Sophie auf den Dächern - Katherine Rundell - E-Book
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Sophie auf den Dächern E-Book

Katherine Rundell

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Beschreibung

Seit einem Schiffsunglück im englischen Kanal ist Sophie Waise. Davon sind zumindest alle anderen überzeugt. Aber Sophie ist sich sicher, dass ihre Mutter noch lebt und folgt der einzigen Spur, die sie von ihr hat – nach Paris. Dort lernt sie Matteo kennen und eine Handvoll Kinder, die aus den unterschiedlichsten Gründen auf den Dächern von Paris leben. Eine aufregende Suche beginnt und ein unvergessliches Abenteuer nimmt seinen Lauf. Doch wird Sophie ihre Mutter auf den Dächern von Paris wirklich finden?

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Alle deutschen Rechte CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2015Originalcopyright © 2013 by Katherine RundellOriginalverlag: Faber and Faber Limited, LondonOriginaltitel: RooftoppersUmschlaggestaltung: formlaborUmschlagfotografie: istockphoto.com / © rangepuppies;shutterstock.com / © Invisible Studio; shutterstock.com / YurkalmmortalAus dem Englischen von Henning AhrensLektorat: Katja MaatschLayout und Herstellung: Gunta LauckSatz und E-Book-Erstellung: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

ISBN: 978-3-646-92776-4

Für meinen Bruder, mit Liebe

EINS

Man fand das Baby am Morgen seines ersten Geburtstags. Es trieb in einem Cellokasten mitten im Ärmelkanal.

Weit und breit war es das einzige lebende Wesen. Nur das Baby, ein paar Stühle aus dem Speisesaal und der Bug eines im Meer versinkenden Schiffes. Im Speisesaal hatte ein Orchester gespielt, und die Musik war so laut und so schön gewesen, dass niemand das über den Teppich laufende Wasser bemerkt hatte. Während der ersten Panik spielten die Geigen weiter, und die Schreie mancher Passagiere waren fast so schrill wie das hohe C.

Zum Schutz vor der Kälte hatte man das Baby in die Partitur einer Beethoven-Symphonie gewickelt. Es war schon eine gute Meile vom Schiff fortgetrieben worden und wurde deshalb zuletzt gerettet. Ein anderer überlebender Passagier hatte es aus dem Wasser gefischt. Dieser Mann war ein Gelehrter und weil es die Aufgabe eines Gelehrten ist, genau hinzuschauen, stellte er fest, dass es ein Mädchen mit einem schüchternen Lächeln war und mit Haaren so leuchtend wie ein Blitz.

Stellt euch vor, es ist Nacht und ihr hört eine leise Stimme. Stellt euch vor, der Mondschein könnte sprechen, oder stellt euch Tinte vor, Tinte mit Stimmbändern. Wenn ihr dieses Bild mit einem schmalen, aristokratischen Gesicht, scharf geschwungenen Augenbrauen und langen Armen und Beinen verseht, dann habt ihr vor Augen, was das Baby erblickte, als es aus dem Cellokasten in das Boot gehoben wurde. Sein Retter hieß Charles Maxim, und als er das Baby in seinen großen Händen hielt – mit einer Armlänge Abstand, als wäre es ein tropfender Blumentopf –, beschloss er, für das kleine Geschöpf zu sorgen.

Das Baby war mit großer Wahrscheinlichkeit ein Jahr alt. Das verriet die auf der Brust befestigte rote Papierrosette mit einer »1« darauf!

»Genau genommen gibt es zwei Möglichkeiten«, sagte Charles Maxim. »Das Kind ist entweder ein Jahr alt oder hat bei einem Wettkampf den ersten Platz belegt. Die erste Möglichkeit halte ich allerdings für wahrscheinlicher, denn Babys nehmen nur selten an Sportwettkämpfen teil.« Das Mädchen drückte mit speckigen Fingern eines seiner Ohrläppchen zusammen. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Kind«, sagte er.

Charles gab dem Baby nicht nur einen Geburtstag, sondern auch einen Namen. Er entschied sich gleich an Ort und Stelle für Sophie, weil sich an diesem Namen niemand stoßen würde. »Dein Tag war schon dramatisch und außergewöhnlich genug, Kindchen«, sagte er. »Dein Name sollte also möglichst gewöhnlich sein. Du kannst Mary, Betty oder Sophie heißen. Mildred käme auch in Frage. Du hast die Wahl.« Und weil das Baby bei dem Namen »Sophie« gelächelt hatte, stand die Sache fest. Er griff nach seinem Mantel, wickelte die Kleine darin ein und fuhr mit ihr in einer Kutsche nach Hause. Es regnete leicht, aber das störte die beiden nicht. Charles war jemand, der dem Wetter keine große Beachtung schenkte, und Sophie hatte an jenem Tag schon jede Menge Wasser überlebt.

