Sophie Scholl: Es reut mich nichts - Robert M. Zoske - E-Book

Sophie Scholl: Es reut mich nichts E-Book

Robert M. Zoske

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Beschreibung

Die Bilder von Sophie Scholl kennt jeder: Die dramatischen Filmszenen im Lichthof der Münchner Universität haben sich ins kulturelle Gedächtnis eingefräst. Man erinnert die todesmutige Verteidigerin der Menschlichkeit vor dem Volksgerichtshof. Doch hinter der Ikone droht der Mensch zu verschwinden: jene junge Frau, die Liebe und Freundschaft auf äußerst verwirrende und widersprüchliche Weise erlebte. Die sich viele Jahre begeistert im Bund Deutscher Mädel engagierte. Die hohe Ideale hatte und nur langsam erkannte, dass der Nationalsozialismus sie aufs Brutalste verriet. 1942 schreibt Sophie: "Habe ich geträumt bisher? Manchmal vielleicht. Aber ich glaube, ich bin aufgewacht". Auf der Basis von bislang unveröffentlichtem Quellenmaterial zeigt uns Robert M. Zoske Sophie Scholl im neuen Licht.

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Seitenzahl: 595

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Das Buch

»Ich bin nach wie vor der Meinung, das Beste getan zu haben, was ich gerade jetzt für mein Volk tun konnte.« Das sagte Sophie Scholl nach ihrer Verhaftung im Februar 1943, so steht es im Protokoll der Geheimen Staatspolizei. Doch wie gelangte die 21-Jährige zu dieser Überzeugung? Was musste geschehen, damit aus einem begeisterten Hitlermädchen eine entschlossene Widerstandskämpferin wurde?

Robert M. Zoske spürt dieser Frage in seiner empathischen Biografie nach. Auf der Basis neuer Quellen und bisher unveröffentlichter Dokumente zeigt er Sophie Scholl, so wie man sie bislang noch nicht kannte.

Der Autor

Robert M. Zoske, geboren 1952 in Schleswig-Holstein, ist evangelischer Theologe und Historiker der Weißen Rose. Bis 2017 arbeitete er als Pastor der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland. Er hat 2014 über Hans Scholl promoviert, 2018 erschien die vielbeachtete Biografie Flamme sein! Hans Scholl und die Weiße Rose. Zoske lebt mit seiner Frau in Hamburg.

Robert M. Zoske

Sophie Scholl: Es reut mich nichts

Porträt einer Widerständigen

Propyläen

Das Titelzitat »Es reut mich nichts« entstammt einem Brief Sophie Scholls an Fritz Hartnagel, Ulm, 10. Mai 1938 (Briefwechsel S. 51) und Gestapo-Vernehmung, 20. Februar 1943 (BArch R 3018/1704 und R 3017/34635).

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ISBN 978-3-8437-2417-3

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020

Titelfoto: Aufnahme von Werner Scholl, 6. Juni 1938

Gestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis
Über das Buch / Über den Autor
Titel
Impressum
Widmung
Prolog
Endspiel
1. Tochter
2. Hitlermädchen
3. Konfirmandin
4. Schülerin
5. Geliebte
6. Kindergärtnerin
7. Arbeitsmaid
8. Briefpartnerin
9. Studentin
10. Rebellin
11. Märtyrerin
NACHSPIEL
Epilog
Dank
Bildteil
Anhang
Dokumente
Quellen und Literatur
Anmerkungen
Bildnachweis
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

für beatriximmer

Allein in der Tat ist die Freiheit.Dietrich Bonhoeffer

Prolog

»Ich bin nach wie vor der Meinung, das Beste getan zu haben, was ich gerade jetzt für mein Volk tun konnte. Ich bereue deshalb meine Handlungsweise nicht und will die Folgen, die mir aus meiner Handlungsweise erwachsen, auf mich nehmen.«1

Diese Sätze sagt Sophie Scholl nach ihrer Verhaftung am 18. Februar 1943, sie stehen im Vernehmungsprotokoll der Geheimen Staatspolizei. Vier Tage später werden Sophie und ihr Bruder Hans sowie Christoph Probst wegen Hochverrats zum Tode verurteilt und hingerichtet. Das Todesurteil gegen die in einem zweiten Prozess angeklagten Willi Graf, Kurt Huber und Alexander Schmorell wird zwei Monate später gefällt. Sie alle zählen zum inneren Kreis der »Weißen Rose«, deren Entschlossenheit wir bewundern, deren mutiges Handeln wir erinnern. Gemeinsam stellten sich die Widerstandskämpfer dem verbrecherischen NS-Regime entgegen.

Gleichwohl hat allein Sophie Scholl durch die Unbeugsamkeit und Unbedingtheit, mit der sie zu ihren Taten stand – sich nicht distanzierte oder strafmildernde Umstände erbat –, eine fast ikonische Bedeutung erlangt. Jeder meint die Szene zu kennen, in der sie noch im Angesicht der Gefahr die Flugblätter in den Lichthof der Universität hinunterstößt. Es scheint, als wäre diese junge Frau zur Heldin geboren. Doch der Mensch Sophie, wie er uns aus den Quellen entgegentritt, hatte viele Facetten, von denen die todesmutige Gefangene, wie sie am Ende vor dem Volksgerichtshof steht, nur eine von vielen ist.

Vor allem war es ein langer, zum Teil schmerzhafter Entwicklungsprozess, den Sophie Scholl durchleben musste. Ihre Briefe und ihr Tagebuch machen deutlich, weshalb für die junge Kindergärtnerin und Studentin, die sich viele Jahre aus tiefster Überzeugung im Bund Deutscher Mädel engagierte, der Freiheitskampf immer unausweichlicher wurde, warum sie schließlich bereit war, ihr Leben einzusetzen. Sie dokumentieren die philosophischen, religiösen und politischen Prämissen, die aus einem begeisterungsfähigen, mitunter naiven Mädchen eine kritische und charakterstarke Frau werden ließen. 1942 schrieb sie: »Habe ich geträumt bisher? Manchmal vielleicht. Aber ich glaube, ich bin aufgewacht.«2

Dieses Buch will dem »Aufwachen« der Widerständigen nachspüren, will jenseits der Klischees eine Persönlichkeit zeichnen, die nicht nur Mut, sondern auch Unsicherheit und Zögerlichkeit kennt, die blind vertraut und erst langsam erkennt, dass ihre Ideale missbraucht worden sind. Es geht darum, den ganzen Menschen zu zeigen, der im öffentlichen Gedenken oft geglättet und überhöht zur Darstellung kommt. Erst wenn wir diese differenzierte Sicht wagen, können wir Sophie Scholls Vermächtnis als das bewahren, was es ist: ein lebendiges Zeugnis für die Sehnsucht nach Freiheit und die immense Kraft, die aus diesem Antrieb erwachsen kann.

1. Tochter

Als Sophie Scholl am 9. Mai 1921 in Forchtenberg im Hohenloher Land geboren wurde, befand sich die Partei Adolf Hitlers in einer schweren Krise. Der Agitator hatte die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) verlassen, weil er Fusionsverhandlungen mit anderen rechtsnationalen Parteien kategorisch ablehnte. Um ihn zurückzugewinnen, trug ihm der leitende Parteiausschuss am 12. Juli 1921 sämtliche Machtbefugnisse an:

Der Ausschuß ist bereit in Anerkennung ihres ungeheuren Wissens, Ihrer, mit seltener Aufopferung und nur ehrenamtlich geleisteten Verdienste für das Gedeihen der Bewegung, Ihrer seltenen Rednergabe, Ihnen diktatorische Machtbefugnisse einzuräumen und begrüßt es auf das freudigste, wenn Sie […] die Stelle des ersten Vorsitzenden übernehmen.

