Soulbird - Das Geheimnis der Nacht - Deborah Hewitt - E-Book
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Soulbird - Das Geheimnis der Nacht E-Book

Deborah Hewitt

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Beschreibung

Nach einem tragischen Verlust kehrt die junge Alice Wyndham in die verborgene Parallelwelt Londons zurück. Dort will sie alles über ihre Herkunft und ihre erwachende Magie herausfinden. Denn Alice hat eine Verbindung zu Nachtschwalben, wundersamen Vögeln, die die Seele eines Menschen hüten. Doch ihre Gabe ist auch mit einem gefährlichen Vermächtnis verbunden. Der dunkle Fluch stellt ihre Liebe zu dem geheimnisvollen Verbrecherjäger Crowley auf eine harte Probe und droht, ihre ganze Welt ins Verderben zu stürzen. Um sie zu retten, muss Alice nicht weniger besiegen als den Tod selbst ...

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Seitenzahl: 672

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Buch

Alice Wyndham ist aus der verborgenen Parallelwelt Londons geflüchtet und versteckt sich in Irland. Denn ihre besonderen Fähigkeiten machen sie zur Gejagten: Sie besitzt die Magie der Nachtschwalben, wundersamer Vögel, die die Seele eines Menschen hüten. Ihre Gabe bedeutet Leben – und ist gleichzeitig mit einem tödlichen Vermächtnis verbunden. Alice konnte ihre beste Freundin Jen nicht davor schützen, und der dunkle Fluch stellt auch ihre Liebe zu dem Verbrecherjäger Crowley auf eine harte Probe. Alice gibt die Hoffnung nicht auf und kehrt in Londons magische Zwillingsstadt zurück. Dort will sie sich dem Haus Mielikki anschließen, um ihre Seelenmagie zu trainieren und mit ihrem dunklen Erbe zu brechen. Doch die Aufnahmeprüfung wird von schrecklichen Ereignissen überschattet, und Alice’ ganze Welt droht, ins Verderben zu stürzen. Um sie und alle, die sie liebt, zu retten, muss Alice nicht weniger besiegen als den Tod selbst …

Weitere Informationen zu Deborah Hewittsowie zu lieferbaren Titeln der Autorinfinden Sie am Ende des Buches.

Deborah Hewitt

SoulbirdDas Geheimnis der Nacht

Band 2

Roman

Aus dem Englischenvon Anna Julia Strüh

Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »The Rookery« bei Pan Books, an imprint of Pan Macmillan, a division of Macmillan Publishers International Limited.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung März 2022

Copyright © Deborah Hewitt 2021

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: FinePic®, München

Redaktion: Waltraud Horbas

KS · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-25354-7V001

www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für Seb und Archie – bis in alle Ewigkeit und darüber hinaus

Prolog

Doctor Burkes Schreibtisch glich einem Friedhof für zerbrochene Brillen. Kaputte Gestelle waren unter Ordnern begraben oder lagen neben leeren Tassen. Als er blind nach einer griff und sie aufsetzte, fiel ihm eins der Brillengläser in den Schoß. Seufzend spähte er durch das verbliebene Glas auf die Ergebnisse von Alice’ Bluttest.

Nach einem Moment öffnete er den Mund, als wolle er etwas sagen, leckte sich aber nur den Daumen und blätterte um. Er war ein kleiner, aber robust wirkender alter Mann, schrumpelig wie etwas, das man zu lange in der Sonne hatte liegen lassen, mit weißen Haarbüscheln, die aus jeder Körperöffnung wuchsen.

Alice wandte sich ihrer Mutter zu und zog beim Anblick von Doctor Burkes ungewöhnlicher Wanddekoration verblüfft die Augenbrauen hoch. Hinter dem Kopf ihrer Mutter spielte ein Eichhörnchen Geige. Daneben saßen zwei Füchse in Latzhosen auf einem Miniaturtandem. Doch das alles war nichts im Vergleich zu der ausgestopften Eule mit Doktorhut, die vor einer winzigen Tafel hockte. Ihre riesigen, glasigen Augen starrten Alice verdrossen an, als wäre sie Spott gewohnt. Sämtliche Regale waren mit potthässlichen Tierpräparaten vollgestellt. Nicht gerade ein ermutigender Anblick in einer Arztpraxis.

Zum Glück wusste Doctor Burke nicht, dass sich ein lebendiges Tier direkt vor seiner Nase befand. Ein kleiner brauner Vogel saß auf seiner Schulter, doch er konnte ihn nicht sehen, denn Nachtschwalben waren nur für Aviaristen wie Alice sichtbar. Sie war eine von höchstens einem Dutzend Aviaristen auf der ganzen Welt.

Alice wandte sich von der makabren Ausstellung ab und betrachtete stattdessen die Nachtschwalbe des Arztes. In der finnischen Mythologie war sie als Sielulintu bekannt: ein mythischer Vogel, der die Seele bewacht. Jeder hatte einen, ob er sich dessen bewusst war oder nicht. Ihre Mutter, der menschliche Wirbelwind namens Patricia Wyndham, ahnte nichts von der Nachtschwalbe, die auf ihrem Knie hockte.

Kurz tauchte das Bild einer ausgestopften Nachtschwalbe vor Alice’ geistigem Auge auf, und ihre Lippen verzogen sich vor Abscheu. Doctor Burkes Seelenvogel war winzig. Über seinen Rücken zog sich ein verblasster kupferbrauner Streifen, und sein schlammfarbenes Gefieder wirkte unscheinbar, aber er sah ziemlich zerfleddert aus. Seine glänzend schwarzen Augen musterten Alice mit ernstem Blick.

»Nun«, sagte Doctor Burke schließlich. »Etwas ungewöhnlich.«

»O Gott«, murmelte ihre Mutter. »Haben Sie schlechte Neuigkeiten? Ich wusste, wir hätten schon früher einen Termin ausmachen sollen.«

Er legte die Bluttestergebnisse weg und blickte zu Patricia Wyndham auf, der die Nervosität deutlich anzusehen war. Nach einer kurzen Pause wischte er ihre Ängste vom Tisch. »Kein Grund zur Sorge«, sagte er, und Patricia ließ sich erleichtert auf ihren Stuhl zurücksinken.

»Da sind wir aber froh«, sagte sie und wandte sich an Alice. »Nicht wahr?«

Alice ignorierte das beruhigende Lächeln des Arztes und beobachtete stattdessen seine Nachtschwalbe, die am ganzen Körper zitterte. Ihre Füße krallten sich in einem hektischen Rhythmus in seine Schulter und ließen wieder locker, und ihre Flügel bewegten sich rastlos – beides deutliche Anzeichen von Unbehagen. Alice’ Alarmglocken läuteten.

»Was genau meinen Sie mit ›etwas ungewöhnlich‹?«, fragte sie und sah dem Arzt fest in die Augen.

Doctor Burkes Blick schweifte erneut zu den Testergebnissen. »Nun«, sagte er sichtlich nervös, »Sie haben eine geringe Sauerstoffsättigung und eine leichte Anämie.«

»Ich sage dir schon seit Wochen, dass du zu blass bist«, rief ihre Mutter aufgebracht.

»Und der Test, den die Krankenschwester letztes Mal gemacht hat«, hakte Alice nach. »Der niedrige Blutdruck – hängt das zusammen?«

Doctor Burke zögerte und schob seine kaputte Brille höher. »Wenn Sie möchten, dass ich Sie an einen Facharzt überweise, ein Freund von mir arbeitet in dem großen Krankenhaus in Castlebar …«

»Nein«, entgegnete sie entschieden. »Danke, aber nein. Mir ist nur ein bisschen schwindlig. Das wird schon wieder.«

Sie hasste Krankenhäuser. Jedes Mal, wenn ihr der Geruch nach Desinfektionsmitteln in die Nase stieg, stürzten Erinnerungen an die Nacht, in der ihre beste Freundin von einem Auto angefahren worden war, auf sie ein. Diese Nacht hatte alles verändert. Noch Monate später hatte Alice geglaubt, Jen liege im Koma, und das sei ihre Schuld. Die grauenhafte Vorstellung, wie Jen in einem Krankenhausbett dahinvegetierte, hatte sie Tag und Nacht verfolgt. Doch das alles war nur eine Lüge gewesen. Eine List.

Doctor Burkes röchelndes Husten riss Alice aus ihren Gedanken. Sie war dankbar für die Ablenkung.

»Eisentabletten«, sagte er, steckte das Taschentuch, das er sich vor den Mund gehalten hatte, zurück in seine Anzugtasche und griff nach einem Stift. »Das lässt sich mit Eisentabletten leicht beheben.«

Er lächelte sie strahlend an, und sie warf erneut einen Blick auf seine Nachtschwalbe. Dem geübten Aviaristen zeigten Nachtschwalben, was sich in der Seele ihres Besitzers verbarg, offenbarten Gedanken und Gefühle, Einsichten und Lügen. Alice war noch nicht so bewandert darin, das Verhalten eines Vogels zu lesen, wie sie gehofft hatte, aber sie lernte schnell. Lügen machten Nachtschwalben unruhig.

»Eisentabletten und gute Landluft«, sagte Doctor Burke, »dann haben Sie nichts zu befürchten.« Doch die Flügel seiner Nachtschwalbe zitterten, während er sprach, und ihr Kopf ruckte aufgeregt hin und her.

Alice wurde flau im Magen. Manchmal wünschte sie, sie wäre kein Aviarist. Manche Lügen waren tröstlich.

Der Kofferraum krachte mit solcher Wucht zu, dass der Nissan Micra ins Wanken geriet.

