Soulbird - Die Magie der Seele - Deborah Hewitt - E-Book
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Soulbird - Die Magie der Seele E-Book

Deborah Hewitt

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Beschreibung

Seit ihrer Kindheit wird Alice Wyndham von Albträumen geplagt, deren Bedeutung sie nie entschlüsseln konnte. Bis plötzlich der geheimnisvolle, attraktive Crowley vor ihrer Tür steht und ihr Unglaubliches eröffnet: Alice hat eine uralte, seltene Gabe. Sie sieht Nachtschwalben, wundersame Vögel, die die Seele eines Menschen hüten. Und ein mächtiger Feind ist ihr auf den Fersen, um ihre Kräfte für sich zu nutzen. In letzter Sekunde kann Alice mit Crowleys Hilfe fliehen. Sie folgt ihm in ein verborgenes paralleles London voller Zauber und Gefahren, um mehr über ihre Fähigkeiten zu lernen. Doch ihre Magie ist mit einem dunklen Erbe verbunden …

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Buch

Die junge Alice Wyndham führt ein ruhiges und zurückgezogenes Leben in London. Einzig ihrer Freundin Jen, die wie eine Schwester für sie ist, kann sie sich anvertrauen. Denn Alice leidet seit ihrer Kindheit unter schlimmen Albträumen, deren Bedeutung sie nie entschlüsseln konnte und die sie möglichst zu verdrängen sucht. Doch als Alice an einem verregneten Herbsttag einer merkwürdigen alten Frau begegnet, die im nächsten Moment in ihren Armen stirbt, sind die Albträume wieder da. Kurz darauf wird Jen vor ihren Augen von einem Auto erfasst und fällt ins Koma. Alice ist am Boden zerstört. Bis plötzlich der geheimnisvolle Crowley vor ihrer Tür steht und ihr Unglaubliches eröffnet: Sie kann Jen retten. Denn Alice hat eine uralte Gabe. Sie sieht Nachtschwalben, wundersame Vögel, die die Seele eines Menschen hüten. Doch auch ein mächtiger Feind ist ihr auf den Fersen, um ihre Kräfte für sich zu nutzen. In letzter Sekunde kann Alice mit Crowleys Hilfe fliehen und folgt ihm in ein verborgenes London voller Magie und Gefahren …

Weitere Informationen zu Deborah Hewittsowie zu lieferbaren Titeln der Autorinfinden Sie am Ende des Buches.

Deborah Hewitt

SoulbirdDie Magie der Seele

Band 1

Roman

Aus dem Englischenvon Anna Julia Strüh

Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Nightjar« bei Pan Books, an imprint of Pan Macmillan, a division of Macmillan Publishers International Limited, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung Januar 2022

Copyright © Deborah Hewitt 2019

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: FinePic®, München

Redaktion: Waltraud Horbas

KS · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-25360-8V001

www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für Seb und Archie – bis in alle Ewigkeit und darüber hinaus

Prolog

Die Pfirsiche im Obstgarten waren zu früh gereift. Das Gras war mit ihren aufgeblähten Kadavern übersät – ein fauliges Festmahl für Ameisen und Fruchtfliegen. Er konnte den klebrigen Saft riechen, der sich mit dem Übelkeit erregend süßen Duft der Wildblumen im Garten mischte. Es war zu heiß für September, und Helenas geliebte Hortensien verwelkten. Sie säumten die Terrasse wie eine Ehrengarde, die Köpfe respektvoll geneigt, und verloren nach und nach ihre gelbbraunen Blätter.

Das Glas Whisky in seiner Hand verharrte auf halbem Weg zum Mund, als er ein Auto die Kiesauffahrt heraufkommen hörte, und er versteifte sich. Das Licht der Abendsonne brach sich in der bernsteinfarbenen Flüssigkeit und tanzte wie Feuer über seine Hand. Er stellte das Glas ab, ohne etwas zu trinken, und schloss die Augen. Die Luft war erfüllt vom Flattern der Mottenflügel und trällerndem Vogelgesang. Ein tröstliches Geräusch. Ruhig. Friedlich. Eine Lüge.

»S-Sir? John?«

Schlagartig öffnete er die Augen wieder. Der Junge – Vincent, der Sohn des Gärtners – zitterte. Sein schmales, braungebranntes Gesicht war mit Staub und Tränen verschmiert. Er umklammerte die Terrassentür, als mache er sich bereit, zurück ins Haus zu fliehen, wo er sich in Sicherheit wähnte. Noch eine Lüge. Nirgendwo ist es sicher.

»Sir, die Polizei …«

John starrte ihn ausdruckslos an, dann nickte er. Der Junge eilte wieder hinein – das zerbrochene Glas der Terrassentür knirschte unter seinen Turnschuhen.

John blickte an sich hinab, betrachtete seine polierten Schuhe, den Smoking und das blütenweiße Hemd. Seine Fliege hatte sich gelöst, und die linke Manschette war aufgegangen. Die Polizei. Er sollte sie begrüßen. Langsam strich er sein zerknittertes Hemd glatt, richtete das Jackett und wischte das Blut an seinen Händen am Revers ab.

Die Musik lief noch, als er zum Haus ging. Ein verzerrter, blecherner Klang drang aus dem antiken Grammofon und hallte durch die Gänge von Cranleigh Grange. Helena hatte ihm das Grammofon zu ihrem Hochzeitstag geschenkt.

Das Atmen fiel ihm immer schwerer.

Die Musik lief noch, aber niemand konnte sie hören. Alle Gäste waren tot.

Er drückte die Hand an die Brust. Sie fühlte sich zu eng an, jetzt bekam er überhaupt keine Luft mehr. Wie in Trance taumelte er über die Terrasse und klammerte sich Halt suchend ans Geländer. Sein Magen krampfte sich zusammen, und er übergab sich, besudelte die Hortensien, aber nichts konnte die grauenhaften Erinnerungen an das Dinner aus seinem Kopf verbannen.

Die zerbrochenen Scherben des Spiegels glitzerten auf dem feinen Teppich. Blut bedeckte die umgeworfenen Tische, auf dem Holz waren die Fingerabdrücke seiner Mutter zu erkennen, die sich in verzweifelter Todesangst daran festgeklammert hatte. Sein Vater saß zusammengesunken in seinem Lehnsessel, die Wirbelsäule nach hinten verkrümmt, seine Schwägerin lag neben der stämmigen Gestalt seines Bruders auf dem Boden … und Helena, seine geliebte Helena, vor dem Erkerfenster niedergestreckt – Blut breitete sich unter ihrem leblosen Körper aus wie eine blühende Rose.Wäre er nur eine Stunde früher zu Hause gewesen, hätte er sie vielleicht retten können …

Er taumelte die Stufen zum Garten hinunter. Nein, er hatte nicht vor, die Polizei zu begrüßen. Er würde ihnen nicht zurück in diesen Raum folgen, ihnen nicht die bleiche Taubenfeder in seiner Tasche zeigen, die an den Rändern rötlich verfärbt war; das Markenzeichen der Monster, die seine Familie abgeschlachtet hatten.

Vincents eilige, polternde Schritte ertönten auf der Terrasse hinter ihm.

»Sir!«

Die Polizisten hämmerten immer nachdrücklicher an die Eingangstür. Bald würden sie das Tor entdecken, das zur Hinterseite des Hauses führte.

»Sir, das Baby lebt!«

Er wirbelte herum, und Vincent hielt ihm das Kind hin. Feiner, dunkler Flaum, braune Augen … HelenasAugen. Er wich zurück – vor dem Kind, dem Jungen und dem unaussprechlichen Grauen in Cranleigh Grange.

Doch das Baby hatte etwas in der Hand … eine Hortensie. Eine von Helenas geliebten Hortensien. Das Kind hielt die verwelkte Blume fest in der winzigen Faust. Der blasse Stiel hatte braune Flecken, die Blütenblätter waren verkümmert und hingen schlaff herunter.

»Was … Was geschieht hier?«, fragte Vincent verblüfft.

Das Baby ruderte mit dem Arm, und die Blume begann sich aufzurichten. Der Stiel wurde stämmiger, saftige Grüntöne durchströmten die Zellen der Pflanze und schenkten ihr neues Leben. Die verwelkten Blütenblätter glätteten sich und nahmen eine frische, strahlend violette Färbung an. Dann erzitterte der Blütenkopf, und das Violett verblasste zu einem zarten Lila … dann zu einem cremigen Beige. Fassungslos sah er zu, wie das Baby die Blume schwenkte und die Blütenblätter sich wie auf Befehl öffneten und schlossen, öffneten und schlossen.

Das Baby gluckste, und sein Herz zog sich erneut schmerzhaft zusammen. Helenas Augen … Helenas Hortensien. Das alles hatte sich in die falsche Richtung entwickelt. In eine schrecklich falsche Richtung.

John schüttelte den Kopf. »Das Kind … hätte mit seiner Mutter sterben sollen«, stieß er hervor.

»Aber, Sir …«

Sein Arm bewegte sich wie von selbst, und er schleuderte das Whiskyglas durch den Garten wie ein Wurfgeschoss. Mit einem lauten Splittern traf es den zitternden Jungen ins Gesicht, schnitt ihm in die Wange und die Augenbraue.

