Aus Liebe zur Flucht gezwungen - Marisa Frank - E-Book

Aus Liebe zur Flucht gezwungen E-Book

Marisa Frank

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Mutti, das gilt nicht«, maulte Henrik, ein neunjähriger Junge. »Du hast gesagt, wir machen nochmals Pause.« Denise von Schoenecker, die am Steuer ihres Autos saß, warf einen kurzen Blick auf die Uhr, die am Armaturenbrett eingebaut war. »Henrik, es ist später, als ich dachte.« »Dann rufe in Sophienlust oder in Schoeneich an«, meinte der Junge bockig. »Du hast mir eine Pause versprochen. Ich bestehe darauf.« »Hast du Durst oder Hunger?« fragte Denise von Schoenecker. »Beides«, kam prompt die Antwort. »Ich habe mich auf die Pause gefreut. Ich möchte einmal an einer Autobahnraststätte halten.« »Und was willst du dort tun?« Denise konnte ihr Schmunzeln kaum noch unterdrücken. »Oh, ich esse etwas und dann trinken wir etwas. Wie wäre es mit einem Eis? Dann kann ich noch immer zu Hause Abendbrot essen.

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Sophienlust – 348 –

Aus Liebe zur Flucht gezwungen

Ich werde immer auf dich aufpassen!

Marisa Frank

»Mutti, das gilt nicht«, maulte Henrik, ein neunjähriger Junge. »Du hast gesagt, wir machen nochmals Pause.«

Denise von Schoenecker, die am Steuer ihres Autos saß, warf einen kurzen Blick auf die Uhr, die am Armaturenbrett eingebaut war. »Henrik, es ist später, als ich dachte.«

»Dann rufe in Sophienlust oder in Schoeneich an«, meinte der Junge bockig. »Du hast mir eine Pause versprochen. Ich bestehe darauf.«

»Hast du Durst oder Hunger?« fragte Denise von Schoenecker.

»Beides«, kam prompt die Antwort. »Ich habe mich auf die Pause gefreut. Ich möchte einmal an einer Autobahnraststätte halten.«

»Und was willst du dort tun?« Denise konnte ihr Schmunzeln kaum noch unterdrücken.

»Oh, ich esse etwas und dann trinken wir etwas. Wie wäre es mit einem Eis? Dann kann ich noch immer zu Hause Abendbrot essen. Es dauert auch sicher nicht lange.« Bettelnd legte Henrik von hinten die Hand auf die Schultern seiner Mutter. »Ich esse das Eis ganz schnell. Du weißt doch, wie schnell ich bin. Und du trinkst inzwischen einen Kaffee. Der schadet dir sicher nicht.« Mit lehrhaftem Ton fuhr er danach fort: »Man soll nicht zu lange hinter dem Steuer sitzen. Pausen sind angebracht.«

»Du hast mich überzeugt.« Denise von Schoenecker lachte nun offen. »Aber beeilen müssen wir uns wirklich. Eigentlich wollte ich ja noch in Sophienlust vorbeisehen, aber daraus wird jetzt sowieso nichts mehr.«

»Anrufen«, meinte Henrik. Zufrieden lehnte er sich im Sitz zurück. »Im übrigen war in Sophienlust am Vormittag noch alles in Ordnung. Seitdem hat sich dort sicher nichts geändert. Nick wird schon für Ordnung gesorgt haben.« Er grinste.

Denise, die Henrik im Rückspiegel beobachtete, wußte warum er grinste. Eigentlich wollte Nick, ihr ältester Sohn, sie an diesem Tag begleiten. Da Henrik aber so sehr gebettelt hatte, hatte Nick dem Jüngeren dann den Vortritt gelassen.

»Ich weiß, was du denkst«, kam es vom Rücksitz. Henriks graue Augen blitzten übermütig. »Es stimmt aber nicht. Nick ist nicht nur meinetwegen zurückgetreten. Ich sage nur Pünktchen.« Wissend nickte er zu seinen Worten.

