Zwischen Pflicht und Liebe - Marisa Frank - E-Book

Zwischen Pflicht und Liebe E-Book

Marisa Frank

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Wieder einmal war es auf der Autobahn, in der Nähe von Maibach zu einem schweren Unfall gekommen. Der Himmel hatte alle Schleusen geöffnet, und so war ein Personenwagen beim Überholen ins Schleudern geraten. Der Fahrer hatte sein Auto nicht mehr unter Kontrolle gebracht, sondern war auf der anderen Fahrbahn frontal gegen einen Lastwagen geprallt. Zum Glück hatte es keine Massenkarambolage gegeben. Der Fahrer des Personenwagens und seine Beifahrerin waren tot. Wie durch ein Wunder überlebten jedoch die beiden Jungen, die sich auf dem Rücksitz befunden hatten. Sie waren noch klein und saßen jeder in einem Kindersitz, das auf der Rückbank befestigt war. Beide schluchzten vor sich hin. Sie glichen sich wie ein Ei dem anderen. Sie waren Zwillinge. »Weg, geh weg. Mami, Papi!« Mit seinen Händchen wehrte er den Helfer ab. »Nicht doch! Es ist alles gut.« Die Retter sprachen beruhigend auf den Kleinen ein. Es nützte nichts, er brüllte wie am Spieß. Man konnte ihn kaum festhalten, so wild schlug er um sich. Sein Bruder hingegen ließ alles willenlos mit sich geschehen. Ein junger Arzt hatte sich des schreienden Kindes angenommen.

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Sophienlust – 391 –

Zwischen Pflicht und Liebe

Unveröffentlichter Roman

Marisa Frank

Wieder einmal war es auf der Autobahn, in der Nähe von Maibach zu einem schweren Unfall gekommen. Der Himmel hatte alle Schleusen geöffnet, und so war ein Personenwagen beim Überholen ins Schleudern geraten. Der Fahrer hatte sein Auto nicht mehr unter Kontrolle gebracht, sondern war auf der anderen Fahrbahn frontal gegen einen Lastwagen geprallt. Zum Glück hatte es keine Massenkarambolage gegeben. Der Fahrer des Personenwagens und seine Beifahrerin waren tot. Wie durch ein Wunder überlebten jedoch die beiden Jungen, die sich auf dem Rücksitz befunden hatten.

Sie waren noch klein und saßen jeder in einem Kindersitz, das auf der Rückbank befestigt war. Beide schluchzten vor sich hin. Sie glichen sich wie ein Ei dem anderen. Sie waren Zwillinge. Als ein Krankenwärter sie aus dem Auto heben wollte, begann einer von ihnen zu schreien:

»Weg, geh weg. Mami, Papi!« Mit seinen Händchen wehrte er den Helfer ab.

»Nicht doch! Es ist alles gut.« Die Retter sprachen beruhigend auf den Kleinen ein. Es nützte nichts, er brüllte wie am Spieß. Man konnte ihn kaum festhalten, so wild schlug er um sich. Sein Bruder hingegen ließ alles willenlos mit sich geschehen.

Ein junger Arzt hatte sich des schreienden Kindes angenommen. »Nun ist aber Schluß«, befahl er energisch und hielt es von sich ab. »Du bist sicher ein lieber Junge, wenn du aber so brüllst, dann glaubt man das nicht.«

Es half nichts, das Schreien dauerte an.

»Hoffentlich hat der Kleine nicht einen Schock bekommen«, sagte der Krankenwärter.

»Wir nehmen die Jungen auf jeden Fall mit ins Krankenhaus«, entschied der Arzt.

Das hatte der Kleine verstanden. Noch heftiger begann er in den Armen des Arztes zu zappeln. Dabei schrie er erneut nach seinen Eltern.

