubringen. Sie mussten sich in den ohnehin schon überfüllten Baracken selbst einen Schlafplatz suchen. Wie ausgehungerte Tiere kämpften die Männer um jeden Krümel Nahrung.

Niemand kümmerte sich um Joes verletzten Arm. Die Deutschen ließen die Kugel, wo sie war, und hofften vermutlich, er würde an Wundbrand sterben. Aber er starb nicht, so sehr er sich das auch gewünscht hätte.

Der Krieg ging zu Ende, und die Deutschen verschwanden. Seit Tagen waren Gerüchte im Umlauf gewesen, dass es sich nur noch um Stunden handeln könnte. Eines Abends legten sich die Gefangenen in ihren elendigen Behausungen zum Schlafen nieder, und als sie am nächsten Morgen erwachten, waren ihre Bewacher fort. Die Kranken und die Sterbenden wurden zurückgelassen, auch Joe gehörte dazu. Die Lagerausgänge standen offen; er war frei zu gehen, aber er hatte nicht die Kraft dazu.

Am nächsten Tag, als sich die Amerikaner würgend und mit bleichen Gesichtern einen Weg durch die aufgedunsenen, von Fliegen übersäten Körper der toten Gefangenen bahnten, stießen sie auch auf Joe. Fieber und Ruhr hatten ihn an den Rand des Todes gebracht. Man schaffte ihn in ein Krankenhaus in Paris. Ein französischer Arzt grub die Kugel aus und erklärte ihm, einen Tag später, und die Vergiftungen in seinem Körper wären tödlich gewesen. Das hätte Joe den Ärzten selbst sagen können. Ihn interessierte vielmehr, wie lange es dauern würde, bis er seinen Arm wieder benutzen konnte.

»Er wird nie wieder voll funktionsfähig sein«, antwortete der Arzt. »Sie können von Glück sagen, dass Sie ihn überhaupt noch bewegen können.«

Daraufhin hatte Joe die Augen geschlossen und dem Arzt gesagt, er möge sich verpissen.

Krankenschwestern machten sich an die Arbeit, säuberten ihn von der Krätze und entfernten die Läuse. Sie kurierten die Ruhr, die ihn so schwächte, bei deren Attacken er sich vor Schmerzen krümmte und sich ständig selbst besudelte. Sie reinigten die Geschwüre, die sich in sein Fleisch fraßen, wuschen den Schmutz und den Gestank von drei Jahren Kriegsgefangenenlager ab. Sie versorgten ihn gut, gaben ihm etwas Anständiges zu essen und Medikamente, und ganz allmählich erholte sich sein geschundener Körper. Die Ärzte sagten ihm, wie froh sie über seine Fortschritte wären, aber aus ihren Blicken las er deutlich das Mitleid und manchmal auch den Ekel über das, was aus seinem Körper geworden war.

Als es ihm gut genug ging, wurde er in eine Rehabilitationsklinik nach London geschickt. Dort versuchten Psychiater, inmitten von Amputierten, Gelähmten und Brandopfern Joes Seele zu heilen. Sie stellten ihm Fragen und notierten die Antworten. Sie legten Puzzleteile vor ihn hin und baten ihn, sie wieder zusammenzusetzen. Sie zeigten ihm Tintenkleckse und fragten ihn, was er darin sähe. Sie setzten ihn unter Drogen und hypnotisierten ihn und bohrten in seinem Unterbewusstsein herum.

Als sie keine Fragen und keine Puzzles mehr hatten, überließen sie ihn den Generälen. Joe hatte Dutzende Fluchtversuche hinter sich. Die Generäle wollten Einzelheiten wissen. »Warum, um alles in der Welt?« Joe wand sich, unwillig, seine Erinnerungen neu zu beleben. »Was soll das jetzt noch nützen? Ich bin einfach nur weggegangen.« Aber die Generäle blieben hartnäckig und schrieben seine Antworten auf. Joe wusste, dass sie sich im Prinzip nur beschäftigen wollten, dass sie ihren Status nicht aufgeben und nicht in ihr Alltagsleben zurückwollten, das sie geführt hatten, bevor der Krieg ihnen Macht gegeben hatte.

Endlich ließen sie ihn in Ruhe. Joe vermutete, dass jemand Claire benachrichtigt hatte. Aber da er von einem Krankenhaus ins nächste verlegt wurde, erreichten ihn ihre Briefe nicht – falls sie überhaupt welche geschrieben hatte. Es kümmerte ihn nicht. Getrieben von dem Gefühl, drei Jahre seines Lebens verloren zu haben, machte er sich auf die Suche nach den Frauen, die er kennen gelernt hatte, bevor er abgeschossen worden war.

Der Wahnsinn, der jeden erfasst hatte, war ebenso schnell wieder vergangen. Die willigen Frauen hatten entweder ihre Liebhaber aus den Tagen des Krieges geheiratet oder waren zu ihren Ehemännern zurückgekehrt. Amüsiert dachte Joe darüber nach, dass sich viele der heimkehrenden Helden sicher verwundert fragen würden, wo um alles in der Welt ihre liebenden und treuen Ehefrauen solche Dinge gelernt haben mochten. Er fragte sich, ob Claire ihm treu geblieben war, und kam zu dem Schluss, dass es ihm im Grunde gleichgültig war.

Es gelang Joe tatsächlich, eine der besagten Frauen wiederzutreffen. Er aß und trank mit ihr und ging dann mit ihr ins Bett. Bei dieser Gelegenheit stellte er fest, dass es nicht funktionierte. Die Frau war verständnisvoll, geduldig und sehr erfahren. Aber Joe kriegte ihn trotzdem nicht hoch.

Fünf Monate nach Kriegsende wurde Joe im Dienstgrad eines Fliegerleutnants aus dem aktiven Militärdienst entlassen und fand, es wäre Zeit, nach Hause zu fahren. Die Ärzte, Psychiater und Generäle waren fertig mit ihm, der Spaß der Kriegstage war vorüber. Obwohl das Bier immer noch gut schmeckte, war Whisky besser.

