Der Kampf um Lilly - Marietta Brem - E-Book

Der Kampf um Lilly E-Book

Marietta Brem

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Beschreibung

Wir lernen die Geschichte kennen, die einmal dazu führen wird, dass es, viele Jahre später, zur Gründung von 'Sophienlust' kommen wird. Der Weg dahin schildert eine ergreifende, spannende Familiengeschichte, die sich immer wieder, wenn keiner damit rechnet, dramatisch zuspitzt und dann wieder die schönste Harmonie der Welt ausstrahlt. Das Elternhaus Montand ist markant – hier liegen die Wurzeln für das spätere Kinderheim, aber das kann zu diesem frühen Zeitpunkt noch keiner ahnen. Eine wundervolle Vorgeschichte, die die Herzen aller Sophienlust-Fans höherschlagen lässt. Es war einer jener Aprilstürme, bei denen man nicht weiß, ob sie den Frühling bringen oder noch einmal Winter. Innerhalb von einer halben Stunde war die Temperatur so heftig gefallen, dass es eher nach Spätherbst aussah. Denise stand am Fenster ihres Zimmers und beobachtete mit gemischten Gefühlen das wilde Treiben draußen. Sie war froh, dass sie es noch rechtzeitig nach Hause geschafft hatte, ehe das Unwetter losbrach. Sie lächelte vor sich hin. Im Schutz des Hauses und in der Obhut ihrer Eltern fühlte sie sich sehr wohl. Eigentlich gab es auf der ganzen Welt keinen einzigen Menschen, mit dem sie hätte tauschen wollen. Dunkle Wolkenberge jagten über den Himmel. Der Sturm rüttelte an den Rollläden, die sie vorsorglich bis zur Hälfte heruntergelassen hatte. Anscheinend wurde er stärker. Eine leise Gänsehaut lief über ihren Rücken. Hastig wandte sie sich vom Fenster ab und verließ das Zimmer. Eva Montand hatte gerade den Nachmittagstee fertig. Ein angenehmer Duft nach Pfefferminz durchzog den Raum, der sich mit dem Nachmittagskaffee vermischte. Als sie ein Geräusch hörte, drehte sie sich um. »Denise, wie schön, dass du kommst. Gerade bin ich fertig geworden. Magst du auch eine Tasse? Kaffee oder Tee? Es gibt auch noch Rührkuchen in der Küche.«

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Sophienlust, wie alles begann – 3 –

Der Kampf um Lilly

Kann Denise dem kleinen Mädchen helfen?

Marietta Brem

Es war einer jener Aprilstürme, bei denen man nicht weiß, ob sie den Frühling bringen oder noch einmal Winter. Innerhalb von einer halben Stunde war die Temperatur so heftig gefallen, dass es eher nach Spätherbst aussah.

Denise stand am Fenster ihres Zimmers und beobachtete mit gemischten Gefühlen das wilde Treiben draußen. Sie war froh, dass sie es noch rechtzeitig nach Hause geschafft hatte, ehe das Unwetter losbrach. Sie lächelte vor sich hin. Im Schutz des Hauses und in der Obhut ihrer Eltern fühlte sie sich sehr wohl. Eigentlich gab es auf der ganzen Welt keinen einzigen Menschen, mit dem sie hätte tauschen wollen.

Dunkle Wolkenberge jagten über den Himmel. Der Sturm rüttelte an den Rollläden, die sie vorsorglich bis zur Hälfte heruntergelassen hatte. Anscheinend wurde er stärker. Eine leise Gänsehaut lief über ihren Rücken. Hastig wandte sie sich vom Fenster ab und verließ das Zimmer.

