Mitten im Dschungel - Katherine Rundell - E-Book

Mitten im Dschungel E-Book

Katherine Rundell

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Beschreibung

Mitten im Dschungel stürzt die kleine Propellermaschine ab und plötzlich sind Fred, Con, Lila und ihr kleiner Bruder Max auf sich allein gestellt. Wo sollen sie einen Unterschlupf und etwas zu essen finden. Und wie kommen sie aus diesem Urwald überhaupt wieder heraus? Immerhin ist ein Fluss in der Nähe und wilde Früchte, und Fred hat genug Abenteuerbücher gelesen, um ein Floß zu bauen. Aber ob das zum Überleben in der Wildnis reicht?

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Katherine Rundell

Mitten im Dschungel

Mitten im Dschungel stürzt die kleine Propellermaschine plötzlich ab und Fred, Con, Lila und ihr kleiner Bruder Max sind ab jetzt auf sich allein gestellt. Bevor sie nach einem Weg aus dem Urwald suchen, müssen sie erst einmal einen Unterschlupf und etwas zu essen finden. Immerhin ist ein Fluss in der Nähe und wilde Früchte, und Fred hat genug Abenteuerbücher gelesen, um ein Floß zu bauen. Doch ob das reicht, um im Dschungel zu überleben und zurück nach Hause zu finden?

Wohin soll es gehen?

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Viten

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Leseprobe

Für Charles

DER FLUG

Das Flugzeug stieg zum Himmel auf, als wäre der magische Wunsch eines Menschen Wahrheit geworden.

Fred klammerte sich zitternd an den Sitz und hielt den Atem an, während das Flugzeug immer höher kletterte. Mit einem mulmigen Gefühl verfolgte er die Handgriffe des neben ihm sitzenden Piloten, der Gashebel und Steuerknüppel bediente.

Das Flugzeug vibrierte, während es immer schneller in Richtung der untergehenden Sonne flog. Es folgte den Windungen des Amazonas und Fred konnte das Spiegelbild der sechssitzigen Maschine als dunklen Fleck auf dem breiten, blauen Fluss erkennen. Sie waren nach Manaus unterwegs, der Stadt am Ufer des Amazonas. Er strich sich die Haare aus den Augen und drückte die Stirn gegen die Scheibe.

Hinter Fred saßen ein Mädchen und ihr kleiner Bruder. Beide hatten geschwungene Augenbrauen, braune Haut und lange Wimpern. Das Mädchen hatte sich auf dem Flugplatz bis zuletzt an ihre Eltern geklammert; nun betrachtete sie den Fluss und sang leise vor sich hin, während ihr Bruder versuchte den Sicherheitsgurt zu essen.

In der nächsten Reihe saß ein blasses Mädchen mit hüftlangen, blonden Haaren. Sie zog die bis zum Kinn reichende Halskrause ihres Kleides immer wieder nach unten und schnitt dabei Grimassen. Sie hatte offenbar beschlossen nicht aus dem Fenster zu schauen.

Der Flugplatz, von dem sie abgehoben hatten, war staubig und fast menschenleer und im Grunde nur ein Asphaltstreifen gewesen, der in der heißen brasilianischen Sonne schmorte. Freds Cousine hatte darauf beharrt, dass er Schuluniform und Pullover trug, und in der heißen, stickigen Kabine hatte er irgendwann das Gefühl, in seiner Haut auf kleiner Flamme gegart zu werden.

Der Motor jaulte und der Pilot griff stirnrunzelnd nach dem Steuerknüppel. Er war alt, wirkte militärisch, drahtige Haare ragten aus seinen Nasenlöchern, und sein grauer, gewachster Schnurrbart schien den Gesetzen der Schwerkraft zu trotzen. Er betätigte den Gashebel, und das Flugzeug schoss aufwärts, noch höher in die Wolken.

Es war fast dunkel, als der Pilot plötzlich aufzustoßen begann, anfangs leicht, dann immer heftiger. Seine Hand zuckte, und das Flugzeug scherte nach links aus, entfernte sich vom Fluss und schoss über das grüne Laubdach des Urwalds. Hinter Fred schrie jemand. Der Pilot brummte und keuchte, dann drosselte er den Motor. Er hustete erstickt.

Fred starrte den Mann an, dessen Gesicht auf einmal so grau war wie sein Schnurrbart. »Geht es Ihnen gut, Sir?«, fragte er. »Kann ich irgendwie helfen?«

Der Pilot rang um Atem, aber schüttelte den Kopf. Er griff nach dem Armaturenbrett und stellte den Motor aus. Das Dröhnen verstummte. Die Nase des Flugzeugs kippte nach unten. Die Bäume wurden größer und größer.

»Was ist los?«, fragte das blonde Mädchen scharf. »Was macht er da? Er soll das lassen!«

Der kleine Junge begann zu kreischen. Der Pilot packte Freds Handgelenk mit einem eisernen Griff, dann sackte sein Kopf auf das Armaturenbrett.

Und der Himmel, der gerade noch so zuverlässig gewirkt hatte, ließ sie fallen.

DAS GRÜNE DUNKEL

Fred fragte sich beim Laufen, ob er tot war. Aber, dachte er, wenn man tot ist, kann es nicht so laut sein. Das Prasseln der Flammen dröhnte in seinen Ohren, dazu sein eigenes Blut, er konnte es bis in die Hände und Füße spüren.

Eine stockdunkle Nacht. Er rang beim Laufen verzweifelt um Atem, weil er um Hilfe rufen wollte, aber sein Hals war zu rau und zu trocken. Er legte einen Finger hinten auf seine Zunge für mehr Spucke. »Ist da jemand? Hilfe! Feuer!«, rief er.