Der Junge starrte John schockiert an und presste sich die Hand auf die Wange. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor und tropfte auf das Leibchen des Babys. Die Blume in der zitternden kleinen Faust des Kindes zerfiel zu Staub.

John wandte sich ab, die Augen glasig, seine Beine bleischwer.

Hinter ihm begann das Baby zu schreien.

1

Der ganze Ärger begann an einem bitterkalten Novembermorgen, als Alice Wyndham ihre Wohnung verließ und einen Karton vor der Haustür vorfand. Er war völlig unscheinbar: eine schlichte braune Pappschachtel, etwa einen halben Meter breit. Das einzig Ungewöhnliche war, dass sie über und über mit durchsichtigem Klebeband umwickelt war.

Für Alice Wyndham, stand auf dem Etikett. Nicht öffnen.

Sie starrte die Schachtel irritiert an. Wer um alles in der Welt verschickte ein Paket mit der Anweisung, es nicht zu öffnen? Ein Blick auf die Uhr ließ sie vor Schreck zusammenfahren. Verdammt. Ihr Bus kam in zehn Minuten. Sie durfte heute nicht zu spät kommen. Der mysteriöse Karton würde noch eine Weile warten müssen.

Sie verstaute das Paket schnell im Hausflur und eilte die Straße hinunter. Da sie den Kopf zum Schutz vor dem schneidenden Wind eingezogen hatte, konnte sie den Fahrer des schwarzen Autos nicht sehen, der sie beobachtete. Robert Lattimer war ein schlanker Mann mit blasser Haut, die an fades Porridge erinnerte, und der antrainierten Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen. Er blickte kurz von seinem Notizblock auf und vermerkte Alice Wyndham, Paketnummer 326 auf einer leeren Seite. Sein Stift verharrte einen Moment über dem Block, dann fügte er hinzu: Aviarist?

Etwa eine Stunde später verfasste Alice in Gedanken ihren eigenen Nachruf. So oft sie sich diesen fürchterlichen Morgen auch schon ausgemalt hatte – dass sie durch einen wahnsinnig gewordenen Busfahrer den Tod finden würde, war ihr nicht in den Sinn gekommen. Doch selbst das war womöglich noch besser als das, was sie im Büro erwartete. Bald würde eine ganze Meute von leitenden Angestellten dort eintreffen, um sich ihre Präsentation anzuhören – ihre erste, seit sie vor über einem Jahr bei der Firma angefangen hatte. Ihre beste Freundin Jen hatte versprochen, ihr eine Flasche Prosecco auszugeben, wenn sie es hinter sich gebracht hatte. Im Stillen dachte Alice, dass ihre Chancen besser stünden, wenn sie den Prosecco vor der Präsentation trank.

Sie versuchte, sich an ihre Einleitung zu erinnern. Eine Umfrage unter den Kunden, die sich über unsere Filialen in Einkaufszentren beschwert haben, hat ergeben, dass sie … dass sie … Mist. Was hatte die Umfrage ergeben? Die Handouts waren in ihrem Büro. Warum hatte sie sie dort liegen lassen?

Ohne Vorwarnung machte der Busfahrer eine Vollbremsung, und Alice wurde so heftig nach vorne geschleudert, dass ihre Knie gegen den Sitz vor ihr stießen. Aus dem Augenwinkel nahm sie verschwommene Bewegungen draußen vor dem Fenster wahr, und die Tür flog auf. Eisiger Regen fegte herein und durchnässte die vorderen Sitze.

Sie schloss die Augen, während eine hutzelige alte Dame in den Bus einstieg. Konzentrier dich. Die Umfrage hat ergeben …

Etwas streifte ihre Schulter. Als sie die Augen wieder öffnete, stand die alte Frau direkt vor ihr und hüllte sie in eine Wolke Yardley’s English Lavender.

»Hallo«, krächzte sie und starrte Alice mit trüben Augen an. Sie sah zu alt aus für diese Welt, wie etwas schon lange Totes, das ausgegraben und danach ausgestopft worden war.

»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mich neben Sie setze?«, fragte sie.

Alice lächelte höflich. Es gab noch genügend andere freie Sitze, aber Alice zog einsame Rentner magisch an. Das lag an ihrem Gesicht – und der gesunden, rosigen Gesichtsfarbe, die von Keuschheit und Tugendhaftigkeit zu zeugen schien. Aber wenn sie keusch war, dann bestimmt nicht aus freien Stücken. Alte Damen liebten ihr Gesicht. Männer leider weniger.

»Natürlich«, sagte sie. »Ich tu meine Tasche woandershin.«

Als der Bus endlich weiterfuhr, bretterte er direkt durch eine Schar Elstern, die vor Schreck auseinanderstoben und sich in den trüben Himmel über Larkhall Park schwangen.

Die alte Frau blickte ihnen nach. »Hübsche kleine Dinger, nicht wahr?«, sagte sie und machte eine unbestimmte Geste mit der Hand – ihre knochigen Finger flatterten wie die Flügel eines Vogels.

Alice’ Herz wurde schwer, als sie zusah, wie eine einzelne Elster zurück über das Dach eines Zeitschriftenladens flog. Großartiges Omen … Unwillkürlich fiel ihr der alte Kinderreim über Elstern ein: One for sorrow – eine fürs Leid.

»Ich weiß, was du bist.«

Alice runzelte irritiert die Stirn.

»Ich weiß, was du bist«, wiederholte die Frau.

Einen Moment herrschte verblüfftes Schweigen. Das war ein bisschen arg existenzialistisch für einen Freitagmorgen. »Ich bin Angestellte bei einem Schuhhersteller, in der Abteilung für Kundenbeschwerden«, sagte Alice mit einem verwirrten Lächeln.

»Nein«, sagte die Frau. »Das ist es, was du tust. Nicht, was du bist. Ich weiß von den Vögeln.«

Alice versteifte sich. Vögel? Das war weit entfernt von einer steifen, aber höflichen Konversation über den Verkehr und schlechtes Wetter. Kaum jemand wusste von ihrer Angst vor Vögeln, und das war außerdem das Letzte, woran sie heute Morgen denken wollte.

»Was meinen Sie damit?«, fragte Alice zaghaft. »Sie können erkennen … dass ich keine Vögel mag? Ist es das?«

Die Frau nickte, taxierte Alice aber mit strengem Blick, als fühle sie sich von ihrer Vogelphobie persönlich gekränkt.

»Vögel sind fantastische Kreaturen.« Ihre spröde Stimme klang gepresst. »Wusstest du, dass Weißkopfseeadler eine lebenslange Bindung eingehen? Sie sind vollkommen treu. Loyal. Sag mir: Sind das etwa keine Eigenschaften, die du bewunderst?«

Alice verzog das Gesicht. Ja, sogar Weißkopfadler hatten ein besseres Liebesleben als sie.

»Ich … weiß es zu schätzen, dass Sie mich darüber informieren … ähm …«

»Sylvie«, warf die Frau hilfreich ein.

»Sylvie«, sagte Alice. »Na ja, Vögel sind einfach …«

Plötzlich war ihre Kehle wie zugeschnürt, und sie wandte sich ab. Das gefiel ihr an London mit Abstand am wenigsten. Die ständigen Staus, der Lärm und die unerfreulich hohe Wahrscheinlichkeit, einem Verbrechen zum Opfer zu fallen, machten ihr nichts aus. Aber die Vögel verabscheute sie, und ganz London war voll von ihnen. Raben im Tower, Schwäne auf der Themse, Tauben … überall. Die Vögel hatten ihre gesamte Kindheit verdorben, und jetzt war die einzige Form, in der sie sie überhaupt noch sehen wollte, gebraten, auf ihrem Teller.

Den Rest der Fahrt saßen sie schweigend nebeneinander, während der Regen immer heftiger gegen die Scheiben prasselte. Am Trafalgar Square sprang Alice auf und schob sich an ihrer Sitznachbarin vorbei.

»Einen Moment, Schätzchen.« Sylvie stand mühsam auf und schwankte auf ihren kleinen Streichholzbeinchen. »Ich muss hier auch raus. Kannst du mir beim Aussteigen helfen?«

Sie streckte den Arm aus, und nach kurzem Zögern hakte sich Alice unter und führte Sylvie vorsichtig hinaus in den strömenden Regen.

»Danke«, sagte Sylvie, als der Bus wieder anfuhr. »Würdest du mir noch über die Straße helfen?«

Alice sah verzweifelt zum Trafalgar Square, einem der Plätze Londons, die sie am wenigsten mochte. Sie hatte keinen Schirm dabei, deshalb wollte sie eigentlich den ganzen Weg zur Arbeit rennen.

»Bitte?«, sagte Sylvie.

Alice bekam ein schlechtes Gewissen. Sie konnte die alte Frau wohl kaum einfach stehen lassen.

»Natürlich«, sagte sie und setzte ein Lächeln auf.

Sie spähte in den Regen und schlang einen Arm um die alte Frau. Sobald sich eine Lücke im Verkehr auftat, bugsierte sie Sylvie über die Straße und stürzte sich widerwillig in die Unmenge von Tauben, die den Trafalgar Square wie immer belagerten.

