Gabi bekehrt einen Junggesellen - Bettina Clausen - E-Book

Gabi bekehrt einen Junggesellen E-Book

Bettina Clausen

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Ein Sonntagmorgen am Rande der Großstadt. Armand Dies saß in der Küche seiner Junggesellenwohnung und frühstückte: Starken schwarzen Kaffee, dazu Eier mit Speck und Vollkornbrot. Über einem dunkelblauen Schlafanzug trug er einen Bademantel im gleichen Ton. Neben seinem Teller lag die Wochenendausgabe einer großen Tageszeitung. Die wollte er anschließend lesen, dann einen langen Spaziergang machen und … Verblüfft schaute er auf. Es hatte geklingelt. Wer konnte an einem Sonntagmorgen um zehn Uhr etwas von ihm wollen? Unwillig stand Armand auf und schlurfte zur Wohnungstür, vor der der Briefträger stand. »Nanu?« »Guten Morgen, Herr Dies. Ein Telegramm.« Armand griff nach dem braunen Umschlag. »Danke.« Unschlüssig drehte er das Kuvert um. Bei aller Fantasie konnte er sich nicht vorstellen, wer ihm ein Telegramm schickte. Schon gar nicht, was darin stand. Armand setzte sich wieder, um seinen Kaffee auszutrinken. Das Telegramm lag auf der Tageszeitung neben dem Teller. Schließlich nahm er ein Messer und schlitzte den Umschlag auf. Von einem Rechtsanwalt? Schnell überflog er die kurze Nachricht. Seine Schwägerin war gestorben. Armand ließ das Telegramm sinken. Die Frau seines Bruders war die einzige Verwandte gewesen, die er noch gehabt hatte. Sein Bruder war vor sieben Jahren an den Folgen eines Unfalles gestorben. Von da an hatte er seine Schwägerin höchstens einmal im Jahr gesehen, in den letzten beiden Jahren überhaupt nicht mehr, wenn er sich recht erinnerte. Und jetzt war sie tot. Der Anwalt bat um sofortige Kontaktaufnahme. Seine Telefonnummer stand im Telegramm. Armand stand auf und ging hinüber ins Wohnzimmer, wo sein Telefon stand. Dabei versuchte er sich darüber klar

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Sophienlust – 257 –

Gabi bekehrt einen Junggesellen

… und hilft ihm, die Richtige zu finden

Bettina Clausen

Ein Sonntagmorgen am Rande der Großstadt. Armand Dies saß in der Küche seiner Junggesellenwohnung und frühstückte: Starken schwarzen Kaffee, dazu Eier mit Speck und Vollkornbrot. Über einem dunkelblauen Schlafanzug trug er einen Bademantel im gleichen Ton. Neben seinem Teller lag die Wochenendausgabe einer großen Tageszeitung. Die wollte er anschließend lesen, dann einen langen Spaziergang machen und …

Verblüfft schaute er auf. Es hatte geklingelt. Wer konnte an einem Sonntagmorgen um zehn Uhr etwas von ihm wollen?

Unwillig stand Armand auf und schlurfte zur Wohnungstür, vor der der Briefträger stand. »Nanu?«

»Guten Morgen, Herr Dies. Ein Telegramm.«

Armand griff nach dem braunen Umschlag. »Danke.« Unschlüssig drehte er das Kuvert um. Bei aller Fantasie konnte er sich nicht vorstellen, wer ihm ein Telegramm schickte. Schon gar nicht, was darin stand.

Armand setzte sich wieder, um seinen Kaffee auszutrinken. Das Telegramm lag auf der Tageszeitung neben dem Teller. Schließlich nahm er ein Messer und schlitzte den Umschlag auf.

Von einem Rechtsanwalt? Schnell überflog er die kurze Nachricht. Seine Schwägerin war gestorben.

Armand ließ das Telegramm sinken. Die Frau seines Bruders war die einzige Verwandte gewesen, die er noch gehabt hatte. Sein Bruder war vor sieben Jahren an den Folgen eines Unfalles gestorben. Von da an hatte er seine Schwägerin höchstens einmal im Jahr gesehen, in den letzten beiden Jahren überhaupt nicht mehr, wenn er sich recht erinnerte. Und jetzt war sie tot.