Ein Baum direkt hinter ihm schickte eine Flammenfontäne in den Himmel, das war die Antwort des Feuers auf sein Rufen. Ein Donnergrollen.

Ein brennender Ast zersprang krachend, ergoss rote Glut und stürzte mit einer Funkenkaskade in die Tiefe. Fred wich mit einem Sprung aus, stolperte in das Dunkel und knallte mit dem Kopf gegen etwas Hartes. Der Ast landete genau dort, wo er gerade gestanden hatte. Fred schluckte die Galle hinunter, die in seiner Kehle aufstieg, und rannte weiter, noch schneller, noch panischer.

Irgendetwas klatschte gegen sein Kinn. Er schlug danach und duckte sich gleichzeitig, aber es war nur ein Regentropfen.

Der Regen fiel ebenso plötzlich wie heftig. Er verwandelte Ruß und Schweiß, die Freds Hände bedeckten, in eine Art Teer, dämmte aber auch die Flammen ein. Fred verlangsamte sein Tempo zu einem Traben, dann blieb er stehen. Er drehte sich keuchend und japsend um und hielt Ausschau nach der Stelle, von der aus er losgelaufen war.

Das kleine Flugzeug lag qualmend zwischen den Bäumen und sandte weißgraue Wolken in den Nachthimmel.

Er sah sich benommen und verzweifelt um, konnte aber keinen einzigen Menschen hören oder sehen. Nur knöchelhohe, wie Farne aussehende Pflanzen und himmelhohe Bäume, dazu panisch kreischende und flatternde Vögel. Er schüttelte heftig den Kopf, denn er hatte noch den Lärm des Flugzeugabsturzes in den Ohren.

Die Haare auf seinen Armen waren versengt und rochen nach faulen Eiern. Er legte sich eine Hand auf die Stirn: Eine seiner Augenbrauen war verbrannt und löste sich teilweise ab, als er danach griff. Er rieb seine Finger an einem Ärmel ab.

Fred schaute an sich hinunter. Ein Hosenbein war bis zur Tasche aufgerissen, aber er schien sich nichts gebrochen zu haben. Rücken und Nacken taten ihm höllisch weh, was zur Folge hatte, dass sich seine Arme und Beine fremd und weit weg anfühlten.

Da ertönte eine Stimme in der Dunkelheit. »Wer ist da? Bleib weg von uns!«

Fred fuhr herum. In seinen Ohren dröhnte es immer noch, als er einen Stein vom Boden aufhob und in Richtung der Stimme warf. Er ging hinter einem Baum in Deckung und hockte sich hin, bereit jederzeit aufzuspringen und wegzulaufen.

Sein Herz lärmte wie eine Ein-Mann-Band. Er versuchte den Atem anzuhalten.

Die Stimme sagte: »Hör auf mit Steinen zu werfen, um Himmels willen.«

Es war die Stimme eines Mädchens.

Fred lugte um den Baum. Der Mondschein wurde vom Laub zu einem dunklen Grün gefiltert und warf langfingerige Schatten auf die Baumstämme und den Urwaldboden. Fred konnte nur zwei Büsche sehen. In beiden war ein Rascheln zu hören.

»Wer da? Wer bist du?« Die Stimme ertönte im rechten Busch.

Fred spähte aus zusammengekniffenen Augen ins Dunkel und spürte, wie sich die nicht versengten Haare auf seinen Armen aufstellten.

»Bitte tu uns nicht weh«, sagte der Busch. Es war eindeutig eine Kinderstimme, keine erwachsene, und der Akzent war zu weich, um britisch zu sein. »Hast du uns etwa mit Kacke beworfen?«

Fred senkte den Blick auf den Boden. Er schien nach dem alten, steinharten Dung eines Tieres gegriffen zu haben.

»Oh«, sagte er. »Ja.« Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit, und er konnte im grüngrauen Zwielicht zwei Augen erkennen, die ihn aus dem Busch anstarrten. »Habt ihr auch im Flugzeug gesessen? Seid ihr verletzt?«

»Klar sind wir verletzt! Wir sind vom Himmel gefallen!«, sagte ein Busch, während der andere meinte: »Nein, nur angekratzt.«

»Ihr könnt rauskommen«, sagte Fred. »Ich bin allein.«

Einer der Büsche teilte sich. Fred erschrak heftig, denn sowohl das Mädchen als auch ihr Bruder hatten Verbrennungen und Schürfwunden und waren mit Asche bedeckt, die auf ihren Gesichtern durch Schweiß und Regen zu einer Paste geronnen war. Aber sie waren am Leben. Er war also nicht allein. »Ihr habt überlebt!«, sagte er.

»Ja, scheint so«, sagte der andere Busch. »Sonst würden wir wohl nicht so viel quasseln, oder?« Das blonde Mädchen trat in den Regen. Sie sah Fred und die beiden anderen mürrisch an. »Ich bin Con«, sagte sie. »Das ist die Abkürzung von Constantia, aber wehe, ihr nennt mich so.«

Fred schaute sie an. Sie lächelte nervös und zuckte mit den Schultern. »Gut«, sagte er, »wie du willst. Ich bin Fred.«

»Ich heiße Lila«, sagte das zweite Mädchen. Sie hatte ihren Bruder auf eine Hüfte gesetzt. »Und das ist Max.«

»Hallo.« Fred wollte lächeln, aber das brannte, weil sich die Schnitte auf seinen Wangen dehnten. Also ließ er es sein und grinste nur mit einer Gesichtshälfte.

Max hatte stumm geweint und klammerte sich so fest an seine Schwester, dass seine Finger Druckstellen auf ihrer Haut hinterließen. Sie neigte sich zur anderen Seite, um ihn tragen zu können, und zitterte vor Anstrengung. Sie klammerten sich aneinander und sahen aus wie ein Geschöpf mit zwei Köpfen, fand Fred.