Denise ging jedoch nicht darauf ein. Sie wußte, daß zwischen ihrem sechszehnjährigen Sohn und Angelina Dommin, die von allen nur Pünktchen genannt wurde, eine echte Freundschaft bestand. Pünktchen lebte schon seit vielen Jahren in dem Kinderheim Sophienlust, das sie, Denise, bis zur Großjährigkeit von Nick verwaltete.

»Da, da«, rief Henrik aufgeregt in Denises Gedanken hinein. »Mutti, hast du nicht gesehen? Eine Raststätte!«

»Natürlich habe ich es gesehen«, antwortete Denise. »Aber das war erst die erste Ankündigung. Es sind noch fünf Kilometer bis zur Ausfahrt.«

Dies war Henrik entgangen. Da er sich keine Blöße geben wollte, meinte er gelassen: »Ich wollte dich nur rechtzeitig daran erinnern. Versprochen ist versprochen. Ich bekomme das Eis.«

Denise hielt ihr Versprechen. Sie verließ die Autobahn und hielt vor dem Rasthaus.

»Du bist wirklich die beste Mutti der Welt«, verkündete Henrik überschwenglich. Von hinten drückte er seiner Mutter einen Kuß auf die Wange. Nachdem beide ausgestiegen waren, ergriff er Denises Hand und fragte schelmisch: »Und was hältst du von mir als Sohn?«

»Ich würde sagen, es geht.«

»Mehr nicht? Ich finde, ich bin der Allerbeste.«

»Falls du noch etwas für dich herausschlagen willst, daraus wird nichts. Ein Eis – und dann geht es schnellstens weiter.«

»Immer diese Hintergedanken«, murmelte Henrik. Er fühlte sich ertappt.

Zufrieden saß er aber wenig später vor einem Eisbecher. Eifrig löffelte er die kalte Herrlichkeit in sich hinein. Er sah erst hoch, als ein Stimmchen neben ihm sagte: »Ham, ham.«

Vor ihm stand ein reizendes kleines Mädchen. Man sah ihr an, daß sie noch nicht ganz sicher auf ihren Beinchen war. Sehnsüchtig starrte sie auf das Eis.

»Komm her«, lockte Henrik, der sehr kinderlieb war.

»Hm, gut«, machte die Kleine wieder, aber sie rührte sich nicht vom Fleck.

»Mutti, ich schenke ihr mein Eis.«

Henrik packte seinen Eisbecher und hielt ihn der Kleinen unter die Nase.

»Henrik«, sagte Denise. Mehr mußte sie ihrem Sohn aber nicht erklären, denn eine junge blondhaarige Frau kam heran. Sie nahm das kleine Mädchen auf den Arm.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie.

»Da gibt es nichts zu entschuldigen.« Henrik sprang auf. »Darf ich…« Aber die Frau hatte sich schon abgewandt. Henrik verfolgte sie mit den Augen und sah: sie kehrte an einen Ecktisch zurück, an dem sie allein mit dem Kind saß.

Henrik aß weiter, aber immer wieder mußte er zu diesem Tisch hinübersehen. »Jetzt weint sie«, stieß er plötzlich hervor. »Sie will zu mir.« Er erhob sich erneut.

»Henrik, bitte bleib hier!«

»Aber Mutti, ich muß die Kleine doch trösten.«

»Das einzige, was du tun mußt, ist, das Eis aufessen.«

»Willst du wirklich, daß die Kleine weint?« empörte sich Henrik.

»Henrik, dafür ist ihre Mutter zuständig.«

Henrik senkte den Kopf. Er wußte, wenn seine Mutter diesen Ton anschlug, dann war es besser zu schweigen. Seufzend löffelte er sein Eis. Es schmeckte ihm jetzt nicht mehr so gut. Er hätte zu gern diesem entzückenden Mädchen etwas davon abgegeben.

Denise trank ihren Kaffee, dann winkte sie dem Kellner. Es wurde wirklich Zeit für sie.