»Arme Kinder«, meinte ein Polizist. »Wir haben Ausweispapiere gefunden. Es handelt sich um das Ehepaar Schönauer, wohnhaft in Frankfurt.«

»Was wird jetzt geschehen?« fragte der Arzt. Der Regen, der etwas nachgelassen hatte, wurde wieder stärker. »Die Kinder können nicht länger der Nässe ausgesetzt werden.«

»Nehmen Sie die beiden nur mit in die Klinik. Wir werden inzwischen Nachforschungen bezüglich näherer Verwandter anstellen.«

»Wie wäre es, wenn Sie Frau von Schoenecker benachrichtigen würden? Sie ist schon oft helfend eingesprungen. Im Krankenhaus wird kaum jemand Zeit haben, sich eingehend um die Kleinen zu kümmern. Es müßte aber geschehen, sonst ist ein dauerhafter seelischer Schaden nicht auszuschließen.« Der Arzt wandte sich wieder dem Jungen zu.

»Jetzt bist du ganz naß. Wir werden dir etwas Trockenes anziehen. Dazu gehen wir in den Krankenwagen.«

Die Schreie des Kleinen, die nicht mehr so gellend gewesen waren, wurden wieder lauter. Schluchzend und würgend stieß er ein »Nein« hervor.

Als der Arzt ihn trotzdem zum Krankenwagen trug, schrie er erneut nach seinen Eltern, dann: »Michael, Michael!« Seine Stimme überschlug sich fast, so brüllte er. Trotzdem hatte ihn der Arzt verstanden.

»Dein Bruder kommt doch auch mit. Sieh nur.« Er trat etwas zur Seite und ließ dem Krankenwärter mit dem anderen Kleinen, der noch immer leise vor sich hin wimmerte, den Vortritt.

»Michael!« Mit aller Kraft warf der kleine Bub sich seinem Bruder entgegen. Beinahe wäre er dem Arzt aus den Händen gerutscht.

»Du scheinst der Temperamentvollere zu sein«, meinte er und zog ihn wieder fester an sich.

Im Inneren des Krankenwagens spielte sich wieder die gleiche Szene ab. Michael, der ein rotes Hemdchen trug, ließ alles mit sich geschehen, der andere Kleine hingegen protestierte immer wieder lautstark. Er gab erst etwas Ruhe, als er dicht neben seinem Brüderchen saß und dessen Händ-chen in seinem hielt. Er versuchte sogar, diesen zu trösten. »Michael lieb, sehr lieb«, sagte er und wischte ihm die Tränen von den Wangen.

Als sie das Krankenhaus betraten, sah Michael sich mit großen Augen um, dann verzog er ängstlich sein Gesicht. Der andere brüllte wieder los. Der Arzt reichte ihn weiter an eine Krankenschwester, aber auch diese konnte ihn nicht beruhigen. Er antwortete auf keine Frage, nannte auch seinen Namen nicht. Michael begann erneut, leise vor sich hin zu weinen, auch bei ihm half kein Zureden mehr. Trotzdem wurden die Zwillinge, so gut es ging, untersucht. Man überzeugte sich davon, daß sie beim Unfall nicht verletzt worden waren.

Die Stationsschwester sowie der Oberarzt waren erleichtert, als Frau von Schoenecker kam. Denise von Schoenecker war am Maibacher Krankenhaus bestens bekannt. Sie verwaltete in der Nähe der Kreisstadt ein Kinderheim für ihren Sohn. Sie war dafür bekannt, daß es ihr stets gelang, das Vertrauen eines Kindes zu gewinnen. Sophienlust, so hieß das Kinderheim, wurde das Heim der glücklichen Kinder genannt.

»Wir schaffen es wieder einmal nicht«, sagte Dr. Schifko und reichte der aparten, jugendlich aussehenden Frau die Hand. »Der eine der beiden ist besonders temperamentvoll und lebhaft. Im Moment dürfte er aber nur trotzig sein.«

»Die Kinder haben Furchtbares erlebt«, sagte Denise voller Mitgefühl. Der Polizeikommissar hatte ihr am Telefon von dem schrecklichen Unfall erzählt. »Sie sind nun Waisen. Wie heißen sie?«

»Der eine heißt Michael. Der andere hat es uns noch nicht verraten.«

»Wie alt sind die beiden?« fragte Denise weiter.