Am 29. Juli 1921 stimmten auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung in München 553 der 554 Anwesenden für Hitler. Der Beschluss wurde von »nicht endenwollendem Beifall« begrüßt.1

Der Weg Sophie Scholls in den Widerstand und der Aufstieg Hitlers zum Diktator sind untrennbar miteinander verbunden. Ab Herbst 1942 war Sophie Scholl entschlossen, den »Führer« mit allen Mitteln zu beseitigen, er ließ die Studentin 1943 hinrichten.2

Sophia Magdalena Scholl wurde am 10. Juli in der Forchtenberger Michaelskirche – benannt nach dem Schutzpatron Deutschlands – evangelisch getauft. Sie war nach Inge (*1917), Hans (*1918) und Elisabeth (*1920) das vierte Kind von Magdalene (»Lina«, *1881) und Robert Scholl (*1891). 1922 folgten Werner und 1925 Thilde, die aber, an Masern und Lungenentzündung erkrankt, nur neun Monate alt wurde. Roberts uneheliches Kind Ernst Gruele (*1914), dessen leibliche Mutter kurz nach der Geburt starb, war als »Pflegesohn« in der Familie mit dabei, ohne wirklich dazuzugehören.3

Der Verwaltungsfachmann Robert Scholl war seit 1920 Bürgermeister (»Stadtschultheiß«) in dem 850-Seelen-Ort. Davor hatte er ab 1917 in Ingersheim, heute Teil von Crailsheim, als Ortsvorsteher gearbeitet. Dort wurden auch die beiden ältesten Kinder geboren.

Lina Scholl war 1904 in das Diakoniewerk Schwäbisch-Hall eingetreten, um Diakonisse zu werden. Nach fünfjähriger Ausbildung zur Krankenschwester wurde sie 1909 eingesegnet. Was sie damals gelobte, wurde zur Leitlinie ihres Lebens: »Was will ich? Dienen will ich. Wem will ich dienen? Dem Herrn Jesu in Seinen Elenden und Armen. Und was ist mein Lohn? Ich diene weder um Lohn noch um Dank, sondern aus Dank und Liebe; mein Lohn ist, daß ich darf!«4 Diese innere Haltung hat sie auch ihren Kindern nahegebracht.

Der Sanitäter Scholl lernte Lina im Frühjahr 1915 im Reservelazarett Ludwigsburg kennen. Dort versah der Waffenverweigerer seinen Militärdienst. In der zehn Jahre älteren Diakonisse fand er nicht zuletzt eine Mutter für seinen kleinen Sohn Ernst.

Mit der Heirat legte Lina ihren Beruf nieder. Fortan waren die Rollen klar verteilt: Die Erziehung der Kinder lag hauptsächlich in den Händen der Mutter, der Vater ging ganz in seinem Beruf auf. Die fröhliche Pietistin gab an ihre Kinder Gottvertrauen und Opferbereitschaft weiter, der skeptische Kulturprotestant lehrte sie politisches Bewusstsein und liberales Denken.

Im Frühjahr 1916 fielen zwei von Roberts Brüdern an der Westfront. Noch im selben Jahr schrieb der überzeugte Pazifist:

Was hat denn der Christengott, das Christentum, mit dem deutschen Sieg zu tun? Sind nicht in allen Ländern wahre Christen? Hätte Christus geantwortet, wenn man ihn gefragt hätte »Was sollen wir tun, wenn uns unsere Regierung – oder unser Vaterland – gegen einen Feind sendet?« Hätte er etwa gesprochen: ›Haltet Euch tapfer und tötet möglichst viele Feinde, damit ihr den Sieg davontraget!‹ Nach meiner Überzeugung hätte er gesagt: »Ihr dürft nicht töten, eher müsst ihr Euch Arme und Beine weghacken lassen, als dass ihr die Waffe gegen jemanden gebraucht.«5

Als politisch denkender Mensch hatte Robert Scholl nicht nur den Hohenloher Boten, sondern auch die Frankfurter Zeitung abonniert.

Die große Politik war in der kleinen Provinz stets präsent. Am Familientisch analysierte der Vater die schwierigen Zeiten: 1921, vier Tage vor Sophies Geburt, belastete eine Konferenz der Siegermächte des Ersten Weltkriegs Deutschland mit der exorbitanten Summe von 132 Milliarden Goldmark. Eine Hyperinflation annullierte die Ersparnisse von Millionen Menschen. Im August wurde rund hundertfünfzig Kilometer südwestlich von Forchtenberg in Bad Griesbach im Schwarzwald der Finanzminister Matthias Erzberger ermordet. Es war der Beginn einer Reihe politisch motivierter Anschläge und Gewaltakte durch Selbstjustiz, sogenannter Fememorde. Im Juni 1922 töteten Nationalsozialisten Außenminister Walther Rathenau. Im Januar 1923 besetzten französische Truppen das Ruhrgebiet. Im November scheiterte ein blutiger Putschversuch Hitlers in München. Seit 1923 zogen die Nationalsozialisten mit dem antisemitischen, gewaltverherrlichenden und rachsüchtigen Kampflied durch die Straßen: »Deutschland, erwache! Sturm, Sturm, Sturm! […] Wehe dem Volk, das heute noch träumt, Deutschland, erwache!«6

Das war die Welt, in die Sophie Scholl hineingeboren wurde. In den neun Jahren, in denen sie in Forchtenberg lebte, schloss sie, soweit bekannt, keine engeren Freundschaften. Ihr Leben war – und blieb es im Wesentlichen auch später – auf die Familie konzentriert.

Inge Scholl beschrieb die ersten Jahre in Forchtenberg rückblickend so:

Sophies Kinderlandschaft war das kleine Kocherstädtchen, das am Hang des Kochertales gelegen war, im Norden Württembergs, wo man nicht mehr reines Schwäbisch, sondern Hohenlohisch-Fränkisch spricht. […] Am Fuss des Städtchens zieht sich der stille, blinkende Fluss träumend hin, der allein schon eine Welt von Herrlichkeiten für ein Kind bietet. Sophie liebte das Wasser so sehr, wie nur ein Kind es lieben kann, und lernte schon mit sechs Jahren schwimmen. […] Hand in Hand mit ihrem ein Jahr jüngeren Bruder Werner unternahm sie die kleinen Streifzüge und Abenteuer in der Welt, ohne viel Aufsehen und Geschrei davon zu machen. Dabei wurde sie in ihrem Spielhöschen mit ihrem glänzend glatthaarigen, dunkelbraunen Pagenkopf, dem ebenmäßigen, stillen Gesichtchen und dem energischen, aufrechten Gang für den Jungen gehalten, während man den vor Übermut und Lebenslust sprühenden, bildhübschen, blonden Lockenkopf ihres Brüderchens für das Mädelchen ansah. […] Sie] war ein sehr stilles, innerliches Kind. Mit einer starken Intensität versenkte sie sich ins Spiel und ging völlig darin auf.7

Eine Freundschaft, die für Sophie zeitlebens prägend werden sollte, rührte allerdings noch aus frühen Kindertagen her, nämlich die zu Lisa Remppis. Die Familie wohnte im selben Haus, in dem Sophies Tante Elise einen Delikatessenladen führte, im rund fünfzig Kilometer entfernten Städtchen Backnang. Dort lernten sich die beiden Mädchen kennen. Mit elf trug Lisa in Sophies Poesiealbum ein: »Der beste Brand ist sinnlos, wenn er in sich selbst verglüht. Lisa. Ulm, den 16. 4. 35.«8 – Was sie wohl dachte, als sie Jahre später von dem Urteil gegen Sophie hörte? War alles sinnlos geworden?

