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Vom Autor des SPIEGEL-Bestsellers »Der Buchspazierer« — ein inspirierender und lebenskluger Roman über die wichtigste Geschichte unseres Lebens. Unsere eigene. Warmherzig, poetisch und klug erzählt SPIEGEL-Bestsellerautor Carsten Henn in »Sonnenaufgang Nr. 5« vom Geheimnis eines guten Lebens, von der Macht der Erinnerung und dem Geschenk der Freundschaft. Leben wir tatsächlich zweimal? Erst in der Wirklichkeit und dann in der Erinnerung? Der 19-jährige Jonas hat mit beidem Probleme: dem Leben und der Erinnerung. Sein Germanistikstudium hat er gerade geschmissen, und der Konfrontation mit seiner schmerzhaften Vergangenheit weicht er aus. Stattdessen will er als Ghostwriter anderen helfen, ihre Lebensgeschichten festzuhalten. Seine erste Klientin ist die exzentrische alte Filmdiva Stella, die in ihrer Autobiografie ihr Leben glücklich und erfüllt darstellen will. So als hätte sie nur richtige Entscheidungen getroffen. Gemeinsam lernen die beiden, dass man jeden Tag so leben muss, als sei es der letzte. Damit man ein Leben führt, das unvergesslich ist. Wie schon in seinem von Lesern geliebten und von der Presse gefeierten Erfolgsroman »Der Buchspazierer« - erfolgreich verfilmt mit Christoph Maria Herbst in der Titelrolle - legt Carsten Henn mit »Sonnenaufgang Nr. 5« einen Roman für die Seele vor, anrührend und unvergesslich - und das ideale Buch für alle Bücherliebhaber:innen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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Das Zitat von Søren Kierkegaard stammt aus: Die Tagebücher. Deutsch v. Theodor Haecker, Innsbruck, 1923
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Cover & Impressum
Widmung
Zitat
Prolog
1
Eine Stimme im Bus
2
Die Bibliothek der Zettel
3
Altweibersommer
4
Ein erfülltes Leben
5
Guter Junge
6
Die Farbe kommt wieder
7
Kein Grund zur Hoffnung
8
Sonnenuntergang Nr. 5
9
Der Riss
10
Das Kapitel über die Liebe
11
Worte am Meer
12
In den Norden
13
Tarte Tatin
14
Eine knarzende Treppe
15
Ein Strand voller Lichter
16
Kostenloses Gold
17
Birnen, Bohnen und Speck
18
Marlene
19
Gustaf
20
Im Dunkel
21
Alles gut
22
Chaostheorie
23
Besuch
24
Im Bauch des Wals
25
Zuhause
26
Alte Filme
27
Sturmflut
28
Die Sache mit der Wahrheit
29
Weicher Sand
30
Unvergesslich
31
Ein erfülltes Lesen
32
Die Ohrfeige
33
Nur für Paul
34
In der Krabbe
35
Eine Tür öffnet sich
Epilog
Anhang
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für alle, deren Erinnerungen manchmal schmerzen
»Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, daß das Leben rückwärts verstanden werden muß. Aber darüber vergißt man den andern Satz, daß vorwärts gelebt werden muß.«
Søren Kierkegaard
Die meisten Erinnerungen sind Souvenirs, die wir mit Freude aufpolieren – aber jeder besitzt auch solche, die in eine dunkle Abstellkammer verbannt wurden.
Stella Dor hatte ihre Erinnerungen sämtlich in Zettel verwandelt.
Beim Nippen an ihrem morgendlichen Cocktail, heute einem French 75, den sie mit Lavendelsirup veredelt hatte, erinnerte sich Stella plötzlich an etwas, das sie dazu brachte, alles stehen und liegen zu lassen.
Sie dachte zurück an einen heißen Sonntag im August.
Einen langen Spaziergang mit ihren Eltern.
Eine Wiese, über und über voll mit Lavendel.
Sie pflückte einen Strauß, so groß, dass sie ihn kaum halten konnte. Immerzu senkte sie ihre Nase in die unzähligen lilafarbenen Blüten und sog den köstlichen Duft tief ein. Zurück in ihrem Zimmer, füllte sie schnell ein Glas mit Leitungswasser und stellte die Zweige hinein. Doch schon am nächsten Morgen ließen die ersten ihre Köpfe hängen.
Von diesem Moment an presste Stella Blumen zwischen Buchdeckel. Dadurch konnte sie zwar einen Teil ihrer Schönheit konservieren, aber so gut wie nichts von ihrem Duft.
Ein Feld voller Lavendelblüten ließ sich einfach nicht verewigen. Man musste das Glück haben, es zu erleben.
