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Warmherzig und zu Tränen rührend! Lesen Sie schon jetzt drei bisher unveröffentlichte und herzergreifende E-Books aus Sophienlust. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise verwaltet mit wahrem Herzblut das spätere Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim gehören wird. Sie formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. E-Book only! Diesen Titel gibt es nur als E-Book. In dieser Special Edition enthalten: - Was soll aus Yelka werden? - Der heimliche Gast - Gesine, ein ungeliebtes Kind Warmherzig und zu Tränen rührend! Lesen Sie schon jetzt drei bisher unveröffentlichte und herzergreifende E-Books aus Sophienlust. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise verwaltet mit wahrem Herzblut das spätere Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim gehören wird. Sie formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. E-Book only! Diesen Titel gibt es nur als E-Book. In dieser Special Edition enthalten: - Was soll aus Yelka werden? - Der heimliche Gast - Gesine, ein ungeliebtes Kind E-Book 1: Was soll aus Yelka werden? E-Book 2: Gesine, ein ungeliebtes Kind E-Book 3: Der heimliche Gast
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Seitenzahl: 445
Veröffentlichungsjahr: 2020
Was soll aus Yelka werden?
Gesine, ein ungeliebtes Kind
Der heimliche Gast
Die Frau stöhnte. Ihr etwas breites Gesicht, das die slawische Abstammung verriet, war schweißbedeckt.
»Helfen Sie mir«, flehte sie mit dem harten Akzent der Ausländerin.
»Ruhig, ganz ruhig«, murmelte Oberarzt Dr. Richlin. Er desinfizierte eine Stelle am Oberschenkel der Patientin. »Ich spritze Ihnen jetzt ein Mittel zur Entkrampfung. Es ist sehr wichtig, dass Sie sich entspannen. Haben Sie denn keinen Vorbereitungskurs besucht?« Es war kein Vorwurf in der Stimme des Arztes.
Nevenka zuckte leicht zusammen, als die Nadel die Haut durchdrang. »Ich …, ich bin noch nicht lange in Deutschland. Vier Monate erst«, keuchte sie.
»Waren Sie denn nicht bei einem Arzt?« Dr. Richlin drückte vorsichtig den Kolben der Spritze nach unten. Er hatte einen günstigen Moment erwischt. Die Wehen klangen gerade ab, Nevenka Koretic wurde ruhiger.
»Doch, ich brauchte ja die Schwangerschaftsbescheinigung für den Arbeitgeber.«
»Sie haben gearbeitet?« Dr. Richlin wischte mit dem getränkten Wattebausch die Einstichstelle ab. Er war ein leutseliger Mann, der sich gern mit den Patientinnen unterhielt. Seines Erachtens förderte das Gespräch das Vertrauen.
»Bis vor einer Woche. Freiwillig.«
»War das nicht ein wenig leichtsinnig? Was sagt denn Ihr Mann dazu?«
Nevenka gab keine Antwort. Sie verzog schmerzlich das Gesicht, atmete hechelnd.
Dr. Richlin merkte sofort, dass der Schmerz gespielt war. Doch er sagte nichts.
»Herr Oberarzt, der Chef braucht sie im OP«, meldete die Hebamme, die eben mit zwei Blutkonserven in den Kreißsaal kam. Sie war eine ältere, sehr erfahrene Frau. Schon vielen Babys hatte sie auf diese Welt verholfen.
»Dann übernehmen Sie mal«, wandte sich Dr. Richlin an seine junge Kollegin, die an der Breitseite des Entbindungsbettes stand und versuchte, ihre Unsicherheit zu überwinden.
Es war ihr erster Arbeitstag in der Maibacher Klinik. Erst vor wenigen Wochen hatte Ursula Bode ihren Doktor gemacht. Frauenärztin wollte sie werden. Doch noch lagen einige harte Jahre als Assistenzärztin vor ihr, bis sie die Prüfungen zum Facharzt würde ablegen können.
Ursula fühlte sich nicht wohl in ihrem nagelneuen weißen Kittel. Sie befürchtete, jeder könne ihr ansehen, wie unerfahren sie war.
»Keine Angst, es gibt keine Komplikationen«, murmelte Dr. Dieter Richlin, der den ängstlichen Blick von Ursulas großen grauen Augen wohl bemerkt hatte. Obwohl er seinen Beruf schon seit achtundzwanzig Jahren ausübte, konnte er sich gut in die Lage der sympathischen jungen Kollegin versetzen.
Ursula nickte mutig. Eigentlich hatte sie geglaubt, dass sie zuerst die Klinik und die Patienten kennen lernen würde, bevor sie selbstständig arbeiten würde. Aber sie hatte bei diesen Überlegungen vergessen, dass man in der Urlaubszeit in einer kleinen Klinik wie dieser jeden Mitarbeiter brauchte.
Dr. Ursula Bode trat näher an das Entbindungsbett, lächelte der werdenden Mutter ermutigend zu. »Atmen Sie tief durch. So tief, wie es Ihnen nur möglich ist«, riet sie. »Die Schmerzen nicht durch Hecheln verdrängen. Noch nicht.«
»Das …, das kann ich nicht«, stöhnte die Patientin. Sie warf den Kopf von einer Seite zur anderen, bäumte sich keuchend auf.
Die Hebamme kümmerte sich zwischendurch um eine zweite werdende Mutter, die sich viel vernünftiger verhielt. Sie hatte sich auf die Geburt vorbereitet und unterstützte den natürlichen Vorgang durch aktive Mitarbeit.
»Wie lange geht das noch?«, erkundigte sich Nevenka, als der Schmerz ausklang.
»Das kommt ganz auf Sie an«, gab Dr. Bode lächelnd Auskunft. »Wenn Sie sich passiv verhalten, kann es noch Stunden dauern. Der Muttermund ist erst wenig geöffnet.« Ursula hatte die Patientin untersucht, hielt jetzt das Stethoskop an den hohen Leib. Die kindlichen Herztöne waren laut und deutlich zu hören.
»Ich werde mir Mühe geben«, seufzte die Jugoslawin. Wenn sie – wie jetzt – ruhig lag, machte sie einen intelligenten Eindruck. Dann passten die rissigen, rauen Hände, die auf schwere Arbeit schließen ließen, nicht zu ihr.
»Es ist alles in bester Ordnung«, bestätigte Ursula, wobei sie sich aufrichtete. Flüchtig strich sie das hellblonde Haar, das ihr ins Gesicht gefallen war, zurück. Es war schulterlang und glatt, wirkte so streng wie der hochgeschlossene weiße Kittel, den sie trug.
Die junge Mutter schien sich für diese Äußerung wenig zu interessieren.
»Kennen Sie Dr. Reichert?«, fragte sie und schaute dabei aufmerksam in das schmale, etwas bleiche Gesicht der Ärztin. »Ist er nicht da?«
»Da müsste ich die Stationsschwester fragen«, antwortete Ursula ausweichend. Sie wollte nicht erwähnen, dass sie neu in diesem Krankenhaus war, dass sie eigentlich noch kaum jemanden kannte.
»Dr. Rüdiger Reichert«, ergänzte Nevenka. »Er ist sehr groß, fast zwei Meter, schlank und sportlich. Blaue Augen hat er und dunkle Wuschelhaare.«
»Ich werde mich erkundigen«, versprach Ursula. Sie wunderte sich, wie gut die Jugoslawin die deutsche Sprache beherrschte. Wäre der harte Akzent nicht gewesen, hätte man sie nie für eine Ausländerin gehalten.
»Er arbeitet hier an dieser Klinik.« Nevenka sprach hastig, denn schon kamen die Schmerzen wieder, durchbohrten ihren Leib wie lange spitze Nadeln.
Dr. Ursula Bode beherrschte jeden Handgriff der Geburtshilfe. Doch es war das erste Mal, dass sie diese Kenntnisse in der Praxis anwenden konnte. Obendrein war sie allein und ganz auf sich selbst gestellt. Das machte sie zunächst unsicher, dann aber immer selbstbewusster.
Die Wehen kamen jetzt in kürzeren Abstanden, ließen der werdenden Mutter kaum die Möglichkeit, sich zu erholen.
Ursula tat alles, um den Geburtsvorgang zu unterstützen und die Leiden der jungen Mutter abzukürzen.
Nevenka Koretic war keine geduldige Patientin. Sie schrie, schlug um sich und krallte ihre Fingernagel in Ursulas Arm.
Trotzdem behielt die junge Ärztin die Ruhe. »Sie haben es gleich überstanden«, ermutigte sie die junge Mutter immer wieder.
Als die Presswehen einsetzten, eilte die Hebamme zu Hilfe. Man musste Nevenka festschnallen, um zu verhindern, dass sie aufsprang und sich und das Kind gefährdete. Mit dem Temperament der Südländerin brüllte sie ihren Schmerz heraus, drehte und wendete sich ständig. Auf dem Höhepunkt der Wehen hielt sie die Luft an, verkrampfte sich.