Charles hatte so gut wie keine Erfahrung mit Kindern. Und das gestand er Sophie auf der Heimfahrt: »Ich verstehe mich besser auf Bücher als auf Menschen, fürchte ich. Bücher sind so einfach im Umgang.« Die Kutschfahrt dauerte vier Stunden; Charles setzte Sophie ganz vorn auf seine Knie und erzählte ihr aus seinem Leben, als wäre sie eine gute Bekannte bei einem Teekränzchen. Er war sechsunddreißig Jahre alt und einen Meter fünfundachtzig groß. Er sprach englisch mit Menschen und französisch mit Katzen, und mit Vögeln sprach er Latein. Er hätte sich einmal fast umgebracht, weil er versucht hatte, während des Reitens ein Buch zu lesen. »Ab jetzt bin ich vorsichtiger«, sagte er, »denn es gibt ja dich, mein kleines Cellokind.« Charles’ Haus war schön, aber nicht ganz ungefährlich; es gab viele Treppen, glatte Dielen und scharfe Kanten. »Ich kaufe ein paar niedrige Stühle«, sagte er, »und dicke rote Teppiche! Nur … wie kauft man einen Teppich? Weißt du das vielleicht, Sophie?«

Sophie antwortete nicht. Sie konnte noch nicht sprechen; und sie schlief längst.

Sie erwachte, als sie durch eine nach Bäumen und Pferdeäpfeln riechende Straße fuhren. Sophie verliebte sich auf Anhieb in das Haus. Die Backsteine waren im hellsten Weiß von ganz London gestrichen worden und leuchteten sogar im Dunkeln. Der Keller beherbergte überzählige Bücher und Gemälde und viele Spinnenarten und das Dach war das Reich der Vögel. Charles bewohnte die dazwischenliegenden Räume.

Zu Hause wurde Sophie vor dem Ofen gebadet. Danach sah sie sehr blass und zerbrechlich aus. Charles hätte nie gedacht, dass ein Baby so unglaublich winzig war. Als er Sophie in die Arme nahm, fühlte sie sich viel zu klein an. Und als jemand klopfte, war er fast erleichtert; er legte Sophie behutsam auf einen Stuhl mit einem Drama von Shakespeare als Polster und eilte mit großen Schritten zur Tür.

Er kehrte in Begleitung einer korpulenten, grauhaarigen Frau zurück. Hamlet war inzwischen etwas feucht geworden, was Sophie offenbar peinlich war. Charles schnappte sich Sophie und setzte sie – nachdem er zwischen dem Schirmständer in der Ecke und dem Küchenschrank geschwankt hatte – in die Spüle. Er lächelte, und zwar nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit den Augen und Augenbrauen. »Mach dir nichts daraus, Sophie«, sagte er. »Niemand ist gegen kleine Aussetzer gefeit.« Dann verbeugte er sich vor der Frau. »Darf ich vorstellen? Sophie, dies ist Miss Eliot, sie kommt von der Staatlichen Behörde für das Kindeswohl. Miss Eliot, dies ist Sophie, sie kommt aus dem Meer.«

Die Frau seufzte – ein Seufzer, der sich für die in der Spüle sitzende Sophie vermutlich sehr förmlich anhörte – und legte die Stirn in Falten. Sie holte frische Kleider aus einem Karton. »Geben Sie mir das Kind.«

Charles nahm ihr die Kleider ab. »Ich habe dieses Kind aus dem Meer gefischt, Madam.« Sophie sah mit großen Augen zu. »Sie hat niemanden, der für sie sorgt. Folglich untersteht sie meiner Obhut, ob ich will oder nicht.«

»Nicht für immer.«

»Wie meinen?«

»Dieses Kind ist Ihr Mündel. Nicht Ihre Tochter.« Miss Eliot war eine jener Frauen, die stets mit herrischem Unterton sprachen. Jede Wette, dass ihr Hobby darin bestand, anderen Menschen Vorschriften zu machen. »Es handelt sich um eine vorübergehende Regelung.«