Hier war er nun. Joe King. Um einiges dünner, erheblich älter, verdammt viel weiser und mit einer Vorliebe für Whisky, die er früher nicht gekannt hatte. Ladies and Gentlemen, dachte er verbittert. Hier bringe ich Ihnen Joe King zurück, Pilot, Flüchtling, emotionales Wrack – in einem beschissenen Milchzug.

Er war einunddreißig und kehrte nach Hause zurück, zu einer Frau und einem Sohn, die er nicht kannte. Kehrte zu einer Plantage zurück, von der er nicht mehr wusste, wie man sie betrieb. Der junge Mann, der damals fortgegangen war, der Mann, der Großes vorgehabt hatte, kam zurück mit nichts als dem Gestank einer dreijährigen Kriegsgefangenschaft und den Narben erfolgloser Fluchtversuche.

Joe rutschte auf dem harten Sitz herum. Er saß auf den Knochen seines Hinterns, und das tat weh. Er kramte in den großen Taschen seines Mantels, brachte eine Flasche Whisky zum Vorschein, öffnete sie und trank. Er schmeckte kaum etwas. Es war das Brennen in seiner Kehle und im Bauch, das er wollte. Hätte mich rasieren sollen, dachte er.

Südafrika nahm seine Rückkehr nicht zur Kenntnis. Die Paraden, die Feiern, die Heldenverehrungen waren vorbei. Nicht dass ihn das wirklich gestört hätte. Es gab nichts, dessen er sich rühmen konnte. Trotzdem wäre es nett gewesen, es zu sehen. Stattdessen war er in Durban von Bord gegangen, hatte seine Tasche genommen und war die Point Road zum Bahnhof heruntergegangen. Der Milchzug fuhr um zwei Uhr morgens in Richtung Zululand. Niemand erwartete ihn. Gut! So mochte er es. Trotzdem, dachte er erneut und fuhr sich mit der Hand übers Kinn. Ich hätte mich rasieren sollen.

Vielleicht hätte er Claire benachrichtigen sollen, dass er nach Hause kam. Und seine Brüder. Wie war es ihnen ergangen? Hatten sie alle überlebt? Aus einem Brief, den Claire ihm zu Beginn des Krieges geschickt hatte, wusste Joe, dass sein Vater gestorben war. Er hatte die Nachricht damals mit völligem Desinteresse zur Kenntnis genommen. Der alte King hätte seinen Grundbesitz zu gleichen Teilen zwischen seinen Söhnen aufteilen und jedem ein anständiges Erbe hinterlassen können, aber er war ein dominanter und grausamer Vater gewesen. Joe hatte den Alten gehasst.

Einer seiner Brüder, Colin, hatte bereits nach einem Monat beide Beine bei einer Landminenexplosion verloren. Wie das wohl ist, fragte Joe sich nüchtern: in einer Minute ruhmreich in den Krieg zu ziehen und in der nächsten auf Stümpfen zurückgeschleppt zu werden.

Draußen war es pechschwarz. Joe zündete sich eine Zigarette an und schloss die Augen. Wie Claire jetzt wohl aussah? Ohne das Foto, das seiner Erinnerung auf die Sprünge half, konnte er sich nicht an ihr Gesicht entsinnen. Er erinnerte sich an andere Dinge – ihr perlendes Lachen, ihre langen, kräftigen Beine, ihre Brüste. Er erinnerte sich daran, dass sie große graue Augen und blondes Haar hatte. Sie mochte Leute nicht, die zu viel tranken, das wusste er auch noch. Pech, dachte er achselzuckend. Sie wird sich daran gewöhnen müssen. Dann wurde er etwas weicher. Sie hatte die sanftesten Lippen, die er je gesehen hatte. Aber warum konnte er nicht alles zusammensetzen, sodass sich ein Bild daraus ergab? Wie würde es sein, wieder mit einer Frau zusammen zu sein? Joe dachte lange und angestrengt darüber nach. Er versuchte sich vorzustellen, wie sie aussah, wenn sie unter ihm lag, weit geöffnet für ihn. Aber obwohl er sich daran sehr gut erinnern konnte, regte sich zwischen seinen Beinen nichts. Da unten war er tot. Die Ärzte hatten gesagt, es würde wieder kommen.

Er dachte an UBejane, seine Farm. Als Kingsway, wie das Anwesen seines Vaters seinerzeit hieß, in vier Teile aufgeteilt worden war, hatte Colin den alten Namen für seinen Anteil behalten. Einer der anderen Brüder nannte seinen Besitz Kingsmead, während der andere sich für Kingston entschied. Joe hingegen brach sehr zum Missfallen seines Vaters mit dem Namen King und nannte seine Farm UBejane, die Bezeichnung der Zulu für das Spitzmaulnashorn, das einst in Zululand in freier Wildbahn gelebt hatte. Er hatte den Namen gleich in mehrfacher Hinsicht passend gefunden, denn uBejane bedeutete übersetzt »der Böse«, was seinen Vater ziemlich treffend beschrieb.

Joe fragte sich, wie heruntergekommen die Farm wohl inzwischen sein würde. Fünf Jahre ohne Führung zu sein war für jedes Unternehmen tödlich. Ob die Farm überhaupt noch solvent war? Eine Frau konnte doch keine Zuckerrohrplantage führen. Claire hatte sicher ihr Bestes getan, aber das war doch keine Arbeit für eine Frau. Sie hätte zum Beispiel diese verdammten Pondos nie in den Griff bekommen. Scheißtypen. Joe fragte sich, ob sie immer noch auf der Farm beschäftigt waren, diese Wilden aus Pondoland tief im Süden, die einfach schissen, wo sie gerade standen, und sich nur selten darum scherten, sich zu waschen. Eine Lady durfte gar keinen Kontakt mit ihnen haben. Und dann die Inder. Sie raubten einem das letzte Hemd, sobald man ihnen den Rücken zudrehte. Verdammt!, dachte Joe müde, als ihm die alltäglichen Probleme einer Zuckerrohrplantage wieder ins Bewusstsein kamen. Ich will das alles nicht mehr.