Eva Montand hatte gerade den Nachmittagstee fertig. Ein angenehmer Duft nach Pfefferminz durchzog den Raum, der sich mit dem Nachmittagskaffee vermischte. Als sie ein Geräusch hörte, drehte sie sich um. »Denise, wie schön, dass du kommst. Gerade bin ich fertig geworden. Magst du auch eine Tasse? Kaffee oder Tee? Es gibt auch noch Rührkuchen in der Küche.«

Denise setzte sich zu ihrer Mutter an den Esstisch. »Kommt Paps auch?«

»Eher nicht. Er hat heute Nachmittag drei Patienten, alle etwas schwierig. Ich hoffe nur, er kann ihnen helfen. Die eine Patientin ist Frau Schwenk von gegenüber. Ich hab sie vorhin kommen sehen.«

»Frau Schwenk?«, fragte Denise gedehnt und goss sich Tee ein. Genüsslich verdrehte sie die Augen. »Schmeckt sehr gut, Mami. Du hast dich mal wieder selbst übertroffen.«

Eva schüttelte den Kopf und schob eine imaginäre Strähne ihres fast schwarzen Haares in die Spange, die die ganze Haarpracht im Nacken zusammenhielt.

»Dazu gehört auch eine Menge Können und Wissen, um einen Pfefferminztee aufzubrühen«, stellte sie schmunzelnd fest.

»Was fehlt Frau Schwenk denn?«

»Kann ich dir nicht sagen. Du weißt, dein Vater ist verschwiegen wie eine Auster, wenn es um seine Patienten geht. Und das ist ja auch richtig so. Er darf nicht darüber reden.«

»Weiß ich doch«, wehrte Denise ab und nahm noch einen Schluck. »Ich dachte nur, es sei vielleicht bekannt oder offensichtlich, dass ihr etwas fehlt.«

»Ich habe Frau Schwenk gestern im Supermarkt getroffen. Weil sie so einen müden Eindruck machte, hab ich sie darauf angesprochen.« Es war Eva ein bisschen unangenehm, das zu gestehen. Leicht konnte der Eindruck entstehen, sie selbst sei neugierig.

»Und?«

»Sie ist wohl mit den Nerven ziemlich runter. Wenn ich sie richtig verstanden habe, ist ihre Tochter Elena überraschend nach Hause zurückgekommen. Du kannst dich sicher noch an sie erinnern. Sie war immer die größte von allen Kindern in der Straße. Groß und auffallend mager. Sie müsste jetzt etwa zweiundzwanzig sein, wenn ich mich richtig erinnere.«

Denise dachte einen Augenblick nach. »Hat Elena nicht in der Nähe von Mannheim gelebt? Sie war in einer Beziehung, doch der Mann war, glaube ich, verheiratet.«

Eva nickte. »So habe ich es auch in Erinnerung. Sie hat, wenn das Gerücht stimmt, ein Kind von ihm bekommen, und eigentlich dachte ich, dass die beiden längst ein Paar geworden seien. Anscheinend ist da etwas schief gelaufen, und sie ist mit ihrer Tochter ins Elternhaus zurückgekehrt.« Sinnend schaute Denise auf. »Ob Elena sich noch an mich erinnert?«

»Warum sollte sie dich vergessen haben? Als du noch klein warst, hat sie mit Begeisterung auf dich aufgepasst. Ihr habt immer so schön im Garten gespielt, dass es mir oft leidtat, wenn ich euch unterbrechen musste, weil es Zeit war, ins Bett zu gehen.«

»Inzwischen sind einige Jahre vergangen«, erinnerte Denise. »Ich kann mir vorstellen, dass Elena es nicht leicht hatte. Ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann ist nie einfach. Selbst wenn das Ehepaar sich einig ist, dass sie sich scheiden lassen wollen, ist es doch eine ziemliche Belastung, zumindest für die neue Frau. Ich glaube nicht, dass ich so etwas für mich haben möchte.«