Der Anwalt bat um sofortige Kontaktaufnahme. Seine Telefonnummer stand im Telegramm. Armand stand auf und ging hinüber ins Wohnzimmer, wo sein Telefon stand. Dabei versuchte er sich darüber klar zu werden, was er empfand. Immerhin handelte es sich um die Frau seines Bruders.

Armands Finger hatten automatisch die angegebene Nummer gewählt. Eine tiefe Männerstimme meldete sich mit »Hallo!«

»Spreche ich mit Herrn Rechtsanwalt Weimann?«

»Am Apparat.«

»Mein Name ist Dies, Armand Dies. Ich habe ein Telegramm von Ihnen bekommen.«

»Ah, Herr Dies.« Die Stimme änderte den Ton. »Ich habe auf Ihren Anruf gewartet. Darf ich Ihnen als erstes mein Beileid aussprechen?«

»Danke.« Armand wartete, bis der andere weitersprach.

»Ich muss mit Ihnen sprechen, Herr Dies. So schnell wie möglich. Haben Sie heute Nachmittag Zeit?«

Armand bejahte.

»Gut, dann würde ich vorschlagen, dass Sie so gegen drei Uhr zu mir kommen.«

Armand notierte sich die Adresse. Bevor er noch etwas fragen konnte, hatte sich der Anwalt schon verabschiedet und aufgelegt.

Armand ging ins Bad, ließ Wasser in die Wanne einlaufen und zog sich aus. Er war ein Mann, den man allgemein als gut aussehend bezeichnete. Groß, mit breiten Schultern, muskulösem Brustkorb und schmalen Hüften, von denen er jedes überflüssige Gramm Fett heruntertrainierte. Er war mit achtunddreißig Jahren körperlich so fit wie ein Leistungssportler mit zwanzig. Nur die winzigen Fältchen um seine graublauen Augen verrieten sein Alter.

Armand besaß keinen schwarzen Anzug. Notgedrungen entschied er sich für eine dunkelgraue Hose und einen Pullover. Mit einer hellen Lederjacke über dem Arm wollte er kurz vor halb drei seine Wohnung verlassen. Gerade in diesem Moment klingelte wieder das Telefon. Armand hob ab.

»Was fällt dir eigentlich ein, mich zu versetzen?«, rief eine Frauenstimme aufgebracht.

Lydia Moser. Er hatte völlig vergessen, dass er mit ihr verabredet gewesen war. »Es tut mir leid …«

»Ach, es tut dir leid? Ich sitze zwei Stunden in dem Lokal und warte auf dich, und dir tut es leid. Ist das deine ganze Erklärung?«

»Lass mich doch erst einmal ausreden«, bat er.

»Ich höre.«

Ihr Ton ärgerte ihn. Trotzdem erzählte er ihr von dem Telegramm und der Verabredung mit dem Anwalt.

»Und wann bist du mit dem Rechtsanwalt verabredet?«, fragte Lydia spitz.

»Um fünfzehn Uhr.«

»Jetzt ist es halb drei. Du hättest also genügend Zeit gehabt, in das Lokal zu kommen und mir Bescheid zu sagen.«

»Ja …« Er zögerte, dann sagte er die Wahrheit: »Ich habe unsere Verabredung vergessen. Entschuldige bitte.«

Er wusste schon, was nun kam, und hätte am liebsten aufgelegt. Lydia beklagte und beschwerte sich. Er liebe sie nicht, nähme sie nicht ernst und habe gar nicht vor, sie zu heiraten.

Das hatte Armand tatsächlich nicht vor. Er hatte ihr auch nie gesagt, dass er sie liebe, sondern von Anfang an offen erklärt, dass er nicht heiraten wolle. Er war Junggeselle aus Überzeugung und wollte es auch bleiben. »Entschuldige, aber ich muss jetzt gehen«, unterbrach er sie. »Sonst komme ich zu spät.«

»Wenn es dich so wenig interessiert, was ich zu sagen habe«, entgegnete sie spitz.

»Lydia, das hast du mir alles schon hundertmal gesagt, und ich habe darauf immer wieder dasselbe geantwortet. Warum versuchst du nicht, einen Mann zu finden, der das Gleiche will wie du? Heiraten und eine Familie gründen?«

»Das ist kein Thema fürs Telefon.«

»Nein, allerdings nicht.« Armand verabschiedete sich und legte auf. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er sich beeilen musste. Der Rechtsanwalt wohnte am anderen Ende der Stadt.