Dieser Spaziergang war einer der schönsten Augenblicke ihrer Jugend gewesen. Stella schwelgte noch in dieser Erinnerung, während sie nach etwas zu schreiben Ausschau hielt. Überall in ihrem Haus hatte sie Stifte deponiert, falls überraschend eine Erinnerung anklopfte. Sie fand einen Kuli mit dem Logo eines Dachdeckers, griff schnell nach einem Kaffeefilter und schrieb raumgreifend und arabesk ein paar Worte darauf. Dass ihre Finger dabei schmerzten, gestand Stella sich nicht ein. Ihre Finger hatten nie geschmerzt, sie hatten nicht zu schmerzen, sie würden nie schmerzen.
Sommer. Wiese. Lavendel. Köpfchen hängen.
Erinnerungen brauchten nicht viele Worte, um wieder zum Auftauchen gebracht zu werden. Es mussten nur die richtigen sein. Wohin würde diese Erinnerung am besten passen? Stella entschied sich dafür, den Kaffeefilter zwischen zwei Packungen Grieß zu schieben, aber so, dass er herausschaute. Wie all die anderen Zettel, vor allem jene in Stellas Büchern.
Obwohl kein Innenarchitekt es je zugeben würde: Der schönste Einrichtungsgegenstand war ein Buch. Besser noch: viele Bücher. Aber das harte, kühle Wort Einrichtungsgegenstand wurde ihnen nicht wirklich gerecht. Die Franzosen sprachen von Ameublement. Es bedeutete zwar dasselbe, klang jedoch so viel eleganter. Wie alles auf Französisch, fand Stella und erinnerte sich nun an Paris. Viele Zettel handelten von Paris.
Das Haus, in dem diese Geschichte spielt, war voller Bücher. Da man die Wände vor lauter Büchern nicht sehen konnte, wirkte es, als hielten sie das Dach.
Nur eine Stelle blieb seit Jahren leer. Egal wie wenig Platz in den Regalen war, kein neues Buch durfte dorthin.
Dies ist die Geschichte des Buches, das schließlich diese Lücke füllen sollte.
Und der Geschichte, die es erzählt.
Auch ein gutes Boot schwankt, wenn man es betritt.
Das hatte sein Vater ihm mit auf die Reise gegeben.
Jonas murmelte den Satz, als er aus dem Bus stieg und den rot gepflasterten Bürgersteig betrat, auf dem Sand lag wie Zucker auf einem Kuchen. Er hatte den Satz schon gemurmelt, als er in seiner Heimatstadt in den ICE gestiegen war, dann wieder, als er im Fernbus Platz nahm, und schließlich beim Einsteigen in den nahezu leeren Kleinbus, der ihn durchs flache Land hierhin geschaukelt hatte. In diesen winzigen Ort am Meer, dessen Namen kaum jemand kannte. Und von den wenigen, die ihn kannten, sprachen die meisten ihn falsch aus. Jonas hatte die korrekte Sprechweise erstmals gehört, als beim Öffnen der Türen der Name auf Platt angesagt wurde.
Die Luft hier war voller Jod und Möwenschreien und schlug über Jonas zusammen wie eine große Welle. Sie einzuatmen, fühlte sich ein wenig an, als würde er Salzwasser trinken.
Nervös zog Jonas an seiner Kleidung. Nie schien sie ihm richtig zu passen, egal, wie sehr er daran herumnestelte und sie auf seinen hageren einen Meter achtundachtzig Körpergröße platzierte. Jetzt, mit neunzehn Jahren, kam es ihm vor, als wäre das für jeden so ersichtlich wie eine blinkende Neonreklame.
Allerdings war hier niemand außer einer alten Frau, die in ihrem edlen dunkelgrünen Kostüm samt Hut aussah, als wäre sie auf dem Weg zu einer Hochzeit. Sie saß auf dem linken der drei überdachten Hartplastiksitze neben dem Haltestellenschild und lächelte.
Jonas ließ seinen Blick über den Küstenort gleiten, der für die nächsten zwei Wochen sein Zuhause sein sollte. Dies musste der zentrale Platz sein, gesäumt von einem beflaggten Rathaus, einer leicht schiefen Kirche samt goldener Wetterkogge auf der Turmspitze, einer Bäckerei, die auch Strandspielzeug verkaufte, und einem griechischen Restaurant namens Dionysos (obwohl Poseidon doch passender gewesen wäre). Ein weißer hölzerner Pier ragte ins Meer, an dessen Anfang eine Imbissbude stand und an dessen Ende ein achteckiger weißer Pavillon thronte, die einzige Sehenswürdigkeit hier.
Der Ort wirkte auf Jonas wie eine Modellbaustadt, und es hätte ihn nicht gewundert, wenn jetzt eine Märklin-Lok hindurchgefahren wäre.