»Atmen Sie! Bitte, atmen Sie«, versuchte Ursula die Patientin zur Vernunft zu bringen. Sie verschaffte ihr jede erdenkliche Erleichterung, doch Nevenka Koretic blieb unzugänglich.
»Wollen Sie Ihr Kind umbringen?«, herrschte die Hebamme, die in vielen Berufsjahren hart geworden war, die junge Frau an. »Wollen Sie, dass Ihr Baby erstickt?«
Keine Reaktion.
»Zum Donnerwetter, atmen Sie endlich! Das ist doch das wenigste, was man von ihnen erwarten kann«, befahl die Hebamme ärgerlich. Die Frau im Nebenbett hatte ihr Baby längst zur Welt gebracht. Im Moment wurde es von der Säuglingsschwester versorgt.
Da endlich schnappte Nevenka nach Luft.
Dank Dr. Bodes Bemühungen ging dann doch alles recht schnell. Zehn Minuten später konnte die junge Ärztin das Baby abnabeln. Es war ein eigenartiges Gefühl für sie, das warme blutverschmierte Neugeborene in den Händen zu halten. Mit einem geschickten Griff drehte sie den Säugling.
Das Kind stieß seinen ersten jämmerlichen Schrei aus. Es war durch den Sauerstoffmangel blaurot. Trotzdem war es ein ausgesprochen hübsches kleines Wesen. Erstaunlich langes dunkles Haar umrahmte ein pausbäckiges Gesichtchen mit einem süßen Stupsnäschen. Die Augen presste das Kleine fest zusammen.
Mein erstes Baby, dachte Ursula, glücklich, dass alles gut gegangen war. Vorsichtig wickelte sie das Kind in ein Stück Mull, legte das Bündel der erschöpften Mutter in die Arme.
»Herzlichen Glückwunsch. Sie haben eine gesunde kleine Tochter.«
»Ein Mädchen«, wiederholte Nevenka.
Ursula war etwas enttäuscht, weil diese Worte reichlich gleichgültig klangen. Freute sich die Jugoslawin nicht über ihr Töchterchen? War sie noch zu jung, um ermessen zu können, welches Glück es bedeutete, ein gesundes Kind zu haben?
»Haben Sie schon nach Dr. Reichert gefragt?« Die junge Mutter musste laut sprechen, um das Gebrüll des Säuglings zu übertönen.
»Noch nicht. Aber ich werde mich darum kümmern.«
*
»Du kommst spät«, warf Adrian Paulsen seiner Freundin vor. »Ich warte schon seit zehn Minuten auf dich.«
Der elegant gekleidete junge Mann lehnte lässig an seinem superschnellen Sportwagen, den er, trotz des Verbots, unmittelbar vor dem Portal der Klinik abgestellt hatte. Jetzt stieß er sich ab, schlenderte auf Ursula Bode zu. Er wirkte wie ein Gentleman, der sich in der großen Welt auskannte und der sich erlauben konnte, lässig auf andere herabzusehen.
Adrian Paulsen konnte sich das tatsächlich erlauben, denn er hatte sehr reiche und sehr großzügige Eltern. Paulsen senior unterhielt ein Elektrogeräte-Werk, das einen hervorragenden Umsatz hatte und deshalb einen enormen Gewinn abwarf. So konnte der einzige Sohn seine Tage mit süßem Nichtstun vertrödeln, die Nächte in teuren Bars verbringen.
»Daran wirst du dich gewöhnen müssen«, antwortete Ursula unbeeindruckt. »In einer Klinik läuft nicht alles nach der Uhr. Ich habe heute mein erstes Baby zur Welt gebracht und außerdem bei einem kleinen chirurgischen Eingriff assistiert«, erzählte sie stolz.
Adrian verdrehte die dunklen Augen. »Was hast du? Ein Kind bekommen?«
»Ich habe einer Patientin bei der Entbindung geholfen«, berichtigte Ursula lachend. »Es war ein Mädchen.«
»Hübsch?« Adrian war stolz darauf, dass er von Mädchen etwas verstand. Es war so ziemlich die einzige Qualifikation, die er aufweisen konnte. Doch glücklicherweise wusste das niemand. Er hatte bereits so viele Liebschaften hinter sich, dass er sich an die Namen der Mädchen längst nicht mehr erinnerte. Inzwischen war er fünfunddreißig, und seine Eltern waren der Ansicht, dass es Zeit für ihn war, eine Familie zu gründen und für einen Erben zu sorgen. Für die geplante Heirat hatte Adrian die junge Ärztin Ursula Bode ausgewählt. Sie war hübsch, intelligent und gehörte durch ihr Studium zu jenen Leuten, die Adrian imponierten. Dass sie keine Eltern mehr hatte und auch kein Vermögen besaß, störte ihn nicht. Geld hatten die Paulsens selbst genug.
»Hm. Eine kleine Jugoslawin. Sieht der Mutter ähnlich.«
»Mein geliebtes Fräulein Doktor.« Adrian umarmte Ursula und versuchte sie zu küssen.
Ursula drehte den Kopf zur Seite. »Bitte nicht hier. Ich möchte nicht, dass uns die Schwestern und die Kollegen beobachten.«
»Dann komm. Wir fahren zum Club.« Adrian öffnete galant die Tür des offenen Sportwagens. Er selbst schwang sich von der anderen Seite über die Karosserie, was Übung und Sportlichkeit verriet.
Ursula wäre lieber ins Ärztehaus gegangen, um sich frisch zu machen. Denn nach diesem anstrengenden ersten Arbeitstag fühlte sie sich müde und erschöpft. Doch sie wusste auch, dass Adrian die Enge ihres kleinen Appartements nicht schätzte.
Adrian startete mit imponierender Schnelligkeit. Derartige Blitzstarts machten nach seiner Erfahrung auf alle Mädchen Eindruck, und da war Ursula Bode keine Ausnahme. Schon bei ihrer ersten Begegnung, vor knapp vier Wochen, hatte Adrian festgestellt, dass Ursula im Umgang mit Männern kaum Erfahrung hatte, obwohl sie achtundzwanzig Jahre alt war. Da sie ihr Studium weitgehend hatte selbst finanzieren müssen, hatte ihr einfach die Zeit für Freundschaften gefehlt. Adrian verstand es jedoch ausgezeichnet, diese Unerfahrenheit zu nutzen. Es fiel ihm nicht schwer, sich durch Lügen ins beste Licht zu setzen.
Der »Club«, das war ein exklusives Tennis-Center, das Paulsen senior gut zur Hälfte finanziert hatte. Die Investition hatte sich schon nach kurzer Zeit bezahlt gemacht, denn die Einrichtung wurde gut besucht.
Ursula hatte nie genügend Geld gehabt, um Tennis-Stunden zu bezahlen. Deshalb war sie jetzt eine klägliche Anfängerin, die Adrian in jedem Satz unterlag.
Es schmeichelte Adrians Eitelkeit, dass er gegen Ursula immer gewann. Deshalb führte er sie mit Vorliebe ins Tennis-Center.
»Was ist, spielen wir gleich?«, erkundigte er sich, als er seinen Sportwagen auf den Parkplatz manövrierte. »Oder willst du lieber zuerst einen Drink?«
»Danke. In der Klinik gibt’s um vier Uhr für die Angestellten Kaffee.« Ursula lächelte entschuldigend. Tatsächlich hatte der Juniorchef der Paulsen-Werke schon beim ersten Zusammentreffen einen tiefen Eindruck auf sie gemacht. Sie freute sich über das Interesse, das er ihr entgegenbrachte, fühlte sich wie das Aschenbrödel im Märchen, wenn er sie in elegante Lokale und in das luxuriöse Haus seiner Eltern einlud. Die weltmännischen Gesten, die er perfekt beherrschte, imponierten ihr.
Ursula war in einfachen Verhältnissen groß geworden. Das Wort »sparen« war fester Bestandteil ihrer Kinder- und Jugendzeit gewesen. Doch was es hieß, wenig Geld zu haben, hatte sie erst während des Studiums bemerkt. Damals hatte sie auf vieles verzichten müssen, was ihr Freude machte. Und damals hatte sie sich geschworen, aus diesem Teufelskreis herauszukommen. Doch das bescheidene Gehalt als Assistenzarzt zeigte ihr deutlich, wie weit entfernt sie von diesem Wunschtraum war. Wen wunderte es, dass sie Adrian Paulsens Zuneigung gern erwiderte? Er war ein blendend aussehender Mann. Ein Mann, für den alle Mädchen und Frauen schwärmten, der in den vornehmen Kreisen ein gern gesehener Gast war.
Das zeigte sich auch jetzt wieder. Der Pächter des angegliederten Restaurants begrüßte Adrian wie einen alten Freund. Der Vorsitzende des Tennis-Clubs winkte ihm kameradschaftlich zu.
Adrian nahm alle Anerkennung gelassen, fast huldvoll entgegen.