Maschinenschäden, Regen, der entweder nicht fallen wollte oder zum falschen Zeitpunkt fiel. Schwankende Preise, kindische Streitereien zwischen den eingeborenen Pflückern und ihren indunas, der Brandpilz, eine Pilzkrankheit, die die jungen Zuckerrohrpflanzen befiel. Und das waren nur die Probleme des Zuckers. Ein wesentlicher Bestandteil der Farm war auch die Viehzucht mitsamt allen dazugehörenden Schwierigkeiten: unzählige Krankheiten, Fehlgeburten, Zäune, die repariert werden mussten, Futtergetreide, das gesät werden musste, zu wenig Regen, zu viel Regen. Das Vieh hatte sich wahrscheinlich inzwischen völlig ungehindert vermehrt, nicht so geregelt, wie Joe es gern hätte. Es würde mindestens ein Jahr dauern, das wieder hinzukriegen. Und das Zuckerrohr? Er versuchte sich zu erinnern: Jetzt war Oktober. Die Mühlen schlossen im Dezember. Also war jetzt die entscheidende Phase. Wenn sie diese Saison verpassten, konnten sie erst wieder im April ernten.

Erschrocken stellte Joe fest, wie anders sein Leben von nun an sein würde. Er war in den zwei Jahren in England regelrecht verroht. Und anschließend war er drei Jahre lang wie ein Wilder behandelt worden. Claire war eine Lady, und so würde er sie auch behandeln müssen. In den letzten fünf Jahren hatte er Frauen nur wie Huren behandelt. Claire legte viel Wert auf diese ganzen Kleinigkeiten. Dass man ihr die Tür aufhielt, ihr einen Stuhl zurechtrückte, sie fragte, ob sie einen schönen Tag hatte. Sex mit Claire war drauf – rein – raus. Er war unschuldig und unerfahren gewesen, bevor er nach England gegangen war. Jetzt würde es nicht mehr gut genug sein. Amüsiert überlegte er, was Claire wohl dazu sagen würde.

Und Michael, sein Sohn. Joe hatte nie viel Kontakt zu Kindern gehabt. Wem sah er wohl ähnlich? Claire hatte ihm natürlich geschrieben, ihn an den Fortschritten ihres Sohnes teilhaben lassen. Aber aus der Entfernung war ihm das alles nicht sonderlich wichtig gewesen. Er hatte sogar irgendwann aufgehört, ihre Briefe zu lesen. Jetzt würde er seiner Familie plötzlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Seiner Familie. Seiner Frau und dem Kind, das sie gemeinsam gezeugt hatten. Sein Sperma in ihrer warmen feuchten Muschi. Nur dass er sie nicht Muschi nennen durfte. Es war ›da unten‹ oder einfach ›unten‹. So bezeichnete es jedenfalls Claire selber.

Wollte er das? Wollte er nach Hause fahren und so tun, als hätte sich nichts verändert? Denn er hatte sich verändert. Mehrfach. Vom Idealismus zur Unbarmherzigkeit. Und von der Unbarmherzigkeit zur Hoffnungslosigkeit. Konnte er nun wieder zum Idealismus zurückfinden? War es möglich, sich vom Zyniker in einen Optimisten zu verwandeln? Joe öffnete die Augen und sah sein Spiegelbild an. Der Junge war verschwunden. Es war nichts mehr von ihm übrig. Lieber Gott, dachte er plötzlich mitleidig. Arme Claire.

Seufzend stand Joe auf, hielt sich mit dem gesunden Arm fest und verließ mit wackeligen Schritten das Abteil. Er musste pinkeln, und die Toilette war am anderen Ende des Waggons. Schwankend ging Joe den Gang entlang. Bis auf eins waren alle Abteile leer. Der Schwarze, der drei Abteile von Joe entfernt saß, nahm keine Notiz von ihm. Er sah aus, als wäre er in Trance.

Joe hatte missbilligend die Stirn gerunzelt, als der Schwarze den Zug bestiegen hatte. Nicht dass der Schwarze nicht im Zug hätte sein dürfen – die Apartheid war zwar schon vor Ausbruch des Krieges verbreitet gewesen, aber soweit Joe wusste, gab es noch kein Gesetz, das Schwarze daran hinderte, im selben Waggon wie Weiße zu fahren. Trotzdem taten das nur wenige. Sie schienen es vorzuziehen, in der dritten Klasse zu reisen, unter ihresgleichen. Wenigstens handelte es sich in diesem Fall um einen Zulu und nicht um einen stinkenden Pondo. Er trug die Uniform eines Sergeanten der Natal Mounted Rifles. Joe hatte nicht gewusst, dass Schwarze Soldaten werden konnten. Also gut, etwas, das sich NMC, Native Military Corps, nannte, war gegründet worden. Militärkorps! Ein Witz! Wirklich ein komischer Name für die Ausbildung von Kaffern zu Bahrenträgen. Joe bemerkte auch die vielen Orden auf der Brust des Zulu. Das ärgerte ihm. Es sah so aus, als wäre dieser unverschämte Kaffer auch noch hoch dekoriert worden, während Joe die meiste Zeit des Krieges in einem elendigen Kriegsgefangenenlager auf dem Hintern gesessen hatte.

Wilson Mpande war nicht in Trance. Er hatte die Augen offen und starrte vor sich hin. In seinem Kopf lief ein Film ab, den niemand außer ihm sehen konnte. Wilson betrachtete die vergangenen Jahre seines Lebens und versuchte, ihnen einen Sinn zu geben. Es war ein Trick, den ihm sein Vater vor vielen Jahren beigebracht hatte. »Konzentrier dich auf etwas in deiner Nähe. So kannst du Frieden finden, wenn Ärger deine Urteilskraft vernebelt«, hatte sein Vater gesagt. Und Wilson Mpande war sehr ärgerlich.