»Ist dein Bruder schwer verletzt?«, fragte er.

Lila patschte ihrem Bruder verzweifelt auf den Rücken. »Keine Ahnung. Er spricht nicht – er heult nur.«

Con drehte sich zum Feuer um und erschauderte. Die Flammen erhellten ihr Gesicht. Ihre ursprünglich blonden Haare waren grau von Ruß und braun von Blut und auf einer Schulter klaffte eine Schnittwunde.

»Geht es dir gut?«, fragte Fred und wischte sich Regen aus den Augen. »Die Schnittwunde sieht übel aus.«

»Nein, geht es nicht«, fauchte Con. »Wir sind in den Amazonas-Urwald gestürzt und haben keine Ahnung, wo wir sind. Sehr wahrscheinlich werden wir alle sterben.«

»Schon klar.« Fred mochte an diese Tatsache nicht erinnert werden. »Ich meinte ja nur …«

»Die Antwort lautet also nein.« Cons Stimme klang jetzt schrill und hoch. »Man kann wohl festhalten, dass es keinem von uns gut geht. Nicht mal ansatzweise. Kein bisschen!«

Die Büsche raschelten. Der Regen prasselte in Freds Gesicht.

»Wir müssen einen Unterschlupf finden«, sagte er. »Einen großen Baum oder eine Höhle, irgendetwas, das uns …«

»Nein!«, kreischte Max verängstigt.

Fred wich zurück und hob die Hände. »Nicht weinen! Ich dachte ja nur …« Dann sah er zu der Stelle, auf die Max zeigte.

Da war eine Schlange, nur zehn Zentimeter von seinem Schuh entfernt.

Sie war braun und schwarz gefleckt, eine gute Tarnung auf dem Urwaldboden, und ihr Kopf war faustgroß. Allen stockte der Atem. Der Urwald wartete. Dann stieß Max noch einen Schrei aus, der weit in die Nacht hallte, und alle vier fuhren herum und rannten davon.

Der Boden war aufgeweicht, und als sie Hals über Kopf flohen, flog ihnen Matsch in die Augen und mit den Ellbogen streiften sie die Bäume. Fred rannte, als würde sein Körper nicht ihm selbst gehören, er rannte so schnell wie noch nie, die Hände nach vorn gereckt. Er stolperte über eine Wurzel, schlug unfreiwillig einen Purzelbaum, kam wieder auf die Beine und spuckte Erde aus. Dann rannte er weiter. Der Regen nahm ihm die Sicht, in der Dunkelheit flogen Schatten an ihm vorbei.

Hinter ihm ertönte ein Schrei.

»Bitte, Max!«, sagte Lila.

Fred wandte sich um und schlitterte durch den Matsch.

»Er will nicht laufen!« Lila beugte sich über ihren Bruder. »Und ich kann ihn nicht mehr tragen!«

Der kleine Junge lag auf dem Rücken und sah weinend zum Himmel auf, sein Körper bebte im strömenden Regen.

»Komm schon!« Fred hob Max hoch und warf ihn über seine Schulter. Er war schwerer als erwartet, aber Fred hielt ihn an den Beinen fest und lief weiter. Sein ganzer Körper schrie vor Schmerz. Direkt hinter sich hörte er die klatschenden Schritte von Lila.

Freds Seitenstiche waren unerträglich, aber dann öffneten sich die Bäume zu einer Lichtung. Er blieb abrupt stehen. Max schrie auf, als sein Kopf gegen Freds Rückgrat knallte. Er versuchte wütend Fred in die Schulter zu beißen.

»Lass das«, sagte Fred, ohne dem über seinen Rücken baumelnden Jungen viel Beachtung zu schenken. Er stand da und starrte wie gebannt geradeaus.

Vor ihnen erstreckte sich eine weite, runde Lichtung, bedeckt von einem Teppich aus Moos und Gräsern. Es hatte aufgehört zu regnen. Am Himmel leuchtete der kugelrunde Mond, und die funkelnden Sterne waren so dicht gesät, dass sie die Nacht beinahe in den Tag verwandelten. Fred setzte Max ab und bückte sich keuchend, die Hände auf den Oberschenkeln.

»Hat uns die Schlange verfolgt?«, fragte Max.

»Nein«, japste Con.

»Wie willst du das wissen?«, jaulte Max.

Lila sank auf die Knie, presste eine Hand gegen ihre Seite. »Das tun Schlangen nicht, Maxi. Das weißt du doch auch. Ich wurde einfach …«

»Panisch«, meinte Con verdrossen. »So war das. Siehst du? Keine Schlangen. Idiotisch, dass wir weggerannt sind. Jetzt wissen wir erst recht nicht mehr, wo wir sind.«

Die Lichtung fiel sanft zu einer großen Pfütze ab. Fred ging mit schmerzenden Muskeln dorthin und schnupperte am Wasser; es roch vermodert, aber er war unglaublich durstig. Er wollte einen Schluck trinken, spuckte das Wasser jedoch sofort wieder aus. »Ungenießbar«, sagte er. »Schmeckt wie die Füße eines Toten.«

»Ich habe aber Durst!«, sagte Max.

Fred suchte die Lichtung mit Blicken ab, weil er Wasser zu entdecken hoffte, bevor Max wieder losheulte.