Jonas wusste in diesem Moment nicht, dass die Frau, deren zweiundsiebzig Lebensjahre er in ein Buch verwandeln sollte, nur einen Kilometer entfernt in westlicher Richtung lebte. Er wusste auch nicht, dass in der Bude Grootmoders Köök an der Promenade eine junge Frau in seinem Alter namens Nessa hinter der Theke stand, mit der er Freundschaft schließen würde. Und erst recht wusste er in diesem Moment nicht, dass Sonnenuntergänge Nummern haben konnten. Aber in zwei Wochen konnte sich sehr viel ändern. Wenn es die richtigen zwei Wochen waren.
Um in Ruhe auf Google Maps nach seinem Weg zu suchen, setzte Jonas sich neben die alte Frau. Sie lächelte selig vor sich hin. Einfach ins Nirgendwo.
Ob mit ihr alles in Ordnung war? Jonas sprach nur äußerst ungern Fremde an, weil stets die Gefahr bestand, dass sie etwas Befremdliches sagten.
Aber etwas schien mit dieser Frau nicht zu stimmen. Vielleicht etwas Gutes, vielleicht aber auch etwas Unangenehmes.
Jonas fasste sich ein Herz. »Alles gut bei Ihnen?«
Die Frau blickte zu ihm, als erwache sie aus einem Tagtraum. »Alles bestens.«
»Warten Sie auf jemanden?«
Förmlich reichte die alte Dame ihm die Hand. »Hallo, ich bin Bentje, und ich warte auf meinen Mann.«
»Jonas«, antwortete er ein wenig überrumpelt. »Kommt Ihr Mann mit dem nächsten Bus?«
Ihr Lächeln wurde noch strahlender. »Robert kommt mit jedem Bus. Jeden Tag.«
Jonas öffnete die Vordertasche seines Rucksacks und holte die Zellophantüte mit den Walnüssen heraus. Er hatte vor Kurzem gelesen, dass ihr Genuss glücklich machte. Viele waren nicht mehr übrig, aber die verwirrte Frau neben ihm schien sie dringender zu brauchen.
»Hier, die sind gut.«
Als Bentje die offene Tüte mit Nüssen sah, leuchteten ihre Augen.
»Das ist aber nett von Ihnen. Sehe ich denn so hungrig aus?«
»Nein, aber Sie … also …«
Bentje legte eine Hand auf die seine. »Sie fragen sich, warum ich hier sitze, in meinem besten Sonntagsstaat, aber nicht in den Bus eingestiegen bin? Und vielleicht denken Sie sogar, dass etwas mit mir nicht stimmt, oder?«
»Das würde ich nie …«
Sie drückte Jonas’ Hand. »Vielleicht stimmt auch etwas nicht mit mir. Ganz bestimmt stimmt etwas nicht mit mir. Ich habe meinen Mann verloren, mit dem ich dreiundvierzig Jahre verheiratet war. Wobei … Verloren ist das falsche Wort, oder? Etwas Verlorenes kann man wiederfinden. Aber er ist fort, er ist …«, sie atmete tief durch, »… gestorben. Warum ist es nur so schwer, das auszusprechen?«
»Das tut mir sehr leid.« Obwohl Jonas wusste, dass Nüsse bei so etwas überhaupt nicht halfen, hielt er der alten Dame nochmals die Tüte hin.
Lächelnd schüttelte Bentje den Kopf.
Jonas schwieg. Manchmal brauchte es Stille, um sie mit Worten füllen zu können. Je schwerer die Worte, desto mehr Stille benötigten sie.
»Ich erzähle Ihnen, warum ich gesagt habe, dass mein Mann mit jedem Bus kommt. Eigentlich ist es ganz einfach: weil ich dann seine Stimme höre. Ich schließe die Augen, und für einen kurzen glücklichen Moment fühlt es sich an, als würde er noch leben und sich gleich neben mich setzen.«
Jonas blickte dorthin, wo eben noch der Bus gestanden hatte. »Die Ansage vom Band?«
»Ja, mein Robert hat sie eingesprochen. Er hat alle Haltestellen dieser Linie eingesprochen, aber die anderen Aufnahmen wurden mittlerweile ersetzt. Nur die hier im Ort nicht, da spricht immer noch er. Jeden Tag halten hier zwei Busse, und wenn mein Robert ankommt, warte ich schon auf ihn. Bei Wind und Wetter. Ich bin für ihn da. Und er für mich.«
Jonas packte die unangerührte Tüte Walnüsse wieder ein und strich der alten Dame sanft über den Arm. »Das finde ich wunderschön.«
Bentje wischte sich eine kleine Träne aus dem Augenwinkel. »Und ich finde es schön, dass Sie sich zu mir gesetzt haben. Was führt Sie denn außerhalb der Saison in unser Örtchen?«
»Ich bin auf dem Weg zu einer Frau namens Stella Dor, sie …«
»Ich weiß, wer Stella ist. Jeder hier weiß das. Sie ist schließlich unsere Bardot. Eine berühmte Schauspielerin wie sie lässt uns alle gleich ein bisschen mondäner wirken. Obwohl man sie leider nicht oft sieht.« Mit nonchalanter Eleganz richtete Bentje ihren Hut.