»Vorsicht«, mahnte Alice. »Sonst verlierst du noch einen Finger.«

Ihre Mum grinste. »Das wäre es wert«, erwiderte sie mit Blick auf den mit einem Geschirrtuch bedeckten Teller in ihrer Hand. »Wart’s nur ab, bis du das probiert hast. Breda Murphys Treacle Bread. Anscheinend ist das ein irisches Geheimrezept. Breda will mir nicht verraten, wie man es macht, bevor ich nicht mindestens ein Jahrzehnt hier gelebt habe.«

Sie gingen die Auffahrt zu ihrem weiß getünchten Cottage hinauf und machten nur kurz halt, um den frisch gemähten Rasen zu bewundern.

»Ich fasse es nicht«, murmelte Patricia und ließ den Blick über den Garten schweifen. »Er will mir ein Schnippchen schlagen, indem er den Rasen mäht, bevor ich deswegen rumjammern kann.«

Die treffende Einschätzung der Situation brachte Alice zum Lachen.

»Na dann los«, sagte Patricia mit einem amüsierten Kopfschütteln. »Klopf du. Du bist musikalischer als ich.«

Die Eingangstür war verriegelt und mit mehr Schlössern versehen als Fort Knox. In diesem kuriosen kleinen Cottage gab es keinen Schlüssel unter der Fußmatte und keine offene Haustür. Wahrscheinlich war es das einzige Haus in County Mayo mit einer Alarmanlage, die mehr kostete als das Auto in der Einfahrt, und unter dem Efeu an den Wänden verbargen sich Überwachungskameras.

Sicherheitsvorkehrungen hatten für Alice höchste Priorität gehabt, als sie hergezogen waren. Zusätzlich zu den Schlössern und der Alarmanlage hatte sie darauf bestanden, ein geheimes Klopfzeichen zu vereinbaren, mit dem sie einander wissen ließen, dass sie die Tür gefahrlos öffnen konnten. Das war ein bisschen zu viel des Guten und mittlerweile eine Art Running Gag, aber niemand hatte vorgeschlagen, damit aufzuhören. Deshalb klopfte sie fast zwei Minuten lang den Takt von Greensleeves an die Tür, bevor sie endlich aufschwang.

»Ich habe gewartet, bis du zum Refrain kommst«, erklärte ihr Vater grinsend. »Aber du hast die zweite Strophe ausgelassen, und dann ist alles den Bach runtergegangen.«

Michael Wyndham war ein Schrank von einem Mann mit schütterem Haar, freundlichen Augen und einem Lächeln, das kaum je verblasste. »Und?«, fragte er. »Was hat der Arzt gesagt?«

Als Antwort hielt Alice die Packung Eisentabletten hoch. »Eine leichte Anämie. Er meinte, das wird wieder.«

Es hätte keinen Sinn, ihren Eltern zu erzählen, dass die Nachtschwalbe des Arztes seiner Aussage widersprochen hatte. Darüber würde sie später nachdenken.

»Wie ich sehe, warst du auch nicht untätig«, sagte Patricia und schloss die Tür hinter ihnen. Michael warf ihr einen selbstgefälligen Blick zu, und Alice sah zu, wie die beiden einander herausfordernd taxierten. Patricia war die kleinste, bemerkenswerteste Frau, die Alice kannte. Ein Meter fünfzig, wenn es hoch kam, mit einem grauen Bob und einer runden Brille auf ihrer Nasenspitze.

»Tee?«, fragte ihr Dad – wie fast immer gab er als Erster klein bei.

»Oh, gern. Und wenn wir fertig sind, kannst du noch das Stück Rasen an der Wand mähen, das du übersehen hast.«

Alice prustete vor Lachen, wurde jedoch von einem lauten Aufruhr im Flur abgelenkt. Trippelnde Pfoten hasteten auf sie zu und schlitterten in ihrer Eile über den Boden. Zwei weiße Fellknäuel, die aufgeregt um sie herumrannten und mit den Schwänzen wedelten: ihre Westies Bo und Ruby. Als sie sich hinkniete, stürzten sie sich auf sie, wanden sich in ihren Armen wie Aale, sprangen ihr ins Gesicht und leckten ihre Hände, während sie nur hilflos lachen konnte.

»Wir haben übrigens einen neuen Postboten«, sagte Patricia. »Hab ich dir das schon erzählt?«

Alice’ Lachen verstummte abrupt. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch richtete sie sich auf und schüttelte den Kopf.

»Wie sieht er aus?«, fragte sie zaghaft.

»Oh, er ist etwa neunzig«, antwortete Patricia. »Völlig harmlos. Ich habe ihn überprüft. Wir haben all deine Anweisungen genauestens befolgt.«

»Keinerlei Unachtsamkeit«, sagte Alice.

»Keinerlei Unachtsamkeit«, wiederholte Patricia und marschierte in die Küche, wo Michael immer lauter und beunruhigender mit den Tassen klapperte. Sie scheuchte ihn weg und füllte den Kessel.

Alice beobachtete die beiden mit sorgenvollem Gesicht. Sie wünschte sich nichts mehr, als dass sie in Sicherheit waren. Sie hatten all ihre Freunde zurückgelassen, um nach Irland zu ziehen – auch Jens Eltern, die Parkers, die zwanzig Jahre lang ihre Nachbarn gewesen waren. Für kurze Zeit hatten sie in Dublin gewohnt, dann waren sie nach Glenhest gezogen, wo die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden, geringer war. Doch nicht nur ihre Eltern waren in Gefahr, sondern auch Alice selbst.

Seelen zu lesen und Lügen erkennen zu können war eine wundervolle Fähigkeit, aber die Nachteile konnten tödlich sein. Es gab Leute, die alles tun würden, um ihre Gabe zu kontrollieren, und andere würden alles tun, um sie zu vernichten. Alice war schon mehrfach mit einer solchen Gruppe aneinandergeraten, die von einem Regierungsagenten namens John Boleyn angeführt wurde. Sein Handlanger Vin Kelligan hatte schon einmal Jagd auf ihre Eltern gemacht, und sie würde kein Risiko eingehen, wenn ihr Leben auf dem Spiel stand – doch die traurige Wahrheit war, dass ihre Eltern ohne sie sicherer wären.

Also würde sie gehen. Schon bald. Ihr war eine Stelle als Forschungsassistentin in der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Goring University angeboten worden – in Londons magischer Zwillingsstadt, der Rookery. Ihr Umzug war nur aufgeschoben worden, bis sie das Ergebnis der Blutuntersuchung hatte. Patricia hatte unmissverständlich klargemacht, dass sie ihre Tochter nicht gehen lassen würde, solange sie nicht kerngesund war. Die dunklen Ringe unter ihren Augen und ihre Atemprobleme bei ihren täglichen Spaziergängen durchs Dorf bereiteten ihren Eltern Sorgen.

»Willst du auch Treacle Bread?«, rief ihre Mutter ihr zu.

Alice sah zu, wie die Nachtschwalben ihrer Eltern durch die Küche flatterten, nie mehr als ein paar Zentimeter voneinander entfernt. Sie waren perfekt im Einklang – das Ergebnis einer dreißigjährigen Ehe zwischen Seelenverwandten.

»Vielleicht später«, antwortete sie und spürte einen Stich im Herzen. Die Nachtschwalben ihrer Eltern zu beobachten erinnerte sie jedes Mal schmerzhaft daran, dass sie Crowleys Seelenvogel trotz ihrer Gabe nicht gesehen hatte, bis es zu spät war. Ihre Nachtschwalben waren nie im Einklang gewesen, weil Crowley nie ehrlich zu ihr gewesen war – sie hatte nicht einmal gewusst, wer er wirklich war.

Mit einem Kopfschütteln wandte Alice sich ab, doch bei der Bewegung wurde ihr schwindlig, und sie geriet ins Wanken. Halt suchend stützte sie sich an der Wand ab und kniff die Augen zu, bis der Schwindel nachließ. Die Abstände zwischen ihren Schwindelanfällen wurden immer kürzer. Tief ein- und ausatmend richtete sie sich auf, die Packung Eisentabletten immer noch fest umklammert. Bo und Ruby flankierten sie wie eine persönliche Leibgarde; irgendwie schienen sie immer zu wissen, wenn es ihr nicht gut ging.

Auf ihrem Bett lag ein Paket. Bei dem Anblick blieb sie wie angewurzelt stehen, dann schlich sie vorsichtig darauf zu wie auf eine Bombe, die jeden Moment hochgehen könnte. Auf dem Etikett standen ihr Name und ihre Adresse, aber außer ihrem neuen Arbeitgeber wusste nur eine einzige Person, wo sie wohnte: Crowley.

Alice’ Blick wanderte über die vertraute Handschrift; sie war genauso scharfkantig wie er. Plötzlich überkam sie eine heftige Nervosität. Er wollte, dass sie in die Rookery zurückkam, damit er alles wiedergutmachen konnte – er hatte ihr sogar die Stellenanzeige für den Job an der Universität geschickt, weil er wusste, dass sie einer solchen Chance nicht widerstehen könnte –, doch es war zu spät. Sie hatte ihm gesagt, dass er sie nicht noch einmal kontaktieren sollte, also warum schickte er ihr ein Paket?

Crowley hatte ihre Angst ausgenutzt, als sie geglaubt hatte, Jen liege im Koma und ihre Nachtschwalbe sei verschwunden. Er hatte ihr eine Möglichkeit angeboten, ihre Freundin zu retten und ihren Seelenvogel zurückzuholen. Doch Jen hatte nie im Koma gelegen – es war ihm die ganze Zeit um eine andere Frau gegangen, die bewusstlos im Krankenhaus lag: Estelle Boleyn, Crowleys Schwester. Er hatte sie mit einer List dazu gebracht, Estelles Nachtschwalbe zu retten – doch letzten Endes waren sie beide gescheitert. Estelle lag immer noch im Koma, und Jen war tot.