Genau eine Minute vor drei parkte Armand seinen Wagen vor der angegebenen Adresse, einem Bungalow mit Garten. Noch bevor er klingeln konnte, wurde die Haustür geöffnet. Ein untersetzter Mann mit Brille und Stirnglatze stellte sich als Rechtsanwalt Weimann vor. »Bitte, treten Sie ein, Herr Dies.«

Armand betrat eine rustikale Diele. Das Wohnzimmer war im gleichen Stil eingerichtet.

»Ich habe Ihre Schwägerin in allen rechtlichen Fragen beraten«, begann Weimann. »Auch ihr Testament habe ich aufgesetzt. Das kann ich allerdings erst morgen in meinem Büro vor Zeugen öffnen. Das verstehen Sie sicher.«

Armand nickte und fragte sich, warum der Anwalt ihn hatte kommen lassen.

»Wegen des Testaments habe ich Sie auch nicht zu mir gebeten. Es geht um das Kind Ihrer Schwägerin.«

»Wie bitte?« Armand glaubte sich verhört zu haben.

»Um das Mädchen.« Der Anwalt nahm seine Brille ab. »Wussten Sie nicht, dass Ihre Schwägerin ein Kind hat?«

»Nein«, antwortete Armand verwirrt. »Als ich sie vor zwei Jahren zum letzten Mal sah, hatte sie noch keins. Wie alt ist denn das Kind?«

»Zehn Jahre.«

»Zehn? Aber …«

»Ihre Schwägerin hat das Mädchen vor zwei Jahren adoptiert.«

»Ach so!« Armand verstand.

»Sie war sehr einsam«, fuhr der Anwalt fort, sodass Armand ein schlechtes Gewissen bekam. Er hatte sich ja wirklich kaum um seine Schwägerin gekümmert. Aber sie hatte sich immer so verhalten, als lege sie gar keinen Wert auf seinen Besuch.

»Woran ist sie eigentlich gestorben?«

Der Anwalt räusperte sich. »Es war Krebs, Magenkrebs. Es ging ziemlich schnell. Eine Nachbarin hatte sich während der Krankheit um das Kind gekümmert.«

»Und wo ist das Mädchen jetzt?«, fragte Armand.

»Hier. Hier in meinem Haus. Deshalb habe ich Sie zu mir gebeten.«

Armand hatte plötzlich das Gefühl, dass etwas Drohendes, zumindest aber etwas Unangenehmes auf ihn zukam. »Sie erwarten doch nicht, dass ich das Kind … Herr Weimann, ich bin Junggeselle und berufstätig.«

»Ich weiß.« Der Anwalt setzte seine Brille wieder auf. »Ich sage Ihnen jetzt etwas, was ich Ihnen eigentlich nicht sagen dürfte, was Sie erst morgen bei der Testamentseröffnung erfahren sollten. Ihre Schwägerin hat Sie zum Vormund des Kindes ernannt.«

O Gott, dachte Armand.

»Sie sollen das Vermögen verwalten, bis Gabi einundzwanzig ist.«

»Was für ein Vermögen?« Armand konnte sich nicht erinnern, dass seine Schwägerin vermögend gewesen war.

Diese Frage konnte ihm der Anwalt auch nicht beantworten. Er wusste nur, dass Gisela Dies ein Waisenkind adoptiert hatte.

»Vielleicht hat das Vermögen diesem Kind gehört, obwohl ich mir das eigentlich nicht vorstellen kann«, meinte der Rechtsanwalt nachdenklich. »Fest steht, dass Ihre Schwägerin die kleine Gabriele zu ihrer Alleinerbin und Sie, Herr Dies, zum Vormund des Kindes eingesetzt hat. Sie sollen das Vermögen verwalten, bis Gabriele Dies einundzwanzig ist.«

»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.«

»Sie können es ablehnen«, erklärte der Rechtsbeistand. »Niemand kann Sie zwingen, das Erbe anzutreten. Sie müssen weder die Rolle des Vormundes übernehmen, noch die Verwaltung des Vermögens. Aber das wäre sehr ungeschickt. Immerhin handelt es sich bei dem Vermögen fast um eine halbe Million.«

»Das Geld interessiert mich nicht«, sagte Armand. »Und um ein Kind zu erziehen …« Er brach hilflos ab. »Ich lebe allein, bin berufstätig und oft tagelang als Versicherungsinspektor unterwegs.«

»Na ja, aber Sie denken doch sicher daran, einmal zu heiraten?«

»Nein«, antwortete Armand fast grob.