Noch immer schielte Henrik zum hinteren Tisch hinüber.

»Komm, mein Junge«, mahnte Denise, nachdem sie bezahlt hatte.

»Ist sie nicht süß? Schau nur, Mutti, sie sieht zu mir her. Darf ich nicht schnell hingehen?«

»Henrik, du kannst doch nicht eine fremde Frau belästigen.«

»Ich belästige niemanden«, erklärte Henrik mit hoheitsvoller Miene. »Schade, daß wir keine Zeit mehr haben. So ein Kind müßte bei uns in Sophienlust sein.« Er folgte seiner Mutter, aber an der Tür drehte er sich nochmals um. »Mutti!« Heftig zog er an Denises Hand. »Schnell, irgend etwas ist nicht in Ordnung. Die Frau braucht Hilfe.«

»Henrik, wir sind in Eile«, mahnte Denise erneut. Sie kannte ihren Sohn und dessen Phantasie. Aber da hörte sie ein kindliches Weinen. Unwillkürlich drehte sie sich um und sah ebenfalls in die Richtung, in die ihr Sohn schon die ganze Zeit gestarrt hatte.

Mit unfreundlicher Miene sprach der Kellner auf die junge Frau ein. Diese schien ratlos zu sein. Sie kramte in ihrer Handtasche, fuhr dem Kind zwischendurch tröstend über das Köpfchen. Dieses schien aber die Unruhe zu spüren und brüllte schließlich herzerweichend los.

»Oh!« Henrik stürzte los. »Ich… Kann ich Ihnen helfen?« fragte er nicht mehr so ganz selbstbewußt, als er vor der jungen Frau stand.

Diese beachtete ihn überhaupt nicht. Sie hatte den Inhalt ihrer Handtasche auf den Tisch geleert, aber dadurch war ihre Geldbörse auch nicht zum Vorschein gekommen.

»Ich muß sie im Auto haben«, sagte sie und erhob sich.

»Moment, so geht das nicht«, zeterte der Kellner. »Sie können doch nicht einfach weggehen.«

»Aber meine Geldbörse muß im Auto sein. Nicht, Cora, der Onkel tut uns nichts«, meinte sie gleich darauf begütigend. Dabei drückte sie das Kind zärtlich an sich.

»Ich kann sie sicher trösten«, meinte Henrik und streckte seine Hand nach dem kleinen Mädchen aus.

Das schluchzende Weinen brach ab. Die Kleine wandte sich ihm zu. »Da, da«, sagte sie, wobei auf ihrem Gesichtchen ein Lächeln erschien.

»Du bist aber lieb. Nicht wahr, du magst den Onkel Henrik«, sagte Henrik begeistert.

Der Kellner räusperte sich ärgerlich. »Ich bekomme von Ihnen noch Geld.«

»Sicher.« Die junge Frau steckte ihre Utensilien in die Handtasche zurück. »Sie müssen sich noch einen Moment gedulden. Ich muß zum Auto.« Mit dem Kind auf dem Arm wollte sie an dem Kellner vorbeigehen. Doch dieser vertrat ihr den Weg.

»So geht es nicht. Sie können nicht einfach verschwinden. Was glauben Sie, wie oft das hier vorkommt. Das Kind bleibt zumindest hier.«

Der unfreundliche Ton erschreckte das Kind wieder. Es begann erneut zu weinen.

»Ich kann die Kleine doch nicht hierlassen«, sagte die junge Frau nun erbost.

»Meine Gnädige, ich will mein Geld, sonst nichts.« Selbst das Weinen des entzückenden Mädchens schien den Kellner nicht zu erweichen.

Da konnte Henrik nicht länger den Mund halten. »Sie glauben doch nicht etwa, daß diese Frau Sie belügt«, sagte er empört.

»Du halte dich da heraus«, wurde er von dem Kellner angefahren.