»Wie ist sie so?«
»Ich mag sie sehr. Eine starke Frau, selbstbewusst, lässt sich nichts sagen.«
»Klingt, als gäbe es da ein Aber?«
»Sie haben gute Ohren!« Bentje schmunzelte. Ihr Finger zeigte auf das größte Gebäude am Platz. »Das ist unser Rathaus. Da wurde zu Stellas siebzigstem Geburtstag ein Empfang gegeben. Mit allerhand herausgeputzten Ehrengästen, dem Shantychor aus dem Nachbarort, sogar der Schützenverein war da, um Salven abzufeuern. Sie sollte zur Ehrenbürgerin ernannt werden und sich ins Goldene Buch eintragen.«
»Aber?«
»Was denken Sie?«
»Sie tauchte nicht auf?«
»O doch. Stella rauschte heran, nahm die Ehrung entgegen und hielt dann ihre Dankesrede. Sie bestand aus fünf Wörtern: Das hat ganz schön gedauert.« Bentje kicherte. »Ist hier zum geflügelten Wort geworden.«
»Sie ist also schwierig? Arrogant? Egozentrisch?«
»Sie ist eine Diva durch und durch. Einen Fuchs kritisiert man ja auch nicht dafür, dass er Hühner stiehlt. Allerdings ist sie ein ganz besonderes Exemplar von Fuchs. Aber das wissen Sie sicher.«
»Was meinen Sie?«
»Na, dass sie vor einem Vierteljahrhundert von einem Tag auf den anderen aufhörte, Filme zu drehen. Dabei war sie damals gerade für eine große Produktion der Bavaria verpflichtet worden. Einen Grund dafür hat sie nie genannt, obwohl die Presse kein anderes Thema kannte.« Bentje sah wieder auf ihre Armbanduhr. »Es dauert leider noch etwas, bis er wieder kommt. Aber Robert ist immer sehr pünktlich.«
Jonas stand auf, schulterte den Rucksack und strich sich die Haare beiseite, die ihm die Meeresbrise ins Gesicht geweht hatte.
»Dann mache ich mich mal auf den Weg.«
»Gehen Sie dahinten beim Kinderspielplatz am rot-weißen Kletterleuchtturm rechts. Dann einfach dem Pfad in den Dünen folgen, und irgendwann kommen Sie bei Stella an. Sie werden ihr Haus erkennen, glauben Sie mir.«
»Danke. Und grüßen Sie Ihren Mann!«
»Das werde ich tun. Und Sie lassen sich von Stella nicht einschüchtern.«
Jonas schüttelte den Kopf. »Ganz bestimmt nicht.«
Doch in Wahrheit war er bereits jetzt eingeschüchtert. Das Boot, das er betreten hatte, schaukelte bedrohlich.
Links von ihm rauschte das Meer in großen Wellen an den Strand, rechts wiegte sich das Dünengras sanft im Wind. Es war einer dieser grauen Herbsttage ohne Horizont, an denen Ozean und Himmel ineinander übergingen. Als ein Tanker über die unsichtbare Linie nach Westen fuhr, sah es aus, als schwebe das tonnenschwere Ungetüm.
Bis auf wenige Spaziergänger, einige davon mit vergnügten Hunden, war der Strand leer und nirgends ein Haus zu sehen.
Sand lag in solcher Menge auf dem Dünenweg, dass man den Beton darunter weder sah noch spürte. Die lange Anreise steckte Jonas in den Knochen, und sein Rucksack schien mit jedem Schritt schwerer zu werden. Da die Landschaft sich kaum veränderte, fühlte es sich zudem an, als käme er nicht von der Stelle.
Er blieb stehen.
Setzte sich dann in den kalten Sand und zog seine Visitenkarte aus der Hosentasche. An den Rändern war das dicke Papier zerknickt, aber der hellblau geprägte Slogan stand in einer verlässlichen Serifenschrift unversehrt in der Mitte.
Jedes Leben ist es wert, erzählt zu werden.
Legen Sie Ihres vertrauensvoll in unsere Hände.
Wir lassen es zu einem Buch werden.
Jonas Engelbaum & sein Team
Natürlich gab es kein Team. Höchstens seinen Vater, der manchmal etwas zur Post brachte, weil diese auf dem Weg zu seinem kleinen Restaurant lag. Aber mit Team klang es nicht nur besser, es fühlte sich auch besser an. Als wäre er nicht allein bei diesem Versuch, mit Schreiben seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Jonas strich so vorsichtig über die Visitenkarte, als wäre sie ein zerbrechliches Schutzamulett.