»Nein?« Weimann hob verständnislos die Brauen. »Sie wollen keine Familie gründen?«

»Ich will keine Familie gründen und keine Kinder haben. Ich bin Junggeselle aus Überzeugung und liebe meine Freiheit.«

Der Anwalt war sichtlich verwirrt. »Haben Sie etwas gegen Kinder?«

Armand seufzte. »Ich habe überhaupt nichts gegen Kinder. Im Gegenteil, ich mag sie sogar. Nur keine eigenen.«

»Scheuen Sie die Verantwortung, Herr Dies?«

»Ja, das auch. Verstehen Sie jetzt, warum ich diese Erbschaft nicht antreten kann?«

»Drücken wir es so aus: Ich respektiere Ihre Ansicht, Herr Dies, wenn ich sie auch nicht verstehen kann. Bedauerlich ist nur, dass Gabi außer Ihnen keine Angehörigen mehr hat. Bei mir kann sie nicht bleiben. Ich müsste sie also glatt wieder ins Waisenhaus bringen.«

Armand schluckte. »Kann man nicht versuchen, Adoptiveltern zu finden? Das dürfte doch nicht so schwer sein, wenn man dazusagt, dass das Kind vermögend ist.«

»Gerade das möchte ich ja vermeiden. Verstehen Sie denn nicht?« Der Rechtsanwalt blieb vor Armand stehen. »Die Gefahr, dass Gabi nur wegen ihres Vermögens adoptiert wird, ist groß.«

Armand verstand.

»Dann verschweigen Sie es doch einfach.«

»Das geht auch nicht, weil der gesetzliche Vormund des Kindes automatisch auch zum Verwalter des Vermögens wird. Ganz abgesehen davon dauert so etwas seine Zeit. Man findet Adoptiveltern nicht von heute auf morgen. Wo soll Gabi so lange bleiben?«

»Das frage ich mich auch.« Armand überlegte. »Bei Ihnen kann sie nicht länger bleiben?«

Der Anwalt schüttelte den Kopf. »Ganz ausgeschlossen. Ich verreise morgen Nachmittag und habe niemanden, der sich um das Kind kümmern könnte. Sie müssen Gabi auf jeden Fall mitnehmen, wenigstens für die nächsten Tage. Vielleicht können Sie sie in einem Heim unterbringen, bis eine endgültige Lösung gefunden ist.«

Armand nickte langsam. Er dachte an ein ganz bestimmtes Heim, das er vor Kurzem selbst kennengelernt hatte. Er hatte noch ein paar Tage Resturlaub aus dem vorangegangenen Jahr, und die würde er in den nächsten Tagen nehmen.

Der Rechtsanwalt war inzwischen aufgestanden und aus dem Zimmer gegangen. Mit einem zehnjährigen Mädchen an der Hand kam er wieder zurück. »Das ist Gabi.«

Das Mädchen blieb neben der Tür stehen und begann schüchtern zu lächeln.

Armand wollte nicht zurücklächeln. Innerlich verwünschte er die Situation, in die er da wider Willen hineingeraten war. Trotzdem ertappte er sich dabei, dass er zurücklächelte. Als er sah, wie die Kleine sich darüber freute, kam er sich wie ein Schuft vor. Das Kind konnte ja nun wirklich nichts dafür, dass es jetzt allein war.

»Guten Tag, Gabi«, sagte er freundlich und sah, wie ihre großen dunkelblauen Augen aufleuchteten. Schnell kam sie zu ihm und griff nach seiner Hand.

»Das ist dein Onkel Armand«, sagte der Rechtsanwalt.

»Darf ich Onkel zu dir sagen?« Sie deutete einen Knicks an. Das dunkelbraune Haar fiel ihr bis auf die Schultern.

»Selbstverständlich darfst du mich Onkel nennen, schließlich bin ich ja auch dein Onkel.« Armand musterte das offene kindliche Gesicht.