»Du kannst deine Haare auswringen«, sagte er dann. »Sie sind nass geregnet.« Er zog seinen dunklen Schopf in die Stirn und quetschte ein paar Tropfen auf seine Zunge. »Das ist besser als nichts.«

Max kaute kurz auf seinen Haaren herum, kniff dann die Augen zusammen und erklärte: »Ich fürchte mich.« Er sagte das nicht weinerlich, sondern ganz nüchtern. Das hörte sich noch schrecklicher an, als hätte er dabei geweint, fand Fred.

»Ich weiß«, sagte Lila liebevoll. »Das geht uns allen so, Maxi.« Sie ging zu ihrem Bruder und zog ihn an sich. Seine kleinen, knochigen Finger schlossen sich über einer Brandwunde um ihr Handgelenk, aber sie schob seine Hand nicht fort. Sie begann auf Portugiesisch in sein Ohr zu flüstern, leise, fast singend: ein Gute-Nacht-Lied. Beide zitterten leicht.

Fred schluckte. »Morgen früh sieht es bestimmt besser aus«, meinte er.

»Ach, ja?«, fragte Con bissig. »Meinst du wirklich?«

»Viel schlimmer kann es nicht werden«, erwiderte er. »Sobald es hell ist, überlegen wir uns, wie wir nach Hause kommen.«

Con sah ihn eindringlich an; ihr Blick war herausfordernd, und Fred erwiderte ihn, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie hatte ein spitzes Kinn, spitze Wangenknochen und stechende Augen, insgesamt ein sehr kantiges Gesicht.

»Und was nun?«, fragte sie.

»Mama und Papa meinen …«, begann Lila. Als sie ihre Eltern erwähnte, verzerrte sich ihr Gesicht, aber sie schluckte und fuhr fort: »Sie meinen, man braucht Schlaf, um nachzudenken. Wenn man erschöpft ist, macht man nur Dummheiten. Und unsere Eltern sind Wissenschaftler. Wir sollten also schlafen.«

Fred wurde bewusst, dass sein ganzer Körper schmerzte. »Na, gut. Schön. Schlafen wir.«

Er legte sich im nassen Gras auf die Seite. Seine Kleider waren klitschnass, aber die Luft war warm. Er schloss die Augen. Vielleicht, dachte er, würde er in seinem Bett im Internat aufwachen, neben sich seine schnarchenden Mitbewohner Jones und Scrase. Eine Ameise krabbelte über seine Wange.

»Sollten wir nicht besser wach bleiben?«, fragte Con. »Wenn wir eine Gehirnerschütterung haben, könnten wir sterben.«

»Wenn wir eine Gehirnerschütterung hätten, wäre uns sicher schwindelig«, meinte Lila.

Obwohl Fred schon halb eingedämmert war, horchte er in sich hinein, um herauszufinden, ob ihm schwindelig war. Die Welt schien sich in spiralförmigen Bewegungen von ihm zu entfernen.

»Gut, aber wenn wir morgen tot aufwachen, seid ihr beide schuld daran«, sagte Con.

Mit diesem aufmunternden Gedanken und dem Gefühl, zu fallen, immer tiefer zu fallen, so tief, dass er den Dschungel und die stickige Nachtluft vergaß, versank Fred im Schlaf.

DIE HÜTTE

Die Hitze war erdrückend und er lebte noch. Das waren Freds erste Gedanken, als er die Augen öffnete und direkt in die brasilianische Sonne schaute. Er senkte den Blick instinktiv auf seine Armbanduhr, aber das Glas war gesprungen und der Minutenzeiger hatte sich gelöst.

Die zwei Mädchen schliefen neben ihm. Beide waren von Blut und Schorf bedeckt, atmeten aber ruhig. Con nuckelte am Daumen. Sie wurden von einem Schwarm leuchtend roter und blauer Libellen umtanzt, die vielleicht von dem Blut angelockt worden waren, dachte Fred.

Doch von dem kleinen Jungen keine Spur. Max war verschwunden.

»Max!«, flüsterte Fred und sprang auf. Er erhielt keine Antwort. Er hörte nur das Surren der Libellen.

Sein Herz schlug plötzlich schneller. »Max?«, rief er lauter. Lila bewegte sich im Schlaf.

Er rannte zum Rand der Lichtung. Immer noch keine Spur von dem Jungen.

»Max!«, brüllte er und sah sich hektisch um.

»Was denn?« Max hob den Kopf; er lag neben der stinkenden Pfütze, halb hinter Pflanzen verborgen, die wie Farne aussahen, und zog seine Finger durch das Wasser.

»Max!« Fred rannte zu ihm und zuckte zusammen, als sich eine Rippe mit einem stechenden Schmerz meldete. »Du hast doch nicht etwa das Wasser getrunken, oder?«

Max starrte Fred an, kniff dann die Augen zusammen und stieß einen Schrei aus, der seine runden Kinderwangen erzittern ließ. Auf der anderen Seite der Lichtung schrie die noch halb schlaftrunkene Lila auf.

»Das ist nicht gerade schmeichelhaft«, sagte Fred zu Max, aber dann fiel ihm wieder ein, dass er durchaus verstörend aussah, so voller Blut und Ruß, wie er war.

Der Junge schrie weiter, er holte kaum Luft.

Lila sprang auf. »Max!«, rief sie. »Was hast du?«

Zucker, dachte Fred. Wenn jemand unter Schock stand, gab man ihm Zucker, denn der beruhigte. »Möchtest du einen Bonbon?« Er hatte noch ein paar Pfefferminzbonbons dabei. »Bitte hör auf zu schreien!« Fred griff in die Hosentasche, um die Bonbons herauszuholen.

Als seine Hand wieder zum Vorschein kam, war sie feucht: Er hatte einen Schnitt am Oberschenkel und das Blut in seiner Hosentasche war noch nicht ganz trocken. Die Bonbons waren über Nacht darin mariniert worden. Er zog eine Grimasse und schob sich einen in den Mund. Sie schmeckten nicht unbedingt besser, aber der Zucker regte seinen Kreislauf an.