Eigentlich stand noch mehr auf der Karte, unsichtbar zwischen den Zeilen. Ein Leben, das es wert war, erzählt zu werden, war eines, das es wert war, gelebt worden zu sein.
Jonas hatte über viele Leben gelesen, nicht zuletzt in seinem Germanistikstudium, auf das er sich so gefreut hatte. Ein neues Kapitel, ein noch unbeschriebenes Blatt im Buch seines Lebens. Und der wichtigste Schritt auf dem Weg zum Schriftsteller. Aber dann lernte er nur, wie man Texte auseinandernahm, als seien sie Motoren. Das war faszinierend und klug, aber er wollte mehr über den Funken wissen, der die Geschichten überhaupt erst zum Laufen brachte, und vor allem darüber, wie er ihn in sich entzünden konnte. Während seine Freunde ihr BWL-Studium durchzogen, eine Ausbildung zum Mechatroniker (was immer das auch sein mochte) oder ein Freiwilliges Soziales Jahr beim Kinderschutzbund absolvierten, war er deshalb nun im Nirgendwo auf dem sandigen Weg zu einer exzentrischen Diva.
Stella Dor war die Erste, die auf die Anzeige in der Tageszeitung geantwortet hatte, für die Jonas extra ein Porträtfoto von sich hatte schießen lassen, auf dem er freundlich lächelte (was ihm auf Zuruf immer schwerfiel, selbst wenn er Cheese oder Prinzessin sagte). Dabei lebte Stella gar nicht in der Stadt. Aber früher einmal, weshalb sie ihr Abonnement behalten hatte. Jonas hatte nicht damit gerechnet, für einen Auftrag so weit fortzumüssen, aber sein Vater hatte ihn zu diesem verflixten Versprechen gedrängt: Der erste Kunde wird auf jeden Fall angenommen! Falls Jonas scheiterte, würde er seinem Vater in dessen Restaurant für südfranzösische Küche aushelfen, denn es mangelte sehr an Mitarbeitern. Zwar würde sein Cousin dort die Ausbildung beginnen, aber erst nach dem Abitur in einem Jahr.
Jonas steckte die Visitenkarte in den Sand, bis sie aussah wie ein kleines Segel, und malte mit der Fingerspitze den Rumpf eines Schiffes darum.
Die Jonas 1.
Oder besser die Jonas 9 ¾, weil er als Kind so gerne Harry Potter gelesen hatte. Bei der Erinnerung musste er lächeln. Es erschien ihm, als wäre vieles von dem Jungen, der er einst gewesen war, verschwunden, aber der Traum vom Schreiben hatte die Jahre und Hormonstürme überstanden.
Eine Stimme vom Strand riss ihn aus seinen Gedanken.
»Mona, nicht zu nah ans Wasser!«
»Aber Mama!«, antwortete eine hohe Kinderstimme. »Das ist total unfair!«
»Jetzt mach, was ich gesagt hab.«
»Warum?«
»Ich hab keine Wechselkleidung für dich dabei.«
Jonas verstand Mona so gut – aber auch ihre Mutter.
Der Wind griff ihm mit kalten Fingern in den Kragen und packte seine Ohren. Er konnte hier nicht sitzen bleiben und sich vom Sand zudecken lassen, er musste weiter.
Als er wieder stand und die Körner von der Kleidung gewischt hatte, spürte Jonas das Vibrieren seines Handys in der Jackentasche. Er konnte sich denken, wer es war, blickte aber trotzdem auf das Display.
Sein Vater.
Das siebte Mal heute schon.
Wie alle Male zuvor nahm Jonas das Gespräch nicht an.
Es ging seinem Vater um etwas Wichtiges.
Etwas sehr Schweres.
Jonas war schon einige Schritte gegangen, als er noch mal zurückging, um die Visitenkarte aus dem Sand zu ziehen.
Das kleine Segel musste ihn noch an gefährliche Gestade bringen.
Der kleine Ort besaß drei Strandpavillons auf Holzpfählen, alle nach Köstlichkeiten des Meeres benannt. Der Goldene Hering, Die Auster und Die Krabbe.
Die Krabbe war zuletzt gebaut worden, als viele Feriengäste schon einen der beiden anderen Pavillons zu ihrem Lieblingsplatz auserkoren hatten. Zudem lag sie am weitesten vom Ortskern entfernt. Und aufgrund eines Dünenausläufers begannen die Schatten beim Sonnenuntergang hier zuerst zu fallen.
Von Anfang an war sie nicht rentabel, weshalb die Gemeindeverwaltung irgendwann beschloss, sie zu veräußern. Man hoffte auf eine private Surfschule, ein Tauchzentrum, vielleicht einen hippen Strandclub, aber es fand sich kein Käufer. Bis Stella Dor plötzlich mit der Idee einer Künstlerkolonie auftauchte. Die Verwaltung erwartete Freilichttheater, Kunstausstellungen und Musikfeste.