Er hatte versucht, es ihr zu erklären, und beharrlich behauptet, er habe geglaubt, dass Jen dasselbe Schicksal erlitten hätte wie seine Schwester und dass Alice als Aviaristin ihre Seelenvögel ausfindig machen und beide Frauen retten könnte. Doch in seiner Verzweiflung hatte er mit der Scharade weitergemacht, als er erfuhr, dass Jen wohlauf war. Bis zuletzt hatte er beteuert, dass es eine Notlüge war und er nichts Böses beabsichtigt hatte. Aus Liebe zu seiner Schwester war er im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen gegangen, und sie hätte das Gleiche für Jen getan. Doch seine Lügen wogen zu schwer. Selbst sein Name war eine Lüge. In Wahrheit hieß er Louis Boleyn und war der Sohn von Sir John Boleyn, dem Anführer der Beaks; dem Mann, der erbarmungslos danach strebte, die Rookery und Alice zu vernichten, der Jens Entführung angeordnet hatte, damit Alice für ihn arbeitete – wegen dieses Mannes klopften sie jedes Mal Greensleeves an die Tür, wenn sie nach Hause kamen. Und dennoch … angesichts ihrer eigenen sonderbaren Situation konnte sie es Crowley kaum verdenken, dass er die Identität seines Vaters geheim gehalten hatte.

Alice riss das Paket auf und starrte den Inhalt verdutzt an: ein halbes Dutzend Ausgaben vom Rookery Herald und ein Bewerbungsformular. Warum Crowley ihr die Zeitungen geschickt hatte, wurde ihr sofort klar. Hastig klemmte sie sich alle sechs unter den Arm, trug sie in den Garten und lud sie unter dem Vogelbeerbaum in der Ecke ab. Im Sommer saß sie oft hier und malte, weil die Äste des Baums ihr Schatten spendeten.

Jetzt setzte sie sich im Schneidersitz auf die Wiese und nahm den ersten Rookery Herald zur Hand. Die Zeitung hatte ein großes Format, und auf jeder Seite drängten sich Artikel mit sensationsgierigen Schlagzeilen wie: »Mitglied von Haus Ilmarinen leugnet Brandstiftung! Behauptet, Feuer sei auf einen Sambuca-Unfall zurückzuführen!«, »Chancellor Litmanen erwägt, nationalen Feiertag nach sich selbst zu benennen« und »Versuch, eine Wasserfall-Attraktion in der Themse zu installieren, endet in einer Katastrophe!« Zwischen den Artikeln prangten Werbungen für Oxo Chocolate und Lauriston’s langlebige Kerzen. Alice sah sie von vorne bis hinten genau durch, dann nahm sie die nächste Zeitung und inspizierte sie ebenso gründlich. Ein Artikel über einen Nekromanten, der verhaftet worden war, weil er auf Beerdigungen aufgekreuzt war, um die verbitterten Botschaften der Verstorbenen zu übermitteln, ließ sie verblüfft innehalten. Es war seltsam, Geschichten aus einer anderen Welt zu lesen – einer Welt der Magie –, während ihre Eltern über das Rasenmähen stritten.

Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr. Ein winziger, spitzer Schnabel, rasiermesserscharfe Krallen und elegante Schwingen glitten vorüber. Alice’ Nachtschwalbe. Sie legte die Flügel an und stieß im Sturzflug herab, fing sich jedoch im letzten Moment, wobei sie theatralisch den Kopf zurückwarf. Alice seufzte. »Hast du nichts Besseres zu tun?«

Nachtschwalben hatten eine wichtige Funktion: die Seele ihres Besitzers zu schützen. Sie brachten die Seele bei der Geburt in den Körper und bewachten sie ein Leben lang. Wenn ihr Besitzer starb, kehrte die Nachtschwalbe mit der Seele ins Sulka-Moor zurück, das Totenreich. Doch Alice’ Nachtschwalbe war anders. Sie beschützte nicht ihre Seele, sie beschützte andere vor ihrer Seele. Eine Lektion, die sie auf schmerzhafte Art gelernt hatte, als sie beinahe die Stadt zerstört hätte. Ihre Nachtschwalbe war kein Wächter, sie war ein Gefängniswärter.

In diesem Moment schwang das Küchenfenster auf und riss Alice aus ihren düsteren Gedanken.

»Du hast deinen Tee vergessen«, rief ihre Mutter. »Soll ich ihn dir bringen?«

Alice schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich komme gleich. Zur Not stelle ich ihn kurz in die Mikrowelle.«

Ihre Mutter wirkte entsetzt. »Ich habe hoffentlich keine Barbarin großgezogen«, erwiderte sie und zog das Fenster wieder zu.

Alice sah ihr mit liebevollem Blick nach. Die Wyndhams hatten sie großgezogen und liebten sie über alles. Sie waren ihre Eltern im wahrsten Sinne des Wortes – doch sie hatten nicht dieselben Gene. Was sie miteinander teilten, war so viel wichtiger, doch in den letzten Monaten hatte sich Alice eine ständige Erinnerung an ihre Andersartigkeit angeeignet: ihren außergewöhnlichen Seelenvogel.

Normalerweise konnten Aviaristen ihre eigene Nachtschwalbe erst kurz vor ihrem Tod sehen, doch da Alice mit dem Tod bestens vertraut war, besaß sie die seltene Fähigkeit, die ihre jederzeit sehen zu können – und was sie sah, war unvergleichlich.

Für gewöhnlich waren Nachtschwalben braun, doch ihre war schneeweiß. Ihr Seelenvogel war eine unablässige Mahnung, dass sie auf die schlimmste Art besonders war.

Nur zwei andere hatten jemals weiße Nachtschwalben gehabt – und beide waren Fürsten des Todes, die Lintuvahti. Alice hatte den derzeitigen Todesfürsten, einen jungen Mann mit schneeweißen Haaren, zweimal getroffen. Sein Vorgänger, der seinen Posten als Herrscher über das Sulka-Moor aufgegeben hatte, war ihr leiblicher Vater, Tuoni. Jemand hatte einst zu Alice gesagt, sie sei aus Tod gemacht. Und das war sie – wortwörtlich.

Das bleiche Gefieder von Alice’ Nachtschwalbe leuchtete im Sonnenlicht, und ihre Flügel schlugen kraftvoll, während sie in all ihrer Pracht um Alice’ Kopf herumflog. Diese Selbstdarstellerin … Wie üblich ignorierte Alice sie.

Den Kopf leicht geneigt, sodass der Vogel aus ihrem Sichtfeld verschwand, blätterte sie die Zeitungen weiter durch. Sie suchte nach etwas ganz Bestimmtem und hoffte, sie würde es nicht finden. Nachdem sie den dicht gedruckten Text eine Weile studiert hatte, stieß sie auf einen Begriff, der ihr Herz schneller schlagen ließ: Marble Arch.

Mit zitternden Fingern umklammerte sie die Seite und fing an zu lesen. Gasleck sorgt für Chaos am Marble Arch! Nachdem es gestern Abend Berichte über ein gefährliches Leck gegeben hatte, evakuierten die Bow Street Runner den Bereich um den Marble Arch und verursachten eine Menge Ärger für die Anwohner und Geschäftsinhaber, die ihre Läden vorzeitig schließen mussten. Heute früh kam die Entwarnung. Ein Sprecher von Radiance Utilities warf den Runnern vor, übertrieben auf den Vorfall reagiert zu haben, der sich inzwischen als falscher Alarm herausgestellt hat: »Das harte Vorgehen der Runner wirft einen Schatten auf unseren guten Ruf. Es ist ein Skandal, dass sie unseren Aufruf, die Ermittlungen in aller Ruhe durchzuführen, missachtet haben. Wir können Ihnen versichern, dass Sicherheit und Effizienz für uns nach wie vor an erster Stelle stehen.«

Um Stellungnahme gebeten, erklärte Kommandant Risdon lediglich: »Die Runner nehmen jede Bedrohung ernst und werden weiterhin für die Sicherheit in dieser Stadt sorgen.«

Unterdessen konnten wir in Erfahrung bringen, dass der Tod einer unbekannten Außenweltlerin, die in London auf der anderen Seite des Marble Arch gefunden wurde, nicht mit dem Gasleck in Zusammenhang steht und nun Sache der London Metropolitan Police ist. Jetzt möchten wir unsere Leser fragen: Gehören Sie zu denen, die unter der Überreaktion der Runner zu leiden hatten? Oder sind Sie Opfer anderer Fehler der Institution geworden, die behauptet, uns zu beschützen? Rufen Sie unsere Hotline an, erzählen Sie uns Ihre Geschichte!

Alice schluckte schwer. In jener Nacht war die Welt, wie sie sie kannte, untergegangen. Jen war von John Boleyns Männern entführt worden, und Alice hatte versucht, sie mithilfe der Runner zu retten. Das Gasleck war nur ein Vorwand gewesen, um die Gegend um den Marble Arch zu evakuieren.

Schaudernd überflog Alice den Artikel noch einmal, fand jedoch nicht den geringsten Hinweis auf den Albtraum, der in jener Nacht Wirklichkeit geworden war. Jen war nur ein Bauernopfer gewesen. Eigentlich hatte Sir John Boleyn es auf Alice abgesehen, weil er ihre wahre Identität herausgefunden hatte und die Wahrheit über ihre tödliche Seele kannte – dass sie, wenn sie freigelassen wurde, alles Leben in der Rookery auslöschen würde.