»Willst du einen?« Fred spuckte auf sein Hemd und wischte einen der Bonbons sauber. »Ist Pfefferminz.«

»Nein! Ich hasse Pfefferminz!«, erwiderte Max.

»Die Bonbons sind mein einziger Proviant.«

»Oh. Dann nehme ich einen«, sagte Max wie ein Lord, der das Brot eines Leibeigenen akzeptiert.

»Bitte«, sagte Fred und drückte den Bonbon in die klebrige Hand des Jungen. »Möglichst lange lutschen.«

Max lutschte lautstark. Seine Nase begann zu laufen, der Schnodder zog sich an seinen Lippen vorbei bis auf das Kinn.

»Max!«, rief Lila. »Komm her!«

»Geh schon«, sagte Fred. Der Junge lutschte hoch konzentriert, die Stirn in Falten gelegt. Er wirkte sehr zerbrechlich. Fred spürte, wie es ihm die Brust zusammenschnürte, doch er sagte nur: »Du solltest dich mal ausschnupfen.«

»Tue ich nie«, meinte Max. Sie humpelten zusammen zu Lila. »Das mag ich nicht.«

»Solltest du aber tun.«

»Nein!« Max leckte Schnodder von der Oberlippe, vielleicht als Würze für den Pfefferminzbonbon.

Mit Fünfjährigen lässt sich nicht diskutieren, dachte Fred. Max hatte einen verkrusteten Streifen Dreck auf der Wange und seine Augenbrauen bogen sich an den Enden nach oben. Das verlieh ihm etwas Spitzbübisches.

Fred hakte einen Finger in Max’ Hemdkragen, um ihn an den Dornen und an etwas vorbeizusteuern, das an Kaninchenkot erinnerte. Der Boden war moosig, stellenweise wuchsen Gras und Rankenpflanzen. Die Blüten eines Baumes bedeckten den Waldboden wie ein scharlachroter Teppich.

Lila und Con, die im grellen Sonnenschein zwischen den Blumen saßen, diskutierten heftig miteinander.

»He, Junge! Wie heißt du? Fred?«, rief Con. »Komm mal her und sag diesem Mädchen, dass sie total falschliegt.«

»Sie glaubt …«, begann Lila und wurde rot.

»Ich finde es am besten, zum Flugzeug zurückzugehen und dort zu warten«, sagte Con. »Damit man uns von oben sieht. Damit wir gerettet werden können.«

»Ich finde es sinnvoller, hierzubleiben«, widersprach Lila, die ihre Knie unter das Kinn gezogen hatte. »Wir würden uns nur verlaufen, wenn wir zurückgehen wollen. Und ich bezweifele, dass man das Flugzeug aus der Luft sehen kann. Niemand kennt die Absturzstelle. Man müsste den ganzen Urwald nach uns absuchen. Wir sind auf uns allein gestellt.« Sie richtete ihren Blick auf eine Pflanze, die an einen Löwenzahn erinnerte. »Wir müssen selbst zusehen, wie wir nach Manaus kommen«, sagte sie entschlossen.

Fred betrachtete das Mädchen genauer. Sie hatte eine Schramme auf einer Seite ihres schmalen Gesichts, ihre Haare waren zu zwei Zöpfen geflochten. Einer davon war beim Absturz versengt worden. Ihr purpurroter Rock und das blutrote Top hatten graugrüne Flecken. Sie schien in seinem Alter zu sein und sie sah Con grimmig an.

Con hielt ihrem Blick stand. »Das ist doch verrückt. Wir müssen in der Nähe des Flugzeugs bleiben und auf Rettung warten. Meine Familie hat sicher schon Dutzende von Flugzeugen auf die Suche geschickt. Wahrscheinlich sogar hundert.«

»Aber«, wandte Lila ein, »rings um die Absturzstelle hat es gebrannt. Die Hälfte der Bäume ist verkohlt, es gibt da keine Tiere mehr …«

»Wir brauchen keine Tiere als Freunde!«, blaffte Con. »Glaubst du, wir sind im Märchen, oder was?«

»… die wir essen könnten«, beschloss Lila ihren Satz. »Außerdem ist er noch dort.«

»Wer?«, fragte Con.

»Der Pilot.«

»Der Mann ist tot«, sagte Con, die ehrlich verwirrt wirkte. »Er kann uns nichts anhaben.«

Lila sprach sehr leise, aber überraschend entschieden, wie Fred fand. »Wir sollten hierbleiben.«

»Nein!«, sagte Con. »Das ist total unlogisch.«

»Fred?«, meinte Lila. »Deine Stimme entscheidet.«

»Oh, nein!«, zischte Con. »Das ist unfair. Die Entscheidung darf nicht nur von einer Person abhängen!« Sie musterte Fred mit einem strengen Blick von Kopf bis Fuß. »Außer er ist meiner Meinung.«

Fred sah sich wieder auf der Lichtung um. Die Luft war frisch, der Himmel von einem Blau, das es in England nicht gab. Er wollte gerade antworten, als er am fernen Rand der Lichtung, wo der Urwald dichter war, vier schräg stehende Bäume sah, deren Spitzen aneinanderlehnten, ein Anblick, bei dem sich seine Nackenhaare sträubten.

»Findet ihr diese Lichtung nicht auch irgendwie komisch?«, fragte er.

»Das ist keine Antwort!«, fauchte Con.

»Wieso?«, wollte Lila wissen.

»Die Bäume«, antwortete er, »da drüben.« Er zeigte dorthin.