Für den symbolischen Kaufpreis von einem Euro erhielt Stella Dor die Krabbe.
Dann stellte sich heraus, was sie unter Künstlerkolonie verstand.
Eine Kolonie von genau einer Person. Es gab keine einzige Theateraufführung, keine Malerei, kein Fest. Nur ein konstantes Thema für die Lokalpresse.
Stella Dor errichtete einen Holzzaun um ihr Grundstück und stellte gelbe Warnschilder auf. Vorsicht! Bissiger Hund! Betreten auf eigene Gefahr!
Es war eines dieser Schilder, das Jonas als Erstes ins Auge fiel, als er sich der Krabbe näherte. Ein zähnefletschender Hund sprang einem Mann an die Kehle.
Einladend.
Am Zaun gab es keine Glocke oder Klingel, nur ein Gatter. »Hallo? Frau Dor?«
Keine Antwort. Stattdessen setzte lautes Hundegebell ein.
»Wir haben einen Termin.« Jonas hatte sich noch nie so geschäftsmäßig gefühlt. »Bitte lassen Sie den Hund nicht auf mich los!«
Jonas mochte Hunde. Aber er mochte es nicht, wenn Hunde ihn nicht mochten.
Das Bellen wurde aggressiver.
Was sollte er tun? Noch lauter rufen? Das Gatter öffnen?
Er entschied sich für beides. »Ich komme jetzt rein, okay?«
Er ließ das Gatter offen stehen, falls er schnell zurückrennen musste.
Eine knarzende Holztreppe führte empor zum Eingang, über dem noch immer der Neonschriftzug Die Krabbe montiert war, allerdings unbeleuchtet. Der Hund wütete direkt hinter der Tür, knurrte immer heftiger.
Jonas klopfte. Klopfte lauter. Schlug mit der flachen Hand dagegen.
Das Kläffen wurde nicht leiser, nein, es stoppte von einem Moment auf den anderen. Mitten im Gebell. Schritte auf den Holzbohlen waren zu hören. Ein Räuspern. Ein tiefes Einatmen. Noch eines. Dann wurde die Tür weit geöffnet.
Stella Dor strahlte ihn an.
Sie war eine echte Erscheinung. Gekleidet in ein perfekt sitzendes Chanel-Kostüm mit Bolerojacke. Auf ihren perlgrauen Haaren ein lackschwarzer Fascinator mit Federn.
So hätte sie einen Oscar entgegennehmen können.
»Herr Engelbaum, wie schön, Sie zu sehen! Ich freue mich so, Sie endlich persönlich kennenzulernen! Treten Sie doch ein.«
Jonas blickte sich vergeblich nach dem Hund um. Dann fand sein Gehirn die Lösung für den fehlenden Vierbeiner: alles fake. Ein Hund vom Band.
Er reichte Stella Dor die Hand. »Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Es ist wirklich eine Riesenehre, dass ich Sie beim Verfassen Ihrer Autobiografie unterstützen darf.«
Okay, das war schleimig, aber es war auch die Wahrheit.
Stella winkte elegant ab. »Jungchen, Sie sind ganz reizend. Aber Sie müssen mir keinen Honig ums Maul schmieren, das klebt doch nur. Die Zeit, in der es eine Ehre war, mich bei irgendetwas zu unterstützen, ist Jahrzehnte her. Und jetzt rein mit Ihnen, sonst kommt zu viel Sand zu Besuch.«
Man merkte den beiden ineinander übergehenden großen Zimmern an, dass sie ursprünglich als Gasträume gedacht gewesen waren. Im hinteren stand noch ein großer Tresen, der zu einer Kücheninsel umgebaut worden war. Daneben befand sich eine Tür mit einem Schild, das eine männliche und eine weibliche Figur zeigte, die ihrer Handhaltung zufolge ein dringendes Bedürfnis hatten.
Hier also wohnte Stella Dor. Bekannt aus Filmen wie Der erste Walzer, Der Würger von Schloss Dartmoor und vor allem Ein Frühling, den man nie vergisst. Filmplakate oder Auszeichnungen suchte Jonas jedoch vergeblich.
So hell der Pavillon von außen erschien, so dunkel war er im Inneren. Was an all den Büchern lag. Sämtliche Wände waren mit Regalen verkleidet, sogar die tragenden Säulen waren komplett von Büchern umgeben, zwischen deren Seiten Zettel in verschiedenen Farben hervorlugten.