Obwohl sie immer an verschiedenen Orten wohnten, blieben Sophie und Lisa über viele Jahre eng befreundet. Vor allem Sophie litt unter der räumlichen Trennung. Häufig äußerte sie den Wunsch nach mehr Gemeinsamkeit: »Manchmal ist mir, besonders wenn ich versuche, an Dich zu schreiben, als lägen nicht nur so und so viel km zwischen uns. Oder macht dieses Gefühl nur die Entfernung aus? Ich habe es bei andern Menschen nicht, vielleicht weil ich nie so nahe mit ihnen gestanden bin.«9 Mit achtzehn sehnte sie sich so sehr nach der Freundin, dass sie den Wunsch verspürte, mit ihr zusammenzuziehen: »Wenn Du fertig bist in der Schule können wir vielleicht eine Zeitlang zusammen studieren.« Sophie suchte bei Lisa Geborgenheit: »Denn das Wesentliche dran ist ja das zusammenleben. Ich wollte das könnten wir.« Ein so offensiv vorgetragenes Bedürfnis nach Nähe findet sich in ihren Briefen sonst nirgends, auch nicht in denen an ihren späteren Freund Fritz Hartnagel.

Deutlich wird die Bedeutung, die Lisa zukam, auch an Sophies Reaktion auf ihre Verlobung: Als die Freundin ihr nur eine gedruckte Verlobungsanzeige ohne persönlichen Gruß schickte, war sie tief gekränkt.10 Die Sehnsucht aber blieb: Noch 1942, mit einundzwanzig Jahren, wünschte sich Sophie, Lisa im Dunkeln bei sich zu haben: »Wenn Du heute nacht bei mir schlafen würdest, das wäre besser.«11 Sophie liebte Lisa und glühte für sie.

Anfang der Zwanzigerjahre hielt in Forchtenberg unter der Leitung des neuen Bürgermeisters Robert Scholl der technische Fortschritt Einzug: Im Frühjahr 1921 löste das Postauto die Pferdekutsche ab, 1922 erhielt der Ort eine Kanalisation, im Juni 1924 wurde die neue Bahnstrecke eingeweiht, und im Herbst 1927 kam Dr. Ferdinand Dietrich – der spätere NSDAP-Kreisleiter und Freund Robert Scholls – als Stadt- und Distriktsarzt nach Forchtenberg.12

Sophie besuchte mit ihrer Schwester Elisabeth (»Liesl«) die Kleinkinderschule, die von einer Diakonieschwester geleitet wurde. Das Erzählen biblischer Geschichten war selbstverständlich. Lina Scholl ging sonntags aus Überzeugung in den Gottesdienst, der Vater erfüllte damit eine Standespflicht; die Kinder besuchten regelmäßig den Kindergottesdienst, den zuweilen die Mutter leitete.

Der Kontrast zwischen den in der Familie gelebten Werten und der Weltsicht des künftigen Diktators, wie er sie 1926 in seiner Schrift Mein Kampf formulierte, könnte nicht größer ausfallen:

Juden waren und sind es, die den Neger an den Rhein bringen, immer mit dem gleichen Hintergedanken und klaren Ziele, durch die dadurch zwangsläufig eintretende Bastardisierung die ihnen verhaßte weiße Rasse zu zerstören, von ihrer kulturellen und politischen Höhe zu stürzen und selber zu ihren Herren aufzusteigen […] Der völkischen Weltanschauung muß es endlich gelingen, jenes edlere Zeitalter herbeizuführen, in dem die Menschen ihre Sorge nicht mehr in der Höherzüchtung von Hunden, Pferden und Katzen erblicken, sondern im Emporheben des Menschen selbst […]13

Viele belächelten die Suada des Demagogen; seinen eliminatorischen Antisemitismus und neurotischen Rassenwahn nahm man nicht ernst. Doch Hitler meinte es todernst: Zwar nannte er in Mein Kampf keine konkreten Taten, aber der Leser konnte schon zu diesem frühen Zeitpunkt erkennen, dass Juden und »Neger« für ihn kein Existenzrecht hatten. Der Siegeszug der »weißen Rasse« war sein erklärtes Ziel. Er stieß dabei auf offene Ohren, denn die antisemitische und nationalistisch-rassistische Weltsicht war eine wesentliche Verständigungsgrundlage nicht nur der Führungseliten.

Von Sophie Scholl gibt es vier eigene Erinnerungen an die Forchtenberger Zeit. Sie alle sind Teil einer 1937/38 für die Schule angefertigten Jahresarbeit.14 Ihr frühester Rückblick schilderte das Ritual des Samstagbades. Darin beschrieb sie eine Gewohnheit, die noch bis in die Siebzigerjahre häufig anzutreffen war: Einmal wöchentlich, meist samstags, wurde in der Familienwanne gebadet. Inge als die Älteste der Geschwister genoss bei den Scholls das Privileg, schon am Freitag ins Wasser zu dürfen, »damit nicht all unser Dreck zusammenkam«. Einen Tag später stiegen die »vier Kleinen« jeweils zu zweit in den Bottich. Mit feiner Ironie schreibt Sophie: »Unsere Mutter hatte uns die überaus wichtige Aufgabe gestellt, uns selbst zu waschen. Dies erfüllte uns mit ernstem Eifer; wir wußten wohl, welche Verantwortung wir trugen.« Kleine Rivalitäten waren beim gemeinsamen Baden inbegriffen, denn jede(r) versuchte, »in den Besitz des größten Schwammes zu kommen […], das Badewasser schmeckte durch ihn ausgezeichnet«. Vor dem Einschlafen gab es noch eine heiße Zuckermilch, ein Honigbrot und eine Märchenerzählung der Mutter.

Als Sophie in ihrer Jahresarbeit im Frühlingsmonat Mai angekommen war, erzählte sie über »das schönste Fest« überhaupt – eine Hochzeit. Leider könne sie nur mit einer Kinderhochzeit im Kindergarten aufwarten, doch es sei alles dabei gewesen: Bräutigam, Braut, Hochzeitsgäste, Brautjungfern, Brautführer, Bänder und Blumengirlanden. Sophie war die Braut und »in meinem Leben nimmer schöner gewesen, als damals im Brautschleier und Kranz aus Maßliebchen«. Nach dem Hochzeitsmahl gab es ein »wildes Versteckspiel«, bei dem zwar der Bräutigam seinen künstlichen Bart verlor, »aber trotzdem war es eine überaus herrliche Hochzeit gewesen«.

Am 1. Mai 1928, acht Tage vor ihrem siebten Geburtstag, wurde Sophie in die evangelische Volksschule eingeschult. Religion war Grundbestand des Fächerkanons. Sophie Scholl wurde also frühzeitig zu Hause, in der Vor- und der Grundschule und in der Kirche protestantisch sozialisiert.

Später hat man die erwachsene Frau als schweigsam, zurückhaltend, sogar schüchtern beschrieben.15 Umso intensiver suchte man nach Hinweisen, die schon in ihrer Kindheit auf das Besondere, Außergewöhnliche ihrer Persönlichkeit verwiesen. So soll sie vehement dagegen protestiert haben, dass ihre Schwester Elisabeth an ihrem Geburtstag wegen einer schlechten Leistung in die letzte Klassenreihe zurückgesetzt wurde. Inge wiederum erzählte die Version, Elisabeth habe damals »ihre erste und einzige ›Tatze‹ verabreicht« bekommen, also einen Schlag auf die Handfläche. Das habe bei der kleinen Sophie einen »stummen, nicht enden wollenden Tränenstrom« der Empörung ausgelöst: »Ein solcher Mißklang des Seins erfüllte Sophielein mit dem ganzen Weltschmerz, dessen ihr von Gerechtigkeit und Harmonie ergriffenes Seelchen fähig war.« Auch wurde berichtet, Sophie habe sich schon als Grundschülerin selbstsicher mit den Worten charakterisiert: »Die Brävste bin ich nicht, die Schönste will ich gar nicht sein, aber die Gescheiteste bin ich immer noch.«16 Es bleibt zu konstatieren: Außer in der Scholl’schen Familiensaga gibt es keinen Hinweis, dass Sophie sich als Kind in irgendeiner Weise vor anderen auszeichnete.