»Sie dürften ungefähr zwei Jahre alt sein«, gab der Oberarzt Auskunft. Er hielt inne und horchte. »Hören Sie, jetzt brüllt er schon wieder. Er fängt sofort damit an, wenn ihm etwas nicht paßt.«

»Das werden wir gleich haben.« Denise ging auf die Tür zu, hinter der das Brüllen erklang. Sie drückte die Klinke nieder und trat ein. Die Kinderschwester sah hoch. Dies nützte der kleine Junge aus. Er entwischte ihren Händen und rannte zur Tür. Dort hielt Denise ihn fest.

»Du hast es aber eilig«, meinte sie. »Wohin willst du denn nur so schnell?«

»Weg! Laß los!« Zornig, aber mit feuchten Augen, blickte der Kleine zu ihr auf.

»Etwa ohne deinen Bruder? Das hätte ich nicht von dir gedacht.«

Denise nützte seine Verwirrtheit aus. Rasch fragte sie: »Wie heißt du?«

»Andreas«, antwortete der Kleine automatisch.

»Michael und Andreas.« Denise lächelte. »Du bis also der Andreas? Du willst dein Brüderchen beschützen, nicht wahr?«

»Ich… ja.« Andreas nickte heftig. »Wir wollen zu Papi und Mami.« Er schnupfte auf.

»Das geht nicht, aber ihr könnt mit zu mir kommen.« Denise hatte An-dreas wieder losgelassen. Freundlich sah sie ihn an.

»Mit dir? Wer bist du?« Neugierig musterte Andreas Denise. Offensichtlich gefiel sie ihm. Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln.

Denise kniete sich auf den Boden. »Ich bin die Tante Isi. Kannst du das sagen?«

Andreas nickte, dann wiederholte er klar und deutlich: »Tante Isi.«

»Gut.« Denise hob die Hand und fuhr Andreas über das blonde Köpfchen.

Nun kam die Schwester näher. Sie rechnete mit Andreas’ Widerstand, aber nichts dergleichen geschah. Der Junge hielt still.

Dr. Schifko atmete erleichtert auf. Er nickte der Stationsschwester zu. In seinen Augen stand Bewunderung. Denise von Schoenecker hatte es wieder einmal geschafft. Der kleine Junge war zahm geworden.

Andreas drehte sich nach seinem Bruder um. »Michael auch«, forderte er.

»Michael, komm her!« Denise streckte die Hand nach dem anderen Kleinen aus. Er lehnte an der Wand. Noch immer weinte er still vor sich hin.

»Michael weint«, sagte Andreas.

»Ja«, bestätigte Denise. »Wollen wir ihn trösten?«

Wieder nickte Andreas. »Michael holen.« Er sah Denise an, wartete bis diese zustimmend nickte, dann drehte er sich um und tappte zu seinem Bruder hin. »Michael, komm!« Seine Stimme klang fordernd, und als Mi-chael darauf nicht reagierte, packte er ihn einfach am Arm und zog ihn mit – bis zu Denise hin. »Tante Isi ist da«, sagte er und ließ ihn los.

Michael sah nicht hoch, er schluchzte auf.

»Aufhören«, befahl Andreas. Er versetzte seinem Bruder einen Stoß.

Erschrocken verstummte Michael.

»Er ist lieb«, sagte Andreas und legte seinen Arm um die Schultern von Michael. »Sag doch, daß du lieb bist.«

»Lieb«, echote Michael.

Andreas nickte zufrieden und schaute abwartend auf Denise.

»Fein, nun sehe ich, daß ihr beide lieb seid.« Denise strich auch Mi-
chael über das Haar.

Wieder nickte Andreas, dann verkündete er: »Und jetzt gehen wir zur Mami.«

Denise beugte sich hinunter und nahm ihn auf den Arm. Ehe sie etwas sagen konnte, forderte Andreas: »Michael auch, Michael ist auch lieb.«

»Natürlich.« Die Verwalterin des Kinderheims hob den zweiten Kleinen ebenso hoch und setzte sich mit den beiden auf einen Stuhl. Erstaunt stellte die Stationsschwester fest, daß Andreas seine Ärmchen zutraulich um Denises Hals schlang.