Stella Dor bemerkte Jonas’ Blick. »Meine Bibliothek der Zettel«, sagte sie mit einem Schmunzeln. »Wird sehr nützlich sein für unser Vorhaben!«
Jonas stellte seinen Rucksack auf einem Stuhl am Esstisch ab und zog vorsichtig ein in Packpapier eingeschlagenes Buch hervor, um das ordentlich eine Kordel gebunden war. »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht. Ein Buchhändler, der mich während eines Praktikums betreut hat, sagte immer, dass es für jeden das richtige Werk gibt. Vielleicht ist das hier ja was für Sie. Wir kennen uns noch nicht, deshalb ist es ein Schuss ins Blaue, aber …« Jonas überreichte es mit einem zaghaften Lächeln.
»Vielen Dank! Wie überaus reizend von Ihnen.« Zuerst sah es aus, als würde Stella Dor das Geschenk achtlos auf eine Kommode legen, doch dann lächelte auch sie und riss es auf.
»Der alte Mann und das Meer. Das ist ja äußerst charmant.«
»Haben Sie es schon?«
»Nein. Warum sollte ich?«
»Da bin ich froh. Ich hab’s selbst nicht gelesen, aber es soll ein Meisterwerk sein. Und weil Sie am Meer leben und schon äl…«
»Ihre Motivation ist mir vollkommen klar. Nochmals vielen Dank.«
Mit einem Knall warf sie es auf die Kommode.
Der alte Mann und sein Meer würden hier wohl einen schweren Stand haben.
Stella Dor ging zum Tresen. Das heißt, sie ging nicht, sie stolzierte über die Bohlen des Pavillons wie über einen roten Teppich.
»Ich habe extra eine Schwarzwälder Kirsch für Sie gebacken.«
»Das ist total nett von Ihnen.«
Mit gesenkter Stimme, damit Jonas sie nicht verstehen konnte, murmelte Stella: »Warum muss heutzutage immer alles total oder voll oder irre sein? Wo ist das gute alte sehr bloß hin?« Als sie mitsamt Torte den großen hölzernen Esstisch erreichte, den ein Schreiner aus vier ehemaligen Schiffsplanken (von Piraten- oder Wikingerbooten, wie Stella hoffte) geschreinert hatte, schaltete sie ihr Lächeln wieder ein. Der Tisch war erstmals seit Jahrzehnten festlich mit Porzellan und Silberbesteck eingedeckt, die weiße Tischdecke gestärkt und gebügelt. »Setzen Sie sich doch bitte.«
Sie stellte die Schwarzwälder Kirsch mit so großer Geste ab, als handelte es sich um ein Fabergé-Ei.
Ein wenig eingeschüchtert zog Jonas den Stuhl zurück und nahm Platz. Dank der Lebensweisheiten des alten Buchhändlers wusste er, wie viel man durch ihre Büchersammlung über Menschen erfuhr. Sie war ein äußerst intimes Geständnis, ohne dass sich die Besitzer dessen bewusst waren.
»Wie haben Sie Ihre Bücher sortiert?«, fragte Jonas ganz beiläufig. »Alphabetisch?«
»Wie bourgeois wäre das denn?«
»Aber nach der Farbe der Buchrücken auch nicht …«
»Nein. Selbstverständlich nach Glück und Unglück. Vom glücklichsten Leben bis zum unglücklichsten. Es gibt allerdings ein paar Autobiografien, bei denen sich die Verfasser unsicher sind, wie ihr Leben zu bewerten ist. Die stehen zwischen den Fenstern.«
»Sind das etwa alles Autobiografien?«
»Nur wahres Leben lohnt sich zu lesen.«
Das war dann wohl der Dolchstoß für Der alte Mann und das Meer.
Stella Dor schnitt die Torte an. »Das erste Stück ist natürlich für meinen Gast.«
Jetzt erkannte Jonas die Schwarzwälder Kirsch wieder. Es hatte sie immer bei seinen Großeltern gegeben. Sie war aus dem Kühlregal.
»Die sieht ja … großartig aus.«
»Nicht wahr? Ich kann seit jeher famos backen. Aber für mich allein mache ich mir nur noch selten die Mühe. Ach, was rede ich, nie. Bei einer Autobiografie soll man ja immer offen und ehrlich sein, nicht wahr? Dann können wir damit direkt beim Kapitel ›Kochen und Backen‹ beginnen.« Sie lachte.
Jonas kam sich vor, als säße er in einem Theatersaal und bewunderte die Hauptdarstellerin einer leichten Komödie. Er fühlte den Drang zu applaudieren, widerstand ihm aber.
Stella Dor servierte ihm formvollendet ein großes Stück der Torte und tat sich selbst ein deutlich schmaleres auf. Als sie Jonas’ überraschten Blick bemerkte, erklärte sie: »Ich achte immer noch auf meine Linie, obwohl ich nicht mehr für meine Filmkarriere in Form bleiben muss. Aber alte Gewohnheiten wird man schwer wieder los.«
Der vertraute Geschmack der Schwarzwälder Kirsch gab Jonas das Gefühl von Zuhause – obwohl sie noch nicht richtig aufgetaut war, was Stella Dor nicht zu bemerken schien.