»Bitte erlauben Sie mir, dem zu widersprechen«, sagte Charles. »Aber wir können später darüber diskutieren. Das Kind friert.« Er reichte Sophie eine Weste und sie begann sofort, an einem Zipfel zu lutschen. Also nahm er ihr die Weste wieder ab und zog sie ihr an. Dann wog er sie auf den Armen, als wollte er ihr Gewicht abschätzen, und betrachtete sie genau. »Sehen Sie? Ich halte sie für hochintelligent.« Er musterte Sophies lange und schmale, von Klugheit zeugende Finger. »Und ihr Haar leuchtet wie ein Blitz. Wie könnte man ihr widerstehen?«

»Ich müsste regelmäßig nach ihr schauen und meine Zeit ist knapp bemessen. Ein Mann ist einer solchen Aufgabe nicht gewachsen.«

»Sie sind jederzeit herzlich willkommen«, sagte Charles und fügte unwillkürlich hinzu: »Sofern Sie Ihre Besuche tatsächlich für unverzichtbar halten. Ich werde mich um Dankbarkeit bemühen. Aber für das Kind bin ich selbst verantwortlich. Verstehen Sie?«

»Aber es ist ein Kind! Und Sie sind ein Mann!«

»Sie haben eine wahrlich bemerkenswerte Beobachtungsgabe«, erwiderte Charles. »Ihr Optiker kann stolz auf Sie sein.«

»Aber was wollen Sie mit ihr anfangen?«

Charles zog ein verwirrtes Gesicht. »Ich werde sie lieben. Wenn ich den Gedichten glauben darf, die ich gelesen habe, ist das mehr als genug.« Charles gab Sophie einen roten Apfel; dann nahm er ihn wieder an sich und rieb ihn an seinem Ärmel, bis er sich darin gespiegelt sah. Er sagte: »Die Aufgabe, für ein Kind zu sorgen, birgt zweifellos viele dunkle Geheimnisse, aber ich bin der festen Überzeugung, dass sie nicht unlösbar sind.«

Charles setzte Sophie auf sein Knie, gab ihr den Apfel und las ihr aus Ein Sommernachtstraum vor.

Das war vielleicht nicht der perfekte Start in ein neues Leben, aber ein vielversprechender Anfang.

ZWEI

In den Büros der Staatlichen Behörde für das Kindeswohl stand ein Aktenschrank; dieser Aktenschrank enthielt eine große rote Akte mit der Aufschrift: »Vormünder: Beurteilung des Charakters«. Die rote Akte enthielt eine kleinere blaue Akte mit der Aufschrift: »Maxim, Charles«. Darin stand: »Wie bei einem Gelehrten nicht anders zu erwarten, ist C. P. Maxim ein Bücherwurm; darüber hinaus ist er großzügig, fleißig und menschenscheu. Er ist ungewöhnlich groß, aber, wie den Berichten der Ärzte zu entnehmen ist, kerngesund. Er ist der festen Überzeugung, für ein Mädchen sorgen zu können.«

Vielleicht waren Charles’ Eigenschaften ansteckend, denn Sophie wurde nicht nur groß, sondern war auch großzügig und menschenscheu und außerdem ein Bücherwurm. Im Alter von sieben Jahren waren ihre Beine so lang und so dünn wie die eines Fohlens und sie hatte viele felsenfeste Überzeugungen.

Anlässlich ihres siebten Geburtstags backte Charles einen Schokoladenkuchen, der nicht ganz gelang, weil er in der Mitte einsackte. Sophie, die treue Seele, erklärte ihn trotzdem zu ihrem Lieblingskuchen. »Denn«, sagte sie, »man kann die Mulde mit extra Zuckerstuss füllen, und viel Zuckerstuss finde ich lecker.«

»Freut mich, das zu hören«, sagte Charles. »Wenn ich mich nicht irre, heißt es allerdings Zuckerguss. Ich gratuliere dir sehr herzlich zu deinem vermutlich siebten Geburtstag, mein lieber Schatz. Wie wäre es mit etwas Shakespeare zum Geburtstag?«

Sophie hatte die Angewohnheit, Teller zu zerbrechen, und deshalb hatte Charles den Kuchen auf dem Einband von Ein Sommernachtstraum serviert. Er wischte den Einband mit einem Ärmel ab und schlug das Buch in der Mitte auf. »Magst du mir einen Abschnitt mit Titania vorlesen?«

Sophie zog ein Gesicht. »Ich wäre lieber Puck.« Sie versuchte sich an ein paar Versen, tat sich aber schwer. Sie wartete, bis Charles wegschaute, dann ließ sie das Buch auf den Fußboden fallen und machte einen Handstand darauf.