Henrik, der sich zwar stets gerne wichtig machte, aber im entscheidenden Augenblick auch sehr hilfsbereit sein konnte, bot an: »Ich könnte ja inzwischen auf Ihr Kind aufpassen.«

»Nein, das geht nicht.«

»Aber ich könnte es tun«, sagte Denise, die auch herangetreten war. Als die junge Frau sie ansah, stellte sie sich vor. »Ich warte hier inzwischen mit der Kleinen, bis Sie Ihre Geldbörse gefunden haben.«

Die junge Frau zögerte nur kurz. »Das wäre sehr nett von Ihnen. Ich bin gleich wieder zurück.« Ihr war das Aufsehen, das sie, ohne es zu wollen, erregt hatte, überhaupt nicht recht. Sie holte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und trocknete die Tränen der Kleinen.

»Cora, Liebes, nicht weinen. Schau, der Junge und die Frau bleiben bei dir.«

»Bei uns passiert dir nichts«, fügte Henrik, jetzt wieder sehr selbstbewußt, hinzu.

»Ja«, sagte die Kleine, noch etwas zögernd, doch nachdem die junge Frau sie auf den Boden gestellt hatte, trippelte sie auf Henrik zu und streckte ihm ihre Händchen entgegen.

»Sie mag mich«, frohlockte der Junge. »Darf ich ihr Schokolade kaufen?«

»Um Gottes willen«, sagte die junge Frau. »Sie hat heute schon genug Süßigkeiten gegessen. Aber es ist lieb von dir, daß du ein wenig auf sie aufpassen willst.« Sie lächelte Henrik zu. »Ute Lambert«, sagte sie dann, zu Denise gewandt. »Ich beeile mich. Ich gelte nicht gern als Zechprellerin.«

Als die junge Frau das Lokal verließ, erlosch das Lächeln auf ihrem Gesicht. Ihre Geldbörse, wo hatte sie sie nur gelassen? Sie konnte sich genau daran erinnern, daß sie sie in die Handtasche getan hatte. In irgendeiner Stadt hatte sie auf dem Markt Obst für Cora gekauft. Auf einer Bank hatte sie die Kleine dann gefüttert. Hatte da nicht ein Mann neben ihr gesessen? Sie konnte nur hoffen, daß sie sich täuschte.

Hastig überquerte Ute Lambert den Parkplatz und schloß ihr Auto auf. Alles Suchen war jedoch umsonst. Was nun? Über tausend Euro waren in ihrer Geldbörse gewesen, und nun konnte sie nicht einmal ihre Rechnung im Restaurant bezahlen. Wie sollte sie das dem Kellner erklären? Sie war den Tränen nahe.

»Da, da, da!« schrie Cora, als Ute die Gaststätte wieder betrat. Die Kleine rutschte von Henriks Knien, auf denen sie gesessen hatte, und lief jauchzend auf sie zu.

»Es ist gut, mein Liebes«, sagte Ute und hob die Kleine hoch.

»Ist etwas nicht in Ordnung«, fragte Denise von Schoenecker, denn in dem hübschen Gesicht der jungen Frau spiegelte sich Ratlosigkeit.

»Ich kann meine Geldbörse nicht finden«, sagte die junge Frau.

»Aha«, meinte der Kellner, der beim Erscheinen der Frau sofort herbeigeeilt war.

Sein Blick trieb Ute das Blut ins Gesicht. »Sie muß mir gestohlen worden sein«, fuhr sie verzweifelt fort.

»Natürlich! Diese Behauptung höre ich nicht zum ersten Mal!«

»Aber was soll ich denn tun?« Ute schluckte. Jetzt hieß es, nur nicht den Kopf verlieren. Trotzdem zuckte sie zusammen, als der Kellner verkündete: »Alles Weitere erzählen Sie am besten der Polizei.«

Denise handelte so impulsiv wie immer: »Ich bezahle die Rechnung«, sagte sie.