»Ich würde am liebsten ein Stück durch den Wald gehen«, meinte Ursula und zeigte auf den Weg, der bergauf führte und zwischen hohen dunklen Tannen verschwand. »Es ist so kühl und ruhig dort.«
»Zu Fuß?«, erkundigte sich Adrian erstaunt. Für die Natur hatte er nicht viel übrig. Sie bot für seinen Geschmack zu wenig Bequemlichkeit und zu wenig Publicity.
»Wie sonst?« Ursula lachte. Sie war ausgestiegen, schaute begeistert auf das herrliche Panorama.
»Gut, ich schließe mich dir an. Obwohl …« Adrian verschwieg seine Bedenken. Er wollte Ursula nicht verärgern. Später, wenn sie erst verheiratet waren, würde er so blöde Spaziergänge natürlich ablehnen.
Gutgelaunt hing sich Ursula bei ihrem Freund ein.
»Ich bin gern mit dir, allein«, verriet sie strahlend. »Wir haben so wenig Zeit, uns ungestört zu unterhalten. Dabei haben wir doch so viel zu besprechen.«
Adrians teure Sommerschuhe mit den hauchdünnen Ledersohlen waren für den holprigen Waldweg völlig ungeeignet. Er spürte jeden kleinen Stein und ging deshalb lächerlich vorsichtig. Trotzdem wollte er das Beste aus der Sache machen.
»Du hast recht«, antwortete er und legte seinen Arm um Ursulas Taille. »Es gibt da etwas, über das ich schon seit einiger Zeit mit dir reden möchte.« Er machte eine wirkungsvolle Pause.
»Ich höre.« Erwartungsvoll sah Ursula ihren Freund an.
»Du bist sehr hübsch, Ursula. Du gefällst mir. Das alles habe ich dir schon gesagt. Du weißt auch, dass ich einige Erfahrung habe. Bei einem Mann in meinem Alter ist das selbstverständlich. Ich weiß deshalb, wovon ich spreche, wenn ich dir versichere, dass mich noch keine Frau so fasziniert hat wie du.«
»Du vergisst, dass ich eine ganz kleine Assistenzärztin bin.« Ursula wäre gern rascher gegangen. Sie liebte die kühlen, stillen Wälder mit ihren murmelnden Bächlein, mit den grünen Moosflecken und dem weichen Teppich aus Tannennadeln. Als Kind war sie mit ihren Eltern stundenlang durch den Wald gestreift, war mit glühenden Wangen Abhänge hinuntergerannt, hatte Beeren, Pilze und Tannenzapfen gesammelt.
»Ich meine das nicht beruflich. Ich denke dabei an die Frau. Du hast eine wundervolle Figur, Ursula, ungewöhnlich ausdrucksvolle Augen und ein Wesen, das alle Herzen im Sturm erobert. Du bist der erste Mensch, bei dem ich den Wunsch habe, immer mit ihm zusammen zu sein. Ein ganzes Leben lang.«
Das stimmte nicht ganz. Adrian war absolut nicht scharf darauf, sich zu binden. Doch er musste dem Druck seiner Eltern nachgeben.
»Soll das ein Heiratsantrag sein?« Ursula blieb überrascht stehen. Sie hatte noch nicht daran gedacht, dass aus ihrer Freundschaft mit Adrian Paulsen mehr werden könnte.
»Antrag? Das hört sich so förmlich an. Es ist eine Bitte, ein Wunsch. Mein sehnlichster Wunsch.« Adrians dunkle Augen glänzten. Ihm war es ganz recht, dass der Spaziergang unterbrochen wurde.
»Eigentlich kennen wir uns doch viel zu wenig.« Ursula ließ sich gern gefallen, dass Adrian sie eng an sich zog, dass er ihr zärtlich in die Augen schaute.
»Ich hab’ vom ersten Augenblick an gewusst, dass du die Richtige bist«, versicherte Adrian mit dunkler erregender Stimme. »Ich möchte, dass wir ständig zusammen sind. Jeden Tag will ich dir sagen, wie sehr ich dich liebe.« Adrian hatte schauspielerische Fähigkeiten, die er jetzt ohne zu zögern einsetzte.
»Lass mir Zeit«, bat Ursula leise. »Im Moment stürmt so vieles auf mich ein. Ich brauche meine ganze Kraft, um im Beruf Fuß zu fassen.«
»Das brauchst du doch gar nicht. Als meine Frau musst du nicht mehr arbeiten. Und wenn du es dennoch willst, richte ich dir eine moderne Praxis ein. Na, ist das ein Vorschlag?«
»Das alles ist sehr lieb von dir. Aber zuerst brauche ich meine Ausbildung als Facharzt. Erst dann kann ich an eine eigene Praxis denken.«
Adrian streichelte Ursulas blondes Haar. »Das ist doch alles nicht so wichtig. Schließlich zählt nur die Liebe. Und in dieser Hinsicht stimmt doch alles zwischen uns. Oder?«
Adrian war so sehr von sich überzeugt, dass er Ursulas Antwort gar nicht erst abwartete. Er neigte den Kopf, küsste die junge Frau auf den Mund. Auch das Küssen gehörte zu den Gebieten, auf denen er allerhand Erfahrung hatte. Er tat es mit Temperament und Ausdauer.
Ursula erwiderte die Zärtlichkeit scheu und zurückhaltend.
»Warten wir also noch ein bisschen mit der Verlobung«, meinte Adrian später, als die beiden Arm in Arm weitergingen. »Du sollst nicht sagen, dass ich dich zu einem so wichtigen Schritt gedrängt habe, obwohl ich es kaum erwarten kann, dich allen als meine Frau vorzustellen.«
Auch das war eine Lüge. Adrian hatte überhaupt keine Eile. Es waren nur seine Eltern, die ihn drängten, in geordneten Verhältnissen zu leben.
»Danke. Oh, schau nur, welch schönen Blick man von hier oben hat.« Mit dem ausgestreckten Arm wies Ursula ins Tal, das man durch eine kleine Lichtung gut sehen konnte.
»Hm.« Adrian fand an dem reizvollen Bild keinerlei Interesse. »Wollen wir wieder zurückgehen? Unsere Freunde werden uns schon vermissen.« Er drehte sich um, zog Ursula mit.
Sie fügte sich ohne Widerrede. Die Freunde, von denen Adrian sprach, mochte sie nicht. Es waren Söhne und Töchter aus reichem Haus. Sie gaben das Geld ihrer Eltern mit vollen Händen aus und kamen sich noch groß dabei vor. Außerdem waren sie alle wesentlich jünger als Adrian. Er passte nicht in die alberne Runde.
*
»Spitze«, murmelten Angelika und Vicky, die Langenbach-Geschwister, gleichzeitig. Sie schauten ihrer Kameradin Angelina Dommin über die Schulter. Angelina, die wegen der lustigen Sommersprossen auf dem hübschen Näschen nur Pünktchen genannt wurde, hielt einen Ferienprospekt in der Hand.
»Ich finde es auch ganz toll«, meinte das Mädchen mit dem langen blonden Haar überwältigt. »Dass mich Tante Isi und Onkel Alexander in den Urlaub mitnehmen würden, hätte ich nie gedacht.«
Pünktchen hatte vor vielen Jahren ihre Eltern bei einem Zirkusbrand verloren und war danach ins Kinderheim Sophienlust gekommen. Wie in einer großen Familie wuchs sie hier auf, fühlte sich geliebt und anerkannt. Trotzdem vergaß sie nie, dass sie eine Waise war.
»Irmela darf ja auch mitkommen«, meinte Vicky, die Jüngste in der Runde. Auf die Idee, eifersüchtig zu sein, kam keines der Kinder. Sie hatten schon oft genug erfahren, dass es in Sophienlust gerecht zuging. Kein Schützling wurde bevorzugt, keiner benachteiligt. Irmela und Pünktchen waren die ältesten Kinder des Heims. Deshalb durften sie neben Nick und Henrik, Denise und Alexander von Schoenecker nach Jugoslawien begleiten.
Nick allerdings nahm eine Sonderstellung ein. Er war der Sohn aus Denises erster Ehe und hatte das ehemalige Gut Sophienlust von seiner Urgroßmama geerbt. Nach ihrem Willen hatte Denise von Schoenecker aus dem wundervollen Besitz ein Kinderheim gemacht, das sie bis zu Nicks Volljährigkeit verwaltete. Nick, der inzwischen zu einem großen, verständigen Jungen herangewachsen war, hielt sich oft in Sophienlust auf, war der beste Freund und Kamerad der Heimkinder. Schon jetzt interessierte ihn alles, was Sophienlust betraf. Trotzdem blieb er der liebenswerte Lausbub, der für jeden lustigen Streich zu haben war.
»Und in ein paar Jahren dürfen wir vielleicht auch mitfahren«, meinte Angelika hoffnungsvoll.
»Bestimmt. Tante Isi hat gesagt, es wird abgewechselt. Jeder kommt mal dran.« Pünktchen konnte den Blick nicht von dem farbigen Prospekt abwenden.