Auch an das Osterfest in Forchtenberg erinnerte sich Sophie in ihrem Schulaufsatz. Im Hause Scholl war in der letzten Passionswoche bis Karfreitag alles geputzt und aufgeräumt. Der österliche Frühstückstisch war bunt mit Blumen, Leckereien und kleinen Geschenken geschmückt, und der große Osterspaziergang führte zur Burgruine, wo versteckte Geschenke auf ihre Entdeckung warteten. Es wurde viel gespielt. Sicher wird die Familie auch in die Kirche gegangen sein, Sophie erwähnte den Gottesdienstbesuch allerdings nicht. Im letzten Satz erinnerte sie an den säkular-symbolischen Sinn der Feiertage: »Die Osterfreude am Sieg alles Lebens wird uns jedes Jahr reich und frei machen.«

In weiten Teilen Deutschlands bekam das Osterfest inzwischen eine völlig neue Bedeutung. So dichtete etwa Heinrich Anacker 1933 in Deutsche Ostern:

Hört ihr die Osterglocken frohlocken?

Auch Deutschland erlitt sein Golgatha,

und ward ans Kreuz geschlagen -nun hat das Bittre, das ihm geschah,herrliche Frucht getragen.17

Anackers Verse führten nicht nur exemplarisch den Missbrauch der biblischen Botschaft vor Augen. In seinen Zeilen kam auch die weitverbreitete Aufbruchsstimmung im Land zum Ausdruck. Die NSDAP hatte am 30. Januar 1933 die Macht übernommen.

Sophie ließ der Schilderung des Osterfests die Beschreibung eines Erntedankfeuers in Forchtenberg folgen. Beim Schreiben sprang sie förmlich in ihre Erinnerung hinein: »Das war früher, als wir noch kaum in der Schule waren«, lautete der erste Satz. Auf einem abgeernteten Kartoffelfeld entzündeten die Kinder das Kraut. Sie schrien, lachten und sangen um das mächtig qualmende Feuer herum und legten »ein paar Kartoffeln in den schwelenden Haufen«. Die Kinder hatten ihren Spaß: »Sie schmeckten nachher nach Rauch und Erde, aber wir versicherten uns, daß dieser Geschmack ganz köstlich wäre und etwas anderes als der fade Milchbrei daheim.«

Es war eine fröhliche Sophie, die aus diesen Jahren berichtete. Doch die Geborgenheit, die die Heranwachsende in der großen Familie erfuhr, ließ Krankheit und Tod nicht außen vor. In der Nacht vom 4. auf den 5. Januar 1926 starb Thilde, die jüngere Schwester. Bis zu ihrer Aussegnung und Bestattung zwei Tage später wurde die Kleine in der Wohnung aufgebahrt.

Im Dezember 1929 stand Robert Scholls Wiederwahl zum Bürgermeister an. Sie endete für ihn mit einem Debakel, er unterlag dem Gegenkandidaten mit 176 zu 299 Stimmen. Mit seinen Modernisierungen hatte er sich nicht nur Freunde gemacht, zudem wenig Kontakt zur Bevölkerung gesucht. Er galt als überheblich. Seine Gegner hatten auch auf die »sittliche Verfehlung« in Gestalt des unehelichen Sohnes Ernst Gruele hingewiesen.

Robert Scholl und seine Familie sahen sich dadurch auf schlimmste Weise verleumdet. Es folgte ein nervenaufreibender juristischer Kleinkrieg. Auch die achtjährige Sophie wird die Stimmung als bedrohlich empfunden haben. Die acht Scholls rückten noch enger zusammen.

Robert übergab die Amtsgeschäfte am 9. März 1930, verließ die Rathauswohnung aber erst am 13. Juni 1930 – nach Androhung einer Räumungsklage durch den Gemeinderat. Er hatte sich im Frühjahr erfolgreich in Stuttgart auf den Posten des Geschäftsführers einer Genossenschaft der Maler und Lackierer beworben. Als Wohnort wählte die Familie Ludwigsburg, wo sich die Eheleute fünfzehn Jahre zuvor kennengelernt hatten. Ernst Gruele blieb für eine Schlosserlehre bei seinem Lehrherrn. In der Garnisonsstadt mit rund 30 000 Einwohnern, rund zwölf Kilometer nördlich der Landeshauptstadt gelegen, sollte die Familie allerdings nicht einmal zwei Jahre bleiben.

Sophie ging ab Juni 1930 in die Evangelische Mädchenvolksschule. Im Januar 1932 schmückte ihr Eintrag das Poesiealbum einer Freundin. Als hätte die Mutter ihr das vorgesprochen, malte sie in Schönschrift:

Lass nie den frohen Mut Dir rauben. / Und halte fest an Deinem Glauben / In guten, wie in schlimmen Tagen, / So wirst die Last du leichter tragen. / Ein fester Stab ist kindlich Gottvertrau’n!18

Der Vater bildete sich in Abendkursen in Stuttgart weiter. Im Herbst 1931 bewarb er sich erfolgreich als Wirtschaftsprüfer und Steuerberater um die Teilhaberposition in einem Steuerbüro in Ulm. Sophie wechselte zwar noch in Ludwigsburg an die Realschule, aber im März zog die Familie in den Norden Ulms, in die Kernerstr. 29, Teil eines Villenviertels am Rande des Michelsberges.19

Im April 1932 begann für Sophie der erste Schultag an der Mädchenoberrealschule. Inge Scholl schrieb im März 1947, damit sei für Sophie auch die »Zeit der Freundinnen« gekommen, doch sie habe das distanziert, »mit Interesse, jedoch nicht ohne Abstand« wahrgenommen: »Eine einzige Freundschaft, die schon in frühester Kindheit geschlossen wurde, begleitete sie durch ihr ganzes Leben.« Gemeint ist Lisa Remppis. Inge betonte: »Zu Freunden aber wurden ihr in dieser Zeit mehr und mehr ihre Geschwister.«20

Mit dem Wohnortwechsel von Ludwigsburg nach Ulm zogen die Scholls in eine der Hochburgen der nationalsozialistischen Bewegung. Seit 1930 war die NSDAP dort die stärkste Partei. Die 1922 gegründete Ortsgruppe zählte rund tausend Mitglieder und hatte mit dem Ulmer Sturm ein eigenes Kampfblatt, das beständig gegen Mitbürger jüdischen Glaubens hetzte. Die braunen Truppen waren durch Aufmärsche, Gewaltaktionen der SA und mehrere Auftritte Hitlers bereits vor der Machtübernahme präsent. Schon 1929 war die Albert-Einstein-Straße in Fichte-Straße umbenannt worden und die Stadtverwaltung begann, Miet- und Lieferverträge mit Juden zu kündigen. Bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 übertraf die NSDAP in Ulm mit 45 Prozent der Stimmen den Reichsdurchschnitt um gut ein Prozent. Einen Tag später veranstaltete die Partei einen Fackelzug, am 7. März zogen Angehörige von SA, SS und Stahlhelm zum Rathaus, hielten Reden und hissten dort und an anderen öffentlichen Gebäuden Hakenkreuzfahnen. Am 13. März stimmte die Mehrheit des Gemeinderats für seine Selbstauflösung, die sozialdemokratischen Politiker der SPD zwang man noch vor dem Verbot der Partei zum Mandatsverzicht. Bereits am 15. März wurde Hitler zum Ehrenbürger ernannt.21

Ein Untersuchungsausschuss entfernte im selben Jahr – wegen angeblicher Korruption – zahlreiche Beamte aus ihren Ämtern, darunter den jüdischen Museumsdirektor und den liberal gesinnten Oberbürgermeister. Die Stadt war ab 1933 nicht nur administrativ fest in nationalsozialistischer Hand, die breite Mehrheit der Bevölkerung begrüßte und trug den neuen Staat. Wer anders dachte und das öffentlich vertrat, war in Gefahr, im Konzentrationslager Fort Oberer Kuhberg inhaftiert zu werden, das seit November 1933 bestand.22

Insgesamt war 1933 das Jahr der institutionell herbeigeführten nationalsozialistischen Revolution: Am 30. Januar wurde Adolf Hitler vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Im Februar brannte der Reichstag. Die Reichstagsbrandverordnung setzte die Bürgerrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft.