Alice blickte zu ihrer Nachtschwalbe auf. Eine pulsierende, hell leuchtende Schnur war an das Bein des Vogels gebunden und wand sich um Alice’ Handgelenk. Der Lichtstrang verband sie mit ihrer Nachtschwalbe – mit ihrer Seele –, doch in jener schrecklichen Nacht hatte John Boleyn das Band durchtrennt. Ihre Nachtschwalbe war davongeflogen, und ohne ihren Wärter war ihre Seele entkommen und hätte beinahe die gesamte Rookery vernichtet. Reuben Risdon, der Kommandant der Runner, hatte Jen die Kehle durchgeschnitten, um die Stadt zu retten. Er hatte ihre beste Freundin auf dem Altar des Marble Arch geopfert und Jens Blut benutzt, um Alice’ Seele daran zu hindern, in die Rookery einzudringen – wie das Lammblut an den Türen der Ägypter zum Schutz vor der zehnten Plage.

Zittrig atmete Alice ein und fuhr mit dem Finger die Worte gegen Ende des Artikels nach: der Tod einer unbekannten Außenweltlerin. Jen war gestorben, um die Stadt zu retten, und sie kannten nicht einmal ihren Namen. Alice Wyndham wurde auch mit keinem Wort erwähnt – anscheinend war ihre Anonymität gewahrt worden. Vielleicht hatte Crowley eine Abmachung mit Risdon getroffen, um sie aus der Sache herauszuhalten; oder vielleicht war das Risdons Versuch, wenigstens einen kleinen Teil seiner Schuld an Jens Tod wiedergutzumachen.

Alice schob die Zeitung weg und lehnte sich mit geschlossenen Augen an den Baum. Crowley hatte die Zeitungen geschickt, um ihr zu beweisen, dass sie gefahrlos zurückkehren konnte, und dass niemand außerhalb ihres kleinen Freundeskreises wusste, wer oder was sie war. Doch sie selbst wusste es.

»Hier, bitte«, erklang eine schroffe Stimme.

Alice’ Augen öffneten sich schlagartig. Ihr Dad beugte sich mit einem Teller Treacle Bread und einer Tasse Tee zu ihr herunter. »Wenn du das Brot nicht bald probierst, gerät Patricia noch völlig außer sich. Selbst wenn es dir nicht schmeckt, wirst du ihr sagen, dass es das Beste ist, was du je gegessen hast.«

Lächelnd nahm Alice die Gaben entgegen. »Verstanden. Danke.«

»Die weht bei dem Wind im Nu weg, wenn du nicht aufpasst«, sagte er, bückte sich nach einer Zeitung, die über den Rasen driftete, und reichte sie ihr, bevor er ins Haus zurückging.

Gedankenverloren sah Alice ihm nach und zuckte zusammen, als ihre Nachtschwalbe über ihren Kopf schoss, so aerodynamisch wie eine Pistolenkugel. Sie warf dem Störenfried einen bösen Blick zu. Der kleine Vogel belästigte sie schon seit Wochen. Alice wusste genau, was er wollte: einen Namen. Aber er war kein Haustier, und wenn sie ihm einen Namen gab, würde sie ihm auch eine eigene Identität geben, sodass sie ihn nicht mehr ignorieren konnte.

»Deine prahlerischen Vorführungen grenzen an Selbstherrlichkeit«, teilte sie ihm mit. »Und ehrlich gesagt denke ich, das ist unter deiner Würde – immerhin bist du der Wächter meiner Seele.«

Die Nachtschwalbe warf ihr einen schuldbewussten Blick zu und verschwand.

Mit einem zufriedenen Nicken nahm Alice das Bewerbungsformular zur Hand, das Crowley ihr geschickt hatte. Das Baumsymbol auf dem Briefkopf stand für Haus Mielikki: eine Gemeinschaft von Leuten mit speziellen magischen Fähigkeiten. Ohne nachzudenken, grub Alice ihre Fingerspitzen ins Gras, bis sie auf Erde stießen. Eine prickelnde Wärme durchströmte ihre Handfläche und brachte sie zum Vibrieren, als wäre etwas unter ihrer Haut gefangen – die Magie wie ein Juckreiz, der nur durch Kratzen gelindert werden konnte. Alice atmete langsam aus, und das Gras raschelte, als sie den Druck verstärkte. In Sekundenschnelle sprossen zwischen ihren Fingern ein halbes Dutzend Gänseblümchen hervor, deren winzige Blütenblätter sich im Wind bewegten.

Die Mitglieder von Haus Mielikki hatten Macht über Pflanzen und Tiere. Alice’ Blick fiel erneut auf das Formular. Sie hatte sowieso vorgehabt, sich um eine Mitgliedschaft zu bewerben, auch ohne Crowleys Drängeln. Als sie in die Rookery gekommen war, hatte Crowley sie ermahnt, sich darauf zu konzentrieren, ihre Fähigkeiten als Aviarist zu meistern und sich nicht von ihrem Talent für Naturmagie ablenken zu lassen. Er hatte gesagt, dem könne sie später noch nachgehen, wenn sie es wollte – und in Irland hatte sie genau das getan. War dieses Formular ein weiteres Friedensangebot?

Alice seufzte schwer. Der Wunsch, ihre anderen Talente zu erforschen, war nicht der einzige Grund, warum sie sich bewerben wollte. Haus Mielikki beizutreten würde ihr auch helfen, ihre beängstigende Herkunft zu verleugnen. Die Magie von Haus Mielikki war die Magie des Lebens. Alles, wofür es stand, war das genaue Gegenteil ihres wahren Wesens, das ihre Nachtschwalbe widerspiegelte: Tod.

Mit der Zeit hatte sie eine seltsame, widerwillige Bindung zu ihrem Seelenvogel aufgebaut, doch manchmal konnte sie den Anblick seines bleichen Gefieders immer noch kaum ertragen: eine weiße Nachtschwalbe für die Tochter des Todes. Doch sie wusste, dass sie mehr sein könnte, und das würde sie beweisen.

Plötzlich flog die Hintertür des Cottage auf, und Alice zuckte erschrocken zusammen, ihre Finger verkrampften sich im Gras. Zwei weiße Schemen schossen fröhlich bellend aus der Küche, und Alice entspannte sich. Wachsam zu bleiben zahlte sich aus, aber ständig mit Gefahr zu rechnen, war ermüdend.

Während Bo und Ruby sich auf den Stapel Zeitungen stürzten und sie überall auf der Wiese verteilten, sah Alice zu Boden. Zwischen ihren Fingern begannen die frisch aufgeblühten Gänseblümchen bereits zu welken. Ihre Blüten wurden schwarz und trieben davon, und die mattgelben Köpfe fielen in sich zusammen. Innerhalb weniger Sekunden waren sie alle verrottet.

Entmutigt starrte Alice sie an, und eine heftige Übelkeit stieg in ihr auf. Über ihr tauchte ihre Nachtschwalbe wieder auf, wild mit den Flügeln flatternd, doch Alice wandte den Blick nicht von den toten Gänseblümchen im Gras ab.

Ich kann mehr sein.

1

Jemand folgte ihr, da war sich Alice vollkommen sicher. Den Blick starr zu Boden gerichtet hielt sie aus den Augenwinkeln nach Bewegungen Ausschau. Ihre Nerven lagen blank, und die Anspannung ließ jeden Schatten, der ihren Weg kreuzte, beängstigend groß erscheinen. Der Wind wehte ein weggeworfenes Bonbonpapier über die Pflastersteine, und ihr Herz setzte einen Schlag aus, als es unter ihrem Stiefel knisterte. Müll. Nur Müll. Schweiß lief zwischen ihren Schulterblättern hinunter und klebte ihr Hemd am Rücken fest. Mit zitternden Händen zog Alice es aus ihrem Hosenbund und schüttelte es aus, um sich kühle Luft zuzufächeln. Sie hatte schon seit Wochen Fieber; das machte sie unachtsam und träge, und sie konnte sich keins von beidem leisten. Nicht heute Nacht.

Ein Rascheln hinter ihr ließ sie aufhorchen. Sie warf einen Blick über die Schulter, konnte aber nichts Ungewöhnliches sehen. Nur die kurze, schmale Straße, gesäumt von einer Reihe georgianischer Häuser mit Terrasse. Eine Handvoll altmodischer Autos parkte davor, ihre Lackierung im Licht der Straßenlaternen glänzend.

Dieser Teil der Stadt war ruhiger; hier gab es weniger Pubs und Bars, die zu einem Besuch nach Mitternacht einluden. Das erleichterte es ihr, den weit entfernten Stadtlärm auszublenden und auf Geräusche zu lauschen, die nicht hierhergehörten: ein gedämpftes Keuchen, das Flattern eines Mantels im Wind, schwere Schritte, die in einem anderen Rhythmus über den Asphalt donnerten als ihre. Wenn sie langsamer lief, wurden die anderen Schritte ebenfalls langsamer. Wenn sie stehen blieb – Stille. Angestrengt spähte sie in die Dunkelheit, aber da war niemand. Die Straße war leer.