»Stell dir mal vor, ihr wohnt in diesem schicken Hotel. Der Sandstrand ist gleich vor der Tür, und das Meer ist ganz klar. Man kann bis auf den Grund sehen. Vielleicht fahrt ihr auch mal mit einem Schiff.« Angelikas blaue Augen leuchteten.
»Wir fahren ganz bestimmt mit einem Schiff«, mischte sich jetzt Irmela, das älteste Mädchen, ein. »Jelsa liegt nämlich auf einer Insel und hat keinen Flugplatz. Wir fahren von Split aus mit einem supermodernen Tragflügelboot.«
»Was ist das?«, wollte Vicky wissen.
»Ein großes Boot, das sich beim Fahren aus dem Wasser hebt und deshalb eine sehr hohe Geschwindigkeit erreicht.«
»Fliegt es?« Vicky hielt das Köpfchen schief.
»Natürlich nicht. Wenn du mehr wissen willst, frage Nick.«
»Das mach ich. Wo ist er denn?« Vicky schaute sich suchend um.
»Wo wird er sein? Natürlich im Stall.«
Vicky lief schon zur Tür, Angelika schloss sich ihr an.
»Wartet, ich komme auch mit«, rief Pünktchen und legte den Prospekt weg.
Nur Irmela blieb im Aufenthaltsraum zurück, wandte sich wieder ihren Schulbüchern zu. Sie war eine sehr fleißige und gewissenhafte Gymnasiastin, deren Traum es war, später einmal Medizin zu studieren.
Die anderen Mädchen durchquerten inzwischen eilig die große Halle von Sophienlust und stürmten durchs Portal hinaus in den Park. Weite Rasenflächen und uralte Bäume gab es da, gepflegte Rosenbeete und etwas abseits den Spielplatz, auf dem sich jetzt die Jüngsten von Sophienlust unter Aufsicht von Schwester Regine tummelten. Fröhliches Geschrei drang herüber. Doch es konnte die Mädchen nicht anlocken. Sie strebten zu den Stauungen, die im hinteren Teil des riesigen Anwesens lagen. Dort pflegte der alte Justus die Ponys, die zum Vergnügen der Kinder gehalten wurden.
Zahme, geduldige Tiere waren es, die die manchmal grobe Behandlung der Kinder nicht übel nahmen. Sie hielten still, wenn die kleinen Reiter in den Sattel kletterten, und sie trabten nie schneller, als die Kinder sich das wünschten.
Vor zwei Tagen hatte Fee, eine junge Ponystute, ihr erstes Fohlen bekommen. Für die Kinder war dies ein freudiges Ereignis gewesen. Gar nicht genug konnten sie das kleine Pferdchen mit dem glänzenden braunen Fell und der dunklen Mähne bewundern.
Nick, der die Tiere besonders liebte, hielt sich seither vorwiegend im Stall auf. Er half dem alten Justus, Mutter und Kind zu versorgen, und freute sich, wenn die beiden zufrieden in ihrer Box standen.
»Fee darf mit ihrem Jungen auf die Weide«, rief Nick den Mädchen zu.
»Wir haben sie mit Möhren gefüttert«, ergänzte Fabian, ein schmächtiger Junge mit mittelblondem Haar und graugrünen Augen. Als seelisch krankes Kind war er nach Sophienlust gekommen. Doch längst hatte er Angst und Misstrauen den Erwachsenen gegenüber aufgegeben, war zu einem fröhlichen Kind geworden.
»Der Kleine hat aber nichts genommen. Er trinkt nur Milch«, berichtete Henrik, Nicks Halbbruder. Er war ein aufgeweckter kleiner Kerl mit einem etwas wilden Haarschopf. Heimlich beneidete er den älteren Nick und versuchte, ihm nachzueifern.
»Habt ihr euch jetzt schon für einen Namen entschieden?«, fragte Pünktchen im Näherkommen.
»Nein. Den darfst du bestimmen.« Nick lachte dem blonden Mädchen zu. Pünktchen war seiner Ansicht nach das hübscheste der Mädchen, und manchmal träumte er davon, ihr langes Haar zu streicheln und ihren reizvollen kleinen Mund zu küssen. Doch solche Anwandlungen verflüchtigten sich sehr rasch wieder. Denn noch lagen Nicks Interessen auf ganz anderem Gebiet.
Pünktchen und ihre Freundinnen blieben am Eingang des Gebäudes stehen. Denn eben hatte der alte Justus die Box geöffnet, um Fee auf die Weide zu führen. Das Ponykind stolzierte auf steifen Beinchen hinterher. Besorgt drehte die Stute immer wieder den Kopf zu ihrem Sprössling um.
»Mir gefällt Thilo.« Pünktchen strich dem Jungtier im Vorübergehen übers weiche braune Fell.
»Nicht schlecht.« Der künftige Erbe von Sophienlust nickte zustimmend.
»Thilo hört sich gut an«, bestätigte Henrik mit dem Sachverstand des Gutsbesitzer-Sohnes. Dabei grinste er zufrieden.
»Thilo«, lockten Angelika und Vicky das junge Pony, das eifrig hinter seiner Mutter trabte.
Selbstverständlich begleiteten die Kinder die Tiere auf die Weide, eine große eingezäunte Wiese, auf der die Ponys genügend Auslauf hatten. Fee und ihr Sprössling wurden von den anderen Tieren wiehernd begrüßt. Die Ponys waren auch unter sich sehr verträglich und bescheiden. Das Fohlen hielt sich ängstlich bei der Mutter. Es war ein wunderschönes Bild.
»Nick, du musst uns erklären, was ein Tragflügelboot ist«, erinnerte Vicky an den Grund ihres Kommens.
»Später«, wehrte der große Junge ab. »Jetzt werden wir Thilo zuerst taufen.«
»Richtig mit Wasser und Salz?«, erkundigte sich Henrik begeistert.
»Natürlich zünftig.« Nick lief zu den Stallungen zurück, um alle Utensilien, die er dafür brauchte, zu holen.
*
Sorgfältig untersuchte Dr. Ursula Bode ein Neugeborenes, das eine leichte Gelbsucht hatte. Sie nahm dem Säugling Blut ab, das im Labor auf den Bilirubinwert untersucht werden würde. So behutsam führte sie die Hohlnadel in die Vene, dass das Baby nicht einmal schrie.
Die Säuglingsschwester kam mit einem länglichen Kastenwagen in die Neugeborenenstation zurück. Mit diesem Wagen wurden die Babys, gegen Zugluft geschützt, zu ihren Müttern zum Stillen gebracht. Eines der Kinder brachte das Mädchen in weißen Helferinnen-Anzug wieder zurück.
»Haben Sie eine Ahnung, wo sich Frau Koretic aufhält?« Die Säuglingsschwester nahm das Baby, das inzwischen den Namen Yelka erhalten hatte, aus dem Wagen. »Sie war schon bei der zweiten Fütterung um zehn Uhr nicht da. Niemand weiß etwas.« Das junge Mädchen nahm eines der warmgehaltenen Fläschchen aus dem elektrischen Gerät, prüfte die Temperatur und reichte die Milch dem kleinen Mädchen. Yelka schnappte sofort nach dem Sauger, begann gierig zu ziehen. Sie hatte einen guten Appetit, trank glucksend und mit größter Zufriedenheit.
»Nein, ich weiß nichts«, antwortete Ursula. Sie drückte einen mit Alkohol getränkten Wattebausch auf die Einstichstelle. »Ich bringe den Kleinen auf die Isolierstation. Falls es nötig sein sollte, werden wir die Fototherapie anwenden. Ich kümmere mich selbst um den Laborbefund.«
Ursula ging mit dem Säugling in den angrenzenden Raum, der durch eine dicke Glasscheibe vom Säuglingszimmer getrennt war. Hierher brachte man die Babys, die ärztlicher Pflege bedurften. Bei schwerer Gelbsucht wurde ein sofortiger Blutaustausch vorgenommen. Doch in diesem Fall würde das nicht nötig sein.
Ursula legte das Kind vorsichtig in das vorgesehene Bettchen, deckte es zu und verließ mit der Blutprobe die Station. Auf direktem Weg brachte sie das Reagenzglas ins Labor. Die Auswertung dauerte etwa zehn Minuten.
Inzwischen wollte Ursula nach Nevenka Koretic sehen. Irgendwie fühlte sie sich für diese Patientin verantwortlich, denn sie war ihr erster »Fall«.
Dr. Ursula Bode sah zuerst im Krankenzimmer nach. Noch zwei weitere Wöchnerinnen waren dort untergebracht. Sie lächelten erfreut, als die beliebte junge Ärztin den Raum betrat. Beide waren gerade dabei, ihre Babys zu stillen.
»Wir suchen Frau Koretic. Ihr kleines Mädchen hat Hunger.« Ursula sah auf das leere Bett. Es war zurückgeschlagen und wirkte so, als sollte es gleich wieder belegt werden.
»Sie ist seit dem Frühstück verschwunden«, antwortete eine der jungen Mütter. »Gesagt hat sie nichts.«
»Hat sie vielleicht etwas in der Stadt besorgen wollen?« Es war nicht üblich, dass Patientinnen die Klinik verließen. Doch bei Ausländerinnen erlebte man immer wieder Überraschungen.
»Dann hätte sie sich doch angezogen. Sie trug aber nur den Morgenmantel, als sie hinausging.«
Ursula hatte plötzlich einen ganz bestimmten Verdacht. Die junge Jugoslawin hatte sich von Anfang an ihrem Kind gegenüber reichlich gleichgültig gezeigt. »Welcher Schrankteil gehört Frau Koretic?«
»Der mittlere.«
Ursula trat hinzu, öffnete die schmale Holztür. Wie sie erwartet hatte, war das Fach leer.
»Sie hat ihre Sachen mitgenommen.«
Diesen Satz hörte gerade noch die Stationsschwester, die in diesem Moment den Raum betrat. »Dann ist die Jugoslawin also getürmt«, schnaubte sie verblüfft. Genau wie Ursula schaute auch sie in den leeren Schrank. »Kleider, Schuhe, Tasche, alles weg.«
»Aber das Baby ist noch da«, mischte sich jetzt eine der jungen Mütter ein. »Man lässt doch nicht sein Baby im Stich.«
»Normalerweise nicht.« Ursula schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Das haben wir tatsächlich noch nie gehabt«, stöhnte die Stationsschwester. »Eine Mutter, die sich heimlich davonschleicht und ihr Kind zurücklässt …«
»Ich glaube das nicht«, erklärte die eine Wöchnerin und drückte dabei ihr Baby zärtlich an sich. »So etwas gibt es doch nicht.«
»Frau Koretic muss ihre Sachen während der Nacht in einen Abstellraum gebracht haben. Dort hat sie sich nach dem Frühstück umgezogen und ist weggegangen.« Die zweite Mutter nickte vielsagend.
»Möglich wäre es«, räumte die Stationsschwester ein. »Ich bin nur gespannt, ob sie wieder auftaucht, oder ob sie uns das Kind einfach überlässt.«
»Arme kleine Yelka«, murmelte Ursula mitleidig. Sie selbst war der Ansicht, dass Nevenka Koretic nicht zurückkommen würde. Doch sie hütete sich davor, diese Gedanken zu äußern.
Trotzdem behielt Ursula Bode recht. Die junge Jugoslawin blieb verschwunden. Niemand hatte sie weggehen sehen, niemand wusste, wohin sie geflüchtet war, denn Nevenka Koretic hatte mit niemandem Kontakt gehabt.
Jetzt aber empörten sich Ärzte, Schwestern und Patienten über die herzlose junge Mutter. Man schimpfte und verdammte die Rabenmutter. Das allgemeine Mitgefühl galt dem Baby, das von allem nichts ahnte.
Auch die Polizei, die man einschaltete, konnte keinen Hinweis auf den Aufenthaltsort der Jugoslawin geben.
*
An diesem Abend erwiderte Ursula den Kuss ihres Freundes nur flüchtig.
»Probleme?«, fragte Adrian, der sofort bemerkt hatte, dass die junge Ärztin anders war als sonst. »Erzähle! Was hast du heute gemacht?«
Adrian, der den Nachmittag am Swimmingpool verbracht hatte, fühlte sich frisch und ausgeruht. Gelassen neigte er sich zu Ursula hinüber. Alles, was sie erzählte, vergaß er gewöhnlich schon in der nächsten Minute wieder, denn sein Interesse war nur vorgetäuscht.
»Ein Gelbsucht-Baby musste in den Inkubator. Ich habe eine Nährinfusion angeschlossen und Antibiotika hineingegeben. Es ist eine unangenehme Sache für den Kleinen. Ich musste seine Augen mit Mullkompressen abdecken und diese festkleben.«
»Warum denn das?«, erkundigte sich Adrian gelangweilt.
»Bei der Fototherapie wird das Kind von Fluoreszenzröhren bestrahlt. Das helle Licht könnte den Augen schaden. Deshalb müssen sie geschützt werden.«
»Interessant«, murmelte Adrian und stieg in bewährter Manier in seinen Sportwagen ein.
»Das Interessante kommt erst noch«, meinte Ursula lebhaft. »Stell dir vor, heute hat eine Wöchnerin die Station verlassen, ohne ihr Baby mitzunehmen.«
»Schönes Geschenk.« Adrian wendete seinen Wagen. All diese Krankenhausgeschichten machten auf ihn keinerlei Eindruck. Er hörte nur zu, um Ursula nicht zu verärgern.
»Es ist allen unbegreiflich, dass eine Mutter ihr Kind zurücklassen kann, ohne zu wissen, was aus ihm wird.«
»Wahrscheinlich hat sie das Kind nicht gewollt.«
»Vielleicht. Dann hätte sie aber andere Möglichkeiten gehabt. Ich nehme an, sie ist in ernsten Schwierigkeiten. Das wollte ich gern herausfinden.«
Adrian lachte amüsiert. »Du? Bist du Ärztin oder Detektivin?«
»Ich habe mir in der Verwaltung die Adresse von Frau Koretic besorgt.«
»Wozu?« Adrian trommelte mit zwei Fingern ärgerlich aufs Armaturenbrett seines Wagens, weil er an der Einmündung zur Hauptstraße warten musste.
»Ich will versuchen, sie aufzustöbern.«
»Was geht dich die ganze Sache an? Die Klinikverwaltung wird das Baby schon irgendwo unterbringen. Das braucht dich doch überhaupt nicht zu kümmern.«
»Es beschäftigt mich aber trotzdem. Die kleine Yelka ist das erste Baby, dem ich auf diese Welt geholfen habe. Das bringt doch irgendwie Verantwortung mit sich.«
»Quatsch! Du hast nichts damit zu tun.« Dieses Gespräch war Adrian längst lästig.
»Rechtlich gibt es für mich natürlich keine Verpflichtung. Aber moralisch.«
»Auch nicht. Können wir nicht endlich von etwas anderem reden?«
»Adrian, wenn du so ein kleines, hilfloses Menschenkind in den Händen hältst, fühlst du dich automatisch als Pate.«
»Mein Gott, nimmt denn diese Autoschlange überhaupt kein Ende?« Adrian schaute nach rechts und links. Keiner der Verkehrsteilnehmer auf der Hauptstraße gab ihm die Möglichkeit zum Einreihen. »Ich habe den Eindruck, diese Klinik macht dich hysterisch. Vergiss die ganze Geschichte. Wir fahren in den Club.«
»Ich möchte aber zuerst in die Bahnhofstraße 7.«
»Bahnhofstraße? Das ist ein mieses Viertel.«
»Frau Koretic hat dort ein möbliertes Zimmer. Bitte, Adrian!« Ursula lächelte ihren Freund gewinnend an.
»Schön, wenn du dich unbedingt um die Probleme anderer Leute kümmern möchtest …« Endlich hatte Adrian eine Lücke entdeckt. Er zwängte seinen Sportwagen hinein, versuchte sofort andere zu überholen.
Wenig später hielt er vor dem Haus Nummer 7 in der Bahnhofstraße. »Bitte, fröne deiner sozialen Leidenschaft.« Spöttisch lächelnd lehnte er sich im weinroten Ledersitz zurück.
»Ich bin gleich wieder hier.« Ursula stieg aus, betrat das schäbig wirkende Haus und klingelte bei Nevenkas Hauswirtin. Höflich fragte sie nach der Jugoslawin.
Die Vermieterin stemmte die kräftigen Arme in die Seiten und schaute Ursula Bode herausfordernd an. »Sie sind heute schon die zweite, die nach ihr fragt. Dabei wohnt Frau Koretic schon seit mehr als einer Woche nicht mehr bei mir.«
Dr. Ursula Bode dachte daran, dass wahrscheinlich ein Polizeibeamter in Zivil nach Nevenka Koretic gefragt hatte. »Hat Ihre jugoslawische Untermieterin das Zimmer aufgegeben, als sie in die Klinik musste?«
»Klinik? Davon weiß ich nichts. Sie hat gekündigt, ganz einfach gekündigt, und ist gegangen. Viel hat sie ja nie gesprochen.«
»Aber Sie wussten doch, dass Frau Koretic ein Baby erwartete?«
»Na ja, ich hab’s vermutet. Aber danach gefragt hab’ ich nicht.«
»Wissen Sie vielleicht, wo sie gearbeitet hat?« Ursula ahnte, dass sie mit ihren Nachforschungen nicht weiterkommen würde. Es war anzunehmen, dass Nevenka in ihre Heimat zurückkehren würde. Wahrscheinlich wusste niemand, in welchen Teil Jugoslawiens sie flüchten würde.
»In der Spinnerei dort drüben. Aber dort brauchen Sie nicht nachzufragen. Ihre Arbeit hat sie schon vor der Wohnung aufgegeben. Übrigens war sie nicht verheiratet.«
»Danke schön. Entschuldigen Sie die Störung.« Ursula wandte sich ab. Es war also sicher, dass Nevenka Koretic alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte. Sie wollte untertauchen, wollte sich ihres Kindes entledigen. Da sie nur ihren deutschen Wohnsitz, nicht aber ihre Heimatadresse angegeben hatte, war zu erwarten, dass man sie niemals finden würde. Yelka war damit eine kleine Waise.
Bekümmert dachte Dr. Ursula Bode an das hübsche kleine Mädchen, das von seinem ungewissen Schicksal nichts ahnte. Es war von der Mutter verlassen worden, dem Vater unbekannt.
»Na?«, fragte Adrian Paulsen spöttisch, als Ursula zurückkam.
»Ich bin so schlau wie zuvor. Die Zimmerwirtin weiß nichts.«
»Das hätte ich dir gleich sagen können. Jetzt haben wir nur unnötig unsere Zeit vertan.«
Adrian bemühte sich, den Verlust aufzuholen, indem er noch schneller als gewöhnlich fuhr. Im Tennis-Center war er dann wieder der große Favorit. Er trug den elegantesten Dress, hatte den teuersten Schläger und die beste Laune.
Ursula hatte an diesem Tag noch weniger Freude am Spiel mit dem kleinen weißen Ball als sonst. Sie war unaufmerksam, verschlug die Angaben, verpasste die Bälle. In ganz kurzer Zeit hatte sie den ersten Satz verloren.
Adrian kam triumphierend ans Netz. »Du bist heute nicht besonders gut in Form. Was ist los?«
»Ich bin nicht in Stimmung.« Ursula wusste, dass Adrian kein Verständnis für ihre Überlegungen haben würde. Deshalb sprach sie nicht darüber.
»Dann werden wir dich jetzt in der Bar ein wenig aufmöbeln. Wie wär’s mit einer Flasche Sekt?«
»Vielen Dank, ich bin müde und würde mich lieber ein bisschen ausruhen.«
»Der Tag fängt doch erst an. Hast du vergessen, dass wir heute zur Party bei den Bernsteins eingeladen sind?«
Ursula hatte es tatsächlich vergessen. Die Bernsteins gehörten zu jener Gruppe von Adrians Freunden, die sie nicht so richtig mochte.
»Die Bernsteins haben immer eine dufte Band. Du wirst staunen, was dort los ist.«
»Ich mag aber nicht. Ich bin einfach zu müde.« Die junge Ärztin ließ den Kopf hängen. »Vielleicht kannst du mich nach Hause bringen.«
»Dann muss ich also allein zur Party gehen? Das ist mir absolut nicht recht.« Das war eine von Adrians charmanten Lügen. Ursulas Gesellschaft wurde ihm auf die Dauer ohnehin zu anstrengend. Sie redete so viel von ihrem Beruf, von Krankheiten und menschlichen Konflikten, dass er diese Themen längst satt hatte. Er liebte mehr die nichtssagende, oberflächliche Unterhaltung und den amüsanten Flirt. Ohne Ursula versprach der Abend in dieser Hinsicht recht erfolgreich zu werden.
»Können wir nicht absagen?«
»Unmöglich. Die Bernsteins wären gekränkt, und das möchte ich nicht riskieren.«
*
Adrian Paulsen brachte Ursula zum Appartementhaus der Ärzte, das in unmittelbarer Nähe des Krankenhauses stand. Hübsch und zweckmäßig waren die beiden Räume und die kleine Küche eingerichtet, die Ursula zur Verfügung standen.
Sie aß eine Kleinigkeit und nahm ein Bad. Danach fühlte sie sich besser und ging noch einmal hinüber zur Frauenstation.
Die Nachtschwester hatte bereits ihren Dienst angetreten. Auf den Fluren war es ruhig. Das Licht der Neonröhren spiegelte sich auf dem blanken Fußboden.
Auch im Zimmer der Säuglinge herrschte bereits Nachtruhe. Nach der letzten Fütterung schliefen die Babys satt und zufrieden. Ihre Ärmchen mit den winzigen Fäustchen lagen in Kopfhöhe.
»Alles in Ordnung. Sogar unser Gelbsuchtbaby hat seine hundert Gramm getrunken. Ich glaube, es ist schon über den Berg«, berichtete die Säuglingsschwester, die in dieser Nacht Dienst hatte.
»Gut.« Ursula blieb vor dem Bettchen der kleinen Yelka stehen, schaute nachdenklich auf den schlafenden Säugling. Es war ein auffallend hübsches Baby, groß und kräftig. Man hätte glauben können, dass Yelka bereits vier Wochen alt sei. Dabei war sie erst vor neun Tagen zur Welt gekommen. Rund und dick waren die Bäckchen, kräftig ausgebildet Wimpern, Augenbrauen und Fingernägel.
»Armes kleines Ding«, seufzte die Säuglingsschwester, die herangekommen war und nun neben Dr. Bode stehen blieb.
»Wir werden sie so lange wie möglich in der Klinik behalten.« Ursula Bode hatte darüber bereits mit dem Chefarzt gesprochen.
»Sicher. Aber wir können sie nur füttern, baden und wickeln. Zu mehr reicht es bei diesem Betrieb nicht. Besser wäre es schon, wenn die Kleine von jemandem adoptiert würde. Es gibt ja so viele kinderlose Familien, die ein Baby suchen.«
Ursula schüttelte leicht den Kopf.
»Yelka kann nicht adoptiert werden. Dazu braucht man das Einverständnis der Mutter. Und das werden wir nicht beschaffen können. Sie wissen ja, dass Frau Koretic spurlos verschwunden ist. Die Chance, sie ausfindig zu machen, ist gleich Null. Also bleibt nur ein Kinderheim.« Der Gedanke daran beschäftigte Ursula schon den ganzen Tag über.
»Wenn schon ein Heim, dann wenigstens ein gutes«, erklärte die Schwester.
»Gibt es das denn überhaupt?« Die junge Ärztin zog die Stirn in Falten. Keinen Blick wandte sie von dem friedlich schlafenden Baby.
»Mit Sicherheit. Ich denke dabei an Sophienlust. Frau Dr. Frey, die manchmal kleine Patienten in unsere Klinik bringt, hat schon viel davon erzählt. Sophienlust ist ein privates Heim, das mit großem persönlichem Einsatz geführt wird. Die Kinder leben dort wie in einer großen Familie. Sie haben alle Freiheiten, alle Chancen wie in einer Familie. Und sie sind glücklich dort. Das ist wohl die Hauptsache. Fragen Sie doch Frau Dr. Frey. Sie kann Ihnen mehr sagen, denn sie betreut die Kinder von Sophienlust.«
»Das werde ich tun.« Ursula atmete tief durch. Irgendwie fühlte sie sich für Yelka verantwortlich, auch wenn Adrian das nicht verstand.
Der Gedanke an ihren Freund stimmte sie traurig. Je besser sie Adrian kennen lernte, umso deutlicher zeigte sich, dass sie und er doch sehr verschieden waren.
Adrians Oberflächlichkeit ließ sich auf die Dauer nicht verheimlichen. Würde sie diesen Mann ein ganzes Leben lang lieben können?
»Dr. Bode, ich habe Sie zufällig gesehen. Können Sie mir assistieren? Ich habe da eine Patientin mit ungewöhnlich starken Blutungen. Sie muss sofort versorgt werden.« Oberarzt Dr. Richlin steckte den Kopf durch den Türspalt.
»Selbstverständlich.« Ursula dachte gar nicht daran, darauf hinzuweisen, dass sie an diesem Abend keinen Dienst hatte, Sie war froh, dass sie durch die Tätigkeit von ihren trüben Gedanken abgelenkt wurde.
Während sie im Vorbereitungsraum am Waschbecken stand und sorgfältig Hände und Unterarme abseifte, klang das Wort »Sophienlust« in ihr nach. Würde Yelka dort Aufnahme finden?
*
»Nimmst du deinen Bademantel nicht mit?«, fragte Vicky, die neugierig den Inhalt von Pünktchens Koffer inspizierte.
»Nein. Er ist zu dick und zu schwer. Wenn man mit dem Flugzeug reist, darf man keinen so schweren Koffer haben«, belehrte Pünktchen das jüngere Mädchen.
»Ich möchte auch mal fliegen.« Vicky verdrehte schwärmerisch die großen Kinderaugen. »Du musst mir unbedingt erzählen, wie das ist.«
»Du kannst ja Nick fragen.«
Vicky winkte geringschätzig ab. »Ach, er hat ja keine Zeit. Er ist immer im Stall bei Fee und Thilo. Er hat mir auch nicht gesagt, wie das mit dem Tragflügelboot ist.«
»Ich weiß noch was viel Besseres«, piepste Heidi, die in diesem Moment das Zimmer der größeren Mädchen betrat. Sie war das jüngste Dauerkind von Sophienlust, hatte ein rundes Gesichtchen und abstehende blonde Schaukelzöpfchen.
Die älteren Mädchen schenkten der Kleinen keine Beachtung, sondern versuchten gemeinsam, den übervollen Koffer zu schließen. Das war nicht einfach, denn Pünktchen hatte einfach zu viel eingepackt.