Nichts hatte sich verändert. Im Gegenteil, es war noch schlimmer geworden. »Ich nehme an, Sie meinen die dritte Klasse«, hatte der Bahnbeamte gesagt, als Wilson um einen Erste-Klasse-Fahrschein gebeten hatte.

»Nein.«

Der weiße Bahnbeamte hatte ihn mit offenem Mund angesehen und dann die Uniform und die Ordensbänder registriert. »Wofür hat man Ihnen die gegeben, Mann? Fürs Schuheputzen?«

Wilson hatte eine wütende Antwort hinuntergeschluckt und sich daran erinnert, dass er wieder im Land der rassistischen Diskriminierungen war. »Tapferkeit«, hatte er knapp erwidert.

Der Beamte hatte bloß verächtlich mit den Schultern gezuckt und einen Fahrschein durch den Spalt geschoben. »Muss ein gefährlicher Schuh gewesen sein«, hatte er höhnisch kommentiert und Wilson einen Augenblick angeschaut. »Ein Zulu, der sich einbildet, ein Weißer zu sein«, hatte er schließlich sinniert. »Wo doch die Söhne von Blood River noch unter euch leben.«

Es war eine sehr bewusste Beleidigung gewesen, und sie hatte gesessen. Man musste sehr mutig sein, um so von den 3.000 Kriegern zu sprechen, die unter Führung von König Dingane in der Schlacht, die später Blood River genannt wurde, ihr Leben gelassen hatten, ohne einen einzigen Weißen zu töten. Sehr mutig oder sicher verbarrikadiert in einem Schalterhäuschen. Wilson verzichtete auf eine Antwort und stieg in den Zug. Ein Schaffner, dem Aussehen nach ein Xhosa aus dem Süden, hielt Wilson auf. »Falscher Waggon«, informierte er ihn.

Der Schaffner zog erstaunt die Augenbrauen hoch, als Wilson ihm seinen Fahrschein zeigte. »Darf ich vorbei?«, fragte er ruhig.

Der Schaffner trat zur Seite, aber er war noch nicht fertig mit Wilson. Er folgte ihm den Gang entlang bis zu seinem Abteil. »Warum tun Sie das? Das bringt nur Ärger.«

»Wenn ich dafür zahlen kann, gibt es keinen Grund, weshalb ich nicht hier sitzen sollte.«

»Warum tragen Sie diese Uniform, Mann? Wo haben Sie die gestohlen? Sie versuchen Aufmerksamkeit zu erregen. Das bringt Ihnen Ärger, ich schwöre es Ihnen.«

»Die Uniform gehört mir.« Wilson setzte sich.

Der Schaffner blieb an der Abteiltür stehen. »Sie haben für die Weißen gekämpft!« Sein Gesichtsausdruck zeigte deutlich, wie sehr ihm diese Vorstellung zuwider war.

Wilson reichte es allmählich. Was fiel diesem Xhosa-Hund ein, einen Zulu auszufragen? Es kostete ihn große Anstrengung, die Ruhe zu bewahren. »Ein Zulu kennt kein Erbarmen und erwartet auch keins«, entgegnete er knapp. »Ich erwarte von einem Xhosa auch nicht, dass er solche Dinge versteht. Wir haben in der Vergangenheit gegen die Weißen gekämpft, wir haben gewonnen, und wir haben verloren. Vielleicht werden wir eines Tages wieder gegen sie kämpfen. Was in unserem Herzen ist, ist entscheidend. Das ist die Art der Zulu.« Er sah den Schaffner von oben bis unten an. »Sie sind kein Zulu. Also reden Sie nicht über Dinge, von denen Sie keine Ahnung haben.«

Der Schaffner lächelte, aber es war keine freundliche Geste. »Bah, arroganter Zulu! Sie bilden sich etwas auf Ihre Kampfeskünste ein und prahlen damit, dass ein Zulu sich schnell erhitzt und ebenso schnell vergibt. Erzählen Sie das mal einem Weißen. Sie mögen für ihn gekämpft haben, aber wenn ein Weißer im Zug ist, kann er von Ihnen verlangen, den Wagen zu verlassen. Sie sind vielleicht ein Zulu ...«, er stieß das Wort voller Verachtung hervor, »aber bilden Sie sich nicht ein, Sie wären gut genug, um mit den Weißen in einem Waggon zu sitzen.«

Wilson wusste, dass das, was der Schaffner sagte, der Wahrheit entsprach, aber er gab nicht nach. »Es ist nicht gegen das Gesetz.«

»Nein«, stimmte ihm der Xhosa zu. »Aber das wird es bald sein.« Mit dieser Prophezeiung verließ er das Abteil.

Wilson schüttelte den Kopf. Ungerechtigkeit zog Ungerechtigkeit nach sich. »Wird das je enden?«, fragte er sich verbittert. Manchmal kam es ihm vor, als hätten die Zulu alles verloren. Aber dann schüttelte er erneut den Kopf. »Die Weißen haben uns unser Land genommen, aber sie werden uns niemals unsere Würde nehmen.«

Ein Zulu war einem alten Feind gegenüber nicht nachtragend, deshalb hatten sich viele Zulu gemeldet, um auf der Seite der Briten zu kämpfen. Dass sie sich noch ein Jahrhundert zuvor gegenseitig bekämpft hatten, war nicht wichtig. Allerdings hatte man ihnen nicht gesagt, dass die weißen Südafrikaner nicht die Absicht hatten, ihre schwarzen Einheiten tatsächlich zu bewaffnen. Die Zulu waren für den alleinigen Zweck verpflichtet worden, sich um die Bedürfnisse ihrer Landsleute zu kümmern. Dafür bekamen sie als Belohnung ein Fahrrad und einen Mantel oder eine Decke.