Ein seltsames Gefühl der Enge schnürte ihr die Brust zu, und ihr Atem klang in ihren Ohren zu laut. Die Dunkelheit zog sich um sie zusammen und erinnerte sie daran, dass sie allein war. Zwischen den Gebäuden und hohen Mauern eingezäunt. Gefangen. Schweißperlen sammelten sich auf ihrer Stirn, doch sie wischte sie mit einem grimmigen Lächeln weg. Nein. Da sprach nur das Fieber aus ihr. Nur vom Fieber angefachte Paranoia – die plagte sie schon seit Monaten. Es hatte bereits in Irland angefangen, und seitdem war es schlimmer geworden, nicht besser. Alice knöpfte ihre Bluse noch weiter auf und gab sich einen Ruck. Sie sollte im Bett sein und sich ausruhen, doch stattdessen hatten die Umstände sie gezwungen, mitten in der Nacht durch die Rookery zu wandern. Sie hoffte inständig, dass es die Mühe wert war. Als sie die Straße überquerte, beschleunigte sie ihre Schritte und konzentrierte sich auf ihre anstehende Aufgabe.

Zur Nekropolis konnte es nicht mehr weit sein. In den privaten Club kam man nur mit Einladung, und sie war gewarnt worden, dass er beim ersten Anzeichen von Ärger abgeriegelt wurde. Ärger in Form der Bow Street Runner. Die Polizei der Rookery versuchte verzweifelt, in den Club zu gelangen und ihn dichtzumachen. Zum Glück würden sie den geheimen Eingang ohne Einladung nie entdecken.

Hinter ihr wurden die Schritte lauter, und Alice’ Adrenalinspiegel schoss in die Höhe. Das waren definitiv keine Wahnvorstellungen, sondern echte Schritte, die von den Mauern widerhallten – und sie kamen um die Ecke direkt auf sie zu. Was, wenn sie ein Runner verfolgte? Ihr Fuß setzte auf dem Bordstein an einer Kreuzung auf, und im selben Moment fällte sie eine Entscheidung. Blitzschnell bog sie in die Gasse ein und drückte sich mit dem Rücken an die Wand. Die rauen Backsteine scheuerten an ihrem Mantel. Die Gasse war verlassen und stockfinster; der ideale Ort, um sich auf die Lauer zu legen.

Fröstelnd zog sie ihre klammen Hände aus den Taschen und ballte sie zu Fäusten, ohne den Eingang der Gasse auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Die Schritte hielten abrupt inne, und Alice versteifte sich. Sie hatte sich das Ganze nicht nur eingebildet. Jemand folgte ihr – und wer immer es war, hatte gesehen, dass sie einen anderen Weg eingeschlagen hatte –, er wusste genau, wo sie war. Worauf wartete er dann noch? Das gedämpfte Keuchen war nur noch leise zu hören, und Alice konnte das Zögern ihres Verfolgers fast schmecken. Wenn er den Gehweg am Ende der Gasse überquerte, würde sie vielleicht sein Gesicht im Licht der Straßenlaterne sehen. Komm schon, drängte sie ihn innerlich. Geh ins Licht. Sie verlagerte das Gewicht, um besser sehen zu können, ihre Haut vor Aufregung kribbelnd.

Flügel. Ein Schimmer knochenweißer Federn am Rand ihres Blickfeldes lenkte ihre Aufmerksamkeit auf einen Stapel Transportpaletten auf dem Bürgersteig. Dort, prekär mit den Klauen ans Holz geklammert, saß ihre Nachtschwalbe und putzte sich seelenruhig das Gefieder. Wer nicht richtig hinsah, hätte sie für eine weiße Taube halten können. Doch Tauben waren groß, mit eleganten Hälsen und Schnäbeln und perfekt proportionierten, runden Köpfen. Dieser Vogel war untersetzt, mit aufgeplusterter Brust, keinem sichtbaren Hals und großen Augen. Sein Schnabel war kurz und dünn, mit Borsten zu beiden Seiten, und seine langen Flügel waren spitz wie die eines Falken.

Die Nachtschwalbe bewegte den Kopf ruckartig in ihre Richtung und blickte von ihrer behelfsmäßigen Sitzstange zu ihr herunter. Sie zwitscherte tief in der Kehle – ein sich wiederholendes Trällern –, und plötzlich wusste Alice, was sie zu tun hatte. Mit einem raschen Blick die Gasse hinauf und hinunter winkte sie ihren Seelenvogel heran, und er flog zu ihr. Sie zuckte zusammen, als er auf ihrer Schulter landete.

»Zeig mir die Gasse von oben«, flüsterte sie ihm zu.

Die Krallen ihrer Nachtschwalbe stachen ihr in den Arm, und im nächsten Moment breitete sie ihre prachtvollen Schwingen aus und erhob sich in die Lüfte. Trotz ihrer schwierigen Beziehung hatte Alice monatelang mit dem Band zwischen ihnen herumexperimentiert. Es war eine Offenbarung, als sie erkannte, dass sie, wenn sie sich konzentrierte, die Welt durch die Augen ihres Seelenvogels sehen konnte. Die Augen waren ein Fenster zur Seele – also warum nicht auch andersherum?

Alice stützte sich an der Wand ab, atmete tief durch und umfasste die Schnur, die ihr Handgelenk mit dem Bein ihrer Nachtschwalbe verband. Eine überwältigende Euphorie durchflutete sie, und sie blinzelte heftig, um die Konzentration zu wahren. Die Schnur pulsierte sanft, und ihre Handfläche prickelte. Licht drang durch die Lücken zwischen ihren Fingern, als sie fester zupackte und direkt in die strahlende Helligkeit sah. Ein weißer Lichtblitz … dann fuhr Alice’ Geist durch den Strang wie ein Stromstoß und katapultierte ihr Bewusstsein in ihre wartende Nachtschwalbe.

Ihre Sicht änderte sich unvermittelt. Sie sah ihren Kopf und ihre Schultern von oben: ein Gefühl, bei dem ihr im ersten Moment immer schlecht wurde. Durch die Augen ihrer Nachtschwalbe zu sehen bedeutete, buchstäblich den Boden unter den Füßen zu verlieren und ihren Körper aus Fleisch und Blut zu verlassen. Sie zwang ihren Geist, sich der Flut von Bildern zu öffnen, die durch die leuchtende Schnur strömten. Währenddessen schwebte sie ein Stück über ihrem Kopf und widerstand dem Drang wegzufliegen. Zwischen zwei Körpern gefangen suchte sie die Gasse von oben ab: die Transportpaletten, die Mülltonnen, die ramponierten Pappschachteln … alle weit unter ihr.

Mit einem kräftigen Flügelschlag katapultierte sich Alice durch die Luft, glitt über die Gasse hinweg und bog am anderen Ende scharf ab. Um die Ecke lehnte ein Mann an einem Eisenzaun – von der unsichtbaren Präsenz ihrer Nachtschwalbe bekam er nichts mit. Eine selbstgedrehte Zigarette hing zwischen seinen Lippen, und er zündete ein Streichholz an, doch der Wind blies es sofort wieder aus. Mit einem frustrierten Knurren warf er das Streichholz auf die Straße, dann versuchte er es erneut. Diesmal schaffte er es, die Zigarette anzuzünden, und lehnte sich mit einem selbstzufriedenen Grinsen zurück. Seine strohblonden Haare leuchteten im Licht der Straßenlaterne.

»Alice?«, flüsterte er. »Versteckst du dich dahinten?«

Alice’ Geist kehrte abrupt in ihren Körper zurück, und sie richtete sich mit einem Ruck auf, völlig desorientiert.

»August?«, fauchte sie und rappelte sich auf. »Warum zum Teufel verfolgst du mich?«

Als er um die Ecke kam, fiel ein langer Schatten in die Gasse, in der sie sich versteckt hatte. Alice atmete tief durch im Bemühen, die Anspannung in ihren Schultern zu lockern. Verdammt noch mal, August … Doch es war schön, ihn zu sehen. Eine Zeit lang hatten sie zusammen in einem Haus gewohnt, das Crowley gehörte: Coram House, das Juwel des Bloomsbury-Pendants der Rookery, ein Zufluchtsort für Waisen und Streuner. August war einer der Wenigen – wie auch ihre anderen früheren Mitbewohner Sasha, Jude und natürlich Crowley –, die die ganze grausame Wahrheit über sie kannten. Sie waren in jener schrecklichen Nacht alle am Marble Arch gewesen, und dennoch hatte keiner von ihnen danach sein Freundschaftsangebot zurückgezogen.

Jetzt musterte sie August von Kopf bis Fuß. In den vielen Monaten, seit sie sich zum letzten Mal gesehen hatten, hatte er etwas von seinem charakteristischen Vogelscheuchen-Look verloren. Sein wilder Haarschopf war gebändigt worden, und auch wenn seine Cordhose und sein ausgebleichter Pullover so schäbig aussahen wie eh und je, waren sie zumindest sauber. Er hatte auch etwas zugenommen – die harten Kanten waren weicher geworden, und jetzt wirkte er groß statt dürr.

»Ich war früh dran«, sagte er, »darum dachte ich, ich hole dich ab. Aber ich war nicht sicher, ob du es bist, und wollte keine Aufmerksamkeit erregen, indem ich nach dir rufe.« Er blickte sich um. »Wir können zusammen hingehen. Kommst du?«

Alice nickte. August hatte die Einladung zur Nekropolis – nicht sie. Er war ein Mitglied des exklusiven Clubs – nicht sie. Sie gehörte nirgendwohin.

Rauchschwaden waberten durch das Clubhaus, wanden sich zwischen den besetzten Tischen und abgedunkelten Sitznischen hindurch und umwogten die zu verschwörerischem Geflüster gebeugten Köpfe. Sandelholz- und Kiefernweihrauch, der von dem brennenden Schilf auf dem Bartresen aufstieg. August zufolge war das eine Sicherheitsmaßnahme: Der warme, moschusartige Rauch war für seine beruhigende Wirkung bekannt – so wie diese Spelunke für Unruhen bekannt war. Viel Weihrauch, wenig Vertrauen.