In dieser Zeit des Umbruchs erhielt an einem Sonntagnachmittag im Herbst 1933 Robert Scholl Besuch von Richard Scheringer, einem alten Bekannten.23 Der hatte noch 1930 als Leutnant der Reichswehr mit zwei Kameraden in Ulm für die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei geworben. Da das Innenministerium die Mitgliedschaft in der NSDAP als Hochverrat einstufte, wurde Anklage auf Vorbereitung zum Hochverrat erhoben. Adolf Hitler trat im Prozess als Zeuge vor dem Reichsgericht in Leipzig publikumswirksam auf und beschwor die Legalität seiner Bewegung. Die drei Offiziere wurden aufgrund ihrer politischen Agitation zu achtzehn Monaten Festungshaft verurteilt. In der Gefangenschaft wurde Scheringer Kommunist, ein KPD-Abgeordneter verlas 1931 sein Bekenntnis zum »wehrhaften Proletariat« im Reichstag. Weitere Haftstrafen folgten. Scheringer kannte die Familie Scholl durch die Mutter seiner Lebensgefährtin Marianne Heisch, die mit Lina Scholl befreundet war.

In seiner 1979 erschienenen Autobiografie behauptete Scheringer später, Robert Scholl habe an jenem Sonntag in Ulm »empört« die Nazis eine »Rotte von Verbrechern« genannt. Man habe darin übereingestimmt, der Diktator müsse weg, wenn man auch nicht wüsste, wie. Als er auf die »kommunistische Volksrevolution gegen Hitler« verwies, habe Scholl erwidert, es komme »gar nicht darauf an, wo die Kräfte herkommen, die dagegen sind«, allein der Erfolg sei wichtig, über alles andere könne man später reden. In ihrer Frontstellung seien sie sich einig gewesen, sonst aber seien »Gegensätze oder Unterschiede« aufgetreten, da Scholl ein »ziviler, streng nach der Legalität orientierter Mensch« gewesen sei, »dem Machtfragen nie geläufig« gewesen seien – was wohl bedeutet, dass er Gewaltanwendung ablehnte.

Für Scheringer war »die ganze Familie [schon 1933] gegen die Nazis eingestellt«. Die jahrelange Begeisterung für und die Teilhabe der Schollkinder an der nationalsozialistischen Bewegung erwähnte er nicht.24

2. Hitlermädchen

Robert Scholl sei ein Demokrat und von Anfang an gegen Hitler eingestellt und damit ein Vorbild für seine Kinder Inge, Hans, Elisabeth, Sophie und Werner gewesen. Diese Behauptung hat auch Inge Aicher-Scholl nach dem Krieg kolportiert. Allerdings hatte sie in den Fünfzigerjahren gute Gründe, ihren Vater und ihre Familie als überzeugte Demokraten hinzustellen.

Die älteste Scholltochter gehörte zu den Mitbegründern der Hochschule für Gestaltung (HfG) in Ulm. Das permanent unterfinanzierte Projekt war substanziell auf Unterstützung aus Amerika angewiesen. 1952 hatte der amerikanische Hochkommissar für Deutschland John Jay McCloy eine Million Mark zur Gründung der HfG bereitgestellt; die Mittelvergabe erfolgte aus dem vom Geheimdienst Central Intelligence Agency (CIA) koordinierten McCloy-Fonds. Eine weitere Million gaben Privatpersonen, Wirtschaftsverbände und staatliche Stellen der Bundesrepublik.1 Im Zuge der Entnazifizierung und Umerziehung der Deutschen (Reeducation) suchten die Amerikaner unter den Besiegten nach Vorbildern, die geeignet schienen, sich für den Aufbau der jungen Demokratie zu engagieren.

Der Kalte Krieg hatte neue Gegensätze aufbrechen lassen. Im Osten schürte man Ressentiments gegen die »amerikanischen Imperialisten«, im Westen wuchs die Angst vor dem Kommunismus stalinistischer Prägung. So geriet auch die Erinnerung an die Geschwister Scholl im Kampf der Ideologien zwischen die Fronten: Stilisierte man sie in der DDR zu Heroen des sozialistischen Antifaschismus, machte man sie in der BRD zu Leuchten einer liberalen Demokratie. Diese Grundeinstellungen sollten Sophie und Hans angeblich von ihrem Vater übernommen haben.

Wie Robert Scholl tatsächlich dachte, zeigt ein Brief aus dem Jahr 1960, worin er sich zum Nationalsozialismus äußert. Darin wird deutlich, dass er sehr wohl begründete Zweifel hegte – allerdings nicht aus einer demokratischen Überzeugung heraus, sondern weil er Massenbewegungen generell ein tiefes Misstrauen entgegenbrachte. Schließlich hatte er erlebt, wie leicht eine Menschenmenge zu manipulieren war. Die Deutschen hatten Hitler gewählt, ihn zwölf Jahre lang unterstützt und waren ihm 1945 selbst noch in den Untergang gefolgt.

Ich halte unsere Massendemokratie für eine völlige Illusion. […] Im Dritten Reich haben etwa 98 % bewusst die damaligen Gangster anerkannt, etwa 1 % hat ihnen mit Widerwillen aus Angst zugestimmt und nur etwa 1 % waren mutige Gegner.2

Bis zur Ermordung seiner Kinder zählte Robert Scholl offenbar nicht zu dem einen Prozent »mutiger Gegner«, sondern muss eher jenen zugerechnet werden, die »mit Widerwillen aus Angst [zustimmten]«. Im August 1936 bestätigte ihm das NSDAP-Gauamt in Stuttgart politische Zuverlässigkeit: Er stehe »vorbehaltlos zum Volk, zum Führer und zur heutigen Staatsform«, und er wies auf dem Briefpapier seiner Kanzlei werbewirksam auf seine Mitgliedschaft im Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund (NSRB) hin.3

Persönlich verband Robert Scholl ab 1927 eine lebenslange Freundschaft mit dem führenden Nationalsozialisten Dr. Ferdinand Dietrich.4 Der Forchtenberger Arzt trat 1931 in die NSDAP und später in zahlreiche weitere NS-Verbände ein. Bei der SA brachte er es bis zum Standartenführer, im Parteigefüge bis zum Oberbereichsleiter. Am 14. Februar 1933 wurde er Kreisleiter für den hohenlohischen Oberamtsbezirk Öhringen – mit bis zu fünfundzwanzig Mitarbeitern. Damit war er »für die gesamte politische, kulturelle und wirtschaftliche Gestaltung aller Lebensäußerungen nach nationalsozialistischen Grundsätzen verantwortlich«.5

Um die NS-Ideologie durchzusetzen, arbeitete Dietrich mit Einschüchterungen, Drohungen, Gewaltanwendungen, Entfernungen Missliebiger aus dem Amt, Verfolgung politisch Andersdenkender und Folterungen. Der »überzeugte Antisemit« organisierte Zerstörungen jüdischen Eigentums und Deportationen von Juden; als »Eugeniker« verantwortete er Zwangssterilisationen von Kranken und Behinderten. »Einzelne Akte der Mitmenschlichkeit« könnten nicht ungeschehen machen, dass Dietrich »als Funktionsträger in verantwortlicher Position den NS-Terror aktiv begünstigt und gefördert hat«, so der Historiker Thomas Kreutzer. Der Arzt wurde 1945 festgenommen und inhaftiert. 1948 verurteilte die Spruchkammer Ludwigsburg ihn als »Hauptschuldigen« unter anderem zu dreieinhalb Jahren Arbeitslager. Die Haftzeit wurde angerechnet und Dietrich freigelassen. Robert Scholl hat sich 1946 in einer Stellungnahme und 1950 vor der Berufungskammer Stuttgart für seinen Freund eingesetzt und ihn als »Idealisten« bezeichnet, der kein »intoleranter, bösartiger Fanatiker« gewesen sei, zwar »ein überzeugter Nationalsozialist«, aber »stets Mensch geblieben«. Das erste Urteil wurde daher mangels ausreichender Schuldbeweise aufgehoben und das Verfahren eingestellt. Dietrich war rehabilitiert.