Ihre Haare waren klitschnass und klebten ihr am Kopf. Wundervoll. Genau der Eindruck, den sie auf ihre Chefs hatte machen wollen.

»Na dann, einen schönen Tag noch«, sagte sie und wandte sich zum Gehen.

»Warte«, sagte Sylvie und hielt sie am Handgelenk fest. Sie starrte auf irgendetwas hinter ihr. Alice warf einen Blick über die Schulter, sah aber nur die Nelsonsäule über ihnen aufragen.

»Ich war nicht ganz ehrlich zu dir«, sagte Sylvie.

Alice lächelte geistesabwesend. »Hören Sie, wenn es um – ach, ich weiß auch nicht – die Vorteile einer Mitgliedschaft bei der Royal Society zum Schutz der Vögel geht …«

»Nein, tut es nicht. Es geht um das Paket.«

Alice blieb der Mund offen stehen. »Entschuldigung, sagten Sie gerade, es gehe um ›das Paket‹?«

Sylvie nickte.

»Was für ein Paket?«, fragte Alice. »Heißt das, Sie haben mir das Päckchen geschickt, das ich vor der Haustür gefunden habe?«

»Ja.«

Alice stieß ein verwundertes Lachen aus. »Aber …«

»Hör mir zu, Alice«, sagte Sylvie leise.

»Woher kennen Sie meinen Namen?«, fragte Alice, plötzlich argwöhnisch. »Wer sind Sie?«

»Ich habe keine Zeit für Erklärungen«, ächzte Sylvie. Ihr Atem ging plötzlich keuchend, und ihre Haut hatte die Farbe und Textur von Pergament angenommen.

»Ich habe dir die Schachtel nur für den Fall zukommen lassen, dass ich dich heute nicht treffe«, sagte sie und rang sich ein Lächeln ab. »Aber ich wollte dich sehen und sicherstellen, dass du die Richtige bist.«

»Die Richtige wofür?«, fragte Alice.

Sylvies Lächeln verblasste, und sie taumelte zurück. Mit jedem unsicheren Schritt scheuchte sie Tauben auf. Ein leises Stöhnen kam ihr über die Lippen, als ihre Knie unter ihr nachgaben. Alice schoss vor und schlang einen Arm um ihre Taille, um sie aufzufangen.

»Mist! Sylvie?!«

So klein und zierlich Sylvie auch war, Alice konnte sie kaum aufrecht halten. Sie warf einen panischen Blick auf die Passanten, die an ihnen vorbeieilten.

»Hilfe!«, schrie sie. »Ruft einen Krankenwagen!«

Die Lider der alten Frau flatterten, und sie stieß mit einem röchelnden Seufzen den Atem aus. Ihre Finger tasteten blind nach Alice’ Kragen und zogen sie näher.

»Die Vögel«, flüsterte sie. »Du darfst sie nicht abweisen …«

»Was?!«, rief Alice. »Nein, Sylvie, das ist nicht …«

»Crowley …«, murmelte sie. »Crowley sucht nach dir, Alice. Du bist nicht … sicher. Wenn ich fort bin … bist du nicht mehr sicher.«

»Schhhh, ganz ruhig«, sagte Alice. »Alles wird gut. Nicht sprechen.«

Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr. Ein Sicherheitswachmann der National Gallery eilte die Treppe herunter auf sie zu, gefolgt von zwei Gestalten in leuchtend gelben Jacken. Sanitätern.

Regentropfen schimmerten auf Sylvies Gesicht und sammelten sich in der Kuhle über ihrem Schlüsselbein.

»Es kommt schon jemand«, versicherte Alice ihr mit zitternder Stimme. »Sie bringen Sie ins Krankenhaus. Okay? Halten Sie einfach durch.«

Sylvie riss die Augen auf und starrte sie mit wildem, fieberhaftem Blick an.

»Alice«, zischte sie. »Öffne die Schachtel.«

Mit einem letzten, leisen Stöhnen strömte der Atem aus ihrem Körper, und sie sackte leblos in Alice’ Arme. Die Sorgenfalten auf ihrer Stirn glätteten sich.

Plötzlich schien sich die Atmosphäre zu verändern. Stille senkte sich über den Platz, das leise Gurren und das Flattern der Flügel verstummten. Die Tauben auf dem Trafalgar Square hielten inne, als wollten sie der alten Frau die letzte Ehre erweisen. Die Stille hielt nur einen kurzen Moment an, wie ein Atemzug, dann zerbrach sie. Bewegung und Geräusche kehrten in die Stadt zurück, und alle Vögel erhoben sich gleichzeitig in den Himmel über der Nelsonsäule – eine wirbelnde, tobende Masse aus Federn und Krallen.

»Hat sie sich den Kopf gestoßen?«, ertönte eine donnernde Stimme. »Sind Sie mit ihr verwandt? Nimmt sie irgendwelche Medikamente?«

Die Sanitäter waren da und bombardierten sie mit Fragen, die sie nicht beantworten konnte.

»Was?«, murmelte sie benommen.

Mit frustriertem Stöhnen nahmen sie Sylvie aus ihren Armen und drängten sie beiseite. Sie legten die alte Frau auf den Boden und begannen laut zu zählen, während sie auf ihre Brust drückten. Doch es war zu spät.

Alice stand schweigend im Regen, der um sie herum herabströmte wie weißes Rauschen, wie Sand in einer Sanduhr, während die seltsame alte Frau am Trafalgar Square den Tod fand. Die Vögel sahen zu. In Scharen saßen sie auf den schrägen Dächern und den Brüstungen der umstehenden Gebäude, wie Trauergäste auf einem Staatsbegräbnis.

2

Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie ihre Karte zweimal fallen ließ, bevor sie es endlich schaffte, die elektronische Tür zu öffnen. Das Büro war wie ausgestorben – die Tische leer, die Telefone stumm –, und kurz durchströmte sie Erleichterung. Vielleicht hatte es Feueralarm gegeben, und das Gebäude war evakuiert worden. Doch dann hörte sie Tassen klirren und erkannte, dass sich alle bereits im Konferenzraum versammelt hatten. Na super.

Hastig warf sie ihren durchnässten Mantel und ihren Schal ab, während sie ihren Tisch nach den Handouts absuchte.

Sie waren nicht da.

Panisch ließ sie ihren Blick über ihren grauenhaft leeren Arbeitsplatz schweifen. Vielleicht hatte jemand die Handouts für sie mitgenommen? Sie nickte. Genau. So musste es sein. Sie atmete tief durch, dann marschierte sie in den Konferenzraum und begegnete den erwartungsvollen Blicken mit einem leicht irren Grinsen.

»Blast die Suche ab! Die Vermisste ist wieder aufgetaucht!«, rief einer ihrer Kollegen, Ryan.

Alle lachten – wie eine Herde schreiender Esel –, während sie fieberhaft nach ihren Handouts Ausschau hielt.

»Sollen wir anfangen?«, erklang eine herrische Stimme, und sofort kehrte Stille ein.

Mr McGreevy, der hochrangigste unter den hochrangigen Führungskräften, bedachte sie mit einem stechenden Blick und klappte dann seinen Laptop mit einem Knall zu.

»Ja«, krächzte sie. »Natürlich.« Sie räusperte sich, und ihr Blick fiel auf Sandra, die Tratschtante. Sie beobachtete Alice mit einem selbstzufriedenen Grinsen, und in Alice keimte ein Verdacht auf, was aus ihren Handouts geworden sein könnte.

McGreevy seufzte. »Könnten Sie nun bitte endlich anfangen?«

»Okay«, sagte sie und wandte sich nach vorne um. »Danke, dass Sie gekommen sind. Ich entschuldige mich vielmals für meine Pünktlichkeit.«

»Unpünktlichkeit«, knurrte McGreevy.

Sie holte tief Luft. »Im letzten Jahr haben Umfragen zu unseren Filialen in Einkaufszentren ergeben, dass die Qualität unserer Schuhe der größte Kritikpunkt unserer Kunden ist. Vierundzwanzig Prozent der Käufer haben ihre Schuhe innerhalb von dreißig Tagen zurückgegeben.«

»Welche Schuhe?«, fragte McGreevy.

»Verzeihung?«

Er schenkte sich ein Glas Wasser aus der Karaffe auf dem gigantischen Tisch in der Mitte des Raums ein. »Vermutlich gab es ein Problem bei der Herstellung. Welche Schuhe wurden zurückgegeben?«

»Das ist eine sehr gute Frage«, sagte Alice’ direkter Vorgesetzter Colin und nickte wie eine dämliche Marionette. Der verdammte Schleimer.

»Na ja, ich hatte Handouts mit den Details, aber …«

McGreevy starrte sie an, die Lippen verächtlich geschürzt.

»Ich … Nun, eigentlich«, sagte sie und fing sich wieder, »kann ich Ihnen sogar ein Paar zeigen. Ich habe mir die Schuhe nämlich selbst gekauft, und hier können Sie sehen, wie sich die Nähte auflösen.«

In furchtbarer Zeitlupe schwang ihr Fuß nach oben und traf irgendwie die Karaffe auf dem Tisch. McGreevy stand wie erstarrt, während sich das Wasser über seine Unterlagen ergoss. Alle auf seiner Seite des Tisches sprangen auf, bevor auch noch ihre Kleidung durchnässt wurde.