Alice sah zu, wie die gekräuselten Schwaden näher kamen. Der Rauch war kein Beruhigungsmittel – niemand wäre so leichtsinnig, an einen solchen Ort zu kommen und sich die Sinne betäuben zu lassen –, aber sie musste wachsam bleiben, zumal sie noch gegen die lähmenden Nebenwirkungen ihres Fiebers ankämpfte.

»Mit dir stimmt irgendwas nicht«, meinte August und musterte sie argwöhnisch, »und es ist kein Heuschnupfen oder die Grippe oder was immer du mir sonst für einen Bären aufbinden willst.« Er trommelte mit den Fingerspitzen auf den Tisch und verteilte Asche auf dem polierten Holz. »Verrätst du mir, was los ist?«

Sie trank einen großen Schluck Gin und schüttelte den Kopf. »Nein. Verrätst du mir, was dein geheimer neuer Job ist?«

»Das ist nicht wichtig«, antwortete August achselzuckend.

Alice zog eine Augenbraue hoch. »Deswegen bist du in den letzten Monaten kein einziges Mal mitgekommen, wenn ich mich mit Sasha und Jude getroffen habe. Für mich klingt das ziemlich wichtig.«

Er warf ihr einen verschlagenen Blick zu. »Wenn ich irgendjemandem davon erzähle, bin ich erledigt. Gefeuert. Das haben meine geschätzten Arbeitgeber mehr als deutlich gemacht.«

Alice’ Augen wurden schmal. »Du arbeitest wieder für die Gemeinschaft der Bleichen Feder?«

Er verschluckte sich fast an seinem Drink. »Was, denkst du etwa, ich hätte einen einstelligen IQ?«

Als sie sah, wie empört er war, entspannte sie sich etwas. Die Gemeinschaft der Bleichen Feder war ein Todeskult, angeführt von einer sadistischen Hämomantin namens Marianne Northam. Alice verachtete sie zutiefst, und das Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit.

»Hör auf, das Thema zu wechseln«, sagte August. »Du siehst nicht gut aus. Erzähl mir, was los ist.«

Alice seufzte. »Nein.«

»Warum?«

»Weil du so subtil bist wie ein Stadtschreier.«

Mit einem verschmitzten Grinsen lehnte er sich zurück und fuhr sich durch die Haare. »Autsch.« Dann fügte er hinzu: »Du machst dir Sorgen, dass ich es Crowley sage?«

»Nein.« Alice seufzte erneut und strich geistesabwesend mit dem Finger durch eine kleine Gin-Pfütze auf dem Tisch. »Okay, vielleicht.« Seit ihrer Rückkehr in die Stadt hatte sie ihr Bestes getan, Crowley aus dem Weg zu gehen. Sie war noch nicht bereit, ihn wiederzusehen – vielleicht würde sie das niemals sein –, und er versuchte, ihre Wünsche zu respektieren. »Ich will nicht, dass wir uns nur deshalb …«

»Du willst kein Mitleid«, vermutete August. »Das verstehe ich.«

»Nein. Und niemand darf erfahren, dass wir hier waren. Noch nicht.«

Er grinste. »Heimliche Treffen spätnachts … Drinks in verruchten Kneipen … Die Leute werden reden.«

Sie drückte das Glas an ihre Stirn, um sie zu kühlen, und schloss vor Erleichterung die Augen. »Wenn sie das tun«, murmelte sie, »sag ihnen einfach … sag ihnen, du hast alle Erwartungen übertroffen und dich endlich als nützlich erwiesen.«

Etwas streifte ihre Hand, und Alice öffnete schlagartig die Augen.

»Hier«, sagte August, nahm ihr das Glas ab, umschloss es mit beiden Händen und atmete darauf. Ein lautes Knacken ertönte, und plötzlich war das Glas mit Reif überzogen. Er reichte ihr den Drink zurück. Unter dem Gin war eine dicke Eisschicht zu erkennen.

»Danke.« Sie hielt einen Moment inne. »Ich dachte, deine Magie gibt dir Macht über Wasser, nicht über Gin. Ich bin beeindruckt.«

Er grinste. »Das kann ich nur, weil sie ihn mit Wasser verdünnen. Vertrau nie einer Bar, die von Nekromanten geleitet wird.«

»Du bist ein Nekromant«, entgegnete sie und presste sich das eisige Glas an die Stirn.

»Genau.«

Am anderen Ende des Raums zerbrach ein Glas, und ein kollektives Johlen ging durch das Clubhaus. Eine Frau schob ihren Stuhl zurück und wischte sich seufzend die Splitter von ihrem Rock. Auf dem Tisch vor ihr lag ein poliertes Ouija-Brett. Die Frau nahm ein anderes leeres Glas, drehte es um und ließ es langsam von Buchstabe zu Buchstabe wandern. Dabei bewegten sich ihre Lippen lautlos.

Alice ließ den Blick durch das Clubhaus schweifen, betrachtete die blutroten Ledersofas, die grünen Samtsessel und die Gaslampen und nicht zusammenpassenden Bilderrahmen an den Wänden. Irgendwie wirkte die ungewöhnliche Dekoration – die gigantische Uhr, die verrosteten Metallschilder und der Ticketschalter – in einer solchen Spelunke nicht fehl am Platz. Steinbogen, getäfelte Wände und Säulen teilten den Raum ordentlich in Sektionen auf. Die Nekropolis war früher ein Bahnhof gewesen, deshalb führte der hintere Teil des Gebäudes zu einem bröckelnden Bahnsteig und einer stillgelegten Dampflokomotive auf einem Gleis ins Nirgendwo.

Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, als London so überbevölkert war, dass es nicht mehr genug Platz gab, um die Toten zu beerdigen, hatten die Zuständigen eine makabre Lösung gefunden: Transportsärge und speziell modifizierte Züge, die die Trauernden zu einem Friedhof weit außerhalb der Stadtmauern fuhren. Die London Necropolis Railway war jedoch sehr kurzlebig – im Blitzkrieg wurde sie von einer Bombe getroffen. Doch in der Rookery, Londons magischer Zwillingsstadt, waren die Station an der 121 Westminster Bridge Road und ein verbliebener Zug äußerst passend umfunktioniert worden: Es gab keinen besseren Ort für einen Club exklusiv für Nekromanten. Ihre Magie war in der gesamten Stadt verboten, weil sie als unnatürlich galt, doch hier waren sie unter Freunden.

Drei Tische weiter erhob sich plötzlich aufgeregtes Gemurmel, und Alice wandte sich um, um zu sehen, was dort vor sich ging. Eine Gruppe bärtiger Männer beugte sich abwechselnd über kleine Objekte, die sie auf den Tisch geworfen hatten. Würfel vermutlich.

»Hier ist Glücksspiel erlaubt?«, fragte sie verwundert.

»Nein«, antwortete August mit einem gequälten Lächeln. »Sie werfen Orakelknochen und versuchen, in die Zukunft zu sehen. Schon komisch, dass keiner von ihnen vorhersagen konnte, dass die hübsche Ouija-Lady da drüben ihr Glas zerbrechen würde.«

Selbst in einer Stadt wie der Rookery begegnete man Wahrsagerei mit Skepsis. Alice glaubte selbst nicht daran. Doch vor einem Jahr hatte sie auch noch nicht an Magie geglaubt – und jetzt war sie hier, in einer Bar, die man nur durch eine verzauberte Tür erreichte. Sie öffnete sich lediglich einmal die Woche und auch nur dann, wenn man wusste, wonach man suchen musste.

Seufzend rieb Alice sich die Schläfen, wo sich ein leichter, aber hartnäckiger Schmerz festgesetzt hatte. Sie griff nach ihrem Glas und trank noch einen angenehm kühlen Schluck. Vielleicht würde der Gin das Pochen in ihrem Schädel lindern. Oder wenn nicht, würde er ihr vielleicht wenigstens dabei helfen, das Problem zu vergessen, das sie hierhergeführt hatte. Sie ließ die Schultern kreisen und versuchte, es sich auf ihrem Stuhl bequem zu machen. Der Weihrauch war keine Hilfe – im Gegenteil: Er verdrängte die frische Luft und verbreitete eine Hitze, die ihr Unbehagen noch verstärkte. Dicker Qualm driftete vorbei. Blinzelnd blickte sie auf und sah zu, wie er dünner wurde, je höher er stieg, bis er sich schließlich unter den perlenbesetzten Lampen an der Decke auflöste.

Ganz in der Nähe räusperte sich jemand demonstrativ, und Alice zuckte zusammen, als ihr gegenüber ein Stuhl geräuschvoll zurückgeschoben wurde. Eine Frau ließ sich darauf nieder, warf einen ramponierten Fedora auf den Tisch und musterte Alice prüfend. Eris Mawkin war die einzige rechtmäßige Nekromantin der Rookery – die Einzige, der es gestattet war, von ihrer dunklen Magie Gebrauch zu machen, weil sie sie im Namen ihres Arbeitgebers einsetzte: der Bow Street Runner. Sie beugten gerne hin und wieder das Gesetz, wenn es ihnen passte. Die Scheinheiligkeit der Runner war nur einer der zahlreichen Gründe, warum Alice sie hasste.

»Du bist überhaupt nicht, wie ich mir dich vorgestellt habe.« Mawkin stellte ihr Whiskyglas neben ihrem Hut ab, schüttelte ihre kinnlangen braunen Haare aus und lehnte sich zurück, die Beine ausgestreckt und ihre staubigen Stiefel überschlagen.

»Du bist … genau, wie ich mir dich vorgestellt habe«, murmelte Alice.