»Vielen Dank«, sagte Ute Lambert. Vor Erleichterung seufzte sie tief. »Ich zahle Ihnen selbstverständlich alles zurück. Bitte, geben Sie mir Ihre Adresse.«

»Mutti, du warst Spitze«, erklärte Henrik begeistert, als er wenig später mit seiner Mutter die Raststätte verließ. »Sie hat mir richtig leid getan. Wie kann man aber auch so gemein sein und so einer netten Frau Geld zu klauen.«

Denise schmunzelte. Nun hatte ihr Sohn wieder einmal eine Story. Sie hörte schon, wie er sie in Sophienlust und Schoeneich erzählen würde.

*

»Heia«, sagte Cora und rieb sich die Äuglein.

»Gleich, Liebes«, sagte Ute Lambert. »Zuerst müssen wir sehen, daß wir hier wegkommen.«

»Nein, Cora, nein.« Die Kleine wehrte sich. Mit den Füßen stemmte sie sich gegen den Autositz, in den Ute sie setzen wollte.

»Cora, sei lieb«, bat Ute. »Wir halten bald wieder an.«

»Lieb«, echote Cora und schmiegte sich an Ute.

Diese redete noch ein paar Minuten liebevoll auf die Kleine ein, dann ließ diese sich endlich in den Sitz setzen und festschnallen.

»So, jetzt fahren wir«, begann Ute, brach aber ab. Wohin sollte sie fahren? Jetzt besaß sie keinen Pfennig mehr. Umdrehen! hämmerte es in ihrem Kopf. Ich muß umdrehen. Aber noch dachte sie nicht daran aufzugeben. Also setzte sie sich hinter das Steuer ihres Wagens.

»Ab, ab!« rief Cora und patschte in die Händchen.

»Ja«, sagte Ute automatisch, startete ihr Auto jedoch nicht. Sie ahnte nicht, daß sie von dem Jungen, auf dessen Schoß Cora gesessen hatte, beobachtet wurde.

»Warum fährt sie nicht?« murmelte Henrik. Während seine Mutter anfuhr, sah er, daß der Kopf der jungen Frau auf das Steuerrad sank. Da schrie er. »Halt!«

»Was hast du nun schon wieder?« Denise von Schoenecker trat auf die Bremse. Vorwurfsvoll drehte sie sich zu ihrem Sohn um. »Mußt du nochmals austreten?«

»Ich bin doch kein Baby.«

»Dann ist ja alles in Ordnung.« Denise wollte wieder anfahren.

»Nichts ist in Ordnung«, rief Henrik. Von hinten kam seine Hand nach vorn, sein Zeigefinger zeigte geradeaus. »Sieh doch auf diese Ute Lambert. Es muß ihr schlecht sein.«

Denise sah flüchtig in die angegebene Richtung. Sie sah den blonden Kopf der Frau. »Sie sucht sicher ihre Geldbörse.«

»Unmöglich«, widersprach Henrik ihr heftig. »Sie ist plötzlich zusammengesunken.« Er machte Anstalten, die Autotür zu öffnen.

»Du bleibst sitzen«, kommandierte Denise und scherte aus dem Parkplatz aus.

»Du kannst doch nicht einfach wegfahren.« Henrik rutschte auf dem Sitz hin und her. »Du kannst es wirklich nicht.«

Denise dachte auch gar nicht daran, das zu tun. Sie hatte noch nie einen Menschen im Stich gelassen, der Hilfe brauchte. Auf den zweiten Blick hatte sie erkannt, daß ihr Sohn recht hatte. So fuhr sie nicht zur Parkplatzausfahrt, sondern umrundete den Platz und hielt vor dem Wagen, in dem die junge Frau saß. Kurz sah sie Henrik an, ehe sie ausstieg. Dieser hatte verstanden. Etwas Undeutliches vor sich hin brummend, kurbelte er das Fenster herab. Wenigstens hören wollte er, was los war.