Wilson war einer der wenigen Zulu gewesen, die sich aktiv an den kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligt hatten. Er war mit der 1. Südafrikanischen Division nach Nordafrika entsandt worden. Dort hatten die Südafrikaner gemeinsam mit der 9. Australischen, der 51. Ungarischen, der 2. Neuseeländischen und der 4. Indischen Division den insgesamt 30 Korps angehört, die eine entscheidende Rolle in der Schlacht bei El Alamain gespielt hatten. Sie waren an Feldmarschall Montgomerys erfolgreichem Durchbruch in Rommels Linien beteiligt gewesen. Und Wilson war mittendrin gewesen in den erbitterten kämpferischen Auseinandersetzungen, die zwischen dem 23. Oktober und dem 4. November 1942 stattgefunden hatten.

Er erinnerte sich noch gut an die aufrüttelnden Worte des Befehlshabers. Worte, die jeder Zulu-Häuptling vor einer Schlacht zu seinen Kriegern gesagt haben könnte:

»Als ich das Kommando über die 8. Armee übernommen habe, habe ich gesagt, dass es unser erklärtes Ziel sei, Rommel und seine Armee zu schlagen, und dass wir das tun würden, sobald wir bereit dazu seien.

Nun sind wir bereit.

Die Schlacht, die in Kürze beginnen wird, wird eine der entscheidenden Schlachten der Geschichte sein. Es wird der Wendepunkt des Krieges sein. Die Augen der ganzen Welt werden auf uns gerichtet sein und aufmerksam verfolgen, in welche Richtung sich der Kampf bewegen wird.

Wir können ihnen die Antwort sofort geben. Er wird sich zu unseren Gunsten bewegen.«

Und der entscheidende Schlusssatz:

»Und möge kein Mann aufgeben, solange er unverletzt ist und kämpfen kann.«

Es war eine Rhetorik, die Wilson verstanden hatte und auf die er mit dem heißen Blut seiner Vorfahren, das in seinen Adern floss, angesprungen war. Und nun war er wieder zu Hause, hoch dekoriert, ein Held, ein Mann, der sein eigenes Leben für die Weißen aufs Spiel gesetzt hatte, und man sagte ihm, er sei nicht gut genug, um mit ihnen im selben Eisenbahnwaggon zu sitzen. Und das Schlimmste daran war, dass es auch noch ein Schwarzer gewesen war, der dies gesagt hatte.

Als Wilson zu seinem Abteil gegangen war, hatte er gesehen, dass der einzige andere Fahrgast im Wagen ein Weißer in der Uniform eines britischen Fliegers gewesen war. Nach seinem Aussehen zu urteilen, hatte er ebenfalls einiges durchgemacht. Als er an dem Abteil vorbeigekommen war, in dem der weiße Mann zusammengesunken gesessen hatte, hatte Wilson sich auf eine Auseinandersetzung vorbereitet, aber sie war nicht gekommen. Der Mann hatte ihn nur stirnrunzelnd angesehen und dann weggeschaut.

Als der Zug aus dem Bahnhof fuhr, vergaß Wilson den weißen Mann. Er vergaß die Worte des Fahrscheinverkäufers und die des Schaffners. Sein Ärger richtete sich gegen keinen der beiden. Sein Ärger richtete sich vielmehr gegen sich selbst und gegen sein eigenes Volk. Denn ihm war inzwischen klar geworden, dass er benutzt worden war, kalt und skrupellos. Er war nicht mehr gewesen als ein Mittel zum Zweck. Die Tatsache, dass er fünf Jahre Trennung von seiner Frau Nandi ertragen hatte, die mit ihrem zweiten Kind schwanger gewesen war, als er in den Krieg gezogen war; dass er in Nordafrika verwundet und dann, einige Monate später, beinahe getötet worden war bei dem Versuch, einen weißen Unteroffizier zu retten, der in heftigen Beschuss geraten war; dass er die Nachricht erhalten hatte, dass sein zweites Kind tot geboren worden war ... das alles war denen, die von ihm verlangt hatten, sich zum Waffendienst zu verpflichten, völlig gleichgültig. »In den nächsten Jahren«, hatten sie ihm gesagt, »werden wir Männer wie Sie brauchen. Männer, die wissen, wie die Weißen denken.«

Und so war Wilson der Armee beigetreten, hatte Seite an Seite mit weißen Südafrikanern gekämpft. Er war gut genug, um für sein Land zu sterben, aber nicht gut genug, um mit seinen Landsleuten zusammen zu essen, zu schlafen und sich auszuruhen. Sobald sich die Nachricht seiner Anwesenheit herumgesprochen hatte, hatten ihn selbst die, die sich als liberale Denker bezeichneten, links liegen gelassen. Was ihm nicht geholfen hatte, denn schließlich wollte er lernen, wie die Weißen dachten – eine irrwitzige Idee des Afrikanischen Nationalkongresses.

Verstand er nun, wie die Weißen dachten? Nein. Nicht mehr jedenfalls, als ein Weißer je verstehen würde, wie ein Schwarzer dachte. Es war ein Spielchen, das sie miteinander trieben. Ein Hin und Her. Gib ein bisschen und nimm sofort etwas zurück. Nichts war wirklich eine Lösung. Nur gerade so viel, um das Täuschungsmanöver aufrechtzuerhalten. Ein Spiel mit Worten. Ein Spiel voller Misstrauen. Ein Spiel, das seine Wurzeln im Verrat und der Habgier vergangener Zeiten hatte, die so tiefe Keile zwischen Schwarze und Weiße getrieben hatte, dass Wilson bezweifelte, dass sie je überwunden werden konnten.

Das größtmögliche Maß an Verständnis hatte er erreicht, als er sich zusammen mit dem Unteroffizier, dem er das Leben gerettet hatte, betrunken hatte. »Was Sie getan haben, war unglaublich mutig«, hatte der Unteroffizier zu ihm gesagt.

»Zulu sind mutig«, hatte Wilson nüchtern geantwortet. »Dafür können sie nichts.«

Der Unteroffizier hatte gelächelt. »Gott sei Dank«, hatte er leise gesagt. Und dann ernsthaft hinzugefügt: »Ich hätte das für Sie nicht getan.«

»Ich weiß«, hatte Wilson geantwortet.