Denise zog die Kinder enger an sich, dann meinte sie: »Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr mich begleiten würdet.«

»Mitgehen«, stimmte Andreas zu. Doch dann schränkte er ein. »Mami soll auch mitgehen.«

»Ich will deine Mami gern mitnehmen, aber…«

Andreas ließ Denise nicht ausreden. »Mami will sicher«, rief er und rutschte von ihren Knien. »Ich gehe zu Mami.« Er lief zur Tür, dort wurde er von der Stationsschwester aufgefangen. Sofort brüllte er wieder los.

Andreas stellte sein Brüllen ein, er wandte sich zu Denise um. »Sie soll weg.«

»Aber, Andreas, die Schwester ist doch lieb.«

»Nein! Sie muß weg.« Sein Gesichtchen verzog sich wieder trotzig. Wie auf ein Kommando begann Michael vor sich hinzuschluchzen.

»Siehst du, was du nun wieder angerichtet hast?« fragte Denise. Sie sah Andreas an, bis dieser den Kopf senkte. Langsam kam er zu ihr zurück.

»Tante Isi, bist du böse?« fragte er scheu.

»Andreas darf nicht immer so schnell brüllen.« Denise strich liebevoll über das gesenkte Köpfchen. »Michael erschrickt sonst und weint wieder.«

»Michael soll nicht weinen.« An-dreas nagte an seiner Unterlippe. Noch immer blickte er nicht auf.

»Dann mußt du lieb sein.«

Andreas seufzte abgrundtief, dann entschied er. »Bin lieb!«

»Dann ist ja alles wieder gut.« Denise hielt den schluchzenden Michael etwas von sich. »Hast du gehört? Es ist alles gut. Andreas ist wieder da. Er geht nicht weg.«

Michael schluchzte weiter.

»Laß!« Andreas stieß Denises Arm zur Seite. »Ich kann.« Er trat dicht an seinen Bruder heran. Liebevoll streichelte er dessen Wange. »Es ist gut, alles ist gut. Ich bin da.«

Es war ein entzückendes Bild. Die blonden Köpfchen berührten sich nun. Es waren hübsche Jungen. Denise lächelte, sie konnte sich die Begeisterung der Kinder von Sophienlust vorstellen.

Was Denise nicht gelungen war, gelang Andreas. Er konnte seinen Bruder trösten. Friedlich stapften beide, einer an Denises rechter, der andere an ihrer linken Hand aus dem Zimmer. Den Oberarzt und die Stationsschwester sowie die junge Schwester hatte Andreas geflissentlich übersehen.

*

»Was ist denn das?« Heidi, ein fünf-jähriges Mädchen und das jüngste Dauerkind von Sophienlust, traute seinen Augen nicht.

»Das sind Michael und Andreas«, erwiderte Denise.

Andreas löste sich von ihrer Hand. Er ging auf Heidi zu. Unbekümmert tippte er ihr auf die Brust und fragte: »Und du?«

»Ich bin Heidi«, antwortete die Kleine. Dann jubelte sie: »Tanti Isi, ist der niedlich.«

»Andreas, ich bin Andreas.« Der Kleine stampfte mit dem Fuß.

»Stimmt«, sagte Denise. »Und er ist sehr energisch.«

»Und der andere?« Heidi lief an Andreas vorbei. Vor Michael blieb sie stehen. Dieser klammerte sich ängstlich an Denises Hand. Seine Augen wurden schon wieder feucht.

Andreas war Heidi nachgegangen. Fürsorglich ergriff er die Hand seines Bruders. »Michael, das ist Michael.«

»Hallo, Michael«, sagte Heidi. Sie wollte ihn anfassen, aber Michael wich zurück.

»Was hat er?« fragte Heidi.