»Was soll schon mit ihnen sein? Sie sind umgekippt«, meinte Con. »Wie es mit Bäumen halt manchmal passiert.«

»Ich finde nicht, dass sie aussehen, als wären sie umgekippt«, sagte Fred und rannte über die Lichtung. Er hatte das immer stärkere Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte. Doch seine Neugier verdrängte seine Furcht.

Einer der Bäume war besonders imposant – sein Stamm war so dick und so hoch wie die Nelson-Säule auf dem Londoner Trafalgar Square. Die anderen drei Bäume lehnten dagegen. Sie waren jeweils ein kleines Stückchen voneinander entfernt und bildeten ein unregelmäßiges Dreieck. Ihre Äste waren von dunkelgrünen Rankenpflanzen überwuchert.

»Bleib weg, Fred«, rief Con. »Nicht reingehen!«

»Das ist wirklich merkwürdig.« Er strich über einen der kleineren Bäume, der am unteren Ende in einem Wirrwarr von Pilzen und farnartigen Pflanzen verschwand. Als Fred die Farne zu Boden drückte, krampfte sich sein Magen zusammen.

Die drei kleineren Bäume waren nicht im Boden verwurzelt. Stattdessen waren es fünf Meter hohe Stämme, jeder mit Bedacht gegen den in der Mitte stehenden Baum gelehnt. Er konnte noch die Spuren der Schläge mit einer Axt oder einer Machete erkennen. Am Fuß der Stämme wuchsen Farne – oder waren dort gepflanzt worden, wie Fred dachte – und verdeckten die Spuren der Hiebe.

»Eine Hütte«, hauchte Fred.

»Was hast du gesagt?«, rief Con.

Fred riss an den Ranken, die zwischen den Stämmen hingen.

»Das ist eine Art Zelt«, murmelte Fred. »Eine Hütte.« Er bückte sich, um das Pflanzengewirr zu durchdringen.

»Nein! Nicht reingehen!«, schrie Con. »Nicht, dass ich Angst hätte, aber bitte lass das, das wäre kein sinnvolles Risiko.«

Fred warf ihr über seine Schulter einen Blick zu. »Ein was?« Er hatte noch nie jemanden von einem »sinnvollen Risiko« reden hören; das klang wie eine Formulierung seines Schulleiters.

»Darin kann sich alles Mögliche verbergen! Jaguare oder Schlangen oder Ratten«, rief Con.

»Aber ich muss mir das anschauen!«, erwiderte Fred.

»Sie hat vielleicht recht«, rief Lila. »Mit den Schlangen. Sei vorsichtig.«

»Ich schaue mir das an!«, sagte Max und sprang auf.

»Nein, auf keinen Fall!«, sagte Lila und ergriff ihn beim Handgelenk. »Du bleibst, wo du bist.«

Fred schob die Lianen zur Seite, die zwischen den Stämmen hingen.

»Autsch!« Er zuckte zusammen, denn manche Ranken hatten kleine, gemeine Dornen, und ein paar davon hatten sich in einer seiner Wunden verhakt. Er schob noch eine Handvoll Lianen zur Seite – und erstarrte. Sein Herz, das seit dem Absturz doppelt so schnell wie normal pochte, schlug jetzt dreimal so schnell.

Die Stämme bildeten eine Art Zelt, in dem ein erwachsener Mann aufrecht knien, Fred sogar aufrecht stehen konnte. Es roch intensiv nach Grün. In einer Ecke hing ein Spinnennetz, darunter lagen Bananenblätter, so geschichtet, dass sie eine Schlafunterlage bildeten. Sie waren stark von Ameisen zernagt.

Als Fred den Blick hob, staunte er nicht schlecht. »Das müsst ihr euch ansehen!«, rief er. Die Lücken zwischen den Stämmen hatten ein Dach aus einem Flechtwerk von Palmblättern. Er reckte den Arm und betastete die Blätter, die halb verfault waren und so löchrig, dass das Licht hereinfiel. Trotzdem war das kunstvolle Flechtwerk noch zu erkennen.

Fred, der im grünlichen Licht Ausschau nach Schlangen hielt, krabbelte tiefer hinein. Unter seinen Händen fühlte sich der Boden weich und feucht an. Im hintersten Winkel der Hütte stand eine verschimmelte Kürbisflasche. Fred berührte sie vorsichtig, denn sie war mürbe, und als er sie umdrehte, rümpfte er bei dem Gestank die Nase. Eine Kaskade von Feuersteinen fiel heraus. Gut die Hälfte waren zu Pfeilspitzen geschlagen worden, andere waren faustgroß, flach und kantig.

»He, ihr zwei!« Er kroch zurück und streckte den Kopf zwischen den Lianen ins Freie. »Kommt mal her! Schnell, das müsst ihr euch anschauen! Hier hat jemand gewohnt!«

»Du spinnst ja!«, fauchte Con. »Wenn dort jemand gewohnt hat, will er da bestimmt keine Eindringlinge. Ich habe die Nase voll von diesem Quatsch.« Sie fuhr herum und stapfte zwischen die Bäume.

»Con! Warte mal! Wir dürfen uns nicht trennen!«, schrie Fred, kroch wutentbrannt aus der Hütte und rannte ihr nach.

»Wem gehört das überhaupt?« Sie drehte sich zu ihm um. Fred war verdutzt, denn sie hatte Tränen in den Augen. »Ja klar, das weißt du nicht, wie?«

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Fred, »aber ich denke …«

»Und wenn sie wiederkommen? Ich habe davon gelesen, in …« – Con musste überlegen – »… in Goldlöckchen. Ich weiß, wie das endet. Und ich will nicht gefressen werden!«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Hütte nicht von Bären gebaut wurde«, meinte Fred.