McGreevy starrte sie an. Ein Nerv an seinem Augenlid hatte zu zucken begonnen. Im selben Moment, als sie wieder auf die Tischplatte hinunterblickte, ertönte ein schwaches elektronisches Knistern. Oh Gott. Sein Laptop …

»Alice«, murmelte Colin. »Ich muss mit dir reden. In meinem Büro.«

Colin saß ihr gegenüber, die Arme vor der massigen Brust verschränkt, einen nachdenklichen Ausdruck im Gesicht.

»Also, das war ein ziemlicher Reinfall, was?«

Sie nickte stumm. Durchs Fenster sah sie, wie Sandra, Colins persönlicher Rottweiler, mit einem Spiegel in der Hand ihre blonden Haare richtete. Sie waren ein perfekt frisiertes, im Stil der 80er gestyltes Desaster.

Colin schnaubte abfällig und lehnte sich zurück. »Mal abgesehen davon, dass du zu spät gekommen bist und Mr McGreevy fast durch einen Stromschlag getötet hättest – wie zur Hölle wolltest du eine Präsentation ohne Handouts halten?!«

Jetzt war er also gekommen. Der Moment, in dem sie gefeuert wurde.

»Na ja …«, sagte sie. »Hör zu, Colin …«

»Aber der Ausdruck in McGreevys Gesicht, als du ihm deinen Fuß unter die Nase gehalten hast, war zum Schießen«, unterbrach er sie. »Ich glaube, er dachte, du würdest einen Striptease für ihn hinlegen.« Er zwinkerte ihr zu, und sie wurde knallrot.

Bitte lass mich einfach tot umfallen.

»Was hast du heute Abend vor?«, fragte er.

»Heute Abend?«

Er grinste. »Komm um acht Uhr ins Piggery and Poke. Da feiere ich Geburtstag.«

Alice ließ sich nichts anmerken, aber innerlich erschauderte sie schon allein bei dem Gedanken.

»Wir werden alle dort sein«, sagte er. »Wenn du nicht kommst, sieht es ganz danach aus, als wolltest du deine Kollegen nicht besser kennenlernen. McGreevy wollte, dass ich dich rauswerfe, aber ich habe ein gutes Wort für dich eingelegt – und hier ist deine Chance, dich zu beweisen. Was sagst du?«

Was sie sagen wollte, hätte wahrscheinlich ihre sofortige Kündigung zur Folge gehabt. Sie unterdrückte ein Stöhnen beim Gedanken an das Saufgelage an Colins letztem Geburtstag. Colin hatte einen Toast auf sich selbst ausgebracht, sein Hemd halb aufgeknöpft und mit Bier übergossen. »Alice!«, hatte er gegrölt. »Ich habe ein schönes, großes Geschenk für dich! Ich nehme dich nachher mit zu mir, dann kannst du es auspacken!«

Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich … Colin, ich muss heute früh ins Bett. Ich … Ich bin echt aufgewühlt wegen einer Sache, die heute auf dem Weg zur Arbeit passiert ist.«

»Super! Dann sehen wir uns dort.«

Er wandte sich zu seinem Computer um, und Alice zog sich niedergeschlagen an ihren eigenen Schreibtisch zurück. Als sie ihn erreichte, erstarrte sie. Ihre verschollenen Handouts lagen auf der Tastatur … neben einer Karikatur, die sie bei der letzten Belegschaftsversammlung gekritzelt (und weggeworfen) hatte.

»Du solltest vorsichtig sein, wo du deinen Müll entsorgst«, sagte Sandra – das Motiv der unvorteilhaften Karikatur. »Die habe ich gestern Abend gefunden.«

Mit einem rachsüchtigen Grinsen stolzierte sie davon. Verdammte Bürozicke … Während Alice’ kurzer Abwesenheit hatte jemand einen Post-it-Zettel an ihren Monitor geklebt. Sie riss ihn ab.

Jemand hat angerufen, während du bei Colin warst. Lee Crow? Leah Crow? Hat keine Nummer hinterlassen. Meinte, es wäre wichtig, aber privat.

Das »privat« war unterstrichen. Zweimal. Um zu betonen, dass derlei Anrufe am Arbeitsplatz verboten waren.

Alice runzelte die Stirn. Sie kannte niemanden mit diesem Namen. Und private Anrufe bekam man nur, wenn man ein Privatleben hatte. Was bei ihr nicht der Fall war.

Wahrscheinlich nur ein Versehen.

Den nächsten Anruf erhielt sie ein paar Stunden später, um 16:45 Uhr.

»Alice, hi, ich bin’s, Dan vom Empfang. Hier unten ist ein Mann, der dich sehen möchte, aber er hat keinen Besucherausweis. Soll ich ihn hochschicken?«

Alice rieb sich die Stirn. Sie war nicht wichtig genug, um Besucher bei der Arbeit zu empfangen. Sie hatte ja gerade mal einen eigenen Bürostuhl »Wie heißt er?«

Einen Moment herrschte Schweigen. »Mr … Crowley, glaube ich.«

Crowley. Sie blinzelte irritiert. Crowley. Crow-lee? Eine vage Erinnerung nagte an ihr. Lee Crow? Hastig holte sie den Post-it-Zettel, den sie vorhin weggeworfen hatte, aus dem Papierkorb. Das doppelt unterstrichene »privat« sprang ihr ins Auge.

Das Bild einer kleinen, hutzeligen Gestalt stieg in ihrer Erinnerung auf. Crowley sucht nach dir … Du bist nicht … sicher.

»Hallo? Bist du noch da, Liebes?«

Sie schüttelte sich. »Sorry, Dan, ich war nur … Kannst du ihn fragen, was er will?«

Sie hörte gedämpfte Stimmen, dann: »Äh … er sagt, er hätte eine wichtige Nachricht für dich bezüglich deines Schicksals.«

»Meines Schicksals?«, fragte sie trocken. »Was ist er, Gott?«

»Er sagt, er möchte mit dir über ein Geschenk reden, das du erhalten hast.«

»Was für ein Ge…« Sie unterbrach sich. Meinte er das Paket?

»Er sieht ein bisschen … aufgebracht aus«, flüsterte Dan. »Ich glaube, du solltest besser zur Rezeption kommen.«

Als sich der Aufzug mit einem Ruck in Bewegung setzte, ließ sich Alice gegen die angenehm kühle verspiegelte Wand sinken. Drei identische Alices blickten ihr entgegen, alle mit einem erschöpften Ausdruck im Gesicht und braunen Haaren, die sich jedem Versuch, sie zu glätten, widersetzten.

Mit Sicherheit war ihr die Schachtel versehentlich zugestellt worden, und das würde sie diesem Mr Crowley einfach erklären. Das alles war nur ein seltsames Missverständnis – nichts weiter.

Ihre Zuversicht geriet ins Wanken, als sich die Türen öffneten und sie ihren Besucher mit verschränkten Armen und grimmigem Gesicht an der Rezeption stehen sah. Es war kein hübsches Gesicht. Mit dieser römischen Hakennase war das schlicht unmöglich. Also mit einer Nase aus einer Ära, in der es noch keine Schönheitsoperationen gegeben hatte. Er strich sich mit einer ungeduldigen Geste die dunklen, überlangen Haare – sie reichten ihm bis über die Wangenknochen – aus dem Gesicht und warf einen Blick auf die Uhr.

Sie schickte sich schon an, den Aufzug zu verlassen, zögerte dann aber. Er war eigentlich ziemlich … bemerkenswert. Definitiv nicht ihr Typ, aber sein kräftiges Kinn und die dunklen Augenbrauen hatten etwas Faszinierendes.

Inmitten all der Menschen mit ihren maßgeschneiderten Anzügen und ordentlich frisierten Haaren, die sich im Wartebereich herumtrieben, wirkte er völlig fehl am Platz. In seinem langen, dunklen Mantel, einer ausgebleichten schwarzen Hose, abgewetzten Stiefeln und einem hochgeschlossenen weißen Hemd sah er aus wie ein Leichenbestatter. Vielleicht war er von dem Bestattungsinstitut geschickt worden, das sich um Sylvies Beerdigung kümmerte. Aber selbst wenn dem so war, was wollte er von ihr, und wie hatte er sie gefunden?

Je länger sie ihn beobachtete, desto überzeugter war sie, dass er finstere Absichten hegte. Sie wollte mit dem Daumen den Aufzugknopf drücken, um in den dreizehnten Stock zurückzufahren. Doch sie verfehlte ihn. Stattdessen landete ihr Finger auf dem Alarmknopf. Passend zu diesem ganzen verfluchten Tag begann der Aufzug zu schrillen wie ein wütender Rachegeist.

»Verdammt«, murmelte sie und drückte fieberhaft auf den Knopf zum dreizehnten Stock.

Ihr Besucher sah ruckartig auf, und ihre Blicke trafen sich. Er eilte auf sie zu und rief: »Miss Wynd…«, doch in diesem Moment schlossen sich zum Glück die Türen, und der Aufzug fuhr los. Alice sank gegen die Wand und atmete erleichtert auf.