Charles lachte. »Bravo!« Er klatschte Beifall auf dem Tisch. »Du bist aus dem gleichen Holz geschnitzt wie die Elfen.«

Sophie purzelte gegen den Küchentisch, kam wieder auf die Beine und probierte es noch einmal vor der Tür.

»Großartig! Du wirst immer besser. Fast perfekt.«

»Nur fast?« Sophie kam ins Schwanken und schielte ihn von unten an. Ihre Augen begannen zu brennen, aber sie blieb kopfüber stehen. »Sind meine Beine nicht gerade?«

»Nicht ganz. Dein linkes Knie wackelt leicht. Aber kein Mensch ist vollkommen. Mit Ausnahme von Shakespeare und der ist schon lange tot.«

Sophie dachte später im Bett darüber nach. »Kein Mensch ist vollkommen«, hatte Charles gesagt, aber das stimmte nicht. Denn Charles war vollkommen. Seine Haare hatten die gleiche Farbe wie das Treppengeländer, und seine Augen strahlten etwas Magisches aus. Er hatte das Haus und alle seine Kleider von seinem Vater geerbt. Die Kleider stammten aus den teuren Schneiderläden in der Savile Row. Sie waren schön und kostbar und ganz aus Seide gewesen; inzwischen bestanden sie nur noch zu fünfzig Prozent aus Seide und zu fünfzig Prozent aus Löchern. Charles besaß keine Musikinstrumente, sang ihr aber vor. Und wenn Sophie nicht da war, sang er für die Vögel oder für die Kellerasseln, die ab und zu in die Küche krabbelten. Seine Stimme war hell und klar und wenn Sophie ihm lauschte, hatte sie das Gefühl zu fliegen.

Manchmal überfiel sie mitten in der Nacht die Angst, die das sinkende Schiff damals in ihr ausgelöst hatte, und dann hatte sie das verzweifelte Bedürfnis, auf irgendwelche Dinge zu klettern. Sie fühlte sich nur sicher, wenn sie kletterte. Charles gestattete ihr, oben auf dem Kleiderschrank zu schlafen. Er selbst schlief für den Fall der Fälle direkt davor auf dem Fußboden.

In Sophies Augen war Charles ein Rätsel. Er aß kaum etwas und schlief wenig und er lächelte seltener als andere Leute. Aber dort, wo sich bei anderen Menschen die Lunge befand, war in seinem Fall die Güte daheim und er war höflich bis in die Fingerspitzen. Wenn er gegen einen Laternenpfahl rannte, weil er wieder einmal im Gehen las, entschuldigte er sich und prüfte dann nach, ob der Laternenpfahl noch heil war.

Miss Eliot kam einmal pro Woche am Vormittag vorbei, »falls es Probleme gibt«. Sophie hätte erwidern können: »Welche Probleme?«, aber sie lernte bald, den Mund zu halten. Miss Eliot inspizierte das Haus, die in den Ecken abblätternde Farbe und die Spinnweben in der gähnend leeren Speisekammer, und schüttelte schließlich den Kopf.

»Was esst ihr eigentlich?«

Bei Sophie war das Essen zweifellos viel interessanter als bei ihren Freunden. Charles versäumte manchmal monatelang, Fleisch zu kaufen. Was Sophie betraf, so musste sie nur in die Nähe sauberer Teller kommen, und schon gingen sie in Scherben. Deshalb servierte Charles die knusprigen Pommes frites auf einem Weltatlas, der auf der Seite mit der Karte Ungarns aufgeschlagen war. Er selbst hätte ebenso gut nur von Keksen und Tee und einem Whisky vor dem Zubettgehen leben können. Sobald Sophie lesen konnte, füllte Charles den Whisky in eine Flasche, auf deren Etikett »Katzenpisse« stand, damit Sophie ihn nicht anrührte. Sie hatte trotzdem daran genippt und dann am Bauch der im Nebenzimmer schlafenden Katze gerochen. Die Gerüche waren verschieden, aber einer war so ekelhaft wie der andere.

»Wir haben Brot«, sagte Sophie. »Und Fischkonserven.«

»Ihr habt was?«, fragte Miss Eliot.