»Glaubst du, ich soll die Schwimmflossen hierlassen?«
»Nein. Schwimmflossen brauchst du unbedingt. Lieber den dicken Pulli. Im August ist es doch dort nicht kalt.«
»Soll ich euch sagen, was ich gehört habe?« Heidi legte das Köpfchen schief und blinzelte zu den Mädchen empor.
»Gibt’s Eis zum Nachtisch?«, fragte Vicky und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
»Weiß ich nicht.«
»Dann zieh Leine. Wir haben hier zu tun. Das siehst du doch.« Vicky ächzte, denn das Kofferschloss wollte und wollte nicht einrasten.
»Dann sag’ ich euch nicht, was Tante Isi und die Tante Doktor geredet haben.« Heidi zog beleidigt davon.
Pünktchen und Vicky schauten sich an. »Ist jemand krank?«
Das Mädchen mit dem langen blonden Haar ließ den Koffer im Stich. Bis zur Abreise war noch gut eine Woche Zeit. Irgendjemand würde das verflixte Ding schon zubekommen.
»Was hast du gehört?«, erkundigte sich Pünktchen auf dem Flur bei der kleinen Heidi.
»Jetzt mag ich nicht mehr.« Die Kleine schob trotzig die Unterlippe vor.
»Komm, sei nicht affig. Du bekommst auch ein Stück Schokolade von mir.«
»Wie groß?« Heidis Augen glänzten begehrlich. Für Süßigkeiten war sie immer zu haben.
»Eine halbe Tafel.«
Der Preis schien Heide angemessen. »Ich hab’ gehört, dass wir ein neues Baby bekommen«, tuschelte sie geheimnisvoll.
»Wann?« Pünktchen dachte sofort an die Reise. Wahrscheinlich würden sie, Irmela und Nick gar nicht da sein, wenn das neue Kind eintraf.
»Bald. Krieg’ ich jetzt die Schokolade?«
»Wie bald?«, wollte Vicky, die hinzugekommen war, wissen.
»Ich hab’ nur gehört, dass heute jemand kommt. Eine Frau Doktor. Sie will sich alles anschauen. Und dann bringt sie das Baby. Wo hast du die Schokolade?«
»Gleich. Weiß Nick das schon?«
Heidi zog die schmalen Schultern hoch und deutete damit an, dass sie keine Ahnung hatte. Zufrieden nahm sie die Schokolade entgegen, die Pünktchen aus ihrem Zimmer holte.
Wurde in Sophienlust ein neues Kind erwartet, war das immer eine kleine Sensation, denn man wusste nie, ob sich der Neuling problemlos in die Gemeinschaft einfügen würde. Bei einem Baby war das anders. In diesem Falle waren alle voll froher Erwartung.
Denise von Schoenecker, die von den Kindern liebevoll »Tante Isi« genannt wurde, rief ihre Schützlinge am Abend zusammen und bereitete sie auf den Zuwachs vor. Sie verschwieg nicht, dass Yelka das Kind einer Jugoslawin war und dass die Kleine von ihrer Mutter schmählich verlassen worden war.
Die Kinder reagierten empört, manche von ihnen auch nachdenklich. Die kleine Heidi schlang spontan die Ärmchen um Denises Hals, als die mütterliche Frau ihr wenig später den Gutenachtkuss geben wollte.
»Tante Isi …«, wisperte sie besorgt, »… hat meine Mutti das mit mir auch gemacht? Hat sie mich auch einfach im Krankenhaus gelassen?« Ängstlich schmiegte sie sich in Denises Arme.
Denise von Schoenecker, die mit ihrer Familie auf dem benachbarten Gut Schoeneich wohnte, hatte es eigentlich eilig, nach Hause zu kommen. Sie hätte jetzt Schwester Regine oder Frau Rennert, die Heimleiterin, rufen können, damit diese sich mit Heidi befassten. Doch sie tat es nicht. Es war für sie selbstverständlich, stets Zeit für ihre Schützlinge zu haben, auch wenn sie dafür persönliche Wünsche zurückstellen musste.
Zärtlich strich Denise über die jetzt offenen Haare des Kindes. »Nein, Heidi. Deine Mutti hat dich sehr lieb gehabt und hätte dich bestimmt nie allein gelassen. Doch leider ist sie durch einen Unfall ums Leben gekommen. Das habe ich dir ja schon erzählt.«
Noch war Heidi zu klein, um die schreckliche Wahrheit zu erfahren. Heidis Mutter war auf sehr tragische Weise ums Leben gekommen. Sie war von ihrem eigenen Mann erschossen worden.
Auf der Flucht war Heidis Vater dann tödlich verunglückt.
»Hat mich meine Mutti manchmal in den Arm genommen, so wie du?«, piepste die Kleine und schmiegte sich liebesbedürftig an Denise.
»Ja, das hat sie. Sie hat dich gestreichelt und geküsst, hat mit dir geredet und gelacht.« Denise von Schoenecker hatte Heidis Mutter nicht gekannt. Aber für sie gab es keinen Zweifel daran, dass sich jede gute Mutter so verhielt.
»Und jetzt tust du es«, antwortete Heidi vertrauensvoll. »Deshalb bin ich auch gar nicht traurig. Ich hab’ dich lieb, Tante Isi.«
»Ich dich auch, Heidi.« Denise drückte das Kind zärtlich an sich. Worte, wie sie dieses kleine Mädchen eben ausgesprochen hatte, waren für sie der schönste Dank für all ihre Arbeit und Mühe.
*
Knapp eine Woche später übersiedelte die kleine Yelka von der Säuglingsstation der Klinik nach Sophienlust. Dr. Ursula Bode brachte das Baby selbst ins Kinderheim. Es war inzwischen zwei Monate alt und hatte sich prächtig entwickelt. Wenn es Ursula sah, lachte es fröhlich, zappelte und krähte.
Ursula Bode hatte sich in diesen acht Wochen viel mit der kleinen Yelka beschäftigt. Sie hatte das Kind nicht nur ärztlich betreut, sondern sich auch in ihrer Freizeit um den mutterlosen Schützling gekümmert. Ihr war es zu verdanken, dass Yelka sich völlig normal entwickelt hatte. Jetzt freilich konnte die Kleine nicht länger auf der Neugeborenenstation der Klinik bleiben.
Der jungen Ärztin fiel der Abschied von dem Baby schwer. Sie war Denise von Schoenecker sehr dankbar, als diese ihr anbot, jederzeit nach der Kleinen sehen zu können.
Die Kinder von Sophienlust waren von dem kleinen Neuling sofort begeistert. Yelka zeigte keinerlei Scheu, lachte mit den Buben und Mädchen, und schaute ihnen interessiert nach, wenn sie das Kinderzimmer, das unmittelbar neben Schwester Regines Zimmer lag, verließen.
Regine Nielsen, die Babys und Kleinkinder über alles liebte, war richtig glücklich über den unerwarteten Zuwachs. Mit Eifer und Gewissenhaftigkeit widmete sie sich der Pflege des Säuglings. Aus erzieherischen Gründen beteiligte sie auch die Kinder an der Betreuung des kleinen Mädchens. Besonders die jüngeren Schützlinge von Sophienlust waren stolz und glücklich, wenn Schwester Regine ihnen kleinen Pflichten übertrug.
Schon am nächsten Tag trat die Familie von Schoenecker mit Irmela und Pünktchen die Urlaubsreise an. Die beiden Mädchen sowie Henrik und Nick waren etwas traurig darüber, dass sie sich nicht mit dem Baby befassen konnten, dass sie Sophienlust ausgerechnet jetzt verlassen mussten.
Doch die Eindrücke der Reise ließen den Abschiedsschmerz rasch in Vergessenheit geraten. Es war eine erlebnisreiche Fahrt, die den Urlaubern bevorstand. Mit dem Taxi wurden sie zum Flughafen gebracht und bestiegen dort eine Chartermaschine, um nach einem knapp zweistündigen Flug im Süden Jugoslawiens auszusteigen.
Warm und trocken war es dort. Vom Meer her wehte ein heißer Wind. Doch er konnte die staubigen Blätter der Palmen am Flughafen nicht bewegen. Glücklicherweise ging die Reise sofort weiter. Ein Taxi brachte alle zum Hafen, wo schon das Tragflügelboot wartete.
Die Reisenden aus Deutschland waren unter den ersten Passagieren, die das moderne, geräumige Schiff betraten. Sie nahmen in einem rundum verglasten Fahrgastraum auf bequemen verstellbaren Sesseln Platz.
»Jetzt kann ich Heidi erklären, wie ein Tragflügelboot aussieht«, flüsterte Pünktchen Irmela zu.
Irmela schaute auf die Uhr. »Es ist zehn. Gerade Zeit für Yelkas Fläschchen. Heidi schaut bestimmt zu, wenn Schwester Regine das Baby füttert und badet.«
»Du, wenn wir zurückkommen, ist Yelka schon ein Vierteljahr alt. Da kann sie bereits etwas in der Hand halten.«
Während des Flugs hatten die Mädchen nicht geredet, sondern nur staunend aus den Bullaugen des Riesenvogels geschaut. Auch Nick und Henrik hatten stumm die vielfältigen Eindrücke in sich aufgenommen.