Ihre Kollegen bereiteten sich schon auf den »Feierabend, nichts wie weg«-Abgang vor, als sie wieder an ihrem Schreibtisch ankam. Sie fuhr ihren Computer herunter und warf ihren Mantel über, während sie fieberhaft nachdachte. Jemand, der wie ein erboster Bestatter gekleidet war, war ihr zu ihrem Arbeitsplatz gefolgt und wollte ihr ein Geschenk abjagen, um das sie nie gebeten hatte. Was würde Jen dazu sagen? Angesichts ihres Hangs zu schlechten Entscheidungen, wenn es um ihr Liebesleben ging, würde sie wahrscheinlich nach seiner Nummer fragen.

Alice hatte gerade die Tür erreicht, als hinter ihr zwanzig Telefone alle gleichzeitig zu klingeln begannen. Erschrocken blieb sie stehen. Zwanzig Hände nahmen die Hörer ab, zwanzig Köpfe drehten sich in ihre Richtung und starrten sie mit argwöhnischem, neugierigem Blick an. Zwanzig Stimmen schrien auf sie ein.

»Hey, warte, Alice, es ist für dich. Ein …«

»Ja, sie ist da. Alice, es ist …«

»Ich rufe sie. Alice! Ein Typ fragt nach dir. Sein Name ist …«

»Alice. Es ist Mr …«

»… Crowley.«

Stille senkte sich über das Büro, und ihre Kollegen starrten einander verwirrt an.

»Moment«, sagte Sandra. »Wie können wir alle gleichzeitig mit demselben Typen telefonieren?«

Alice riss die Tür auf und floh.

Bevor sie hinter ihr zufiel, hörte sie Sandra noch sagen: »Sie ist schon auf dem Weg.«

Miststück.

3

Es hätte nicht besser laufen können, wenn sie das Ganze geplant hätte. Mr Crowley starrte mit angespannter Miene in Richtung Aufzug – offensichtlich wartete er darauf, dass sie wieder auftauchte. Doch als sich die Metalltüren öffneten, kam ein Gebäudereiniger mit einem riesigen Industriestaubsauger heraus. Mr Crowley wandte sich frustriert ab, und Alice, die um die Ecke spähte, nutzte den Moment, um unbemerkt die letzten Treppenstufen hinunterzulaufen und durch den Notausgang zu fliehen.

Sie eilte in die Gasse hinter dem Haus und stahl sich durch die ruhigeren Straßen davon. Jen hatte heute früher Feierabend, und sie hatten ausgemacht, gemeinsam nach Hause zu gehen. Sie wohnten zusammen, seit sie vor vier Jahren ihren Uniabschluss gemacht hatten, und sie waren schon Freundinnen, lange bevor sie nach London gezogen waren.

Jen und sie waren unzertrennlich, seit sie alt genug gewesen waren, um über den Zaun zwischen den Häusern ihrer Eltern in Henley-on-Thames zu klettern. Sie hatten zusammen Fahrradfahren gelernt, ihre Familien hatten gemeinsam Urlaub in Wales gemacht, sie hatten die gleichen Fächer in der Schule gewählt und einander geholfen, über ihren ersten Liebeskummer hinwegzukommen. Als Alice herausgefunden hatte, dass sie adoptiert worden war, hatte Jen ihr geholfen, sich mit dieser neuen Realität zu arrangieren. Sie hatten zwar verschiedene Nachnamen, aber sie hatten einander immer als Schwestern angesehen – und es gab niemanden, dem Alice mehr vertraute.

Auf einen kurzen Fußmarsch im Regen zum Charing Cross folgte eine lange Warterei vor Jens IT-Support-Firma. Alice war völlig durchnässt, als Jen endlich herauskam und der stürmische Wind ihre roten Haare über ihre Brille wehte.

»Ich hab genug von diesem Mistwetter«, schimpfte Jen, als sie in die 87 einstiegen. »Ich wandere aus.«

Alice grinste, während London an ihnen vorbeirauschte. Sie planten ihre Flucht schon, seit sie Teenager waren und alle anderen in ihrem Alter im Park Cider tranken.

»Wohin?«, fragte Alice.

Jen seufzte. »Ich würde gleich heute Abend wegziehen – wenn mir jemand ein Flugticket und eine Unterkunft spendiert.«

»Ich habe ein Zelt und eine Wochenkarte für den Bus, aber das ist leider alles, was ich dir anbieten kann«, sagte Alice. »Wenn du Giuseppe nicht abserviert hättest, hättest du jetzt vielleicht …«

»… eine Geschlechtskrankheit«, schnaubte Jen. »Nein, danke, ich verzichte.«

Der Regen wurde immer heftiger, dicke Tropfen prasselten gegen die Scheiben und liefen in Strömen über das Glas.

»Also, wie war dein Moment des Ruhms?«, fragte Jen.

»Ich glaube, man kann mit gutem Recht sagen, dass meine Präsentation verkackt gelaufen ist.«

»Verkackt?«

»Wenn das kein Wort ist, dann sollte man es zu einem machen. Und Sandra war noch nicht mal das Schlimmste daran.«

Sie erzählte Jen von dem Paket, Sylvie und dem mysteriösen Leichenbestatter.

»Wow«, sagte Jen. »Die arme Frau.«

Nach einer respektvollen Pause fragte sie: »Also … was ist wohl in dem Paket drin?«

»Keine Ahnung.«

»Geld vielleicht? Sie könnte eine reiche Gönnerin wie Miss Havisham gewesen sein.«

»Abel Magwitch war die Gönnerin in Große Erwartungen, nicht Miss Havisham«, erwiderte Alice.

»Pssst«, sagte Jen. »Nicht so miesepetrig. Es ist unser Schicksal, steinreich zu werden.«

»Jen, reiß dich zusammen. Niemand hinterlässt Wildfremden sein ganzes Geld.«

»Aber warum sollte dieser Mr Crowley die Schachtel sonst haben wollen?«

Der Regen spritzte vom Asphalt in die Höhe, als sie aus dem Bus stiegen, und fegte in horizontalen Schwaden über die Straße. Alice hastete zum Haus und stemmte sich gegen die Tür, um sie zu schließen, während Jen sich auf das Paket stürzte.

»Für Alice Wyndham«, las sie laut vor. »Nicht öffnen.«

Alice zuckte die Achseln und streifte ihren durchnässten Mantel ab.

»Also, übernimmst du die ehrenvolle Aufgabe?«, fragte Jen und hielt ihr die Schachtel unter die Nase.

Alice starrte sie an. Sie konnte nicht erklären, warum, aber sie musste gegen den starken Drang ankämpfen, das Paket auf die Straße zu werfen.

»Nein«, sagte sie entschieden.

Alice ließ sich aufs Sofa im Wohnzimmer fallen, fest entschlossen, so viel Abstand wie möglich zu dem Karton zu wahren, aber Jen folgte ihr. Einen langen Moment herrschte Schweigen, dann fragte sie zaghaft: »Wie wär’s, wenn ich eine Schere hole und einen kurzen Blick hineinwerfe? Wenn es was Tolles ist, sag ich es dir. Und wenn es Schund ist, werfe ich es in den Müll. Okay?«

Alice nickte widerwillig, und Jen ging, um die Schere zu holen. Da klingelte es an der Tür.

»Kann ich Ihnen helfen?«, erklang Jens Stimme aus dem Flur.

»Ich suche nach Miss Wyndham.«

»Was wollen Sie? Sie sind doch kein Gerichtsvollzieher, oder?«

Alice spähte durch die Wohnzimmertür und erschrak zutiefst. Ein großer Mann mit einer Nase, die aus Granit gemeißelt zu sein schien, blickte sie über Jens Schulter hinweg an. Der Mann aus dem Büro.

Jen grinste und warf Alice einen fragenden Blick zu. Alice schüttelte den Kopf. Sie wusste genau, was ihre Freundin dachte, aber kalte, wortkarge Männer waren nicht ihr Ding – ganz egal, wie seltsam fasziniert sie von ihnen war.

Was zum Teufel machte er hier?

»Verfolgen Sie mich?«, fragte sie, funkelte ihn ärgerlich an und griff nach der erstbesten Waffe, die sie in die Finger bekam – eine alte Netzball-Trophäe.

»Bilden Sie sich nichts ein«, erwiderte er ungehalten. »Ich will nur mit Ihnen über das Geschenk reden, das Sie erhalten haben. Ich weiß, dass Sie es haben.«

Alice schob Jen aus dem Weg, um ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen, aber er schnellte vor, sodass er den Türrahmen blockierte.

»Hören Sie, Mr Crowley«, sagte sie voll höflicher Selbstbeherrschung, »ich habe nicht um dieses Paket gebeten, und ich will es auch gar nicht. Also können Sie es gerne mitnehmen. Genau genommen bestehe ich sogar darauf.«

Jen atmete scharf ein und packte sie am Handgelenk. »Das kann nicht dein Ernst sein«, flüsterte sie.

»Mein Name ist Crowley«, sagte der Mann mit einem entnervten Seufzen. »Nicht Mister Crowley. Das ist mein Vorname. Sind Sie immer so schwer von Begriff?«

Heftige Wut stieg in ihr auf. Wie konnte er es wagen?! Sie mochte es gewohnt sein, sich jeden Tag Sandras spitze Bemerkungen anhören zu müssen, aber das … Sie wollte schon die Tür zuknallen, aber ein schweres Seufzen ließ sie innehalten.

»Warten Sie. Bitte. Ich … entschuldige mich. Es war ein langer, anstrengender Tag.«

»Oh, keine Sorge«, sagte sie mit honigsüßer Stimme. »Ich bin Masochistin. Ich warte den ganzen Tag darauf, dass Fremde bei mir aufkreuzen, um mich zu beleidigen.«

Er zog eine schuldbewusste Miene. »Könnten wir vielleicht noch mal von vorne anfangen? Sie haben etwas von einer … Bekannten von mir bekommen. Sylvie.«

»Eine Bekannte?«, erwiderte Alice. »Wohl kaum – sie hat mich gewarnt, dass Sie gefährlich sind. Aber Sie können die Schachtel haben, okay? Ich wollte sie sowieso nicht. Hier.«

Sie entriss Jen das Paket und hielt es Crowley hin. Aber er machte keine Anstalten, es zu nehmen.

Erleichterung machte sich auf seinem Gesicht breit. »Gut«, sagte er. »Ja, das ist von ihr – ich erkenne ihre Handschrift. Öffnen Sie es. Bitte.«

Damit hatte sie nicht gerechnet.

»Sie wollen, dass ich es aufmache?«

»Nun, Ihr Name steht darauf. Oder nicht?«, sagte er achselzuckend und handelte sich damit wieder einen bösen Blick ein.

»Aber … sie hat gesagt, Sie wären hinter mir her. Ich dachte, Sie wollten die Schachtel an sich bringen.«

Er zog eine Augenbraue hoch und wandte sich an Jen. »Also, worauf warten Sie noch? Helfen Sie ihr.«

Jen kam seiner Aufforderung sofort nach, wahrscheinlich ermutigt von der Tatsache, dass er ihnen das Paket nicht streitig machen wollte. Voller Enthusiasmus hackte sie den Deckel mit der Schere auf.

Darin war ein Briefumschlag, auf dem Alice’ Name stand. Das war alles. Kein Geld, kein großes Geheimnis. Nur ein Umschlag.

»Vielleicht ist es … ein Scheck?«, sagte Jen hoffnungsvoll.

Alice nahm den Umschlag zögerlich. Crowleys Schultern entspannten sich ein klein wenig, und er trat einen Schritt zurück, sodass er nicht mehr im Türrahmen stand.

»Du bist es also wirklich«, murmelte er voll Staunen.

Wie in Trance stieß Alice die Tür mit der Hüfte an, und sie krachte zu. Aufgebracht hämmerte Crowley gegen die Tür.

»Mach auf!«, rief er. »Bitte – ich muss noch mit dir reden.«

»Warum meinte Sylvie, ich wäre in Gefahr?«, fragte Alice durch die geschlossene Tür. »Wenn Sie nicht hinter dem her sind, was in dem Paket ist, was wollen Sie dann?«

»Von mir geht keine Gefahr aus«, sagte er aufgebracht. »Ich bin nur deshalb hier, weil du in Gefahr bist!«

Sie ignorierte ihn, doch Jen rief: »Wenn Sie nicht sofort verschwinden, rufen wir die Polizei!«

Vage vernahm Alice noch einen Schwall wüster Flüche von der anderen Seite der Tür, während sie mit dem Umschlag ins Wohnzimmer ging.

Jen starrte sie erwartungsvoll an.

Alice schluckte schwer, dann riss sie den Umschlag auf. Etwas Leichtes, Weiches segelte zu Boden.

Eine Feder.

Was für eine Enttäuschung …

4

Sie starrten beide ungläubig darauf. Eine Feder? Sylvie hatte ihr eine Feder hinterlassen?

Alice räusperte sich. »Na ja … sie war schon sehr alt. Vielleicht war sie senil.«

Jen hob die Feder vom Teppich auf und untersuchte sie. »Vielleicht ist sie selten? Ein Sammlerstück. Warum sollte Sylvie sie dir hinterlassen, wenn sie wertlos ist?« Sie stand auf, und auf ihrem Gesicht machte sich Entsetzen breit. »Moment. Ist es nicht seltsam, dass sie ausgerechnet dir eine Feder hinterlassen hat? Angesichts deiner … Vorgeschichte mit Vögeln?«

Alice erschauderte. Jen war damals die Einzige gewesen, die ihr das mit den Vögeln geglaubt hatte. Sie war für sie da gewesen, als ihre Mitschüler von ihren Ängsten erfahren hatten und die Hänseleien in Mobbing ausgeartet waren. Nachdem sie in der neunten Klasse den Zweiten Weltkrieg durchgenommen hatten, hatte Jen verkündet, dass Alice Polen war und sie jeden bekämpfen würde, der versuchte, sie anzugreifen. Dass sie das Gymnasium überstanden hatte, hatte sie allein Jen zu verdanken.

Sie schüttelte den Kopf. »Das spielt keine Rolle. Entweder ist es ein Witz, oder …«

Jen warf einen Blick in den zerrissenen Umschlag. »Da ist eine Nachricht«, sagte sie. »Schau.«

Sie reichte Alice den kleinen, gefalteten Zettel. Alice klappte ihn argwöhnisch auf und starrte auf die krakelige Schrift. »Ein Geschenk. Von meinem Sielulintu an deinen.« Sie drehte den Zettel um, aber sonst stand nichts darauf.

»Was soll das heißen?«, fragte Jen. »Sielulintu? Das klingt exotisch. Findest du nicht? Vielleicht irgendeine exotische Vogelart?«

Die Feder war unscheinbar, braun mit beigefarbenen Flecken. Nicht im Mindesten exotisch.

Jen zog ihr Handy aus der Hosentasche. »Vielleicht gibt es einen Markt für exotische Federn«, sagte sie – offenbar hoffte sie immer noch auf einen unerwarteten Glücksfall. »Ich googele das schnell.«

Sylvie hatte im Bus über Vögel geredet. Sie wusste von den Vögeln. War Alice paranoid, oder war doch mehr an der ganzen Sache dran?

»Wie schreibt man das noch mal?«, fragte Jen und riss Alice den Zettel aus der Hand. »S-i-e-l-u-l-i-n-t-u. Ha! Das ist … na ja … okay, schon gut.«

»Was?«, fragte Alice, nun doch neugierig. »Was ist das?«

Jen verzog das Gesicht, räusperte sich jedoch und las laut vor. »Der Sielulintu ist ein Seelenvogel aus der Finnischen Mythologie. Der Legende nach bringt er den Menschen bei der Geburt ihre Seele und bleibt ein Leben lang bei ihnen. Er beschützt deine Seele, während du schläfst – wenn du vollkommen schutzlos bist –, und im Moment deines Todes nimmt er deine Seele wieder mit. Der Sielulintu galt als Kurier und Beschützer von Seelen.«

»Na klar«, sagte Alice mit einem tiefen Seufzen. »Also, nur damit ich das richtig verstehe: Ich habe die Feder eines mythologischen Vogels geerbt?«

Jen blinzelte. »Ja.« Einen Moment sahen sie einander schweigend an. »Vielleicht …«

»Ach, komm«, sagte Alice. »Irgendjemand erlaubt sich einen Scherz mit mir. Ich will nur noch meinen Schlafanzug anziehen, mich verkriechen und ein Buch lesen.«

Jen stand auf und ließ die Feder auf den Couchtisch fallen. »Geh ruhig. Ich mache uns Tee.«

»Das kann ich leider nicht«, sagte Alice. »Ich muss ins Piggery and Poke.«

»Warum?«

»Colin hat Geburtstag. Er hat zwar nicht ausdrücklich gesagt, dass er mich feuert, wenn ich nicht auf einen Drink vorbeikomme, um meine Kollegen ›besser kennenzulernen‹, aber die Andeutung war unmissverständlich.«

Jen machte ein grimmiges Gesicht. »Das ist Erpressung. Sag ihm, das Nächste, was er kennenlernen wird, ist deine Faust.«

Alice’ Kopfhaut kribbelte, als sie sich aufrappelte und feststellte, dass sie die Feder, ohne nachzudenken, aufgehoben hatte. Sie versuchte, das Gefühl abzuschütteln, aber von der Bewegung wurde ihr schwindlig. Grelles Licht blitzte vor ihren Augen auf, und sie schwankte beunruhigend. Der Wohnzimmerteppich schien unter ihr wegzurutschen, und sie kippte zur Seite.

»Woah, alles okay?«, fragte Jen und hielt sie fest.

Sie hatte auch etwas gehört. Ein Flattern wie von einem riesigen Schmetterling; weiche Flügel, die durch die Luft strichen. Es war … Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, und sie musste sich auf die Knie stützen und tief durchatmen, um sich zu beruhigen.

»Alice? Alles okay?«

Als sie die Augen öffnete, hatte der Raum zu ihrer großen Erleichterung aufgehört, sich zu drehen.

»Ja, alles gut. Mir war nur etwas … Ich bin wahrscheinlich zu schnell aufgestanden. Kommst du heute Abend mit?«

»Das muss ich wohl«, sagte Jen. »Wenn du vor Colin in Ohnmacht fällst, verfrachtet dich der Perversling noch in seinen Kofferraum.«

Getrocknetes Blut klebte unter einem Nasenflügel, obwohl der Regen einen Großteil davon weggespült hatte. Vin beugte sich vor und musterte sie mit abfälligem Blick. Sie stank. Es war nicht der faule Gestank des Todes – daran war er gewöhnt, und außerdem hielt der Kühlschrank ihren Körper frisch –, sondern der muffige Geruch einer alten Frau, von dem ihm speiübel wurde.

»Die Todesurkunde wurde vor einer Stunde unterzeichnet«, sagte der Leichenhausangestellte. »Ich schicke die Kopien hoch, sobald ich …«

»Nein«, sagte Vin. »Ich nehme sie mit. Alle.«

Einen kurzen, unangenehmen Moment herrschte Schweigen.

»Was ist mit dem Leichnam?«

Vin trat einen Schritt zurück, um sie zu begutachten. Ihre dünnen Haare waren zu schütter, um die mit Altersflecken übersäte Kopfhaut zu bedecken. Die Neonröhre an der Wand beleuchtete die feinen weißen Haare von hinten, sodass es aussah, als hätte sie einen Heiligenschein. Seltsam, dachte er, wie irreführend Äußerlichkeiten sein konnten. Gedankenverloren hob er die Hand ans Gesicht und strich über die Narben, die sich über seine Wange und seine Augenbraue zogen.

»Äschern Sie sie ein«, sagte er.

Der Leichenhausbedienstete zögerte. »Hat sie keine Familie? Wir begraben Unbekannte normalerweise, falls irgendwann doch noch ein Angehöriger …«

»Verbrennen Sie das Miststück einfach«, brauste Vin auf.

Er war nicht in nachsichtiger Stimmung. Sie hatte über dreihundert dieser verdammten Pakete in ganz London verteilt. Drei Jahre lang. Sie hatte versucht, sie von der richtigen Spur abzulenken – sie mit der schieren Menge zu überwältigen. Die Pakete waren mit Sägemehl und allem möglichen Mist gefüllt gewesen, um sie zu verwirren.

Er grinste auf den Leichnam herab.

Aber es hatte nicht funktioniert. Lattimer hatte jedes Paket nachverfolgt und protokolliert. Und einer seiner Verwalter überprüfte die Aufzeichnungen jetzt, in diesem Moment. Innerhalb einer Stunde würde er die Namen und Adressen aller Leute haben, die diese Woche eine Sendung erhalten hatten. Einer von ihnen hatte das Paket – sie musste gewusst haben, dass die Zeit knapp wurde.

Sein Handy vibrierte, und er zog es aus der Hosentasche. »Vin Kelligan.«

Er hörte schweigend zu, dann leckte er sich in gespannter Erwartung die Lippen. »Sie konnten die Suche einengen? Wie viele sind es noch?«

Eine Pause trat ein.

»Fünf? Sie hat in einer Woche fünf Päckchen verschickt? Himmel! Sind Sie sicher, Lattimer?« Wieder herrschte einen Moment Schweigen. »Na schön. Haben Sie die Namen?«

Vins Gesicht nahm einen grimmigen Ausdruck an, und die Narbe, die seine Wange spaltete, spannte sich an. »Der Empfang ist schlecht. Wie war der letzte Name? … Alice was? Wyndham? Gut, verstanden.«

5

Wie sehe ich aus?«, fragte Alice, als sie durch die Kentish Town Road in ihr unvermeidliches Verderben lief.

»Großartig. Das Kleid ist ein Männer-Magnet. Vertrau mir.«

»Ich will aber gar nicht gut aussehen!«, rief sie alarmiert. »Ich will schrecklich aussehen. Du hast gesagt, das Kleid wäre ein Männer-Schreck!«

»Ist es ja auch«, sagte Jen. »An mir. Ich kann mit meinen roten Haaren kein rotes Kleid tragen. Aber dir steht es super.«

Alice verzog das Gesicht und zerrte an dem Saum des Kleides, damit es wenigstens ihre Knie bedeckte. »Ich hätte die Hose mit Schottenmuster tragen sollen. Schottenmuster senden eine klare Botschaft: Kein Interesse.«

Jen zog eine Augenbraue hoch.

Als sie am Bordstein Halt machten, umschwärmte sie eine Gruppe schick herausgeputzter, bärtiger Männer, und Alice wurde mit über die Straße geschoben. Da nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr und runzelte irritiert die Stirn. Etwas flog über die Gruppe hinweg, und sie spürte einen kalten Luftzug auf der Haut. Sie blickte auf, konnte jedoch nichts sehen. Seltsam. Einen kurzen Moment hatte sie fast gedacht, sie könnte Flügel …

Nein. Sie schüttelte den Kopf. Das konnte nicht sein. Nicht nach all der Zeit. Es war Sylvies Schuld – sie hatte ihr mit ihrem Gerede über Vögel Flausen in den Kopf gesetzt. Gerede – mehr war das nicht.

Sie lief schneller und zog Jen durch die Tür des Piggery and Poke.

»Was ist los?«, erkundigte sich Jen.

»Ich … Ach, nichts«, murmelte Alice. »Ich dachte nur … Ach, schon gut.«

Jen schnitt eine Grimasse. »Du brauchst einen Drink.«

In der Kneipe gab es ein kleines Seitenzimmer namens The Poke, das hauptsächlich von Stammgästen frequentiert wurde, die älter waren als Methusalem, aber der größte, beliebteste Raum war das Piggery. Als sie in das Stimmengewirr eintauchte und sich in dem überfüllten Raum umsah – überall drängten sich verschwitzte Menschen, verschütteten Bier und grunzten vor Lachen –, dachte Alice, dass der Name Piggery – Schweinestall – durchaus passend war.

»Hey, hey, hey«, rief Colin über Ryans Kopf hinweg. »Da ist sie ja! Na, Schätzchen, was für ein besonderes Geschenk hast du denn für mich?« Er leckte sich anzüglich die Lippen, und heftige Abscheu stieg in Alice auf. Sie sah sich um – die Männer in schwarzen Anzügen, die vornehm an ihrem Wein nippten, die makellos zurechtgemachten Mädels, die einen Shot nach dem anderen kippten … die mittelalte Frau, deren Haare im Stil der 80er frisiert waren. Sandra grinste triumphierend, als sie sich einen Weg durch die Menge bahnte, einen dunkelhaarigen Mann im Schlepptau.

Als die beiden näher kamen, stockte Alice der Atem.

»Na, sieh mal einer an«, flüsterte sie Jen zu. »Ich fasse es nicht. Also war das Ganzeein verdammter Witz! Das alles – das Paket, Sylvie, die dämliche Feder. Himmel! Wahrscheinlich ist er ihr Freund.«

»Wer?«, fragte Jen und warf einen Blick über die Schulter, während sie ihre Drinks bezahlte.

Alice wies auf Crowley, der neben Sandra stand und sich gelangweilt umschaute. Ihre Blicke trafen sich, und Alice erstarrte. Als er ihren ausgestreckten Arm sah, hob er amüsiert eine Augenbraue.

»Ich wette, sie lachen gerade über mich«, sagte sie und wandte sich zur Bar um. »Erst die Handouts für meine Präsentation und jetzt diese Feder-Sache. Die verdammten Bastarde. Aber raffiniert war es schon. Ich meine …«

»Alice, wovon zum Teufel redest du da? Denkst du ernsthaft, die Rentnerin hat eine BAFTA-würdige Darbietung hingelegt und nur so getan, als würde sie in deinen Armen sterben?«, erwiderte Jen. »Du hast erzählt, es wären Sanitäter gekommen und alles.«

»Okay, dann erklär mir, woher Crowley und Sandra sich kennen.«

Jen zuckte die Achseln. »Vielleicht tun sie das gar nicht. Er ist dir nach Hause gefolgt. Vielleicht ist er dir auch hierher gefolgt, und sie haben sich gerade erst getroffen. Vielleicht hat sie eine Schwäche für Leichenbestatter.«

Das brachte Alice zum Lachen. »Okay. Tja, das war’s dann wohl mit meiner Verschwörungstheorie.«

Als der Barkeeper mit Jen zu flirten begann, drehte sich Alice zu Crowley um und stellte fest, dass er sie direkt anstarrte. Sie errötete und wandte hastig den Blick ab. Sie würde sich ihre Verunsicherung nicht anmerken lassen – die Genugtuung würde sie den beiden nicht geben.

Unter ihren Kollegen brach schallendes Gelächter aus, und sie schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, starrte sie direkt in den Spiegel hinter der Bar, in dem sich der gesamte Raum spiegelte. Der gesamte Raum, voller Leute und …

»Vögel!«, keuchte sie, doch ihre Stimme ging im Lärm unter. Ihr wurde flau im Magen, und sie musste sich am Tresen festhalten.