»Ich mag Fisch aus der Konserve«, sagte Sophie. »Und wir haben auch Schinken.«

»Ach, ja? Ich habe in diesem Haus noch nie eine Scheibe Schinken gesehen.«

»Wir essen täglich Schinken! Auf jeden Fall«, ergänzte Sophie, die sich oft als unerträglich ehrlich empfand, »hin und wieder. Außerdem Käse. Und Äpfel. Und ich trinke immer einen ganzen Liter Milch zum Frühstück.«

»Wie kann Mr Maxim zulassen, dass du dich so ernährst? Das ist doch keine Ernährung für ein Kind. Das ist nicht richtig.«

Tatsache war, dass sie prima zurechtkamen, aber für Miss Eliot war das unbegreiflich. Sophie vermutete, dass Miss Eliot »ordentlich« meinte, wenn sie »richtig« sagte. Sophie und Charles lebten nicht ordentlich, aber um glücklich zu sein, fand Sophie, war Ordnung nicht unbedingt erforderlich.

»Wissen Sie, Miss Eliot«, sagte Sophie, »Tatsache ist, dass ein Gesicht wie meines nie ordentlich aussieht. Charles sagt, ich hätte unordentliche Augen. Wegen der Sprenkel.« Sophies Haut war viel zu blass und bekam bei Kälte Flecken und ihre Haare waren schon immer etwas verfilzt gewesen. Sophie war das egal, denn sie meinte sich daran zu erinnern, dass ihre Mutter die gleichen Haare und die gleiche Haut gehabt hatte, und ihre Mutter, das wusste sie genau, war wunderschön. Ihre Mutter hatte nach Winterluft und Ruß geduftet, davon war sie fest überzeugt, und sie hatte eine Hose mit abgewetzten Knien getragen.

Vielleicht waren die Hosen der Ursprung all ihrer Probleme. Sophie war noch keine acht Jahre alt, da bat sie Charles um eine Hose.

»Eine Hose? Ist das nicht ziemlich unüblich für eine Frau?«

»Nein«, sagte Sophie. »Finde ich nicht. Meine Mutter trägt Hosen.«

»Sie trug Hosen, mein Kind.«

»Sie trägt Hosen. Schwarze. Aber ich hätte gern eine rote.«

»Ähem … Möchtest du nicht lieber einen roten Rock?« Er schaute besorgt drein.

Sophie zog ein Gesicht. »Nein. Ich will eine Hose. Bitte.«

In den Läden gab es jedoch nichts Passendes, sondern nur graue kurze Hosen, wie Jungen sie trugen. »Grundgütiger!«, sagte Charles, »du siehst ja aus wie eine Mathestunde!« Also nähte er selbst vier Hosen aus bunter Baumwolle, schlug sie in Zeitungspapier ein und überreichte sie Sophie. Bei einer Hose waren die Beine unterschiedlich lang geraten. Sophie war begeistert. Miss Eliot war schockiert. »Mädchen«, sagte sie, »tragen keine Hosen.« Sophie beharrte darauf, dass sie es doch taten.

»Meine Mutter trug Hosen. Das weiß ich genau. Sie hat darin getanzt, während sie Cello spielte.«

»Vollkommen ausgeschlossen«, erwiderte Miss Eliot. Es war immer die gleiche Leier. »Frauen spielen kein Cello, Sophie. Außerdem kannst du das nicht wissen, weil du damals noch viel zu klein warst. Du solltest ehrlicher sein, Sophie.«

»Sie trug aber Hosen! Schwarze Hosen, die an den Knien etwas abgewetzt waren. Ich weiß auch noch, dass sie schwarze Schuhe trug.«

»Das bildest du dir ein, Liebes.« Miss Eliots Stimme klang wie ein zuknallendes Fenster.

»Nein, das tue ich nicht, glauben Sie mir!«

»Sophie …«

»Ich bilde mir das nicht ein!« Sophie hätte gern hinzugefügt: »Du knollennasige, alte Hexe!«, aber sie hielt den Mund. Leider konnte man bei Charles nicht aufwachsen, ohne dass einem die Höflichkeit in Fleisch und Blut überging. Unhöflich zu sein war für Sophie so, als würde sie einen schmutzigen Schlüpfer tragen, aber wenn es um ihre Mutter ging, konnte sie sich nur schwer zusammenreißen. Die Leute waren immer felsenfest davon überzeugt, dass sie sich alles nur einbildete; und sie war felsenfest davon überzeugt, dass sie Recht hatte.

»Du Vogelscheuche mit Schweineaugen!«, flüsterte Sophie. »Ich kann mich erinnern.« Daraufhin fühlte sie sich etwas besser.