»Aber vielleicht von Kannibalen!«

»Kannibalen sind nur ein Mythos«, sagte Lila.

»Behauptet wer?«

»Na, alle! Wissenschaftler. Unsere Eltern.«

»Und woher wollen sie das wissen?«

»Mama ist im Dschungel aufgewachsen, in der Nähe des Rio Solimões. Und sie ist Wissenschaftlerin. Botanikerin.«

»Botannekern!«, sagte Max.

Con warf ihm einen finsteren Blick zu, ihre Gesichtsmuskeln zuckten. »Soll das jetzt witzig sein?«

Lila legte schützend einen Arm um Max und fuhr fort, als wäre sie nicht unterbrochen worden. »Und unser Papa ist Engländer und erforscht Urwaldpflanzen. Zu medizinischen Zwecken. Unsere Großmutter war früher wissenschaftliche Assistentin. Wir sollten sie in England besuchen. Wir wollten in Manaus an Bord eines Schiffes gehen. Sie will uns vor ihrem Tod noch einmal sehen. Sie kennt Max noch gar nicht.«

Con schnaubte verächtlich. »Dann ist es vielleicht gar nicht so schlecht, dass wir abgestürzt sind.«

Lila überhörte das. »Aber weißt du was? Wenn hier Leute leben, könnten sie uns vielleicht nach Manaus bringen.«

»Klar, sie könnten uns aber auch zum Abendessen fressen«, erwiderte Con aufgebracht und ließ einen zornigen, verstörten Blick von Lila zu Fred zucken.

»Kommt einfach mal rein«, sagte Fred. »Dann werdet ihr schon sehen. Hier ist seit einer Ewigkeit niemand mehr gewesen.«

Con drehte sich verdrossen um und stapfte zur Hütte. Sie bückte sich und zwängte sich dann in den Unterschlupf. Lila und Max folgten ihr.

Fred zog am vermoderten Flechtwerk des Daches. »Wir könnten das Dach mit frischen Blättern ausbessern«, sagte er, »und neue Betten bauen. Dann würde es hier auch nicht mehr nach alten Socken stinken.«

Er raffte halb vermodertes Laub zusammen und schob es nach draußen. Die Erde darunter war weich und puderig; sie roch nach tausend warmen Tagen, alle übereinandergeschichtet.

Lila holte einen Arm voller frischer Blätter herein, jedes so groß wie ein Kopfkissenbezug, um damit Schlafstätten herzurichten.

»Wir könnten noch mehr Lianen vor den Eingang hängen«, schlug Fred vor, »damit man nicht hineinschauen kann.«

Con hockte in der Hütte, die Arme vor der Brust verschränkt. »Hat man dich zum Nachfolger eines verstorbenen Königs ausgerufen oder so?«, motzte sie.

»Quatsch!« Fred drehte sich verblüfft um. »Aber wenn wir hier schlafen wollen, sollten wir das Dach gegen Regen abdichten.«

»Ich übernachte hier nicht!«, maulte Con. »Die Leute können jederzeit zurückkehren.«

»Bestimmt nicht«, erwiderte Fred. »Hast du die Feuersteine gesehen?«

»Ja und?«

»Sie sind voller Moos«, sagte er.

»Schön, dann sind sie halt dreckig. Glaubst du, das würde mich beruhigen?«, fragte Con.

»Er will damit sagen, dass sie alt sind«, sagte Lila. »Diese Hütte ist verlassen.«

»Wollt ihr das Risiko wirklich eingehen?«, fragte Con. »Was, wenn sie doch zurückkommen und uns als Eindringlinge betrachten?«

»Und was, wenn sie die Hütte für immer aufgegeben haben?«, entgegnete Lila. Sie sprach nicht laut, aber sehr entschieden. »Wenn hier mal jemand gewohnt hat, bedeutet das, dass es hier sicher ist.«

»Das können wir doch gar nicht wissen.«

»Wir können hier überhaupt nichts sicher wissen!«, sagte Fred. »Lila hat recht. Sobald wir herausgefunden haben, wie wir von hier wegkommen, brechen wir auf. Aber bis dahin ist es sinnvoll, an einem Ort zu bleiben, an dem schon andere Menschen gelebt haben.«

»Außer sie FRESSENUNS!«, brummte Con.

»Ich bleibe hier«, meinte Max. »Ich will in dieser Baumhütte wohnen. Und wenn ihr wollt, dass ich ausziehe, dann mache ich Pipi auf euch.«

»Nein, das machst du nicht!« Con wich zurück und knallte mit dem Kopf gegen einen Baumstamm.

»Er hat das schon mal gemacht«, sagte Lila.

Das besiegelte die Sache, jedenfalls vorerst und mehr oder weniger.

DER FLUSS

Es dauerte eine Weile, bis sie Blätter fanden, die breit und stabil genug für das Dach waren. Die ersten, mit denen Fred es versuchte, gingen sofort in Stücke; die zweite Sorte löste einen juckenden Hautausschlag aus; aber die dritte Art von Blättern, fleischig und armlang, war genau richtig. Er riss sie mithilfe von Lila in Streifen und flocht sie zu großen Quadraten, die sie dann zwischen die Äste der Stämme fädelten, welche das Gerüst der Hütte bildeten. Con saß währenddessen draußen vor der Hütte und buddelte mit einem Zweig ein Loch in die Erde.

Fred kroch in die Hütte und sah nach oben. Jetzt schien die Sonne nicht mehr durch tausend kleine Ameisenlöcher. Er kam sich vor wie unter Wasser, denn es herrschte ein dunkelgrünes Versunkene-Schätze-Licht. Er spürte plötzlich ein unerwartetes Triumphgefühl. »Das ist super!«, rief er. »Fast alle Lücken sind dicht.« Er hörte Lila jubeln. Fred robbte aus der Hütte und kam zu rasch auf die Beine. Plötzlich schwirrte ihm der Kopf, vor seinen Augen tanzten Lichtpunkte. Seine Lunge schien sich zu verknoten.