Mawkins Augen glitzerten amüsiert. Sie wandte sich August zu und schnaubte, als sie den absurden Erdbeer-Wodka in seiner Hand sah – er war mit Schirmchen, Lametta und einer kandierten Kirsche an einem Cocktailspieß verziert.

»Frag mich nie wieder, warum ich nicht deine Mentorin werde«, sagte sie, als er die Kirsche vom Spieß zog und sie frech angrinste.

»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte er, warf sich die Kirsche in den Mund und steckte das Schirmchen gut sichtbar in seine Haare. »Mit meinem guten Aussehen und meinem sonnigen Gemüt strahle ich nicht den düsteren Glamour eines Nekromanten aus.«

»Nekromantie ist ein ernstes Geschäft, das von ernsthaften Leuten betrieben wird«, meinte Mawkin, »und das ist kein ernster Drink.« Sie griff nach ihrem Whisky und schwenkte das Glas zwischen den Fingern. »Aber das blaue Schirmchen bringt deine Augen zur Geltung.«

Sie wandte sich an Alice. »Also, raus damit«, kam sie direkt zur Sache. »Du wolltest Informationen von mir, aber du hast schon einen Nekromantenfreund. Was weiß ich deiner Ansicht nach, das er dir nicht sagen kann?«

Alice schwieg einen Moment und ließ sich ihre Antwort durch den Kopf gehen. »Augusts Wissen über Nekromantie ist … begrenzt. Er weiß, was er persönlich erlebt hat, aber abgesehen davon …« Sie verstummte.

Mawkin zog hämisch eine Augenbraue hoch und wandte sich August zu, um zu sehen, wie er reagierte.

Doch August zuckte nur die Achseln. »Zu meiner Verteidigung, ich bin ein Mann der Tat. Praktisch veranlagt. Handwerklich begabt.« Er zwinkerte ihr zu, und Mawkin schnaubte abfällig. »Bücher und Theorie liegen mir nicht so. Ich flüstere bestimmten Leuten bestimmte Dinge zu und lausche an den richtigen Türen«, setzte er hinzu.

Damit hatte er vollkommen recht. Er gelangte an Informationen, indem er unlautere Mittel einsetzte; Informationen aus zweiter Hand waren ihm lieber als der Aufwand, den es erforderte, sie aus erster Hand zu erhalten durch Recherche, Bücher und viel Lesen. Genau aus diesem Grund hatte sich Mawkin, die zwanzig Jahre älter war als er und der Inbegriff kampferprobter Weisheit, standhaft geweigert, seine Mentorin zu werden. Und dennoch konnte August Dinge tun, zu denen Mawkin nicht fähig war. Alice’ Fragen hatte er allerdings nicht beantworten können. Vielleicht würde sie bei Mawkin auch kein Glück haben, aber sie musste es wenigstens versuchen.

Alice beugte sich vor. Ihre Hände zitterten vor Nervosität. Dies war der Moment, auf den sie so lange gewartet hatte. Gleich würde sich entscheiden, ob sie sich von ihrer Bürde befreien und alles wieder in Ordnung bringen konnte. »Ich will wissen, wie ich es loswerden kann.«

Mawkin blinzelte sie verdutzt an. »Ich verstehe nicht ganz«, sagte sie schließlich. »Was loswerden?«

»Ich will wissen, wie ein Nekromant sein Vermächtnis loswird«, erklärte Alice und hörte selbst, wie verzweifelt sie klang. »Es … es deaktiviert. Alle Fähigkeiten, die mit dem Tod zu tun haben, beseitigt.«

August warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. Deshalb hatte er sie hergebracht: Er wusste, dass sie das Vermächtnis ihres Vaters loswerden wollte. Er hatte miterlebt, wie sehr sie Jens Tod getroffen hatte.

»Du willst wissen, ob sich ein Nekromant von seinen Gaben trennen kann?«, hakte Mawkin nach.

»Ja«, antwortete Alice erleichtert, »ganz genau.«

Mawkin sah von Alice zu August und wieder zurück. »Und das ist was? Eine Theorie? Du bist keine Nekromantin, Wyndham, also warum interessiert dich das?«

Einen langen Moment herrschte Schweigen. So wenige Leute kannten die Wahrheit, und dieser kurzen Liste konnte sie Mawkin nicht hinzufügen. Als Tochter von Gevatter Tod höchstpersönlich war Alice nicht direkt eine Nekromantin, aber nah dran. Plötzlich hatte sie einen dicken Kloß im Hals.

»Ich glaube, sie ist ein Spätzünder«, sagte August. »Du kannst spüren, dass sie etwas an sich hat, oder? Etwas leicht Morbides.«

Alice zuckte bei der Beschreibung zusammen, doch Mawkin antwortete nicht.

»Sie ist eine Nekromantin mit einer unterdrückten Gabe«, log August geschmeidig. »Deshalb habe ich sie zu dir gebracht.«

»Und – nur damit ich das richtig verstehe – du willst nicht, dass ich ihre Mentorin werde, um ihr Talent zu fördern? Ich soll ihr sagen, wie sie es loswird?«, fragte Mawkin und wandte sich wieder an Alice. »Das soll ich euch abkaufen?«

Alice hielt ihrem herausfordernden Blick stand.

»Wenn du wirklich eine Nekromantin bist«, fuhr Mawkin nach einem Moment fort, »und deine Gabe bisher unterdrückt hast, entweder mit Absicht oder durch Zufall, warum willst du sie dann nicht … erkunden? Ohne dass die Runner etwas davon mitkriegen?«

Alice schüttelte ungeduldig den Kopf. Mawkin verschwendete Zeit mit der Lüge, die sie ihr aufgetischt hatten.

»Ich will sie nicht«, murmelte sie, und ihr Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an. »Ich will kein Todesvermächtnis. Ich kann spüren, wie es unter meiner Haut herumkrabbelt, und ich will es nur endlich los sein.«

Sie sah Mawkin flehend an. Irgendwie musste sie die Nekromantin dazu bringen, ihr zu glauben. Sie musste das tödliche Vermächtnis ihres Vaters im Keim ersticken und sich von seinem Einfluss befreien.

»Ein Nekromant zu sein ist nichts Verwerfliches«, sagte Mawkin, und Alice hielt den Atem an. Hieß das, dass Mawkin ihr glaubte? Sie wagte es nicht, August anzusehen.

Mawkin machte eine ausladende Geste, die das gesamte Clubhaus einschloss. »Sieh hin. Diese Leute sind zufrieden. Sie wissen, wer sie sind, sie haben akzeptiert, wozu sie fähig sind. Für Nekromantie braucht man sich nicht zu schämen.«

»Aber sonst akzeptiert sie niemand«, erwiderte Alice mit Nachdruck. »Sie verstecken sich hier und hoffen, dass die Runner nicht eines Tages hereinstürmen und sie ins Newgate Prison werfen. Der Rat akzeptiert Nekromantie nicht; er hat sie für illegal erklärt. Und ich muss dieses Los auch nicht akzeptieren. Ich will es nicht.«

»Nekromantie ist illegal«, stimmte Mawkin zu und trank einen Schluck Whisky. »Aber Nekromanten sind es nicht.«

Alice atmete tief durch, versuchte, sich gelassen zu geben, und griff nach ihrem Drink. Ihre Hände zitterten, und sie war sich nicht sicher, ob das am Fieber lag oder an ihrer Nervosität. »Das ist doch Wortklauberei.«

»Nein«, widersprach Mawkin. »Das ist der Unterschied zwischen Freiheit und Verfolgung. Wir suchen uns die Gaben nicht aus, mit denen wir geboren werden. Nur wenn man sie einsetzt, macht man sich strafbar.«

»Du nicht«, erwiderte Alice. Schließlich hatte Mawkin die Erlaubnis, ihre Todesmagie zu wirken, wenn sie für die Runner arbeitete. Es war ein Wunder, dass sie in der Nekropolis überhaupt willkommen war; sie arbeitete für die Leute, die die übrige Kundschaft schikanierten. Doch Mawkin war gut in diesem Spiel und benutzte die Runner, um den anderen Nekromanten zu helfen, wenn sie konnte.

»Verstehe«, sagte Mawkin und warf Alice einen listigen Blick zu. »Du bist kein Nekromant, Wyndham.« Alice setzte schon zum Protest an, aber Mawkin fuhr fort: »Nein, bist du nicht. Du riechst nicht wie eine von uns. Aber du hast etwas an dir …« Ihre Augen wurden schmal.

»Dann kannst du ihr nicht helfen?«, unterbrach August ihren Gedankengang.

Alice lächelte ihm dankbar zu. Sie wollte nicht, dass Mawkin sie zu genau unter die Lupe nahm – eine erfahrene Nekromantin konnte womöglich die unglaubliche Wahrheit spüren, die sie verbarg.

Mawkin tunkte einen Finger in ihren Drink und malte einen Whiskykreis auf den Tisch.

»Nein«, antwortete sie. »Tut mir leid, euch zu enttäuschen.«

Alice versteifte sich. August hatte gedacht, es bestehe eine Chance, und sie hatte sich an die Hoffnung geklammert, aber wenn Mawkin die Wahrheit sagte … Auf der verzweifelten Suche nach Klarheit sah sie auf Mawkins Handgelenke hinunter und beschwor ihre Aviaristen-Sicht, sie jetzt nicht im Stich zu lassen … Dort. Die Lichtschnur, die die Nekromantin mit ihrer Nachtschwalbe verband, leuchtete plötzlich vor Alice’ Augen auf. Ihr Blick schweifte von dem pulsierenden Band um Mawkins Handgelenk, das niemand außer Alice sehen konnte, zu der kleinen Nachtschwalbe, die sich an ihren Hals schmiegte.