Andreas zuckte die Schultern, dann klopfte er sich gegen die Stirn.

»Nein«, empörte Heidi sich. »Er ist nicht dumm. Er ist lieb. Er sieht genauso aus wie du.«

»Michael ist lieb«, stimmte An-dreas sofort zu.

»Ihr seid beide lieb«, sagte Heidi friedfertig. »Tante Isi, darf ich mit ihnen spielen?«

Denise kam nicht zum Antworten. Ihr Jüngster stürmte in die Halle. »Mutti, da bist du endlich. Was ist eigentlich los? Tanta Ma sagte nur, daß du von der Polizei angerufen worden bist.«

»Das ist los!« Heidi packte An-dreas und schob ihn vor sich her.

»Mensch, Mutter! Bleibt er bei uns?«

»Das weiß ich noch nicht.« Denise drehte sich um. Wo war Michael?

»Wir haben zwei davon«, rief da auch schon Heidi. »Michael, wo bist du?« Sie sah sich ebenfalls um und entdeckte den zweiten Jungen. Er stand neben dem offenen Kamin, das Gesicht zur Wand gedreht. Seine Schultern zuckten vor verhaltenem Weinen.

»Michael! Was ist denn los?« Heidi lief zu dem kleinen Jungen hin. Liebevoll schloß sie ihn in die Arme. »Du darfst nicht weinen. Bei uns ist es sehr schön. Hier schimpft niemand mit dir. Tante Isi, Schwester Regine und Tante Ma sind sehr lieb.« Da Michael nicht reagierte, rief Heidi verzweifelt nach Henrik. »Henrik, so sag ihm doch, daß das stimmt. Er ist so niedlich, er darf nicht weinen.«

Nun bemühte sich auch Henrik um den Kleinen, aber dessen Tränenstrom wollte nicht versiegen. Der Neunjährige holte schließlich sein Taschentuch hervor. Er besichtigte es, stellte fest, daß es noch verhältnismäßig sauber war und begann, dem Kleinen die Tränenspuren von den Wangen zu wischen.

»Laß mich!« Andreas griff nach dem Taschentuch. »Michael wieder lieb«, kommandierte er. »Da!« Er reichte dem Bruder das Taschentuch, und als dieser nicht danach griff, hielt er es ihm direkt unter die Nase. Mi-chael schneuzte sich tief.

»So ist es gut«, lobte Andreas. »Komm!« Er legte seinem Bruder den Arm um die Schultern. Andreas sprach in ernstem, mahnendem Ton. Es war offensichtlich, daß er die Mutter nachmachte.

»Ich werde verrückt!« Henrik schlug die Hände zusammen. »Die sehen ja ganz gleich aus. Die kann ich nie auseinanderhalten. Wer ist Mi-chael und wer ist Andreas?«

»Michael weint immer«, meinte Heidi. Sie sah Denise an. »Tut ihm etwas weh? Soll ich ihm Schokolade geben?«

»Lade.« Begehrend streckte An-dreas seine Hände aus.

Heidi lachte. »Eigentlich wollte ich deinem Bruder Schokolade geben, aber du bekommst natürlich auch welche. Ich hole sie dir.« Heidi lief zur Treppe hin, die hinauf in den ersten Stock führte. Dort befanden sich die kleinen Schlafzimmer der Kinder, mit je zwei Betten.

»Heidi, bleib hier«, rief Henrik. »Mutti spendiert sicher eine Schokolade! Nicht wahr, Mutti, oder muß ich Magda darum bitten?«

»Das ist Erpressung. Wenn ich jetzt nein sage, dann läufst du in die Küche, und Magda gibt dir eine Schokolade.«

»Ganz sicher, besonders, wenn sie die beiden Kleinen sieht.« Henrik grinste. »Mensch, Mutter, ich finde es spitze, daß du sie mitgebracht hast. Woher hast du sie denn?«

»Das ist eine traurige Geschichte.« Denise wurde ernst. »Lauf lieber ins Büro. In der Schreibtischschublade liegt eine Tafel Schokolade.«

Henrik jedoch rührte sich nicht. »Mutti, erzähl schon! Du weißt, ich mag Geschichten.«

»Nicht jetzt«, wehrte Denise ab.