»Das sagt sich so einfach«, meinte Eva nachdenklich. »Als ich damals deinen Vater kennenlernte, war er bereits seit einiger Zeit geschieden. Er hatte einen Sohn. ­Raoul befand sich gerade in den, wie man so schön sagt, Flegeljahren. Anfangs war er gegen alles und jeden. Er war der Meinung, jede Frau müsse so sein wie seine Mutter. Mir kreidete er an, ich hätte ihm das Elternhaus genommen, dabei habe ich seinen Vater erst viel später kennengelernt. Es hat lange gedauert, bis er mir endlich geglaubt hat.«

»Du hast ihn aber wunderbar hingekriegt, Mami. Inzwischen bist du seine Mutter und nicht Karin.« Denise lächelte. »Früher habe ich mich immer gefragt, ob man seine leibliche Mutter einfach vergessen kann. Seit ich Karin kennengelernt habe, frage ich mich das nicht mehr.«

Inzwischen war es draußen etwas heller geworden. Die dunklen Wolken hatten sich aufgelöst und waren als Regen auf die Erde gefallen. Auch der Wind ließ langsam nach.

Eva ging zum Fenster, um es zu öffnen. Sie schnupperte. »Jetzt ist eine wunderbare Luft draußen. Was hältst du davon, wenn wir einen kleinen Spaziergang durch die Straße unternehmen? Mal sehen, ob der Sturm irgendwelche Schäden angerichtet hat.«

Denise zog fröstelnd die Schultern hoch. »Bist du sicher, dass du das wirklich willst? Es ist ziemlich abgekühlt. Von Frühling ist im Moment nichts mehr zu spüren.«

Enttäuscht machte Eva das Fenster wieder zu. »Du musst ja nicht mitkommen, Denise. Ich brauche jetzt dringend ein bisschen frische Luft.« Sie griff nach ihrer Strickjacke, die auf der Stuhllehne hing. »Dann bis später.«

Seufzend erhob sich das junge Mädchen. Denise wirkte für ihr Alter sehr erwachsen. Ihre großen blauen Augen sahen manchmal mehr, als sie sehen wollten oder sollten. Das war auch heute so. Ganz deutlich erkannte sie, dass ihre Mutter nicht nur frische Luft brauchte, sondern dass sie sich Sorgen machte um das kleine Mädchen, das nebenan eingezogen war. »Möchtest du, dass ich Elena einmal besuche? Ich könnte sie ja an die alten gemeinsamen Zeiten erinnern. Das wäre bestimmt lustig.«

»Eine tolle Idee, Schatz. Das könntest du gleich in Angriff nehmen.«

»Ach nein, Mami, ich bin doch am Vormittag erst von der Schule gekommen. Eigentlich habe ich mir den Nachmittag etwas anders vorgestellt.« Denise bereute bereits, diesen Vorschlag gemacht zu haben. Ihre Erinnerung an Elena war nicht mehr sehr gut. Zu viele Jahre waren inzwischen ins Land gegangen. »Außerdem brauche ich einen Grund für den Besuch.«

»Ja, kann schon sein.« Eva war sichtlich enttäuscht. Insgeheim jedoch musste sie ihrer Tochter recht geben. Der Besuch hätte ziemlich unangenehm verlaufen können, denn wenn sie darüber nachdachte, hätte auch sie so ein Verhalten als Neugierde ausgelegt.

»Wird hier Kriegsrat gehalten, oder irre ich mich?« Pierre Montand hatte unbemerkt das Wohnzimmer betreten. »Meine beiden Hübschen in so eine schwere Unterhaltung vertieft?« Er lächelte, küsste erst Denise auf die Stirn, dann Eva verhalten leidenschaftlich auf den Mund. »Ihr macht so ernste Gesichter. Worum geht es denn? Oder ist das ein Geheimnis?«

Eva schüttelte den Kopf. »Kein Geheimnis. Wir haben über Elena geredet, Elena Schwenk. Sie ist wieder da, nicht wahr?«

Pierre verzog das Gesicht. »Was ist der Auslöser für dieses Thema? Doch nicht etwa meine Patientin von vorhin?« Er schien verärgert zu­ sein.