Jetzt beugte Nick sich zu Pünktchen und Irmela hinüber.
»Yelka ist nur einen Tag jünger als Thilo. Aber das Pony ist schon viel selbstständiger. Es läuft ganz allein über die Weide, und es frisst auch schon.«
»Du kannst doch ein Pony nicht mit einem kleinen Mädchen vergleichen«, meinte Irmela vorwurfsvoll.
»Will ich ja auch nicht. Mann, ich glaube, es geht los.« Nick drehte sich in seinem Sitz herum, schaute zum hinteren Teil des Schiffes. Alle Plätze waren besetzt. Die Türen wurden geschlossen, die dicken Befestigungsseile eingezogen. Das Dröhnen und Stampfen der Maschinen wurde lauter. Das futuristisch anmutende Boot glitt aus dem Hafen, gewann schnell an Fahrt. Was es konnte, zeigte sich jedoch erst auf dem offenen Meer. Kraftvoll schob sich der schlanke Schiffskörper aus dem Wasser, sauste auf Kufen über die glatte blau-grüne Fläche.
»Ist das toll!« Nick, der sich für die Technik interessierte, schlenderte zum Heck des Schiffes. Dort wirbelten die Turbinen eine beachtliche Wassermenge auf, dort konnte man auch einen Blick in den Maschinenraum tun.
Die Mädchen begeisterten sich dagegen mehr für die herrliche Inselwelt. Schroffe rote Felsen tauchten aus dem Meer auf, wechselten mit bewachsenen Hängen oder hellen Sandstränden. Unzählige Inseln gab es hier. Manchmal waren sie winzig klein, manchmal standen einzelne Häuser darauf. Unvorstellbar einsam wohnten die Menschen hier.
Alexander und Denise von Schoenecker genossen die Überfahrt bei dem herrlichen Wetter und dem völlig ruhigen Meer. Immer wieder sahen sie sich an, lächelten sich zu. Sie verstanden sich auch ohne Worte. Denn sie waren ein Paar, das sich trotz vieler Ehejahre noch immer innig liebte und sehr harmonisch miteinander lebte.
Alle bedauerten es, als das Boot seine Fahrt verlangsamte und in den Hafen von Jelsa einbog. Das war ein kleiner Hafen, überwiegend mit winzigen Motorbooten bestückt. Mittelalterlich anmutende Häuser gruppierten sich um den Kai, ein Kirchturm ragte aus dem Gewirr der roten Ziegeldächer. Dahinter sah man die Berge, die teils bewaldet, teils terrassenartig bepflanzt waren. Ein hübsches Bild.
Während des Anlegemanövers stand Denise neben ihrem Mann, lehnte den Kopf leicht an seine Schulter und schaute auf das herrliche Panorama.
Auf dem Platz im Hafen wartete bereits ein Auto des Hotels. Der Fahrer lud die Koffer der neuen Gäste ein, sorgte dafür, dass die Urlauber in seinem Wagen einen bequemen Platz fanden, und brachte alle wohlbehalten zum Hotel.
Es war kein besonders großes, aber ein sehr gepflegtes Haus, das die Schoeneckers ausgewählt hatten. Sie bezogen ein Appartement mit drei Schlafräumen und einem hübschen Wohnzimmer, an das sich ein großer Balkon anschloss.
Der Empfang durch den Hotelier war ausgesprochen herzlich. Es gab einen Drink und eine kleine Führung durch die Gemeinschaftsräume.
Die Kinder waren begeistert. Verflogen war die Müdigkeit, durch die anstrengende Reise. Nick, Henrik, Irmela und Pünktchen mussten sofort den Strand und seine Umgebung erforschen. Jubelnd stürmten sie über die große Terrasse mit den vielen Liegestühlen hinunter zur Sandbucht. Dort konnte man viele Meter weit ins flache, klare Wasser waten. Rechts und links davon war der Strand felsig. Dort gab es verschwiegene Plätzchen, an denen man sich ungestört sonnen konnte. Das Meer war so tief, dass man mit einem Kopfsprung ins Wasser tauchen konnte.
»Schau mal, es hat Fische hier.« Pünktchen zog Nick am Arm.
»Und ich hab’ keine Angel«, stöhnte der Junge und verdrehte die dunklen Augen.
»Brauchst du auch nicht. Es ist viel schöner, wenn man die Fische durch die Taucherbrille beobachtet.« Irmela überlegte bereits, ob sie ihre Schnorchelausrüstung holen sollte.
»Ja, von dir lassen sie sich bestimmt streicheln«, spottete Henrik. Er hatte ein schnittiges Sportboot entdeckt, das an einem in den Fels eingelassenen Eisenhaken festgebunden war. »Mann, ist das ein Ding! Das macht glatt seine 180«, meinte er begeistert.
»Vielleicht gehört es dem Hotelbesitzer. Wie heißt er denn?«
»Keine Ahnung. Aber das finden wir schon noch heraus. Vielleicht dürfen wir sogar mal mitfahren.«
»Warum nicht?« Für die Kinder unerwartet, erhob sich ein schlankes junges Mädchen von seinem versteckten Platz hinter einer Felsengruppe.
Plötzlich deutsch angesprochen zu werden, verwirrte Nick, Henrik, Irmela und Pünktchen so sehr, dass sie zunächst keine Antwort gaben und die junge Dame nur erstaunt anschauten.
»Wohin wollt ihr denn?«
Nick zuckte die Achseln. »Das …, das wissen wir noch nicht. Wir sind eben erst angekommen. Und du?« Nick war überzeugt, dass das fast kindlich wirkende Mädchen kaum älter war als er selbst.
»Ich wohne hier. Das Hotel gehört meinen Eltern.«
»Du sprichst ja so gut Deutsch. Warst du in Deutschland?« Irmela musterte die Jugoslawin voll Interesse.
»Nein«, kam es etwas zu hastig von den Lippen des Mädchens. »Wir lernen die deutsche Sprache in der Schule.«
»Dann musst du eine sehr gute Schülerin sein.« Pünktchen bewunderte das Mädchen mit dem dunklen Haar und den fast schwarzen Augen.
»Es geht. Ich studiere Medizin in Belgrad. Im Moment haben wir allerdings Semesterferien. Deshalb bin ich zu Hause.«
»Du willst Ärztin werden? Genau wie ich?« Zwischen Irmela und der jungen Jugoslawin herrschte sofort ein freundschaftliches Verhältnis. Die beiden waren sich auf Anhieb sympathisch.
Nick stellte die Mädchen, Henrik und sich selbst vor und fragte nach dem Namen der Studentin.
»Nevenka«, antwortete sie unbefangen.
Pünktchen dachte sofort an die kleine Yelka. Frau Dr. Ursula Bode hatte ihnen erzählt, dass die Frau, die das Baby im Stich gelassen hatte, Nevenka hieß. »Gibt es diesen Namen oft hier?«
»Sehr oft. Allein in meiner Schulklasse hatten wir vier Mädchen, die Nevenka hießen.«
»Ach so.« Pünktchen war enttäuscht.
»Wenn ihr wollt, könnt ihr morgen mit mir nach Hvar fahren. Das ist die Hauptstadt der Insel. Sie ist sehr hübsch.«
»Gern. Aber wir müssen zuerst meine Eltern fragen.« Nick konnte seine Freude nicht verbergen. Er strahlte übers ganze Lausbubengesicht.
*
Auch ein anderer erinnerte sich in dieser Stunde an Nevenkas schnelles Sportboot. Es war Dr. Rüdiger Reichert, seit acht Monaten Oberarzt an der Universitäts-Frauenklinik in Freiburg.
Achtunddreißig Jahre war er alt und noch immer unverheiratet. Da er sehr gut aussah, war er ein dankbares Objekt für heiratswillige junge Damen und deren Mütter. Jahrelang war Rüdiger diesen Bemühungen geschickt ausgewichen, denn er liebte seine Freiheit, hatte Angst, dass man ihn betrügen würde, wie es seinem Vater passiert war. Die bittere Erfahrung, dass seine Mutter es mit der Treue nicht so genau nahm, hatte er im empfindsamen Alter von fünfzehn Jahren gemacht, Diese schmerzliche Erkenntnis hatte sein weiteres Leben bestimmt. Er war allen Mädchen gegenüber misstrauisch geworden, hatte sich nicht zu einer engen Bindung entschließen können.
Im vergangenen Sommer allerdings hatte sich das geändert. Da war Rüdiger während seines Jugoslawien-Urlaubs einem Mädchen begegnet, dessen Anblick alle Bedenken hinweggefegt hatte. Rüdiger war verliebt und unbeschreiblich glücklich gewesen. Als sein Urlaub zu Ende gewesen war, hatte er mit Nevenkas Eltern geredet, hatte ihnen gesagt, dass er die Tochter heiraten wolle.