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»kreischend kommen sie über die mauer u. tauchen / hinab bis tief in den hof u. sie reißen meinen blick / nach oben immer nur der großen sonne zu …«
Die Sonne und ihr Licht stehen im Mittelpunkt von Norbert Hummelts neuen Gedichten. Denn ganz gleich, wie kunstreich der Mensch seine Welt einrichtet, ohne das Sonnenlicht ist er verloren. Sie ist das künstliche Licht der Raumstation, die den Himmel über Berlin passiert. Die Kraft, die die Natur belebt, den Blick des Betrachters lenkt. Der Klang einer Glocke, der Ruf der Ringeltaube reißen ihn aus einer Starre, wecken Sehnsüchte, lassen Bilder aufsteigen, in denen Licht und Helligkeit gespeichert sind. Träume lassen sich nicht festhalten, außer in Versen – sie schwingen nach in den lebendigen Rhythmen dieser Gedichte, die einfach wie Lieder sind und doch voller Geheimnisse.
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Seitenzahl: 68
Zum Buch
Neue Gedichte von Norbert Hummelt, einem der interessantesten Lyriker unserer Zeit. Ausgezeichnet mit dem renommierten Hölty-Preis.
Der Ruf der Ringeltaube »in der stille vor der ersten bahn«, der Klang einer Glocke, das Kreisen der Mauersegler »immer nur der großen sonne zu«: Die neuen Gedichte von Norbert Hummelt feiern solche Momente, in denen sich die Dinge in einem anderen Licht zeigen und die Routinen der Wahrnehmung unterbrochen sind für einen intensiven, wenn auch flüchtigen Moment der Erkenntnis.
Zugleich lassen sich diese Gedichte als eine einzige Geschichte lesen – als Abriss einer Liebe, die mit der Freude über eine unverhoffte Begegnung beginnt und in den Schmerz immer größerer Entfernung führt. Alles ist brüchig, aber kostbar, Schönheit und Fremdheit der Natur wollen im Augenblick ihrer Gefährdung noch einmal vor Augen geführt werden.
Zum Autor
Norbert Hummelt wurde 1962 in Neuss geboren und lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für sein lyrisches Gesamtwerk wurde er 2018 mit dem angesehenen Hölty-Preis für Lyrik geehrt. Er übertrug T.S. Eliots Gedichtzyklen »Das öde Land« und »Vier Quartette« neu ins Deutsche und ist Herausgeber der Gedichte von W.B. Yeats. Bei Luchterhand erschienen seine Gedichtbände »Zeichen im Schnee« (2001), »Stille Quellen« (2004), »Totentanz« (2007), »Pans Stunde« (2011) und »Fegefeuer« (2016).
Norbert Hummelt
Sonnengesang
Gedichte
Luchterhand
Indessen laß mich wandeln Und wilde Beeren pflükenZu löschen die Liebe zu dir
Hölderlin
I
die wand
die begegnung
die überschattung
die berührung
sonnengesang
II
aufbruch
dämmerung
monsun
sirene
flieder
ankunft
pirol
zenit
die erscheinung
sonnenfinsternis
III
die erwartung
die verzauberung
levitation
zwischen uns
heute nacht
inkubus
amour fou
was ist geschehn
das haus im weinberg
es begab sich,
wilde beeren
der leere platz
der ferne berg
das schwarze kleid
die abwesenheit
IV
heimweh
unendliche fahrt
der wunsch
die lebensbäume
in memoriam
tangermünde
die wiederholung
weit hinten weit
der spiegel
V
das heiligtum
der schlaf am bach
gespräch im gehen
feldwache
malchower aue
immer gehst du . .
waldeinsamkeit
am kalten trauf
l’infinito
minusio
der geist von locarno
sukkubus
VI
ufergang
echo
trümmer
totenamt
nachtcafé
vanitas
stiller tag
wohin
angelus
Das Gedicht am kalten trauf folgt der Ballade La Belle Dame Sans Merci von John Keats, l’infinito dem gleichnamigen Gedicht von Giacomo Leopardi.
Die Gedichte dieser Sammlung sind zwischen Februar 2016 und Juli 2019 entstanden.
die ringeltaube war es die mich weckte in der stille
vor der ersten bahn rief sie nach mir mit ihrer hohlen
stimme wie ich sie vor der weißen wand vernahm . .
noch einmal höre ich den ruf der ringeltaube noch
einmal höre ich u. bin zurück u. immer ist es sonntag
immer juni u. immer tönt der ruf der ringeltaube
u. ich starre auf die weiße mauer u. ein schweigen
ist in einem raum u. wicken ranken um ein
eisengitter u. ein kohlweißling irrt daran empor
komm zurück zu mir, kohlweißling, streif mich
noch einmal mit dem weißen kleid u. löse mich
aus meiner großen starre für eine kurze leichte zeit . .
die ringeltaube war es die mich weckte wie ich sie
vor der weißen wand vernahm rief sie nach mir mit
ihrer hohlen stimme in der stille vor der ersten bahn.
nah bei der schleuse zuckten die libellen . .