»Schmeckt köstlich!«
»Vielen Dank! Ach, ich habe ganz vergessen, Kaffee auf den Tisch zu stellen. Sie trinken doch schon welchen? Mit viel Milch und Zucker?«
»Hätten Sie vielleicht auch einen Tee?«
Stella Dors Lächeln schien für einen kurzen Moment in sich zusammenzufallen, aber sie bekam sich gleich wieder unter Kontrolle.
So jung, dachte Stella, er ist so unglaublich jung. Die Bewegungen noch tapsig wie bei einem Hundewelpen, seine Worte noch so gestelzt. Sie musste sich zurückhalten, ihm die Haare glatt zu streichen oder, besser, gleich ordentlich zu schneiden. Derart unordentlich sprossen sie auf seinem Kopf und bedeckten sogar die Ohren.
Stella hatte vergessen, wie jung man sein konnte.
Ein unfertiges Wesen aus einer ihr fremd gewordenen Welt.
Was konnte dieser Jonas schon vom Leben wissen? Es hatte ihn vielleicht schon gezwickt, wie es jeden in der Kindheit testweise malträtierte, ihm ein Bein gestellt, aber hatte ihn sicher noch nicht so zu Fall gebracht, dass er sich etwas brach, was nie wieder ganz verheilte.
Es kostete Stella Kraft, ihr Lächeln aufrechtzuerhalten.
Sie hatte so lange nicht mehr gelächelt, dass es fast ein wenig schmerzte. Das Leben hatte ihr in den letzten Jahrzehnten leider wenig Grund zum Lächeln gegeben. Sie hatte aber auch nicht nach einem Grund gesucht.
Als sie es eben vor dem Spiegel geübt hatte, spannte es zuerst ein wenig, doch dann hatten sich ihre Muskeln daran erinnert, wie angenehm es war, das Leben trotz allem anzulächeln.
Auf dieses Treffen hatte Stella sich lange vorbereitet.
Schließlich ging es um ihr Leben.
Sie war seit Ewigkeiten erstmals wieder beim Friseur gewesen, allerdings nicht im Ort, denn dann wurde sofort getuschelt, sondern in der nächstgelegenen Stadt. Dort hatte sie auch ihr Kostüm in die Reinigung gegeben. Das einzige, das noch so perfekt aussah, wie es sich für einen Star gehörte.
In ihrem Drehbuch für diesen Tag hatte Jonas Engelbaum allerdings Kaffee getrunken und war auch nicht so schrecklich jung gewesen.
Nun also Tee. Sie setzte Wasser auf und bereitete Pfefferminztee zu, denn einen anderen besaß sie nicht, und selbst dieser war abgelaufen. Aber konnte Tee überhaupt schlecht werden?
Mit genug Zucker würde er sicher schmecken. Das war wie mit Butter beim Kochen.
»Hier, Jungchen.« Sie stellte die Tasse vor ihm auf den Tisch, nahm elegant auf ihrem Stuhl Platz und schlug die Beine übereinander. Dabei zwickte das eng sitzende Kostüm an etlichen Stellen.
»Wie werden wir für meine Autobiografie vorgehen?«
»Selbstverständlich chronologisch. Morgen starten wir mit Geburt und Kindheit.«
Stella winkte ab. »Nein, wie furchtbar langweilig! Das passt nicht zu meinem Leben. Wir beginnen mit meinem größten Triumph! Der Moment, mit dem niemand rechnete. Nicht einmal ich selbst.«
Die Schwestern Britta und Imke Roose waren im Ort allseits bekannt. Ihre Ebbe & Flut getaufte Pension hatten sie von den Eltern übernommen, die mittlerweile auf Ibiza lebten, weil die Sonne dort häufiger vorbeischaute. Beide waren Mitte dreißig, verhielten sich aber, als wären sie vierzig Jahre älter.
Statt abends in die Disco zu gehen, häkelten sie, statt Barbecue bevorzugten sie Labskaus, statt durch Insta und TikTok zu scrollen, lösten sie Kreuzworträtsel oder beobachteten die Möwen am Strand. Jede Woche kauften sie am Montag die gleichen Waren im Supermarkt, und jeden Abend nickten sie vor dem Fernseher um kurz nach neun ein – egal, was lief. Manchmal mitten im Schusswechsel. Um dann um zwei, vier und sechs Uhr wach zu werden.
Sie kleideten sich auch entsprechend ihres gefühlten Alters. Knöchellang in Mintgrün, Flieder oder Apricot und ausnehmend gern in allen Schattierungen von Beige.