»Natürlich nicht.« Eva lächelte ihn gespielt unschuldig an. »Es hat sich nur so ergeben, als Denise fragte, ob du zum Kaffee kommst. Da hab ich gesagt, dass Frau Schwenk nicht gut ausgesehen hat, als ich sie im Supermarkt traf. Das ist alles.«

»Natürlich ist das alles. Und dann habt ihr euch gefragt, ob das vielleicht mit der Rückkehr ihrer Tochter zu tun haben könnte. Wenn ihr das wissen wollt, müsst ihr sie fragen. Ich könnte mir vorstellen, dass sie froh wäre, mal darüber reden zu können.«

Eva warf ihrer Tochter einen bedeutungsvollen Blick zu, dann schaute sie wieder zu Pierre. »Das Kind tut mir sehr leid. Es steht vermutlich zwischen den Fronten, wie meistens bei solchen Geschichten.«

Pierre winkte ab. »Ist noch Kaffee da?«

*

Als sie Marcel aufs Haus zukommen sah, schaute Denise hastig auf ihre Armbanduhr. Fast eine Stunde zu früh, stellte sie leicht verärgert fest. Sie war noch nicht mit der Küche fertig, und eigentlich hatte sie sich auch noch eine Weile auf der Terrasse entspannen wollen. Das war jetzt natürlich nicht mehr möglich, denn Marcel würde mit Sicherheit in die Stadt fahren und einen Schaufensterbummel unternehmen wollen. Sie hörte, wie ihre Mutter die Eingangstüre öffnete, noch ehe er geläutet hatte. »Schön, dass du da bist. Wie geht es dir, Marcel?«, hörte sie die vertraute Stimme. Marcels Antwort fiel ziemlich leise aus, sodass sie nichts verstehen konnte.

»Du bist ja noch gar nicht fertig.« Seine enttäuschte Stimme forderte ihren Widerstand geradezu heraus. »Wir wollten doch gleich los.«

Zornig drehte sie sich um. »Hast du mal auf die Uhr geschaut? Wir sind erst in einer Stunde verabredet«, konterte sie. »Hast du etwa erwartet, ich stehe den ganzen Vormittag gestiefelt und gespornt da und warte mit klopfendem Herzen, dass du früher als verabredet hier antanzt?«

Erschrocken zuckte Marcel zusammen. So aggressiv hatte er Denise noch nie erlebt. Einen Moment lang überlegte er, ob er einfach wieder gehen sollte. So nötig hatte er ihre Gesellschaft nun auch wieder nicht, dass er sich alles von ihr gefallen lassen musste.

»Entschuldige«, murmelte er und senkte den Blick. »Ich hab nicht auf die Uhr gesehen. Soll ich … gehen?«

Denise taten ihre harten Worte schon wieder leid. »Natürlich nicht. Ich mag es nur nicht, wenn man etwas von mir erwartet, das man selbst nicht gibt. Wir waren für vierzehn Uhr verabredet, jetzt ist es gerade mal dreizehn Uhr. Dein Vorwurf war also nicht berechtigt.«

»Ich hab mich entschuldigt«, murmelte er verbittert. »Manchmal bin ich ungerecht, aber erst, seit ich zwischen den Stühlen sitze.«

»Kann ich gut verstehen«, lenkte Denise sanft ein. »Ich wollte dich nicht so anfahren. Setz dich auf die Terrasse. Ich will erst hier fertig machen, dann können wir los.«

Fast schon demütig marschierte Marcel nach draußen. Seit er nicht mehr zu arbeiten brauchte, fühlte er sich unendlich nutzlos. Inzwischen war er auf der Suche nach einem neuen Arbeitgeber, was im Außendienst eigentlich gar nicht so schwierig war. Doch die Arbeitsbedingungen, die er bei seiner alten Firma gehabt hatte, waren nirgends zu finden, geschweige denn das Gehalt, das er dort bezogen hatte.