»Und du ..., du nimmst mich mit?«

Er erkannte die Qual, die hinter dieser Frage steckte. Die Angst, zurückgewiesen zu werden, stand überdeutlich in ihrem Gesicht. »Selbstverständlich nehme ich dich mit«, sagte er und dachte: So selbstverständlich ist das gar nicht, aber was bleibt mir anderes übrig?

Der Anwalt brachte einen Koffer. Offensichtlich hatte er es eilig, Gabi loszuwerden.

Gabi wartete geduldig, bis ihr Koffer verstaut war und Armand sie zum Einsteigen aufforderte. Dann kletterte sie ganz schnell auf den Rücksitz und schlug die Tür zu.

»Dann wollen wir mal.« Armand startete und legte den ersten Gang ein.

Gabi betrachtete ihn verstohlen. Armand gefiel ihr. Einen Vati wie ihn hatte sie sich immer gewünscht, doch er war ja nur ihr Onkel. Aber das war egal, wenn er sie nur behielt. Gern hätte sie gefragt, ob sie auch wirklich bei ihm bleiben dürfe, aber er schaute so finster drein. Da schwieg sie lieber.

Armand war so mit seinen Gedanken beschäftigt, dass er Gabi vergaß. Er erinnerte sich erst wieder an sie, als sie schüchtern fragte: »Sind wir jetzt bei dir?«

»Wie? Ach so, ja, hier wohne ich.« Er deutete auf das fünfstöckige Haus. »Ganz oben.«

Gabi legte ihren Kopf nach hinten und schaute empor. »Wohnst du ganz allein dort oben?«

»Ja. Verheiratet bin ich nicht.«

»Ich weiß.«

Überrascht schaute er sie an.

»Das hat mir Herr Weimann erzählt.«

»Ach so. Na komm, wir gehen ins Haus.«

Sie lief neben ihm her, versuchte mit ihm Schritt zu halten. Schweigend fuhren sie mit dem Lift nach oben.

»Hast du Hunger?«, fragte Armand, während er seine Wohnung aufschloss.

»Nein, nur …«

»Nur was? Rede schon.«

»Durst«, antwortete sie schüchtern.

Er stellte den Koffer im Flur ab und ging voraus in die Küche. »Komm mit!«

Vor dem Kühlschrank blieb er stehen. »Was möchtest du trinken?«

»Egal. Was du eben hast.«

Armand stellte fest, dass er genügend Bier, Wein und Spirituosen im Haus hatte, aber das waren keine Getränke für ein Kind. Da waren keine Säfte, keine Limonade …

»Ich kann auch Wasser trinken«, sagte Gabi, als habe sie seine Gedanken erraten.

Armand atmete erleichtert auf und griff nach einer Flasche Mineralwasser. Während Gabi den Sprudel trank, inspizierte er seinen Kühlschrank. Ein bisschen Wurst, eine Scheibe Käse …, nicht genug für ein Abendessen zu zweit. Wir gehen ins Restaurant, entschied er.

»Das ist aber ein großes Zimmer.« Staunend stand Gabi in der Mitte seines Wohnraumes.

Armand deutete auf eine lederbezogene Couch. »Darauf wirst du schlafen müssen. Ich habe außer dieser Couch – die für mich zu kurz ist – nur noch mein Bett.«

»Ich schlafe gern auf der Couch«, sagte Gabi bereitwillig. »Ich kann mir das Bett auch schon selber machen. Im Waisenhaus habe ich das immer tun müssen.«

»Hat es dir im Waisenhaus gefallen?«, fragte Armand.

»Nein.« Es klang beinahe entrüstet. »Niemandem gefällt es dort.«

Armand setzte sich auf die Couch. »Komm mal zu mir.«

Sie setzte sich neben ihn. Endlich schaute er ein bisschen freundlicher. Sie hatte schon befürchtet, er sei böse auf sie. Dabei wollte sie doch so gern alles richtig machen, damit sie nur ja bleiben durfte.

»Und wie hat es dir bei Tante Gisela gefallen?«, erkundigte sich Armand weiter.

Gabis Augen leuchteten auf. »Bei ihr war es wunderschön«, hauchte sie und schluckte. Sie wollte nicht weinen, denn das würde ihm sicher nicht gefallen.