Robert Scholl, der angebliche Demokrat und Nazigegner der ersten Stunde, hatte sich in den Dreißigerjahren mit den neuen Machthabern arrangiert und blieb auch nach dem Krieg in einer Täter-Opfer-Beziehung ein Freund des obersten und übelsten Nationalsozialisten des Kreises Öhringen.

Erst allmählich wuchs seine Distanz zum Regime – was jedoch nicht bedeutete, dass er ein überzeugter Anhänger der Weimarer Republik gewesen wäre. Vielmehr trauerte er noch Jahrzehnte später der 1918 abgeschafften Monarchie hinterher:

Wir hatten in Süddeutschland bis 1918 unter der konstitutionellen Monarchie eine vorzügliche Regierung und Verwaltung. […] Durch sie würde [gäbe es sie heute noch] jeder Schaumschlägerei, Demagogie und Charakterlosigkeit ein starker Riegel vorgeschoben.6

Auch nach 1945 konnte sich Scholl nur schwer mit der Demokratie anfreunden. In dem erwähnten Brief aus dem Jahr 1960 lehnte er diese Staatsform sogar grundsätzlich ab:

Ich halte die heutige Formaldemokratie für falsch und schädlich. Ohne sie wäre Hitler wahrscheinlich nicht an die Macht gekommen.

Im Juli 1932 war die NSDAP bei den demokratischen Reichstagswahlen – mit weitem Abstand vor der SPD – die stärkste Partei geworden. Da keine Regierung zustande kam, stand im November erneut ein Urnengang an – und wieder siegte (wenn auch mit Verlusten) die NSDAP. Der vom Volk direkt gewählte Reichspräsident Paul von Hindenburg ernannte daraufhin den Vorsitzenden der stärksten Reichstagsfraktion am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler. In Scholls Verständnis erfuhr also die »Massen- oder Formaldemokratie« der Dreißigerjahre in der jungen Bundesrepublik ihre Fortsetzung. Und der stand Scholl nach wie vor kritisch gegenüber.

Die Legende von einer angeblich demokratischen Einstellung Robert Scholls wurde jedoch nicht erst nach Kriegsende in die Welt gesetzt. Schon 1943 gab Sophie bei ihrer Vernehmung durch die Gestapo erste Hinweise, die die spätere Deutung plausibel erscheinen ließen:

Mein Vater war meines Wissens parteipolitisch vor der Machtübernahme in keiner Weise gebunden. So viel weiss ich jedoch, dass er demokratisch eingestellt ist; d. h. die Meinung vertritt, dass die Völker demokratisch regiert werden müssten, sofern sie die notwendige Reife hierzu besäßen.7

Man beachte die Einschränkung, dass demnach nicht jedes Volk »reif« genug sei, demokratisch regiert zu werden. 1960 sprach Robert Scholl gerade den Deutschen diese Mündigkeit ab. Sophie führte weiter aus:

Wenn ich über die politischen Gedankengänge meines Vaters richtig informiert bin, schwebt ihm eine demokratische Regierungsform mit gewissen Vollmachten vor.

Mit »gewissen Vollmachten« meinte sie vermutlich, ihr Vater habe eine demokratische Verfassung mit umfangreicher Präsidialgewalt befürwortet. Das entspräche dem politischen System der Weimarer Republik. Weiter sagte sie:

Wohl aus dieser Grundeinstellung heraus ist mein Vater gegen den Nationalsozialismus als solchen bzw. gegen die heutige Staatsführung eingestellt. Hier möchte ich jedoch besonders erwähnen, dass uns (Kinder) mein Vater bei der Erziehung nie in demokratischem Sinne beeinflusst hat. So hat mein Vater ohne weiteres geduldet, dass wir der Hitlerjugend beitraten und dort Dienst verrichteten.

Aufgrund der Verhörsituation geben Sophies Worte sicher nur ein eingeschränktes Bild der politischen Haltung ihres Vaters wieder. Denn in seiner Korrespondenz äußerte sich Scholl häufig zu politischen Ereignissen. Dass er sich ausgerechnet gegenüber seinen Kindern zurückgehalten hat, ist kaum vorstellbar. Man diskutierte viel in der Familie Scholl, so viel ist bekannt. Inge berichtete in ihrem Tagebuch von lautstarken Auseinandersetzungen mit dem Vater. Die Aktivitäten seiner Kinder in der Hitlerjugend waren ihm offenbar ein Dorn im Auge.8

Die Eltern Scholl vermittelten ihren Kindern eine ethische Grundorientierung, die auf einem christlich-religiösen Weltbild basierte. Gerechtigkeitssinn, Gewissenhaftigkeit, Friedfertigkeit, Nächstenliebe, Verantwortungsbewusstsein, Selbstdisziplin und Opferbereitschaft standen in der Familie hoch im Kurs. Allerdings galten diese Werte auch innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung als hehre Tugenden. Nur blieben sie dort den »Deutschblütigen« vorbehalten – was die Schollkinder gemäß ihrer Ariernachweise auch waren.

Kein Wunder also, dass die jungen Scholls für die nationalsozialistische Bewegung entflammten. Und dieser Enthusiasmus blieb kein Strohfeuer: Für das neue Deutschland engagierten sich die Geschwister viele Jahre hingebungsvoll. Den Anfang machte Hans: Im April 1933 trat er in die Hitlerjugend (HJ) ein. Ein Jahr später wurde Inge im Juli Mitglied im Bund Deutscher Mädel (BDM). 1934 folgte Sophie in die Jungmädelschaft (JM) der Hitlerjugend.

Die Eltern sahen das Engagement ihrer Kinder mit Skepsis und Sorge, aber sie ließen ihnen die freie Entscheidung und bezahlten auch die Anschaffung der Uniformen. Ein Satz aus Inges Tagebuch vom 15. Mai 1933 steht stellvertretend für die Begeisterung, die auch ihre Geschwister Sophie und Hans erfasste: »Mit Leib und Seele gehöre ich Adolf Hitler. Natürlich nach Gott.«9

Das Faktum der Jugend spielte eine nicht zu unterschätzende Rolle für den Erfolg der Nationalsozialisten. Es herrschte eine radikale Unbekümmertheit hinsichtlich der möglichen Folgen von Protestaktionen. Die braune Revolution war eine »Jugendbewegung eigenen Stils«.10 1931 waren 70 Prozent der Berliner SA-Leute unter dreißig Jahre, in der Gesamtpartei gehörten rund 40 Prozent dieser Altersgruppe an. Von den NSDAP-Abgeordneten des Reichstags waren 60 Prozent unter vierzig Jahre. Joseph Goebbels wurde mit achtundzwanzig Gauleiter, Baldur von Schirach mit sechsundzwanzig Reichsjugendführer, Heinrich Himmler mit achtundzwanzig Reichsführer SS. Der Grundsatz »Jugend führt Jugend« begeisterte. Viele Mädchen und Jungen »suchten Disziplin, Opfer und fühlten sich von einer Romantik einer Bewegung angesprochen, die immer hart am Rande der Legalität operierte und dem rücksichtslosen Einsatzwillen auch den Schritt darüber hinaus erlaubte: weniger eine Partei als eine Kampfgemeinschaft, die den ganzen Mann verlangte und einer morschen und zerbrechenden Welt das Pathos einer martialischen neuen Ordnung entgegensetzte«.