Ihre Blicke hatten sich getroffen, und in diesem Moment hatten beide Männer gewusst, dass sie die Schranken der Wahrheit kurz durchbrochen hatten. Und beide hatten sich unverzüglich auf sichereren Boden zurückgezogen – Boden, der ihnen vertraut und angenehm war.

Wilson hatte erwartet, dass der Kampf gegen die Unterdrückung in Südafrika größere Fortschritte gemacht hätte. Schließlich waren so viele Weiße des Landes fort gewesen, um für König und Vaterland zu kämpfen. Andere Weiße wiederum, denen man nachgesagt hatte, mit Deutschland zu sympathisieren, waren in Lagern inhaftiert gewesen. Doch stattdessen hatte es Rückschritte gegeben. Und das war es, was ihn so ärgerte. Es erfüllte ihn mit einer ungeheuren Enttäuschung, die ihm das Gefühl der Hilflosigkeit gab und ihn sehr bedrückte.

Er war bereits seit drei Monaten wieder in Südafrika, aber während dieser ganzen Zeit hatte man ihm nicht erlaubt, in den Norden zu reisen, um Nandi und seinen Sohn zu sehen. Als Mitglied des African National Congress, als Mann, den der ANC als potenziellen Streiter für seine Sache betrachtete, musste Wilson in diesen unsicheren Zeiten greifbar sein. Sie hatten seine zahlreichen Gesuche, nach Hause fahren zu können, notfalls nur für ein paar Tage, abgelehnt. Jan Smuts, hatten sie ihm gesagt, würde über kurz oder lang seines Amtes enthoben. An seine Stelle sollte eine Gruppe von Nationalisten rücken, die wild entschlossen waren, ihre rassistische Überzeugung von der Überlegenheit der Buren zu realisieren und ein geprügeltes Volk aus den Trümmern auferstehen zu lassen.

Wilson wusste ein wenig über die Unzufriedenheit der Buren. Er wusste, dass sie einen heftigen Groll hegten gegen die britischen Versuche, Südafrika zu kolonisieren. Er wusste auch, dass sie fürchteten, von einer schwarzen Mehrheit erdrückt zu werden, die sie für unterlegen hielten, selbst in den Augen Gottes. Still und heimlich hatten die Buren sich und ihre Sache in Position gebracht. Inspiriert durch Hitlers Nationalsozialismus, sahen sie in der Idee einer Rassenideologie eine geeignete Methode, um die Mehrheit der Bevölkerung in den Griff zu bekommen.

Wie so viele radikale Veränderungen begann die Bewegung zu eskalieren, bis sie eine Eigendynamik bekommen hatte und nicht mehr zu stoppen war. Die Geschwindigkeit, mit der der Nationalismus der Buren an Einfluss gewann, hatte den ANC völlig unvorbereitet getroffen. Man hatte sich davon einlullen lassen, dass Jan Smuts und seine Vereinigte Partei den Willen demonstriert hatten, sich die Belange der Schwarzen zumindest anzuhören.

Wilson war rasch zu dem Schluss gekommen, dass der Afrikanische Nationalkongress ohnmächtig geworden war. Die ursprünglichen Ideale, Stammes- und Rassenunterschiede zugunsten aller Menschen zu überwinden, waren gescheitert und in einen Mischmasch aus Stammesfehden, Führungsschwäche und fehlende politische Orientierung gemündet. Entmutigt und angewidert hatte Wilson dem ANC den Rücken gekehrt.

Mit größter Anstrengung gelang es Wilson, seinen Unmut zu bezähmen. Er fuhr nach Hause. Nach Hause zu Nandi, nach Hause zu Dyson, dem Sohn, den er fünf Jahre nicht gesehen hatte, der ein zweijähriges Kleinkind gewesen war, als er damals fortgegangen war. Seine Züge wurden weicher. Mein Sohn! Er würde noch mehr Söhne haben, viel mehr. Und Mädchen auch. Ein Mann brauchte Töchter, die sich mit um die Männer der Familie kümmerten und einen Brautpreis von mehreren Stück Vieh einbrachten. Er fuhr in seiner Uniform nach Hause, weil er stolz auf seine Auszeichnungen war. Wieso auch nicht? Er hatte sich gut geschlagen, und er kehrte, wie die Krieger früher, im Triumph nach Hause zurück.

Wie Dyson inzwischen wohl aussah? Wie Wilson, nicht groß, dafür aber kräftig gebaut, mit einer Haut, die die Farbe von poliertem Mahagoni hatte, einer Hakennase und ausgeprägten Wangenknochen, die seinem Gesicht etwas Stolzes und Habichtartiges gaben? Oder kam er mehr auf seine Mutter – klein, der Inbegriff blanken Goldes, Haut, die sich anfühlte wie die Daunenfedern eines Vogels, und duftete wie die Brise, die vom Meer hereinwehte? Hatte sein Sohn Nandis zierliche Nase und den großen Mund?

Als er an Nandi dachte, spürte Wilson plötzlich, dass er eine Erektion bekam. Es war lange her, seit er mit einer Frau zusammengelegen hatte.

Nandi. Die Süße. Als er ihren Namen erfahren hatte, hatte Wilson gleich gewusst, dass sie von edler Herkunft war. Die Nandi, nach der sie benannt worden war, war die Mutter von Shaka, dem ersten König der Zulu und dem Mann, der dafür verantwortlich gewesen war, dass die vielen Clans zu einem Königreich vereint wurden. Wilson selbst trug den königlichen Namen Mpande; er war der dritte König der Zulu und ein Halbbruder von Shaka. Als er ihren Namen erfahren hatte, hatte Wilson zunächst befürchtet, es wäre ihm und Nandi gar nicht gestattet zu heiraten. Aber ihre Familie hatte zwar königliche Verbindungen, sie entstammte aber einem anderen Clan und war zu weit entfernt von Wilsons Familie, um Probleme zu bereiten.