Die mahagonibraunen Federn von Mawkins Seelenvogel waren teils schlicht, teils auffallend gemustert, aber sie schienen an den Rändern ausgefranst. Sein Schnabel war spitz, und seine glänzend schwarzen Augen blickten sie starr an. Er beobachtete Alice argwöhnisch wie ein General, der den Feind aus der Ferne im Auge behielt. Alice inspizierte ihn ihrerseits, und ihre Verzweiflung wuchs. Mawkin sagte die Wahrheit.

»Nekromanten können sich entscheiden, ihr Vermächtnis nicht einzusetzen«, sagte Mawkin, die nichts von Alice’ Bestürzung mitbekam, »aber egal, was die Runner behaupten, wir können es nicht amputieren.«

Alice wandte den Blick ab und atmete tief durch – Frustration wallte in ihr auf. Als Tochter des Todesfürsten verfügte sie nicht einfach über Todesmagie; sie war eine Personifikation des Todes. Ihr Vermächtnis nicht einzusetzen reichte nicht. Es war ein Teil von ihr, den sie loswerden musste. Es musste einen Weg geben.

»Ich dachte, Crowley hätte dich auf dem Dachboden eingesperrt«, sagte Mawkin zu August.

»Ich habe heute Freigang wegen guter Führung«, erwiderte er mit einem trägen Grinsen.

Bei der Erwähnung von Crowleys Namen spannte sich Alice an. Natürlich hatte sie nicht vergessen, dass Mawkin eine seiner wenigen Freundinnen war – oder vielleicht war Freundin das falsche Wort. Vertraute. Verbündete. Ihre Wege kreuzten sich hin und wieder in der Bow Street Station. Crowley war ein Verbrecherjäger, der ein ausgesprochenes Talent dafür hatte, gestohlene Waren zu finden. Die Runner heuerten ihn an, wenn sie nicht weiterwussten.

»In letzter Zeit habe ich ihn kaum gesehen«, sagte Mawkin. »Ist bei ihm alles in Ordnung?«

»Alles beim Alten«, erwiderte August mit einem Achselzucken.

Mawkin nickte nachdenklich und wandte sich zu Alice um. Nachdem sie sie einen weiteren Moment betrachtet hatte, trat ein finsterer Ausdruck in ihre Augen. »Mach dich nützlich, Rhone«, blaffte sie August an. »Hol uns noch eine Runde Drinks.«

»Du hast deinen Whisky noch gar nicht …«, protestierte er.

»Die Erwachsenen wollen sich unterhalten«, entgegnete Mawkin, kippte den Whisky in einem Zug hinunter und drückte ihm das leere Glas in die Hand. »Gib uns zwei Minuten.«

August zögerte, aber als Alice zustimmend nickte, ging er.

»Ich wusste doch, dass du merkwürdig riechst«, sagte Mawkin. »Weiß er es?« Sie deutete auf August, der mit dem Wirt redete. »Weiß es irgendwer? Crowley?«

Alice schüttelte den Kopf. »Nein. Und ich will auch nicht, dass sich das rumspricht … bitte.«

Mawkin seufzte und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Scheiße.«

Einen Moment herrschte angespanntes Schweigen, dann wagte Alice noch einen Versuch. »Und du bist sicher, dass es keine Möglichkeit gibt, dieses Vermächtnis herauszu…«

»Dem Tod kann man nicht entrinnen«, sagte Mawkin.

Alice schluckte schwer. »Aber vielleicht, wenn …«

»Dem Tod kann man nicht entrinnen«, wiederholte sie nur. »Es tut mir leid, aber ich kann dir nicht helfen. Du brauchst keinen Nekromanten, sondern einen Arzt.« Sie hielt inne, und ihr Gesicht nahm einen sanfteren Ausdruck an. »Hast du Angst? Dafür gibt es keinen Grund. Ich habe eine bessere Vorstellung davon, was auf dich zukommt, als die meisten anderen. Wenn du darüber reden willst …«

»Nein«, unterbrach Alice sie hastig.

Mawkin zog die Stirn kraus. »Manchen Leuten hilft es, ihre Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, sodass …«

Alice sprang auf. »Dafür habe ich keine Zeit«, stieß sie bitter hervor.

Mawkin nickte langsam, bedächtig. »Dann tut es mir leid. Hör mal, wenn dir mein Rat irgendetwas wert ist …« Sie seufzte. »Sag ihnen die Wahrheit. Lass sie sich um dich kümmern.«

Alice presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Sie wollte nichts mehr hören. Plattitüden und Mitleid nutzten ihr nichts. Mawkin konnte ihr nicht helfen. Jetzt hatte sie nur noch eine Option.

»Danke«, sagte Alice und nahm ihren Mantel, »dass du dir die Zeit genommen hast.«

Ihr Kopf dröhnte. Sie nickte Mawkin zu und marschierte davon, vorbei an August, der ihr verblüfft nachsah.

Dem Tod kann man nicht entrinnen.

Was in Irland begonnen hatte, befiel sie nun immer stärker und häufiger. Das Zittern ihrer Hände. Unablässige Atemnot. Ihr Gleichgewichtssinn ließ sie im Stich, Räume drehten sich wie Tänzer in einem Ballsaal, sodass sie sich auf einen Stuhl sinken lassen und den Kopf in den Händen vergraben musste, bis die Welt wieder stillstand. Sporadische Schwindelanfälle, die anfangs alle paar Wochen auftraten, aber immer häufiger wurden und sich zu Fieber, Kopfschmerzen und der schrecklichen Gewissheit auswuchsen, dass ein Teil ihrer Genetik fehlerhaft war.

Ihr Leben war zu turbulent, hatte Doctor Burke bei ihrem zweiten und dritten Termin gesagt. Sie sollte noch mehr Eisentabletten nehmen und es langsam angehen. Aber das tat sie ja – dennoch schlug selbst ihr Herz unregelmäßig, wie ein Drummer, der nicht mit dem Leadsänger mithalten konnte. Am schlimmsten waren die Tage, an denen alles zu anstrengend war. Wenn die Müdigkeit so tief saß, dass sie einfach aufgeben und sich davon überwältigen lassen wollte. Obwohl sie ihren Eltern nicht gesagt hatte, wie schlecht es ihr ging, hatten sie sich irgendwann solche Sorgen gemacht, dass sie sie gedrängt hatten, in die Rookery zurückzukehren, um ein Heilmittel zu finden. Aber stattdessen hatte sie eine eindeutige Diagnose bekommen.

Dieses Ding in ihr – das Vermächtnis ihres leiblichen Vaters, ihre DNA, oder was immer es war – überwältigte sie. Richtete sie zugrunde. Er hatte ihr so viel Tod aufgeladen, dass es sie umbrachte. Und Mawkin hatte ihre vorletzte Hoffnung zerschlagen. Sie konnte dieses tödliche Vermächtnis nicht loswerden; sie wurde von seinem Gewicht erdrückt. Sie starb.

Dem Tod kann man nicht entrinnen?

Mit einem tiefen Seufzen trat Alice in die Nacht hinaus.

Das wollen wir doch mal sehen.

2

Die Stadt verschwamm vor Alice’ Augen, so schnell rannte sie. Um es den Runnern unmöglich zu machen, ihren Standort herauszufinden, blieb der Eingang der Nekropolis nie lange am selben Ort. In der Rookery führte eine Tür nicht in einen anderen Raum, sondern in Tausende verschiedene Räume, je nachdem, wohin man wollte. Manche der öffentlich betriebenen Türen führten je nach Tageszeit oder Wochentag an unterschiedliche Orte – und Reisen war manchmal, als warte man auf den richtigen Bus.

So fand sich Alice in einer anderen Nachbarschaft wieder als der, in der sie das Clubhaus betreten hatte. Hier gab es weniger Wohnhäuser und mehr mit Rollläden verschlossene Geschäfte. An der Ecke lag einer der bekanntesten Pubs der Rookery, und Alice machte an der Kreuzung halt. Das raue Gelächter, das aus Rook’s Nest drang, stand in scharfem Kontrast zur Heimlichkeit der Nekropolis. Hier hatte niemand Angst, von den Runnern erwischt zu werden.

Eine Frau, die mit einem Glas Wein vor der Tür stand und rauchte, sah ärgerlich zu einer Laterne an der Hauswand des Pubs, die unnütz flackerte. Mit einem genervten Augenrollen kippte sie den Wein hinunter und legte ihre Hand über das leere Glas. Die Luft darüber flimmerte vor Hitze, und im nächsten Moment züngelten Flammen über ihre Hände. Sie stellte das Glas voll Feuer auf das Fensterbrett, wo es die weiße Wand des Pubs in einen sanften Schein tauchte. Als die Frau merkte, wie Alice sie anstarrte, nickte sie mit trunkener Zufriedenheit, sichtlich stolz auf ihre selbst gemachte Laterne.

Alice senkte den Kopf, eilte über die Straße und bog in eine schmale Seitenstraße ein, wo sich noch mehr vornehme Geschäfte drängten. Sie kam an den dunklen Schaufenstern von E. M. Saphier: Shoemaker, dem Belladonna Bookshop sowie Dashwood’s Fireplaces vorbei, das mit einem auffälligen Schild warb: »Kohle zu unschön? Feuerholz zu qualmig? Elektrizität zu teuer? Heizen Sie Ihr Zuhause mit unseren Kaminen ohne Brennstoff! Feinste Haus-Ilmarinen-Handwerkskunst – schon ab fünfzig Sovereigns!« Das Letzte in der Reihe war Barretts’s Musical Instruments, ein Musikladen, der potenzielle Kunden mit einer vor der Tür angeketteten Reklametafel lockte: