Sonnenkönige - Marianne Jungmaier - E-Book

Sonnenkönige E-Book

Marianne Jungmaier

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Beschreibung

Aidan ist ein Getriebener. Zusammen mit seinen Freunden verliert er sich in Drogen, Fetisch und Partys – immer auf der Suche nach Ekstase, nach Freiheit, nach sich selbst. Doch Aidan ist auch ein Träumer. Im Keller seines Wohnhauses baut er seit Monaten an einem Drachen aus Holz, den er bei Favilla, einem Festival in der Wüste Nevadas, verbrennen will. Als sich unerwartet neue Türen öffnen – eine Festanstellung im Verlagshaus, eine Zusage für sein Drachenprojekt in Favilla –, verebbt Aidans Beziehung zu Hannah. Und als er auch noch Bill begegnet, zu dem er sich magisch hingezogen fühlt, muss er Stellung beziehen. Marianne Jungmaier zeigt in ihrem Roman eine neue literarische Facette und taucht in eine bunte Welt der Illusionen und Träume ein. Zwischen Zuständen des Rauschs und den Rhythmen elektronischer Musik dringen aber auch die leisen Töne durch – jene der Verlorenen, die nach ihrer Mitte suchen. "Über uns, in den Ästen, flimmerten Kreise und Ellipsen, rot und violett, glänzten silbern und golden, schwebten nach oben und verschwanden im Nachthimmel."

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Marianne Jungmaier

Sonnenkönige

Roman

Alle Figuren und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen und Ereignissen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.

Die Arbeit an diesem Roman wurde dankenswerterweise durch ein Werkstipendium des Deutschen Literaturfonds e.V. und ein Projektstipendium des Bundeskanzleramts Österreich, Abt. Literatur, gefördert.

Teile entstanden während eines Aufenthalts in der Villa Stonborough-Wittgenstein des Landes Oberösterreich in Gmunden.

www.kremayr-scheriau.at

eISBN 978-3-218-01113-6

Copyright © 2018 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Schutzumschlaggestaltung: Christine Fischer

Unter Verwendung zweier Grafiken von shutterstock.com/Andrey Kuzmin (Ticket) und shutterstock.com/agsandrew (Wolken)

Lektorat: Tanja Raich

Satz und typografische Gestaltung: Ekke Wolf, typic.at

Here’s to the misfits.

Rob Siltanen

Inhalt

I. BERLIN

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

Kapitel 11.

Kapitel 12.

Kapitel 13.

Kapitel 14.

Kapitel 15.

Kapitel 16.

Kapitel 17.

Kapitel 18.

II. SAN FRANCISCO – FAVILLA

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

1.

Wir hatten den ganzen Vormittag Sex gehabt, waren dazwischen eingeschlafen, hatten Pizza bestellt und dann wieder Sex gehabt. Hannah gähnte und zündete sich am Fenster eine Zigarette an, den Rauch auf die Spatzen im Baum blasend, sie flogen in die Dämmerung davon. Sie saß mit dem Rücken zu mir und schaute hinaus, ihr weißes T-Shirt warf eine Falte an der Schulter, ich sah ihre helle Haut darunter schimmern. Manchmal fragte ich mich, was diese schöne Frau mit mir wollte.

Mir war nicht danach, mit jemandem zu sprechen, und ihr auch nicht. Ich starrte auf den weißen Papierball, der von der Decke hing. Mein Kopf fühlte sich an, als drücke jemand eine überdimensionale Zange gegen die Schläfen. Ich war erschöpft. Ich hatte mir richtig Mühe gegeben, Fingereinsatz, Stellungswechsel, hatte sie an den Haaren gezogen, ans Bett gebunden, so wie sie das mochte, aber jetzt war ich völlig alle. Ich hatte eine Fünfzig-Stunden-Woche hinter mir. Einen ganzen Tag lang Sex zu haben, war anstrengend.

Es klopfte.

Wir riefen zugleich: Ja?

Sam steckte den Kopf durch den Türspalt, sie hielt eine Flasche Wein hoch.

— Chardonnay und Film?

Hannah schnippte die Zigarette aus dem Fenster, schlüpfte in meine Jogginghose und band ihre Haare zusammen. Sie ging zu meinem Regal und fuhr mit dem Finger über die Buchrücken.

— Sag stopp.

— Stopp.

Sie griff nach dem nächsten Buch und zog es heraus.

— Alice im Spiegelland. Ich geb’s dir wieder.

Sie steckte es in ihre Tasche und setzte sich zu mir ans Bett.

— Ich fühl mich so encoñada.

— Was heißt das?

— Coña heißt Vagina auf Spanisch. Zu viel Sex. Findest du nicht?

Sie grinste.

— Doch.

Sie legte ihren Kopf auf meine Brust. Ich küsste ihre Schlangenhaare, setzte mich auf und schlüpfte in ein Paar Leggings, das neben dem Bett lag, es war ein Durcheinander aus ihrer und meiner Kleidung.

Als ich das Fenster schloss, sah ich, dass die Spatzen zurückgekehrt waren, sie hielten die Köpfchen schief und schauten mich an. Ich folgte Hannah in den Gang. Seit die Garderobe zusammengebrochen war, wurde der Berg aus Schuhen und Staub immer höher.

— Ich geh noch schnell pinkeln, sagte ich und bog ins Badezimmer ab.

Ich klappte den Deckel hoch und hielt meinen Schwanz über die Kloschüssel. Ich dachte an Hannahs Gesicht, wenn sie kam, wie sich ihr Mund dabei öffnete, doch nie ein Schrei herauskam, immer nur verhaltenes Stöhnen und dann an den Keller, an die letzten Bauchschuppen meines Drachens, die ich jetzt schleifen könnte.

Zwei würde ich vor der Party schaffen, vielleicht auch nur eine.

Über ein paar Stühlen zwischen Badezimmer und Klo hingen unsere Jacken und die von Menschen, die zum Feiern hier gewesen waren, ein schwarzbrauner Stoffwulst mit Felltupfern. Ich sah mich kurz im Spiegel neben der Küchentür, mein Gesicht war blass, ich war unrasiert, die Haare zerzaust. Ich fühlte mich ausgekotzt. Ich trat in das angenehme, indirekte Licht des Wohnzimmers, das machte es besser.

Auf dem Couchtisch stand die Weinflasche, daneben ein paar Gläser und eine Schüssel mit Schokokeksen. Hannah saß neben Cherry, den Kopf auf ihrer Schulter, sie schauten gemeinsam auf das Tablet.

— Was wollen wir sehen?, fragte Cherry. Vampire Diaries Staffel vier, True Blood Staffel fünf, Prinzessin Mononoke, Chihiros Reise, Wo die Wilden Kerle wohnen … wartet …

— Etwas aus den Achtzigern, sagte ich und setzte mich neben Hannah. Ich legte meine Hand auf ihr Knie. Sie reagierte nicht.

— Aber mit Vampiren, sagte Cherry, einmal die Woche brauche ich ein Creature Feature.

— Aber nicht länger als zwei Stunden, sagte Sam, wenn wir nachher noch zu dieser Party wollen.

Sie hatte sich in die äußerste Ecke der Couch zurückgezogen und rollte sich einen Joint.

— Glaubst du wirklich, wir werden heute noch rausgehen?, fragte ich.

— Ich hab uns extra auf die Gästeliste setzen lassen, sagte Cherry. Außerdem waren wir seit Wochen bei keiner Playparty mehr.

— Wie wäre es mit Lost Boys?, schlug Hannah vor.

— Ist das aus den Achtzigern?, fragte ich.

— Du kennst Lost Boys nicht?, fragte sie und schüttelte den Kopf.

Ein paar braune Strähnen lösten sich und fielen über ihre Schulter. Ich dachte an Medusa und fragte mich, warum ich Hannah nicht von dieser schlangenhaarigen Gestalt trennen konnte. Sie blieb mir fern, in ihrer rätselhaften Schönheit, blieb immer eine Armlänge entfernt.

Ich nahm mir eine Zigarette von der Packung auf dem Tisch und dachte an das Portal. Wenn Nico da war, ihm gehörte der Fetisch-Club, waren sie und Cherry oft so überspannt.

Ich stand auf und ging ans Fenster, es würde sich schon zeigen, ob wir nach dem Film noch Lust auf Bondage und Spanking haben würden.

Ich rauchte, während es sich die drei auf der Couch gemütlich machten. Ich sah Schatten in Menschenformen in den Fenstern der Nachbarn, den Umriss eines Kopfes mit Dreadlocks. In einem Stockwerk flackerte ein Fernseher, in anderen sah ich bloß Streifen aus Licht. Es erinnerte mich an diese Fernsehserie aus den Neunzigern, in deren Vorspann eine Kamera an einem Haus ohne Außenwände vorbeifliegt, der Name fiel mir nicht mehr ein. Für einen Augenblick wollte ich wissen, was in den Zimmern meiner Nachbarn vor sich ging, doch dann fiel mir ein, dass es Menschen gab, die ihre Kinder schlugen oder anschrien, oder Schlimmeres, und ich wollte es nicht mehr wissen.

Ich warf die Kippe in ein altes Marmeladeglas. Unser Wohnzimmer war darauf ausgerichtet, reichlich Entspannung zu gewährleisten. Gleich nach meinem Einzug hatten wir eine drei Meter lange und zwei Meter breite Couch gekauft, außerdem hatten wir einen Gummibaum, eine Glücksfeder und eine Arekapalme von einem Nachbarn geerbt und einen persischen Teppich von Sams Vater.

Über diesem hing von einem massiven Karabiner Cherrys silberner Bondage-Ring, an drei kunstvoll verknoteten Seilen – in ihrer Einzimmerwohnung am Hermannplatz gab es dafür keinen Raum, sie übte bei uns.

An der Wand hinter dem Fernseher hing eine große, mit schwarzen und goldenen Strichen übersäte Leinwand, die Sam eines Abends vor dem Haus gefunden hatte, auf einem Tischchen davor die Nachbildung einer Statue der ugaritischen Himmels- und Meeresgöttin Astarte, drei Schlangen in jeder Hand, sie war mein stolzer Besitz.

Ich hatte die Statue auf dem Mauerflohmarkt gefunden, es war einer der ersten Hannah-Sonntage gewesen, sie hatte mich gefragt, was ich mit dieser hässlichen Figur wollte, und ich ihr erklärt, dass ich seit meiner Jugend alles sammelte, was mit Drachen oder Schlangengöttern zu tun habe.

Die meisten Wochenenden verbrachten wir seither gemeinsam – nun, zurzeit waren die Dinge ein wenig abgekühlt, ins Stocken geraten, ich wusste eigentlich nicht so genau, warum.

Wovon ich Hannah nichts erzählt hatte, war ein Traum, der seit meiner Kindheit wiederkehrte. Darin sitze ich mit Granny auf einer steinernen Bank, bei Sonnenuntergang. Am Himmel taucht ein weißer Drache auf, seine Schwingen wirbeln Erde und Gras auf, er landet vor mir. Der wird mich fressen, denke ich, und erst im letzten Moment meiner Panik verstehe ich, dass er zu meinem Schutz gekommen ist.

Sam sagte, dass dieser Drache mit meinem Reptiliengehirn zusammenhinge, dass mich mein Instinkt wahrscheinlich vor meiner Großmutter warnen wollte, vielleicht sogar vor meinem eigenen weiblichen Anteil, oder meiner Anima, aber ich hielt das ehrlich gesagt für einen ziemlichen Blödsinn. Drachen waren im kollektiven Unterbewusstsein der Menschheit verankert, sie standen für vieles, bestimmt aber für die eigene Macht, es war nicht ungewöhnlich, von einem Drachen zu träumen.

Hannah legte ihre Beine auf meinen Schoß, beugte sich vor und küsste mich, und dann flüsterte sie: Ich liebe dich. Ich schaute sie an, ich war überrascht. Ich dich auch, sagte ich, was hätte ich denn sonst sagen sollen. Ich empfand plötzlich ein starkes Gefühl der Vertrautheit zu ihr. Es war das Gegenteil jener Distanz, die ich seit einiger Zeit spürte, von jenem physischen und verbalen Sicherheitsabstand, den ich in meinen Beziehungen oft einnahm. Ich nahm sie in den Arm und drückte sie an mich.

Während Cherry die Verbindung zwischen Tablet und Bildschirm herstellte und einen Streaming-Dienst auswählte, dachte ich an meine vorherigen Beziehungen – Felix, oder Silvia, meine italienische Freundin, damals, als ich noch allein drüben in Neukölln gewohnt hatte.

Diese Menschen waren zwischen all den verwirrenden Gedanken und Gefühlen in mir eine Bereicherung gewesen. Dennoch hatte ich es nicht geschafft, meine Beziehungen im Guten zu beenden. Felix wohnte drei Straßen entfernt, er grüßte mich nicht einmal, wenn wir uns auf der Straße sahen. Mir graute so sehr davor, von jemandem abhängig zu sein. Das war es wahrscheinlich, was mich davon abhielt, eine Beziehung zu führen, wie Sam und Cherry sie hatten – eine stabile, harmonische, innige.

Zumindest an meiner Arbeit hatte ich mich immer festhalten können. Das Schreiben war mein Trost. In all meinen Jobs hatte ich meine Liebe zu den Worten einbringen können. Mein Gefühl für das Geschriebene war wie ein Körperteil, der mich schmerzte, wenn ich ihn nicht bewegte. Ich war auch gut mit Sprachen, besonders mit Englisch, natürlich, mein Vater war Brite. Ich hatte rein äußerlich nicht viel Britisches an mir – bis auf meine roten Haare vielleicht – man hörte es mir jedenfalls nicht an, und über meinen Vater redete ich nicht.

Seit ich in die Online-Musikredaktion gewechselt hatte, konnte ich auch über Dinge schreiben, die mich interessierten: Bands, Festivals, Alben. Ich passte ganz gut dorthin. Und die Arbeit gab mir eine gewisse Sicherheit, ein bisschen Halt in dieser Stadt, die auf Sand gebaut war. Hannah und ich, wir kannten uns ja von der Arbeit, sie steckte seit Jahren in der Bildredaktion fest und musste oft nachts malochen.

Cherry kuschelte sich an Hannah, und ich rutschte ein wenig zur Seite, damit wir alle Platz hatten. Ich liebte unsere Abende auf der Couch, es war schwierig, sie nicht zu mögen.

Unser Wohnzimmer war ein Ausdruck der Familie, die wir uns geschaffen hatten, ein Bildnis unseres Zusammenlebens, es zeigte unser Bedürfnis, an einem Ort zu Hause zu sein. Es offenbarte Sams Hang zu stabilen Beziehungen und Fetisch, indem sie einen Teil des Zimmers in das Shibari-Studio ihrer Freundin verwandelt hatte, und meine Liebe zu Echsen und Übernatürlichem, in dem ich hier meine Drachentotems aufstellte.

Im Film fuhr eine Mutter mit ihren Söhnen zum Jahrmarkt, und Jim Morrison sang dazu.

People are strange, when you’re a stranger, faces look ugly, when you’re alone. When you’re strange, no one remembers your name.

Ich legte meinen Kopf an Hannahs. Sie roch nach Wolle und Haaren und ein bisschen nach Sex. Im Fernseher erkannte ich den Schauspieler Kiefer Sutherland.

Die Hauptdarsteller waren gut aussehende, junge Amerikaner und pickelige Jungs. Der Außenseiter versuchte, Freunde zu finden, er wehrte sich gegen eine überfürsorgliche, überforderte Mutter, und versuchte, zu seinem distanzierten älteren Bruder Kontakt aufzunehmen. Er wurde verprügelt, weil er anders war. Ich erkannte Parallelen zu meiner Kindheit.

Cherry wand sich aus Hannahs Umarmung, sie griff nach ihrer Tasche, zog ein Kosmetiktäschchen und ein paar Wattepads heraus, und begann, ihre Nägel zu entfärben. Ein Geruch nach Aceton breitete sich aus.

— Leute, wie wär’s mit ein bisschen Koks, fragte Cherry, sie blickte nicht von ihren Nägeln hoch. Hat jemand Lust?

— Warum nicht, sagte Hannah. Ist ja Samstag.

Sam und ich schüttelten den Kopf.

— Na dann, sagte Cherry, ruf ich mal das Kokstaxi an.

Koks war für Cherry, was für andere Koffein war. So hatte ich sie kennengelernt: auf Kokain, in einem Club, kopfüber von einem Bambusrohr hängend. An Cherry war immer schon alles bunt und laut gewesen: ihre Tätowierungen, ihr Make-up, ihre Kleidung. Sie dekorierte ihren zierlichen Körper mit Faltenröcken und Spitzenstrümpfen, ganz kawaii. Niedlich zu sein war ihre persona magica.

Ihr inneres Kind trug sie wie eine Rüstung zur Schau, man verstand sofort, wie man sich ihr gegenüber zu verhalten hatte: leichtfüßig, nachgiebig, mit geneigter Laune. Seit ich sie kannte, war Cherry lieber zu viel als zu wenig.

Jedes Jahr fuhren wir alle gemeinsam zu einem Wüstenfestival in Spanien – es hieß Favilla und war dem Feuer gewidmet, und Cherry verbrachte ihre Tage in der Wüste damit, high in ihrem mit rosarotem Plüsch ausstaffierten Zelt zu liegen und Vorbeilaufenden Obszönitäten zuzurufen. Sie hatte mehr Durchhaltevermögen als wir anderen zusammen.

Vielleicht lag es an ihrer Vergangenheit, vielleicht brachte einen Gewalt dazu, extreme Geschütze aufzufahren. Als Cherry fünfzehn war, hatte die Polizei sie und ihren Bruder von ihrem Elternhaus fortgeholt. Manche Wunden, sagte Sam, heilen nicht.

Ich erinnerte mich daran, wie ich mit ihr Koks probiert hatte. Meine Nase hatte geblutet, ich hatte ständig auf die Toilette müssen und nur noch Blödsinn geredet. Es übernahm auf eine nicht besonders inspirierte Art und Weise die Kontrolle über mein Gehirn, ich hielt es für überbewertet.

Auf dem Bildschirm hingen ein paar Jungs im Nebel von einer stählernen Brücke. Ich gab Hannah einen Kuss und stieg über die Kissen zu Sam.

Dass ich Sam gefunden hatte, war Cherry zu verdanken. Eines Abends hatte sie mich an die Theke geschleppt, wo sie mir »die heißeste Frau Berlins« vorstellen wollte. Sam fragte mich schon nach ein paar Wochen, ob ich mit ihr zusammenziehen wollte, ich konnte nicht Nein sagen, ich war bereits verliebt in sie.

Cherrys Telefon piepte nach einer Viertelstunde. Die Wohnungstür schlug zu, sie kam zurück, ein wenig außer Atem, und zog ein durchsichtiges Säckchen aus ihrer Jackentasche. Sie kniete vor dem Couchtisch nieder, streute ein Häufchen darauf, nahm eine EC-Karte und teilte es in zwei gleichförmige Streifen.

Am Bildschirm saß der Junge in einer schaumgefüllten Badewanne, etwas Gefährliches befand sich in seinem Haus. Die Szene gewann an Spannung, aber nur Sam und ich schauten hin.

— Ist das nicht zu viel für zwei?, fragte Sam mit Blick auf die beiden Streifen und dämpfte ihren Joint aus.

— Ganz oder gar nicht, sagte Cherry, schob die Ärmel ihres Pullovers nach oben, hielt sich den Strohhalm an ihr Nasenloch und zog das Pulver hoch.

Ihr Unterarm war mit Narben bedeckt. An manchen Stellen waren sie von Tätowierungen kaschiert. Cherry verdiente ihr Geld als Bondage-Model, tagsüber arbeitete sie als Mathematik-Doktorandin an der Humboldt-Uni. Sie schüttelte den Kopf, machte brrrr, und rieb sich die Nase.

Hannah griff nach dem Plastik und schaute mich an. Ihre Augen glänzten, Erwartung sprach aus ihrem Gesicht, sie sah gierig aus. Auf Koks hatte Hannah nichts mit der gemein, die ich liebte.

— Willst du teilen, Aidan?

— Nee, lass mal. BDSM und Koksen geht gar nicht.

— Klar geht das, rief Hannah.

— Lass gut sein, sagte ich, du weißt, dass ich Koks nicht mag.

— Langweiler.

— Leben und leben lassen, Darling.

— Klugscheißer.

— Nicht streiten, Kinder, sagte Sam.

— Genau, hör auf Mama.

Hannah kicherte und schnupfte den Rest.

— Dich hab ich auch gemeint, sagte Sam und schnalzte mit der Zunge.

Hannah machte ein quietschendes Geräusch und rieb sich die Nase. Für einen Moment sah ich nur das Weiß ihrer Augen. Ich schluckte meine Antwort hinunter und spürte, wie mein Hals vor Wut schmerzte. Ich trank einen Schluck Wein.

— Man darf auch Spaß haben, weißt du, Aidan.

Sie hustete. Ihre Augen tränten.

— Ja, aber dazu muss ich nicht jeden Samstag koksen.

— Leute, sagte Sam.

Hannah schnupfte noch eine Line von Cherrys Brust und tippte dann auf ihrem Telefon herum. Sie postete Fotos von sich und Cherry im Internet.

Ich hatte keine Lust, mit ihr zu streiten, aber manchmal dachte sie wirklich nicht nach. High zu sein und zu einer Playparty zu gehen, war einfach dumm. Auf Koks glaubte Hannah immer, eine Superheldin zu sein. Das war sie auch, aber nur solange jemand auf sie aufpasste.

Die Geschichte mit den Vampir-Jungs hatte sich zugespitzt. Drohnen-Sounds kamen aus den Boxen, ich sah viel Kunstblut, Nebel, weiße Laken und Theaterschminke. Cherry und Sam hatten sich zwischen uns ausgestreckt, sie knutschten rum, wie immer, wenn Cherry kokste, sie war dann maßlos erregt. Bei Hannahs Geburtstagsparty hatten die beiden unter dem Tisch gevögelt, es war uns erst aufgefallen, als jemand die Musik abgestellt hatte.

Ich stand auf und ging in die Küche.

Nach ein paar Minuten, ich hatte eine Kopfschmerztablette genommen und meine E-Mails gelesen, kam ich zurück und fand Hannah auf dem Perserteppich. Cherry saß daneben, ein Bündel Seile in der Hand. Hannah streckte die Arme nach vorne, ihre Gelenke zeigten nach oben. Sam war auf der Couch geblieben, ein Glas Wein in der Hand, der Film war stumm geschaltet. Ich blieb in der Tür stehen.

— Übt ihr schon, für später?

Ich versuchte, es wie einen Scherz klingen zu lassen, es gelang mir nicht.

— Cherry zeigt uns noch einmal einen Futomomo, sagte Sam. Ich hab den schon wieder vergessen.

Ich setzte mich neben sie auf die Couch, wo ich einen besseren Blick hatte.

Cherry legte die Arme um Hannahs Oberkörper. Mit zwei schnellen Griffen band sie ein Seil um ihre Handgelenke und fertigte einen Knoten an. Ich sah, wie Sam ihre Freundin dabei beobachtete, sie hatte einen zärtlichen Ausdruck im Gesicht. Cherry stand auf, warf das Seil durch den Ring über sich, zog es herab und Hannah durch die Hebelwirkung an den Händen hoch, bis sie auf Zehenspitzen vor uns hing. Ihre Rückseite war uns zugedreht, exponiert wie ein Geschenk.

Cherry tigerte um Hannah und überlegte. In ihrer pinken Leggings, dem silbernen Rüschenoberteil und ihrer Katzenmütze sah sie aus wie einem C. S. Lewis-Tarot entsprungen, ob Narr oder Teufel, ich konnte mich nicht entscheiden.

Ich schaute auf die Uhr, es war kurz nach elf. Ich fragte mich, was wohl aus diesem Abend werden würde.

Hannah versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Mir fiel auf, wie fern sie mir war. Hannah war immer auf extreme Erfahrungen aus, aber diese Dinge blieben im Alltag im Hintergrund, oder vielleicht nahm ich sie auch einfach nicht mehr wahr. Wie exzessiv sie an den Wochenenden Drogen nahm, dass sie sich jeder BDSM-Erfahrung hingab, egal wie grenzwertig, die vielen Favilla-Partys, zu denen sie ging, mit mir und ohne mich – all dies war ein Ausdruck ihrer Rastlosigkeit. Hannah war schon immer ein Irrlicht gewesen.

Ich dachte an diese Party in Mitte, zu der sie mich vor zwei Jahren mitgenommen hatte. Wir hatten bei ihr zu Hause Unmengen an Vodka und Absinth getrunken, und waren dann, völlig besoffen, in einem Loft irgendwo am Alex gelandet. Sie war im Badezimmer verschwunden, denn Hannah ging immer mit den Leuten ins Badezimmer, und war dann nicht mehr zu finden gewesen, damals wusste ich noch nicht, wo sie zu finden sein würde.

Oder wenn sie nach der Arbeit, um zwei Uhr morgens, zu mir kam, in mein Bett kroch und ich sie festhalten musste, weil sie Flashbacks hatte. Dann war es mir, wenn ich sie im Dämmerlicht meines Zimmers sah, als sei sie tatsächlich verloren, mir und dem Leben abhandengekommen, eine, die sich in der Wüste der gescheiterten Hoffnungen verirrt und nicht mehr gefunden hatte.

Nur einmal hatte ich tatsächlich Angst um ihr Leben gehabt. Wir waren an einem Sonntag in unserem Lieblingsclub tanzen gegangen, nur sie und ich. Wir hatten uns ein wenig Ketamin geteilt, und irgendwann war sie nicht mehr von der Toilette zurückgekommen. Ich hatte sie gesucht, überall hatte ich sie gesucht, an der Garderobe, am Kiosk, hatte die Spree träge und dunkelgrau vorbeifließen sehen, und während sich meine Gliedmaßen absonderten und Farben und Formen sich in ihre Einzelteile auflösten, war ich herumgerannt, auf der Suche nach ihr. Sie hatte bewusstlos auf einer Couch gelegen, Gesicht und Hände ganz kalt, und niemand in der Nähe, und ich hatte gedacht, es ist ernst, dabei hatte nur ihr Kreislauf schlapp gemacht.

Hannah hatte nicht verstanden, warum ich ausgetickt war, warum ich sie angeschrien hatte, ob sie sich denn nicht einmal um sich selbst kümmern konnte. Doch sie konnte nichts dafür. Hannah kam aus stabilen bürgerlichen Verhältnissen, ihre Eltern besaßen eine Stadtvilla im Wedding, sie hatte eine wohlhabende Großmutter in der Hansestadt, Hannah musste rebellieren.

Wer keine Reibungsflächen in seinem Leben hatte, schaffte sie sich selbst, das war zumindest meine Theorie. Hannah kannte das Gefühl, verlassen worden zu sein, nicht, das Gefühl, nirgends dazuzugehören, keinen Halt zu haben. Wir strebten beide danach, eine Leere in uns zu füllen, wir kamen bloß aus entgegengesetzten Richtungen.

Hannah verstand nicht, dass meine Großmutter die einzige Vertraute gewesen war, dass ich manchmal das Telefon in der Hand hielt, weil ich sie anrufen wollte, aber da war niemand mehr. Mein Vater hatte das Haus seiner Mutter vor Jahren verkauft. Das Cottage in Wiltshire gehörte längst jemand anderem. Manchmal suchte ich ihre alte Adresse auf Google Maps und schaute mir das Satellitenbild an. Ich versuchte zu erkennen, was sich geändert hatte. Ihr Garten sah immer gleich aus, zumindest aus dem Weltall.

Manchmal fantasierte Hannah auch, wie alle, die zu viele psychedelische Drogen in zu kurzen Abständen nehmen, sie zuckte und verkrampfte die Hände, faselte wirres Zeug im Schlaf. Dann deckte ich sie zu, stellte ihr eine große Flasche Wasser ans Bett und schlief auf der Couch, ich hielt es nicht aus, sie so zu sehen. Ich verstand es schon: Ich lebte meinen Märtyrerkomplex mit ihr aus, Nächstenliebe, Co-Abhängigkeit, was auch immer, ich brauchte dazu nicht Sam, mir das zu erklären.

— Alles gut bei dir, Hannah?, fragte ich.

Cherry machte eine Handbewegung, sei still, sagte sie, du verdirbst die Stimmung.

Sie setzte sich vor Hannah auf den Teppich, schaute sie lange von unten an, so als überlege sie tatsächlich, was sie jetzt mit ihr tun wollte. Sie hielt das Seil fest in der Hand, damit die Spannung nicht wich.

— Soll ich euch ein paar Grundlagen zeigen? Kommt näher, sonst seht ihr nichts.

Sam setzte sich zu den beiden auf den Boden, ich nahm ihr Weinglas.

— Also, Futomomo bedeutet fettes Bein, sagte Cherry.

Wie eine Professorin sprach sie von der Spannung, die das Seil haben müsse, damit sich der Schmerz gleichmäßig über das Bein verteile, dass es am Schienbein besonders qualvoll sei, weshalb man das Seil besser hinten, am Schenkel, anziehen solle. Sie sagte, der Futomomo sei ein effektives, einfaches Beispiel für Shibari, und dann lachte sie.

Sie verknotete das Seil zwei Handbreit über Hannahs Kopf, es handelte sich um dreifach gedrehte Juteseile, die sie selbst färbte und jede Woche in unserem Wohnzimmer aufspannte, um sie mit parfümiertem Bienenwachs zu pflegen. Sie nahm ein weiteres aus dem Bündel am Boden, entknotete es mit einer schlagenden Bewegung – so wie ein Kutscher sein Pferd antreibt – und hielt das Schlaufenende in der rechten Hand.