Er lehnte den Kopf an die Hauswand hinter sich und schloss die Augen. Die Bank war zwar nicht besonders bequem, doch er liebte dieses stille Plätzchen neben dem Wohnzimmerfenster. Lautes Geschrei von der gegenüberliegenden Straßenseite ließ ihn zusammenfahren. Erschrocken riss er die Augen auf und sah eine junge Frau, die grob am Arm eines kleinen, blonden Mädchens riss und es dabei heftig beschimpfte. Er wunderte sich darüber, denn in dieser Straße hatte er noch nie kleine Kinder gesehen.

Eine Weile beobachtete er den Kampf der beiden, dann ertrug er es nicht mehr und ging ins Haus. »Hast du das auch gehört? Da hat eine junge Frau gerade sehr lautstark und fast schon bösartig ein kleines Mädchen attackiert. Ich hab schon überlegt, ob ich eingreifen soll.«

Denise horchte auf. Sofort fielen ihr Elena und ihre kleine Tochter ein. »Sind sie noch da?« Sie rannte an ihm vorbei nach draußen. Doch es war niemand mehr zu sehen. Sie ließ sich von Marcel genau schildern, wo der Streit stattgefunden hatte, und es war tatsächlich im Vorgarten der Familie Schwenk passierte. Es konnte also nur Elena mit ihrer kleinen Tochter gewesen sein.

Denise dachte wieder an das Versprechen, das sie ihrer Mutter gegeben hatte. Jetzt war sie fest entschlossen, dies so rasch wie möglich zu erfüllen. Zuvor jedoch musste sie mit Marcel einen Schaufensterbummel machen. Das passte gar nicht zu ihrer Stimmung. Viel lieber hätte sie jetzt sofort Elena besucht.

Früher als beabsichtigt begannen sie ihren Stadtbummel. Denise wollte ein passendes Shirt zu ihrer kurzen Hose kaufen. Marcel hatte nicht vor, etwas zu kaufen. Sein Kleiderschrank platzte ohnehin aus allen Nähten, und dafür, dass er nur zu Hause herumsaß, brauchte er nichts Neues. »Falls ich mal ein Vorstellungsgespräch hab, werde ich mir was kaufen. Ich hoffe, du begleitest mich dann als meine Beraterin.«

Denise lächelte ihn an. »Natürlich kannst du dich auf mich verlassen. Ich will doch, dass du endlich wieder eine Arbeit findest, damit es dir wieder gut geht. Setzen wir uns eine Weile? Ich besorg uns noch eine Limo.«

»Das mach ich«, entschied Marcel. »Such du schon mal einen Platz, ich bin gleich wieder da.« Er lief eilig zu dem Verkaufswagen, der von Frühling bis Herbst besetzt war, und besorgte die Getränke und für jeden noch eine Butterbrezel. Dann schaute er sich suchend um und entdeckte Denise, die bei einem kleinen Zirkusesel stand und ihn streichelte. Ärger stieg in ihm hoch. Er empfand es als Tierquälerei, was diese kleinen Zirkusse trieben. Er hatte jetzt jedoch keine Möglichkeit, den Tieren zu helfen. Also gab er dem Mann, zu dem das Tier gehörte, einen kleineren Geldschein, damit er Futter kaufen konnte.

»Das war nett von dir«, lobte Denise.