»Alles okay?«, fragte Lila.

»Klar«, sagte er barscher als beabsichtigt. Seit seiner Lungenentzündung hasste er Fragen nach seinem Befinden. Er versuchte zu lächeln. »Danke«, fügte er hinzu.

Fred war nach Brasilien geschickt worden, um sich bei einer entfernten Cousine zu erholen. Diese Cousine hatte, sehr zu Freds Befremden, unter Spaß verstanden, in einem finsteren Salon Bridge zu spielen. Freds Vater hatte diese Reise jedoch als die einzige vernünftige Option bezeichnet.

»Ich kann nicht die ganze Zeit zu Hause bleiben, um dich zu pflegen«, hatte er gesagt. »Ich werde in der Firma gebraucht.«

»Ich komme allein zurecht«, sagte Fred mit pfeifenden Lungen.

»Nein, das geht nicht«, erwiderte sein Vater mürrisch. Soweit Fred sich erinnern konnte, waren seine Arbeitszeiten mit den Jahren immer länger geworden. Was Freds Mutter anging, so konnte er sich nicht einmal mehr an ihr Gesicht erinnern, außer in seinen Träumen.

Er hatte seinen Vater immer nur im Anzug erlebt. Die Anzüge schienen allmählich zu einer zweiten Haut geworden zu sein. Seine Stimme trug sozusagen Krawatte.

»Du behandelst mich wie ein Baby«, sagte Fred.

»Unsinn«, erwiderte sein Vater. »Na, komm, du bist doch ein vernünftiger Junge.«

Freds Zeugnisse im Internat enthielten stets das Wort »vernünftig«. »Im Unterricht ein unauffälliger Schüler.« Und wenn den Lehrern nichts mehr einfiel, was ihn von seinen Klassenkameraden unterschied, ergänzten sie noch: »Wird immer größer.«

Fred wusste, dass nichts davon zutraf. Na, gut – er war groß. Das hätte wohl niemand bestritten. Er wuchs so rasant aus den Hosen, dass er immer kalte Knöchel hatte.

Innerlich war er aber weder unauffällig noch vernünftig.

Innerlich war Fred voller Neugier und Sehnsucht und stets auf Zack. Nur hatte er nie die Möglichkeit bekommen, dies unter Beweis zu stellen, denn sein Vater hatte immer vehement auf geputzten Schuhen und einer braven Miene bestanden. Aber Fred dachte schnell und forsch. Er wollte mehr von der Welt, als sie bisher für ihn bereitgehalten hatte.

Nun versuchte er Lila anzugrinsen. »Ich bin bloß dehydriert. Wir müssen irgendwo Trinkwasser finden«, sagte er. »Man kann lange ohne feste Nahrung leben …«

»Nein, bestimmt nicht«, empörte sich Max.

»… aber nicht sehr lange, ohne zu trinken.«

»Glaubst du, wir können aus dem …« – Lila zögerte, sie suchte nach dem richtigen Wort – »… kleinen Pfuhl trinken?«

Fred richtete seinen Blick auf die Pfütze. »Ja, könnten wir, nur glaube ich, dass wir danach nicht mehr lange leben würden. Wir müssten aber in der Nähe des Flusses sein – da bin ich mir ziemlich sicher«, sagte er.

»Als wir abgestürzt sind, war er links von uns«, sagte Lila voller Eifer.

»In welche Richtung sind wir gerannt?«, fragte Con.

»Tja, die Sonne geht im Osten auf. Wenn man in diese Richtung schaut, ist links Nordwesten«, sagte Fred.

»Und was bringt uns das, wenn wir nicht wissen, in welche Richtung wir gelaufen sind?«, fauchte Con. Sie war blass und hatte Ringe unter den Augen, als hätte ihr jemand einen mit Farbe beschmierten Daumen ins Gesicht gedrückt.

»Nicht viel«, gestand Fred. Doch im Nordosten lag England. Das Pochen in seiner Brust wurde etwas schwächer: Der Weg nach Nordosten führte nach Hause, zu seinem Schlafzimmer, seinem Bücherregal, seinem an der Wand lehnenden Kricketschläger. Er führte zu seinem Vater.

Con drückte die Schultern durch, als müsste sie gleich kämpfen. »Und nun? Raten wir einfach?«

»Ich habe mal gehört«, sagte Fred, »dass man Ameisen folgen soll, denn sie führen einen zum Wasser.«

»Ameisen!«, fragte Con fassungslos. »Ameisen sollen uns die Richtung zeigen?«

Lila sah Con scharf an, dann senkte sie den Blick zu Boden und durchkämmte das Laub mit den Augen. »Hast du einen besseren Vorschlag?«, fragte sie.

Con seufzte, dann bückte sie sich und schaute unter einen Holzklotz.

Die ersten Ameisen erwiesen sich als Enttäuschung. Max entdeckte eine Straße kleiner, roter Ameisen und versuchte sie zu berühren. »Schaut mal! Sie glänzen!«

»Nicht anfassen!«, sagte Lila und riss ihn zurück. »Hier gibt es auch gefährliche Ameisenarten.«

»Etwa diese?«, fragte Con und wich einen Schritt zurück.

»Keine Ahnung, das ist ja das Problem! Die gefährlichste Art heißt Tropische Riesenameise, aber ich weiß nicht genau, wie sie aussieht.«

»Riesig, nehme ich an«, sagte Con.