Parallel zum Aufbruch der Jugend verlief der wirtschaftliche Aufstieg der Scholls. Robert hatte im Februar 1933 seinen Kompagnon ausgezahlt und führte nun das Steuerbüro allein. Verantwortung und Arbeit, aber bald auch das Einkommen stiegen beträchtlich. Scholl trieb ausstehende Forderungen ein, vollzog Zwangsvollstreckungen, arbeitete als Konkurs- und Vergleichsverwalter und beriet bei Testamenten und Nachlässen.

Die Familie ging – nun meist ohne den Vater – regelmäßig in den Gottesdienst. Stadtpfarrer Oehler mit seiner Frau und das Ehepaar Scholl besuchten sich häufig. Am 2. April konfirmierte der Geistliche Inge und Hans in der Garnisonskirche. Es konnte gar nicht ausbleiben, dass man bei den Gesprächen über die umstürzenden Ereignisse diskutierte. »Ein Gott! Ein Führer! Ein Volk!« – entsprach diese Parole der Einheit nicht der biblischen Losung »Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe«, mit der schon die frühen Christen gegen die heillose Zersplitterung gekämpft hatten?11 War das nicht die Erfüllung der preußischen Vision »Ein Reich, ein Volk, ein Gott«? Konnte Hitler nicht tatsächlich der von Gott gesandte Erlöser des deutschen Volkes sein? Millionen glaubten das, Magdalene Scholl nicht. Ihre Einstellung zeigte Inges Tagebucheintrag vom 26. Juli 1933:

Mutter sagte: »Ob Hitler wohl auch noch ein Opfer bringen muss?« Ich sagte: »Hitler hat schon so viele Opfer gebracht. Hat er nicht sein ganzes Leben auf’s Spiel gesetzt?« Da zuckte sie geringschätzig die Schultern.12

Ende September zogen die Scholls in die Olgastraße 81 an den Ulmer Innenstadtring am Rande der Altstadt, wo auch das Steuerbüro eingerichtet wurde. Das Haus gehörte dem jüdischen Kaufmann Jakob Guggenheimer, der dort bereits zwei Wohnungen an jüdische Familien vermietet hatte.13

Im Januar 1934 war es für Sophie so weit. Endlich durfte sie in die HJ eintreten. Neun Jahre später, im Verhörprotokoll der Gestapo las sich das so: »Ich selbst trat im Januar 1934, damals 13-jährig in die Jungmädelschaft der HJ ein und gehörte der HJ bezw. dem BDM bis 1941 an.«

Es ließe sich ergänzen: »damals 20-jährig«. Damit würde das Ungewöhnliche dieser siebenjährigen Mitgliedschaft verdeutlicht, denn die Verpflichtung für den BDM endete üblicherweise mit achtzehn Jahren, bei Sophie also 1939.14 Zwei Jahre engagierte sie sich über dieses Pflichtmaß hinaus freiwillig. Die Bedeutung dieser Extrajahre im »Dienst« versuchte sie später zu relativieren:

In diesem Zusammenhang gebe ich ganz ehrlich zu, dass ich in den letzten 2 Jahren meiner Zugehörigkeit zum BDM mit dem Herzen nicht mehr bei der Sache war. Die erste Abneigung gegen den BDM war darauf zurückzuführen, dass ich den Dienst langweilig und vom pädagogischen Standpunkt aus unrichtig fand.

Doch was begeisterte die Mädchen und jungen Frauen am BDM? Die Jugendorganisation verfügte über ein reiches Freizeitangebot. Sie veranstaltete nicht nur Tagesausflüge, sondern auch mehrtägige Wanderungen. An den Heimabenden fanden Kulturveranstaltungen wie Theaterspiel, Volkstanz, Musikaufführungen und Konzertbesuche statt. Sport wurde angeboten, ebenso Handarbeits- und Bastelkurse. Unterschiedliche Gesellschaftsschichten kamen zusammen; sie wurden hier auf die Berufswahl vorbereitet. Bis zum Kriegsausbruch gab es auf der Führungsebene auch Kontakte ins Ausland.

Das Hauptziel des BDM war jedoch die Eingliederung der »Mädel und Frauen« in den Staat durch die »weltanschauliche Schulung«; sie sollten lernen, sich in die nationalsozialistische »Volksgemeinschaft« einzufügen. Die Entwicklung ihrer Persönlichkeit wurde gefördert, aber sie sollten nur Teil einer größeren Gemeinschaft sein. Es war eine politische Erziehung. Das machte die oberste BDM-Führerin Jutta Rüdiger einmal mehr deutlich: »Wir wollen […] bewußt politische Mädel formen. Das bedeutet nicht: Frauen, die später in Parlamenten debattieren und diskutieren, sondern Mädel und Frauen, die um die Lebensnotwendigkeiten des deutschen Volkes wissen und dementsprechend handeln.«15

Während Sophie Scholl 1934 ihre Karriere im Bund Deutscher Mädel begann, festigte Adolf Hitler seine Macht weiter. Für die Wirtschaftsunternehmen wurde das Führerprinzip angeordnet, es verpflichtete die Mitarbeiter zu absolutem Gehorsam. Und am 20. April, dem 45. Geburtstag Adolf Hitlers, leistete auch das uniformierte Jungmädel Sophie Scholl den Eid auf ihren Führer:

Jungmädel wollen wir sein,

klare Augen wollen wir haben

und tätige Hände.

Stark und stolz wollen wir werden:

Zu gerade, um Streber oder Duckmäuser zu sein,

zu aufrichtig, um etwas scheinen zu wollen,

zu gläubig, um zu zagen und zu zweifeln, zu ehrlich,

um zu schmeicheln,

zu trotzig, um feige zu sein.16

Vermutlich gefiel Sophie – neben »stark und stolz« – besonders die letzte Zeile des Schwurs, erinnerte sie doch an ein Goethe-Zitat, das in der Familie als Codewort für Unbeugsamkeit galt: »Allen Gewalten zum Trutz sich erhalten.« Die Scholls zitierten das Goethe-Wort in ihren Briefen. Zudem hatte Hans den Satz in Schönschrift auf eine von einem handgearbeiteten Kartonrahmen umfasste Schmuckkarte gemalt, die er seinem Vater zu Weihnachten schenkte. Die Karte stand vermutlich in der Ulmer Wohnung:

[…] Allen Gewalten

Zum Trutz sich erhalten;

Nimmer sich beugen,

Kräftig sich zeigen,

Rufet die Arme

Der Götter herbei!17

1934 verstand Sophie Trutz als Aufforderung, gegen alle alten Gewalten, die Ewiggestrigen, das neue Deutschland zu schaffen. Die meisten Christen waren wie Sophie überzeugt, dass dabei nicht nur die Götter, sondern besonders der christliche Gott an ihrer Seite stand.

Sophie Scholls erste Dienstpflicht des Jahres 1935 im BDM war ein Gang ins Ulmer Münster. Am 14. Januar wurde dort ein Dankgottesdienst anlässlich der Rückkehr des Saarlands in das Deutsche Reich gefeiert. 90,8 Prozent der Saarländer hatten für die Rückgliederung in das Deutsche Reich gestimmt. Sie trat am 1. März in Kraft. Kurz darauf wurde auch die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Die Streitkräfte sollten auf 550 000 Mann aufgerüstet werden.