»Nein, das war feige«, widersprach er. »So etwas sollte man nicht unterstützen. Doch ich weiß, dass es niemandem hilft, wenn die Leute kein Futter kaufen können. Also mach ich auch die Augen zu und versuche mich nicht zu sehr zu ärgern über diese Sinnlosigkeit.«

»Dem Esel geht es mit Sicherheit gut.«

»Das ist es ja«, gab Marcel zu. »Deshalb kann ich auch nicht an denen vorbei gehen, ohne etwas zu geben. Wir sollten Gesetze haben, die …« Er brach ab. »Entschuldige, wir sind zum Spaß hier und nicht, um uns über Dinge aufzuregen, die wir doch nicht ändern können.«

Trotz aller nicht so guten Vorzeichen wurde es irgendwann noch ein schöner Nachmittag. Denise gab sich alle Mühe, nicht an den Streit ihrer Nachbarn zu denken, von dem Marcel vorhin erzählt hatte, und Marcel schob energisch alle düsteren Gedanken beiseite, die mit seiner nicht vorhandenen Arbeit zusammenhingen. Es fiel ihm nicht leicht, doch es half ihm auch nicht, wenn er Denise die Laune vermieste.

»Kommst du noch mit rein? Meine Eltern würden sich bestimmt freuen, wenn du zum Abendessen bleibst«, meinte Denise, als er sie später nach Hause gebracht hatte.

Er schüttelte den Kopf. »Ich will nachsehen, ob ich Post bekommen habe. Zehn Bewerbungen hab ich losgeschickt und warte jetzt auf die Möglichkeit eines Vorstellungsgesprächs. Halt mir bitte die Daumen, dass sich endlich was tut.«

Denise streichelte ihm kurz über die Wange. Sie saßen noch im Auto, obwohl Denise lieber schon ins Haus gegangen wäre. »Ich halte dir alle Daumen«, versprach sie. »Mach dir keine so großen Sorgen. Noch ist ja auch nicht sicher, ob deine Firma wirklich insolvent ist. Vielleicht kriegen sie ja noch mal die Kurve, und es geht bald weiter.«

Er zuckte die Schultern. »Die Möglichkeit besteht natürlich«, stimmte er zu. »Doch sie ist verschwindend gering. Mir wäre bedeutend wohler, wenn ich einige Vorstellungsgespräche in Aussicht hätte. Ich ruf dich am Abend noch an, um dir gute Nacht zu wünschen. Ist das in Ordnung?«

Denise lächelte ihn lieb an. »Natürlich ist das in Ordnung. Ich freu mich drauf.« Hastig neigte sie sich zu ihm hinüber und hauchte ihm einen raschen Kuss auf den Mund. »Wir hören uns«, sagte sie noch, dann war sie aus dem Auto. Mit schnellen Schritten lief sie zum Haus, als hätte sie Angst, er könne sie noch einmal zurückrufen. Doch er tat es nicht.

»Ich bin wieder da«, rief sie in der Diele und war einfach nur glücklich. Endlich wieder zu Hause, dachte sie bei sich und breitete die Arme aus vor Freude. Endlich zu Hause.

*

»Hatte ich nicht gesagt, dass es heute kein Fernsehen gibt? Du hast deine Schuhe schmutzig in den Flur gestellt, anstatt sie sauber zu machen, wie ich es dir beigebracht habe. Du bist kein liebes Kind.« Elena Schwenk stand wie ein Racheengel vor ihrer fast sechsjährigen Tochter und starrte sie zornig an. »Ich frage mich, was du von dem Versager gelernt hast, der behauptet, dein Vater zu sein.« Sie war den Tränen nahe.

Lilly, ein bildhübsches blondes Mädchen, wich ängstlich so weit zurück, bis sie von der Wand gebremst wurde. »Ich … hab es nicht gesehen«, stammelte sie.

»Was hast du nicht gesehen? Dass deine Schuhe schmutzig sind? Dann müssen wir zum Augenarzt und dir eine gute Brille besorgen.«

»Warum muss ich hier sein und darf nicht bei Papi und Mami – ich meine, bei Daniela sein? Die sind immer lieb zu mir.« Das Mädchen war den Tränen nahe, schluckte sie jedoch tapfer wieder hinunter. Lilly wusste, dass es die Mutter noch mehr ärgern würde, wenn sie jetzt auch noch anfing zu weinen.