»Ist Ihnen nicht gut?« fragte De­nise. »Kann ich noch etwas für Sie tun?«

Der Kopf der jungen Frau mit dem kurzen Blondhaar fuhr hoch. »Sie? Danke! Ich wollte gerade fahren.«

Cora begann zu schreien. »Mama«, schluchzte sie zwischendurch und zerrte dabei heftig an den Gurten, mit denen sie festgebunden war.

»Die Kleine ist müde«, sagte Ute Lambert entschuldigend. »Sie ist sonst ein sehr liebes Kind.«

Im Moment dachte Cora jedoch nicht daran, lieb zu sein. Sie schrie aus Leibeskräften.

»Willst du wohl jetzt endlich still sein«, fuhr Ute sie an. Sie merkte jedoch selbst, daß dies nicht richtig war. Das Geschrei der Kleinen schwoll immer lauter an. Sie zappelte auch noch mit Händen und Füßen in ihrem Sitz.

Ute hob die Schultern an und ließ sie wieder sinken. »Ich bin etwas nervös.« Verzweifelt sah sie Denise an. »In den letzten Tagen ging einiges schief. Nun komme ich auch nicht mehr mit dem Kind zurecht.«

»Das haben wir gleich.« Denise öffnete einfach die hintere Tür des Wagens und hob Cora aus dem Sitz. Sofort verstummte das Weinen.

»Sind Sie schon lange unterwegs?« fragte Denise.

»Seit früh morgens«, gab Ute zu.

Coras Köpfchen sank auf Denises Brust. Schwupp! war das Däumchen im Mund. Wie von selbst schlossen sich die Augen der Kleinen.

»Sie haben recht, die Kleine ist müde. Müssen Sie noch weit fahren?«

Darauf konnte Ute nicht antworten. Jetzt, da ihr die Geldbörse gestohlen worden war, wußte sie nicht weiter.

»Sie ist eingeschlafen«, sagte De­nise.

Ute war ausgestiegen. »Ich werde ihr auf dem Rücksitz ein Bett richten. Oder noch besser, ich warte hier, bis sie wieder aufgewacht ist. Dann kann sie während der Fahrt nicht herunterfallen.«

Erstaunt sah Denise die junge Frau, um deren Mundwinkel es zuckte, an. Sie fühlte deutlich, daß irgend etwas mit ihr nicht stimmte. Im Grunde ging es sie nichts an, aber vielleicht konnte sie nochmals helfen. Also wiederholte sie ihre Frage: »Wie weit müssen Sie noch fahren?«

»Nicht weit. Ich wollte irgendwo übernachten.« Ute senkte den Blick. Sie kämpfte gegen ihre aufsteigenden Tränen an, denn sie hatte wirklich keine Ahnung, was sie jetzt machen sollte.

»Wollen Sie nicht Anzeige wegen Ihrer gestohlenen Geldbörse machen?« fuhr Denise fort. »Ich bin Ihnen dabei gern behilflich.« Vergessen war, daß sie eigentlich schon zu Hause sein sollte.

»Das hat doch keinen Sinn.« Utes Schultern sanken noch weiter nach vorn. »Es muß auf der Bank gewesen sein, aber ich weiß es nicht genau, und ich kann den Mann, der neben mir saß, auch nicht genau beschreiben.«

Henrik, der bisher geschwiegen hatte, beugte sich aus dem Fenster. »War viel Geld darin?« fragte er.

»Über tausend Euro. Alles, was ich gestern abgehoben habe.«

Henrik stieß einen Pfiff aus. Auch Denise war betroffen. Ehe sie weitere Fragen stellte konnte, begann Ute von sich aus zu sprechen. »Ich hatte Urlaub machen wollen. Eine Fahrt ins Blaue. Irgendwo hätten Cora und ich sicher ein ruhiges Plätzchen gefunden.« Sie merkte selbst, wie vage dies alles klang, und versuchte ein Lächeln. »Für ein, zwei Wochen. Ich wollte einmal so richtig ausspannen, dabei aber auf mein Kind nicht verzichten.«