1935 war auch das Jahr, in dem im kurzen Leben der Sophie Scholl eine wunderbare Freundschaft ihren Anfang nahm. Susanne Hirzel kam als neue Schülerin in die Klasse. Reichlich zehn Jahre später, 1946, berichtete Hirzel der Schriftstellerin Ricarda Huch, die ein Gedenkbuch über die deutschen Widerstandskämpfer vorbereitete, von der innigen Beziehung.18 Hirzel wurde – neben Lisa Remppis – Sophies beste Freundin.

Aufgrund der Nähe zu den Ereignissen ist der neunseitige handschriftliche Brief Hirzels an Huch ein einmaliges Zeugnis über die Beziehung der jungen Frauen zueinander und ein dichtes Kurzporträt Sophies.19 Hirzel brachte darin zunächst ihre Freude über Huchs Vorhaben zum Ausdruck, es sei »nötig«, denn »fast alles« bisher Veröffentlichte sei »tendenziös«. Sie wolle »im Einverständnis mit Inge Scholl« versuchen, »zu dem Bild von Sofie Scholl […] etwas beizusteuern«. Hirzels Schilderung ist von spürbarer Empathie getragen, vermied aber eine Überhöhung:

Wir waren Freundinnen. Durch ihren Tod ist sie mir ein heiliges Vorbild geworden. Wir lernten uns mit 14 Jahren im Jungmädelbund kennen. Sie war wie ein feuriger wilder Junge, trug die dunkelbraunen glatten Haare im Herrenschnitt u. hatte mit Vorliebe eine blaue Freischarbluse oder eine Fischerbluse ihres Bruders an. Sie war lebhaft, keck, mit heller klarer Stimme, kühn in unseren wilden Spielen u. von einer göttlichen Schlamperei.

Die Fotografien Sophies aus dieser Zeit bestätigen die Beschreibung Hirzels. Mit ihrem Jungenhaarschnitt und dem knabenhaften Auftritt wurde sie von Nachbarn als »Buabamädel« oder »Mannweib« bezeichnet. Auch Eve Nägele, die damals elfjährige jüngere Schwester von Rose Nägele, erinnerte sich an das Jungenhafte von Sophie. Die Kinder der Familien hatten ein Treffen zwischen Ulm und Stuttgart verabredet: »Gespanntes Warten auf dem Bahnsteig. Ein Knabenkopf tauchte in der Menge auf. Hatte Hans noch einen zweiten Bruder? Aber es war kein Junge, der durch die Sperre kam mit seinen kurzgeschnittenen braunen Haaren, sondern Sophie.«20 Jahrelang trug Sophie Scholl diesen Provinz-provozierenden Jungenhaarschnitt, wurde »der Soffer« genannt. Später rauchte sie Zigaretten und Pfeife, trank Alkohol, tanzte wenig damenhaft, fuhr Auto und übernahm Männerarbeit. Noch die einundzwanzigjährige Studentin wurde als »jungenhaft« charakterisiert.21 Sophie fiel aus dem normativen Geschlechterbild heraus,22 das nicht erst seit der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten in den Mädchen die aufopferungsvolle künftige Mutter sah – sie befreite sich von Rollenzwängen.

Hirzel fuhr fort:

Fast jedes Wochenende fand sich privatim eine kleine Schar, die sich stolz als »Elite« fühlte, zusammen, um an der Iller oder am Donauufer zu zelten. Da sehe ich Sofie, am Feuer sitzen u. in jagendem Rhythmus, atemlos, in begeisterter Hingabe Rilkes »Cornet« vorlesen. Die Worte flogen ihr nur so vom Munde weg, durch u. durch lebendig, erfüllt – sie war ganz Werkzeug. Da begann ich sie zu lieben. Ich sah, wie heilig bemüht sie war, welche Ungeduld sie in sich trug: ich muß Genüge finden, ich will den Preis erringen!

Rainer Maria Rilkes kurze Erzählung aus dem Jahre 1906 Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke war sein erfolgreichstes Werk. Zu seinen Lebzeiten wurden 200 000 Exemplare gedruckt. Viele Soldaten begleitete es in die Weltkriege, entsprach es doch dem Heldenmythos der Epoche. In ihm reitet der achtzehnjährige Adelige Christoph Rilke nach Ungarn in den Krieg gegen die Türken, wo er zum Fahnenträger (Cornet) ernannt wird. Als er die Nacht mit einer Schlossgräfin in deren abgelegenem Turmzimmer verbringt, bemerkt er zu spät den Angriff des feindlichen Heeres. Ohne Besinnen und ohne Waffenrüstung, aber mit wehender Fahne, stirbt er den Heldentod: »Er läuft um die Wette mit brennenden Gängen, durch Türen, die ihn glühend umdrängen, über Treppen, die ihn versengen, bricht er aus dem rasenden Bau. Auf seinen Armen trägt er die Fahne wie eine weiße, bewußtlose Frau.« – Der Tod wird zelebriert als feierliches, ekstatisches Kunstwerk in einer blühenden, farbenfrohen Gartenlandschaft.

Sophie liebte diese fatalistische Heldenliteratur voller Leidenschaft, Gewalt und Vergewaltigung, Kampfeswollust und Todeserotik. So, wie sie abends am Lagerfeuer ihren Mädeln daraus vorlas, war sie eins mit dem Cornet. Auch ihr Bruder Hans begeisterte sich für die Novelle; sie entsprach dem Männlichkeitsbild der Zeit. Doch dass Sophie den Cornet liebte, widersprach der geltenden Frauenrolle, des gebärenden Heimchens am Herd.

Binnen Kurzem gestaltete Sophie Scholl die Aktivitäten im BDM eigenverantwortlich und führte andere, zuletzt war sie als Gruppenführerin verantwortlich für weit über hundert Mädchen.23 Bei den Treffen des BDM sammelte sie den von zu Hause mitgebrachten Proviant ein und vergemeinschaftete ihn. Eines von Sophies Mädeln beschrieb später, ihre Führerin sei »sehr fanatisch für den Nationalsozialismus« und zugleich »romantisch, idealistisch, kommunistisch« gewesen.24 Sophie gestaltete Heimabende und organisierte Fahrten, stand mit der Sammelbüchse für das Winterhilfswerk auf den Straßen Ulms und nahm an ideologischen Schulungen teil. Und sie war von ihrer Vorgesetzten, Charlotte »Charlo« Thurau begeistert. Inge Scholl befreundete sich mit der intelligenten Siebzehnjährigen, Sophie schwärmte für die Selbstbewusste und erkor sie zu ihrem Vorbild. Die hochgewachsene, kräftige junge Frau verwirklichte ein Idealprogramm des BDM.

Selbstverständlich grüßte Sophie ihre Führerin und ihre Kameradinnen bei allen Veranstaltungen mit »Heil Hitler!« und erhobenem Arm – unzählige Male all die Jahre hindurch. Auf jeden Fall sang sie die Lieder der HJ, nicht nur im Gruppenraum und am Lagerfeuer, sondern auf den Straßen Ulms und während der Fahrten. Die Gesänge vermittelten die politische Gesinnung, zu der die Jugend erzogen wurde, sie trugen maßgeblich zur Militarisierung des Denkens bei. Das offizielle Lied der Hitlerjugend, Unsre Fahne flattert uns voran, hatte der Reichsjugendführer Baldur von Schirach getextet.

Unsre Fahne flattert uns voran.

In die Zukunft ziehn wir Mann für Mann.

Wir marschieren für Hitler durch Nacht und durch Not

mit der Fahne der Jugend für Freiheit und Brot.

Unsre Fahne flattert uns voran,

unsre Fahne ist die neue Zeit.

Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit!

Ja! die Fahne ist mehr als der Tod!25

Das Lied erklang erstmals 1933 als Leitmusik im Film Hitlerjunge Quex, den jedes Hitlermädchen und jeder Hitlerjunge gesehen haben sollte. Sehr wahrscheinlich sah ihn auch Sophie. Die aufwendige Ufa-Produktion mit dem Untertitel Ein Film vom Opfergeist der deutschen Jugend