Henriks Unterlippe schob sich nach vorne. »Ich darf nie etwas erfahren. Nick würdest du es sofort erzählen. Mutti, das ist unfair. Einmal möchte ich etwas zuerst hören.«

Denise verstand ihren Sohn. Er war eifersüchtig auf seinen älteren Bruder Nick. Dominik von Wellentin-Schoenecker war der eigentliche Erbe von Sophienlust. Denise verwaltete das Kinderheim für ihn bis zu seiner Großjährigkeit.

»Nick darf alles«, maulte Henrik da auch schon weiter.

»Wenn ich ins Bett muß, geht er noch mit Pünktchen spazieren. Er weiß alles, jeder sagt ihm alles.«

»Henrik.« Heidi zupfte den Jungen am Ärmel. »Du kannst doch mit Tante Isi später streiten. Jetzt mußt du die Schokolade holen. Michael weint noch immer.«

»Ich möchte wissen, warum er weint«, erklärte Henrik, dann trollte er sich aber doch ins Büro. Er mußte dazu nur die Halle des Kinderheims durchqueren. Sie war der Mittelpunkt. Von hier führten Türen zu allen im Erdgeschoß liegenden Zimmern. Wenig später kam er mit der Schokolade zurück. Er brach sie auseinander. »Die eine Hälfte ist für Andreas.«

»Ich will Michael die Schokolade geben«, bat Heidi. »Schnell! Er soll nicht länger weinen.«

Michael hörte jedoch nicht auf. Als Heidi ihm die Schokolade hinhielt, schüttelte er den Kopf.

»Ich«, sagte Andreas, und ehe Heidi sich versah, hate er ihr die Schokoladenhälfte, die für seinen Bruder bestimmt war, aus der Hand genommen. »Ich esse sie. Lade ist gut.«

»Und was ist mit Michael?« Vorwurfsvoll sah Heidi den Kleinen an. Er hatte beide Schokoladenhälften hinter seinem Rücken verborgen.

»Michael mag nicht.« Andreas schielte zu seinem Bruder hinüber.

»Wir müssen Michael aber trösten. Er sieht so traurig aus. Da, er weint schon wieder.«

Andreas schnitt eine Grimasse. Er ging zu Denise, hielt ihr die Schokoladenhälften hin. »Halten für An-dreas. Bitte«, setzte er hinzu. »Ich muß schimpfen. Schimpfen mit Mi-chael.«

Denise nahm ihm die Schokolade ab. Sie war genauso neugierig wie Heidi und Henrik, was Andreas nun tun würde. Dieser zögerte nicht. Er stemmte die Hände in die Seiten und nahm vor seinem Bruder Aufstellung. »Aufhören, lieb sein! Sofort!«

»Nicht.« Heidi lief zu Andreas. »Vielleicht tut ihm etwas weh. Kann er nicht sprechen?«

»Doch!« Andreas machte ein grimmiges Gesicht. »Los!«

»Mami, ich will zu Mami.« Mi-
chael schluchzte laut.

Auch Henrik hatte Mitleid mit dem Kleinen. Er eilte ebenfalls heran und zog Michael in seine Arme. »Nicht, du mußt nicht weinen. Natürlich darfst du zu deiner Mami. Onkel Henrik wird dafür sorgen. Ich verspreche es dir.« Über den Kopf des Kleinen sah er seine Mutter vorwurfsvoll an.

»Henrik!« Denises Stimme klang mahnend. In seiner Hilfsbereitschaft schoß ihr Sohn gern über das Ziel hinaus.

»Aber, Mutter! Die beiden sind doch noch so klein. Sie brauchen ihre Mami.«

»Zu Mami gehen«, forderte nun auch Andreas. Er packte Henriks Hand. Die Schokolade schien er vergessen zu haben. »Mami wecken. Mami schlafen.«