Tatsache war, dass Sophie sich klar und deutlich an ihre Mutter erinnern konnte, wenn auch nicht an ihren Vater. Aber sie erinnerte sich an wehende Haare und zwei dünne, in Stoff gehüllte Beine, die im Takt einer wunderbaren Musik nach oben geworfen worden waren. Mit einem Rock wäre das unmöglich gewesen.

Außerdem war Sophie überzeugt, gesehen zu haben, wie sich ihre Mutter mitten im Ärmelkanal an ein Türblatt geklammert hatte.

Die Leute sagten immer: »Man kann sich nicht an das erinnern, was man als Baby erlebt hat.« Sie sagten: »Deine Erinnerungen sind nur Wunschvorstellungen.« Dieser Blödsinn kam Sophie zu den Ohren heraus. Sie hatte noch vor Augen, wie ihre Mutter Hilfe suchend gewinkt hatte. Sie hatte noch den Pfiff ihrer Mutter im Ohr. Pfiffe überhört man nicht. Sie wusste, dass ihre Mutter nicht mit dem Schiff untergegangen war, auch wenn die Polizei etwas anderes behauptet hatte. Sophie ließ sich darin nicht beirren, egal, was die Leute sagten.

Jeden Abend murmelte Sophie im Dunkeln vor sich hin: Meine Mutter ist noch am Leben und eines Tages wird sie kommen, um mich zu holen.

»Sie wird mich holen«, sagte Sophie manchmal zu Charles.

Er schüttelte stets den Kopf. »Das ist so gut wie ausgeschlossen, meine Perle.«

»So gut wie bedeutet, dass es doch nicht ganz ausgeschlossen ist.« Sophie drückte den Rücken durch und versuchte, erwachsen zu klingen, denn die Leute waren eher geneigt, einem zu glauben, wenn man größer war. »Du predigst doch immer, dass man keine Möglichkeit außer Acht lassen soll.«

»Ja, aber diese Möglichkeit ist so vage, dass du dein Leben nicht darauf aufbauen kannst. Da könntest du ebenso gut versuchen, ein Haus auf dem Rücken einer Libelle zu bauen, mein Kind.«

»Sie wird mich finden«, sagte Sophie zu Miss Eliot.

Miss Eliot war offener. »Deine Mutter ist tot. Keine Frau hat das Unglück überlebt«, sagte sie. »Du redest Unsinn.«

Die Erwachsenen in Sophies Leben schienen manchmal nicht zwischen »Unsinn« und »wahr, wenn auch zweifelhaft« unterscheiden zu können. Sophie merkte, wie ihr die Zornesröte ins Gesicht stieg. »Sie kommt«, sagte sie. »Und wenn nicht, dann suche ich sie.«

»Nein, Sophie. So geht es nicht zu auf der Welt.« Miss Eliot war der Meinung, dass Sophie sich irrte, aber sie glaubte ja auch, dass der Kreuzstich unverzichtbar und Charles unmöglich sei, was ganz eindeutig bewies, dass sogar Erwachsene nicht immer Recht hatten.

Eines Tages fand Sophie rote Farbe und schrieb den Namen des Schiffes, Queen Mary, und das Datum des Sturms auf die weiße Hausmauer, falls ihre Mutter vorbeikam.

Sie mochte Charles nicht ins Gesicht sehen, als er sie dabei ertappte, denn seine Miene wirkte gequält. Trotzdem zog er die Striche dort nach, wo sie nicht herankam, und wusch die Pinsel hinterher gemeinsam mit ihr aus.

»Hier dreht es sich«, sagte er zu Miss Eliot, »um den berühmten Fall der Fälle.«

»Aber sie hat …«

»Sie befolgt nur meinen Rat.«

»Sie haben ihr geraten, Ihr Haus zu beschmieren?«

»Nein. Ich habe ihr geraten, im Leben keine Möglichkeit außer Acht zu lassen.«

DREI

Miss Eliot beschwerte sich sowohl über Charles als auch über Sophie. Sie ärgerte sich über Charles’ sorglosen Umgang mit Geld und auch darüber, dass er oft zu spät zum Essen erschien.

Außerdem passte es ihr nicht, dass Sophie eine so genaue Beobachterin war. »Im Falle eines kleinen Mädchens ist das widernatürlich!« Und sie fand es geradezu ungeheuerlich, dass beide kurze Botschaften füreinander auf die Tapete im Flur schrieben.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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