ich beugte mich über den trägen spiegel,
es war im juni an der krummen spree, u.
was ich einmal erlitten hatte, tat in diesem
moment nicht mehr weh. ich war auf sein
kommen nicht vorbereitet u. dachte, ich
kann hier am ufer gehen, ohne ihn einmal
im leben zu sehen. aber in einer blauen
sekunde in meinem vierundfünfzigsten
jahr strich er über das stehende wasser
u. war im nächsten moment nicht mehr da.
ob einer unter uns ihn nun zuerst oder wir alle
ihn zugleich gesehen hatten – der adler nahm
uns unter seinen schatten. in seinem gleiten
hielt er kurz die mitte zwischen der sonne u. uns.
der schatten, den er lautlos niederschickte, war
uns das zeichen einer seltenen gunst, die uns
der adler auf dem weg erwies – wir hatten eben
den paß überschritten u. weil die sonne schon
im mittag stand, mußten wir unsere augen schützen
u. wir sahen ihn unter der hand. einmal schlug er
noch für uns die schwingen, einmal wies er uns
noch seinen schatten – bevor er heimwärts
in die lüfte stieß u. wahllos jeden unter uns verließ.
stumm ging es abwärts durch die serpentinen.
heute rauschte es vor meinem fenster, rauschte
sehr, u. ich öffnete das fenster u. es rauschte
nur noch mehr. u. das rauschen kam von außen
kam von sehr weit her. u. es kam zu mir – es
hat mich angerauscht – sieh her – sonst war
ich nichts u. stand bis auf das rauschen leer –
rausch weiter, bleib, verlaß mich nicht! jetzt
bin ich voll von dir u. von dem rauschen schwer
u. weiß mein leben ohne rausch nicht mehr.
kreischend kommen sie über die mauer u. tauchen
hinab bis tief in den hof u. sie reißen meinen blick
nach oben immer nur der großen sonne zu . . es fährt
ein wind durch alle meine kammern u. die fenster
schlagen immer zu . . wieder will kein regen kommen
aber einmal sind wir noch zusammen . . ich vergehe
ich vergehe so alleine in der großen sonne u. sie wollen
mich hinunterreißen hin zu dem verdorrten streifen
zwischen den glühenden straßenbahngleisen tief hinunter
in die große sonne wo die mauersegler immer kreisen!
kreischend kommen sie über die dächer u. sie reißen
meinen blick nach oben immer nur der großen sonne zu.
ich sehe die schneebedeckten vogesen
jenseits des rheins
u. in der ebene kirschblüten schimmern
u. weiß nicht, ist es
ein fernes erinnern, hab ich ein leben
oder habe ich keins
ist es der ungegangene weg
hinunter u. immer
u. nie gewesen
breche ich mit den magnolien auf
unter den schneebedeckten vogesen
es ist geschehen u. war kein traum du in
dem immer dunkleren raum wie du für
mich die tarot-karten legst . . da ist der mann
wieder mit den drei stäben u. du findest
den gehängten nicht u. es kann gar keine
zukunft geben aber die amsel singt abends
ihr lied ich hörte es bei geschlossenem fenster
u. der mond ist bald wieder voll u. die wochen
gehen dahin u. ich weiß nicht was ich tuen
soll. ich glaube an die tarot-karten nicht aber
ich glaube an dein gesicht kann ich auch
deine augen kaum sehen wie dein gesicht
sich zeigt u. entzieht u. die veränderungen
geschehen aber die amsel singt abends ihr lied . .
u. du erscheinst im indischen gewand u. zeigst mir
die schlupfwespen, wie sie verschwinden in stein-
plattenritzen, in kratern aus sand . . du zeigst mir
dinge, die ich niemals sah, auch die aprilsonne muß
dir gehorchen, u. jede raupe will auf deine hand.
ich höre dich sagen: wußtest du schon, es stehen
zwei götterbäume im hof! ich wage einzuwerfen
u. zu widersprechen, ich hielt diese bäume immer
für eschen, doch du lächelst bloß . . denn was ich
sonst für welkes laub ansah, sind die propellerflügel
der früchte, überständig aus dem alten jahr. nie
kam ein winterwind u. riß sie ab, solange ich sie
angesehen hab . . wie soll ich es tragen, daß du alles
verstehst u. mit dem indischen wind wieder gehst?
den ersten mauersegler hast du rufen hören . . doch
mußt du deshalb meinen frieden stören? ich saß
am fenster u. ich schaute lange den blanken himmel
an u. sah sie nicht u. dachte schon daß sie dies jahr
nicht kommen . . vom stummen frühling hab ich
auch gehört, der kommen wird . . ich habe den
goldregen blühen gesehen u. habe nicht sehr viel
dabei gespürt. nun aber meldest du dich u. erteilst
bericht: ›sie kommen wieder kurz bevor ich gehe‹
das ist der grund weswegen ich hier stehe an einem
tag, der ohne wolken ist. wie hätte ich es wissen
sollen, daß du mich nicht vor den sirenen schützt,
weil du am ende selber eine bist? denn es ist jetzt, daß
ich sie stürzen sehe u. an der mauer ihren schattenriß.