Er erinnerte sich noch daran, wie er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Er hatte sofort gewusst, dass sie die Richtige für ihn war. Ihr kurzes Haar und das schlichte Kopfband hatten ihm signalisiert, dass sie unverheiratet war und nicht zu seinem eigenen Clan gehörte. Wenn sie Wilson ebenfalls bemerkt hatte, gab sie dies nicht zu erkennen. Sie war mit anderen unterwegs, um am Fluss Wasser zu holen, und Wilson, der ihr Dorf besucht hatte, um einem Onkel seine Aufwartung zu machen, war sofort nach Hause zurückgekehrt und hatte seine Schwestern gebeten, Erkundigungen einzuholen.

»Ihr Name ist Nandi«, hatten sie ihm berichtet. »Sie ist nicht interessiert. Sie nennt dich einen Hund.«

Wilson fühlte sich ermutigt. Nandi hätte ihn nicht beleidigt, und sie hätte auch ihren Namen nicht preisgegeben, wenn sie nicht doch ein wenig interessiert wäre. »Geht und redet noch einmal mit ihr.«

Drei quälende Monate lang stellte Nandi sich stur. Wilson musste sich langsam und mit größter Vorsicht auf dem Minenfeld ihrer Schwestern und Freundinnen herantasten. Ehe er sich auf Nandi konzentrieren konnte, musste er erst diese anderen davon überzeugen, dass er einen guten Ehemann abgeben würde. Er verbrachte viel Zeit mit ihnen, plaudernd, lachend, sie unterhaltend. Dabei war Nandi immer gegenwärtig, aber nie anwesend. Dann verkündeten seine Schwestern ihm eines Tages: »Wir haben mit Nandis Schwestern gesprochen. Sie ist vielleicht doch ein bisschen interessiert.«

Ein Treffen zwischen Nandi und Wilson wurde organisiert. Wie üblich, waren ihre gesamten Freundinnen und Verwandten dabei. Wilson kam allein, trug ein Kopfband aus Otterleder und einen neuen Ledergürtel mit vorn und hinten herabhängenden Fellstücken. Dieses Treffen war ganz anders gewesen als alles, was er zuvor erlebt hatte. Dieses Mal stellte man ihm eine Reihe spezieller Fragen. Würde er seine Frau schlagen? Nur wenn sie faul oder ungehorsam wäre. Würde er häufig bei ihr liegen und wäre sie seine Frau Nummer eins? Er würde so oft bei ihr liegen, wie sie es wünschte, und sie wäre seine Lieblingsfrau. Würde er ihr ein schönes, strohgedecktes Heim bereiten, auf das sie stolz sein konnte? Er würde für sie das schönstmögliche Haus bereiten. Die Fragen prasselten auf ihn nieder. Nandi saß mit dem Rücken zu ihm und tat so, als würde sie seine Antworten nicht hören. Dabei lauschte sie sehr aufmerksam. Wilson konnte das an ihrer angestrengten Haltung erkennen.

Schließlich schwieg die Gruppe. Für Wilson war der Augenblick der Wahrheit gekommen. Sie ließ ihn warten. Wilson konnte sich noch gut an das Gefühl von Angst und Aufregung erinnern, das in seinem Magen wütete. Die Spannung innerhalb der kleinen Gruppe stieg, während alle auf Nandis Antwort warteten. Sie regte sich, erhob sich langsam und stand lange mit dem Rücken zu ihm nur da, ehe sie sich endlich umdrehte. Wilsons Herz schlug wild, als er die Verlobungsperlen in ihren Händen sah. Als sie die Perlen über seinen Kopf legte, versuchte er ihr tief in die Augen zu schauen. Aber Nandi wich scheu seinem Blick aus.

Wilson kehrte nach Hause zurück und hisste die weiße Flagge, um allen zu signalisieren, dass er sich bald eine Frau nehmen würde. Er kam sich weltgewandt und wichtig vor, als er am nächsten Tag Nandi besuchte, um mit dem Werberitual zu beginnen. Ihre Brüder empfingen ihn, wie er es erwartet hatte, und sie verprügelten ihn anständig und jagten ihn dann fort. Drei Wochen lang weigerte Nandi sich jedes Mal, ihn zu empfangen, wenn er sie besuchte, weigerte sich auch, mit ihm nach Hause zu gehen, und seine Brüder jagten ihn fort. Nach jenem ersten Besuch sorgte Wilson dafür, dass sie ihn nie mehr einfangen konnten. Die Liebe verlieh ihm Flügel; er fühlte sich stark und schnell und lief jauchzend und hüpfend in sein eigenes Dorf zurück. Ihren Stöcken blieb er von nun an wohlweislich fern.

Das alles gehörte mit zum Spiel. Wilson wusste das. Er konnte den Prozess nicht beschleunigen und wartete ungeduldig auf den Tag, an dem er und seine Brüder Nandi entführen und in der Hütte seiner Mutter gefangen nehmen würden. Als es so weit war, weinte Nandi und jammerte und flehte, bis Wilsons Mutter zu seinem Vater ging und ihm sagte: »Unser Sohn hat etwas Böses getan. Du musst zu Nandis Eltern gehen und die Sache in Ordnung bringen.«

Wilsons Vater schimpfte über die Unbesonnenheit seines Sohnes, Nandi entführt zu haben, und beklagte sich, weil er nun zur Wiedergutmachung eine Kuh zusätzlich als Brautpreis an Nandis Familie zahlen musste. Es kam zu weiteren Verzögerungen, als sein Vater die lobola berechnete, ein schwieriger Balanceakt, bei dem die Bedeutung von Nandis Familie ebenso bewertet werden musste wie der Status von Wilsons Familie und beide Seiten gleichermaßen zufrieden gestellt sowie davon überzeugt werden mussten, einen guten Handel getätigt zu haben. Zu wenig zu bieten, wäre eine Beleidigung, ein zu hohes Angebot könnte bei Nandis Familie den Verdacht erwecken, mit Wilson wäre etwas nicht in Ordnung.

Während Wilsons Vater die Angelegenheit weiter verzögerte, entsandte Nandis Familie eine Abordnung junger Männer, um die Braut zu befreien und nach Hause zurückzuholen. Wilsons Brüder erwarteten sie und ließen sich, obwohl sie in der Überzahl waren, auf einen Stockkampf ein. Auch dabei war höchste Vorsicht geboten. Auf beiden Seiten durfte es zu keinem Gesichtsverlust kommen, was viel Geschick und Disziplin erforderte. Ein paar leichte Verletzungen wurden geduldet, aber ein gespaltener Schädel konnte zu ernsthaften Spannungen zwischen den beiden Familien führen. Das Gleiche galt auch für den Fall, wenn die eine Familie das Gefühl hätte, die andere würde sich mit Absicht zurückhalten.

Während Wilson vor Ungeduld brannte, führten beide Elternpaare die Verhandlungen über den Brautpreis und versuchten, zwischen Wilsons und Nandis Brüdern Frieden zu schließen. Dann endlich kam der wunderbare Tag, an dem alle übereinstimmend der Meinung waren, dass eine Heirat zwischen Wilson und Nandi eine gute Sache wäre, und sie mit ihren Tontöpfen und Schlafdecken, gefolgt vom Tross ihrer Schwestern und Freundinnen, zu seinem Kral kam. Während des Hochzeitsfests wurden die Töpfe Nandis feierlich zerbrochen, um die Verbindungen zu ihrer eigenen Familie zu kappen.

Die Hochzeitszeremonie dauerte drei Tage. Nandi verbrachte die meiste Zeit damit, in Wilsons Hütte zu sitzen, das Gesicht bedeckt von einem mit Perlen verzierten Kopfschmuck, als Zeichen des Respekts gegenüber Wilson und den übrigen männlichen Mitgliedern seiner Familie. Die Gäste tranken Bier, aßen verschiedene eigens für das Fest zubereitete Speisen, machten Musik und tanzten.

In der dritten Nacht ging Wilson, als alle anderen fort waren, zu Nandi in die Hütte. Sie bekämpfte ihn wie eine Wildkatze. Enttäuscht und frustriert beklagte Wilson sich am nächsten Morgen bei seinem Vater. »Als ich sie aus der Nähe gesehen habe, habe ich Narben auf ihrer Brust entdeckt. Sie muss eine Krankheit gehabt haben. Wir sind von ihren Eltern betrogen worden. Du musst zu ihnen gehen und eine Kuh zurückfordern.«

Die Verhandlungen über Nandi und ihren Preis wurden noch mehrere Wochen fortgesetzt. In dieser ganzen Zeit weigerte sie sich, sich mit ihm hinzulegen. Nach außen tat Wilson ungeduldig und frustriert, und seine Freunde zogen ihn unbarmherzig auf. In Wahrheit ging es Wilson sehr gut. Er war sehr stolz auf seine junge Braut. So gern er mit ihr gelegen hätte, er wäre schockiert gewesen, wenn sie sich anders verhalten hätte. Jeden Abend ging er zu ihrer Schlafmatte. Jeden Abend verließ er sie wieder, schimpfend und fluchend, dass er und seine Familie betrogen worden seien.

Am Ende gab Nandis Familie eine Kuh zurück. Es war das Zeichen, dass sie ihrer Tochter gestatteten, ihren Mann in ihr Bett zu lassen. Als sie an diesem Abend zu ihm kam, zitternd vor Angst und Begierde, und er endlich die lang ersehnte Befriedigung bekam, drückte er sie fest an sich und sagte ihr, wie sehr er sie liebte. Sie küssten sich nicht; der Mund war zum Essen da – ihn abzulecken war etwas Schmutziges. Aber Wilson hielt Nandi eng umschlungen und flüsterte ihr zu, wie stolz er auf sie wäre, und er legte sich erneut auf sie und nahm sie sanft und sehr vorsichtig, damit sie wusste, dass er immer gut auf sie aufpassen würde.

Seufzend verdrängte Wilson seinen Tagtraum. Bald würde er Nandi wieder in den Armen halten können.

Der weiße Mann ging an seinem Abteil vorbei zur Toilette. Er war erschreckend mager und schleppte sich über den Gang wie jemand, der noch vor kurzem unter großen Schmerzen gelitten hatte. Er hielt den Körper nach vorn gebeugt, dabei hielt er einen Arm fest an die Seite gepresst, als würde es ihm Qualen bereiten, ihn zu bewegen. Sicher ist er im Krieg verwundet worden, dachte Wilson.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?« Joe King war über seine Frage selbst mindestens ebenso überrascht wie Wilson. Eigentlich hatte er vorgehabt, zu seinem Platz zurückzukehren, aber im allerletzten Augenblick erschien ihm die Vorstellung, wieder mit seinen Erinnerungen allein zu sein, unerträglich. Das und die Tatsache, dass seine Whiskyflasche leer war. Dieser Schwarze war besser als niemand. Außerdem interessierten ihn die vielen Orden.

»Wollen Sie mich jetzt auffordern, den Wagen zu verlassen?«

Joe nahm die Frage ernst. »Ich denke nicht.«

Wilson nahm seine Füße vom gegenüberliegenden Sitz, und Joe setzte sich. Er sah den Zulu an, der zurückstarrte. Plötzlich war Joe froh, wieder zu Hause zu sein. Als er diesen Schwarzen sah, der seinen Blick mit der ganzen stolzen Würde der Zulu-Tradition erwiderte, merkte Joe, wie sehr er seine Heimat vermisst hatte. Afrika war ein Land voller Gegensätze. Dieser Mann war ein Teil davon. Trotz seiner Uniform strahlten seine Augen in dem habichtähnlichen Gesicht so viel ... so viel ... – angestrengt suchte Joe nach dem richtigen Wort – ... Zulu aus. Das war es. Pures Zulu. Es gab auf der ganzen Welt keine andere Rasse, die ihr vergleichbar wäre. »Ich vermute, Sie waren im Westen, in der Wüste. Haben Sie dort viel mitbekommen?«

»Mehr als mir lieb war.«

Der Mann sprach perfektes Englisch. »Wie sind Sie zur Armee gekommen?«