Mit wildem Blick sah sie zu, wie unzählige Vögel über die Köpfe der Betrunkenen hinwegflogen. Vögel. Hier drinnen. Dutzende von ihnen. Ihre Bewegungen waren nicht im Gleichklang, nichts deutete darauf hin, dass sie ein zusammengehöriger Schwarm waren – doch sie schienen alle von derselben Art zu sein. Sie umkreisten die Steinsäule in der Mitte des Pubs oder flatterten von einem Ende des Piggery zum anderen. Ihre Flügel waren ausgebreitet oder an ihrem gefiederten Körper angelegt, manche Schnäbel waren geschlossen, andere zwitscherten aufgeregt oder zerschnitten die Luft …

»Was hast du gesagt?«, fragte Jen und unterbrach ihr Gespräch mit dem Barkeeper.

Alice starrte sie mit offenem Mund an. Jen konnte sie nicht sehen. Ihre Freundin, der Barkeeper, die anderen Pub-Besucher … Niemand außer ihr konnte die Vögel sehen. Sie hatte Vogel-Halluzinationen. Schon wieder. Sie bekam kein Wort heraus, also schüttelte sie nur den Kopf. Jen warf ihr ein verwirrtes Lächeln zu und setzte ihr Gespräch fort.

Ein Vogel flog auf Alice zu, die ausgebreiteten Flügel gefährlich nahe an ihrem Gesicht. Der spitze Schnabel klackte und schoss direkt auf sie zu, so nah, dass er beinahe ihre Wange streifte.

Alice drehte sich auf dem Absatz um und floh durch die Menge. Sie hastete aus dem Pub und sog begierig die kühle Abendluft ein. Keuchend versuchte sie, ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen.

Warum jetzt? Sie hatte diese … diese Wahnvorstellungen seit Jahren nicht mehr gehabt. Sie hatten angefangen, als sie sieben war, und mit sechzehn aufgehört, weil sie gelernt hatte, sie zu unterdrücken. Sie erinnerte sich noch genau an den Morgen, an dem sie plötzlich damit herausgeplatzt war, als sie mit ihrer Mutter am Frühstückstisch saß.

»Ich kann … Ich kann Vögel sehen«, hatte sie gestammelt. »Die ganze Zeit.«

Ihre Mutter hatte sie strahlend angelächelt und ihr eine Schüssel Cornflakes hingestellt. »Natürlich kannst du das, mein Schatz. In diesem Land gibt es viele Vögel.«

»Ja, aber ich kann auch zu Hause und in der Schule Vögel sehen«, hatte sie erwidert. »Jetzt gerade sitzt einer auf deiner Schulter.«

Das klang zwar nicht ganz so verrückt wie »Ich sehe tote Menschen«, aber ihre Eltern waren besorgt genug, um sie zu einem Arzt zu schicken – angeblich, um prüfen zu lassen, ob sie Probleme mit den Augen hatte, aber eigentlich wollten sie sich vergewissern, dass sie keinen Sprung in der Schüssel hatte.

Vögel zu sehen, die niemand sonst sehen konnte, war eindeutig nicht normal.

Und so viel stand fest, niemand konnte die Vögel sehen, sie hatte ihre Mitschüler gefragt. Entweder waren sie real, aber für alle anderen unsichtbar, oder sie verlor den Verstand. Schon mit sieben wusste sie, dass keine dieser beiden Optionen gut war.

Aus Angst, ihre Eltern könnten sie wegschicken, hatte sie einem verdatterten Therapeuten – bei einer ihrer vielen Sitzungen – erzählt, die Vögel seien verschwunden. Die Aussage wurde von dem unsichtbaren Vogel Lügen gestraft, der auf dem Schreibtisch saß und sie stumm anstarrte.

Der Therapeut hatte befunden, dass sie lediglich eine blühende Fantasie hatte, und ihre erleichterten Eltern in die Normalität entlassen.

Danach hatte sie die Wahnvorstellungen nur noch selten. Und als sie mit der Schule fertig war, hatte sie sie komplett verdrängt.

Also warum jetzt? Warum hier? Hatte Sylvies unablässiges Gerede von Elstern und Adlern ihr Unterbewusstsein entfacht und so die Rückkehr der Halluzinationen ausgelöst? Verlor sie wieder den Verstand?

»Zigarette?«

Sie drehte sich erschrocken um. Ein Mann lehnte neben ihr an der Wand und paffte eine selbstgedrehte, stummelige Zigarette. Unwillkürlich suchte sie den Himmel über ihm ab und atmete erleichtert auf, als sie keine Vögel sah. Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, ich … ich rauche nicht«, stammelte sie.

»Vernünftig.«

Sie nickte. »Vernünftig. Ein Codewort für langweilig.« Langweilig war gut. Sie wollte langweilig sein.

Er lachte leise und trat die Zigarette mit seinem Stiefelabsatz aus. »Oh, ich weiß nicht. Vernünftige Mädchen wissen, was sie wollen. Und ich mag Mädchen, die ihren eigenen Kopf haben.«

Sie errötete und wandte sich ab, sah mit starrem Blick zu, wie die Autos an ihr vorbeirauschten.

»Alles okay?«, fragte er.

Als sie sich umdrehte, hatte er sich näher an sie herangeschoben. Nahe genug, dass sie die gezackte Narbe sehen konnte, die sich über seine Wange zog und seine Augenbraue zweiteilte. Er war um einiges älter als sie, aber die Narbe und seine kurzgeschorenen Haare machten es schwierig, sein genaues Alter zu schätzen.

»Mir geht’s gut«, sagte sie und warf ihm einen argwöhnischen Blick zu.

»Du siehst aber nicht so aus, als ginge es dir gut«, erwiderte er.

»Ach ja? Wie sehe ich denn dann aus?«

Er legte eine Pause ein und musterte sie eingehend. »Wunderschön.«

Sie schnaubte. »Nun, jetzt weiß ich, dass Sie lügen«, sagte sie. »Niemand hat mich je als schön bezeichnet. Freundlich, ja. Und auf meine Pausbacken werde ich natürlich auch manchmal hingewiesen.«

»Ich sage nur, was ich sehe.« Er grinste und ließ den Blick über ihr Kleid wandern.

Ihre Wangen brannten unangenehm. »Tja, also … Sie sind wahrscheinlich betrunken.«

»Ich bin definitiv berauscht«, sagte er mit einem Augenzwinkern. »Komm, ich geb dir einen Drink aus.«

»Danke«, sagte sie und wich einen Schritt zurück, »aber meine Freundin hat mir schon einen spendiert.«

Ein gelassenes Lächeln umspielte seine Lippen. »Na gut, dann sehen wir uns später. Ich warte hier draußen.« Er stieß einen leisen Pfiff aus. »Auf eine Frau wie dich würde ich die ganze Nacht warten.«

Sie widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen, und eilte zurück in den Pub. Aber sobald sie den schmalen Korridor betrat, verließ sie der Mut. Waren die Vögel immer noch da drin? Sie fasste sich ein Herz und stieß die Tür zum Piggery auf. Eine schwarze Gestalt ragte über ihr auf und versperrte ihr den Weg.

»Was zum …?«

Crowley packte sie und drängte sie rückwärts ins Seitenzimmer, das Poke.

»Fassen Sie mich nicht an!«, fauchte sie und stieß ihn weg.

»Ich hab dich vom Fenster aus beobachtet.«

Ihr blieb der Mund offen stehen. »Dann stellen Sie mir wirklich nach? Das würde Ihrer Freundin bestimmt nicht gefallen.«

Auf seinem Gesicht machte sich Verwirrung breit.

»Sandra?«, rief sie ihm in Erinnerung.

»Sei nicht albern – ich habe sie erst vor ein paar Stunden kennengelernt. Als du aus deinem Büro gerannt bist, obwohl ich nur mit dir reden wollte. Ich musste jemanden finden, der mir deine Adresse geben kann.«

»Sie hat meine Adresse einfach einem Wildfremden gegeben? Die blöde Kuh.«

»Ich kann ziemlich überzeugend sein, wenn ich will.« Er zuckte die Achseln. »Ich musste dringend mit dir sprechen, aber da du mich so unhöflich aus deiner Wohnung geworfen hast …«

»Warum sind Sie hier?«, wollte sie wissen.

Sein Gesicht nahm einen grimmigen Ausdruck an. »Halt dich von diesem Mann fern.«

»Wie bitte?«

Er blickte sie verdrossen an. »Der Mann, mit dem du dich da draußen unterhalten hast. Halt dich von ihm fern. Er ist gefährlich. Wenn Sylvie dich gewarnt hat, dass du in Gefahr bist, dann seinetwegen.«

»Ach ja? Er hat mich aber nicht den ganzen Tag verfolgt. Er hat nicht versucht, sich gegen meinen Willen Zutritt zu meiner Wohnung zu verschaffen. Er hat mich nicht in ein Seitenzimmer gezerrt.« Plötzlich wurde ihr sehr bewusst, dass außer ihnen niemand hier war. »Was wollen Sie überhaupt?«

Crowleys Augenbrauen zogen sich finster zusammen.

»Ach, vergessen Sie’s«, sagte sie. »Ich habe schon genug um die Ohren, ohne diesen ganzen Unsinn.« Alice schob sich an ihm vorbei, doch er reagierte blitzschnell und machte die Tür zu. Seine Brust drückte sich von hinten an sie, und sie erstarrte. »Hauen Sie ab, oder ich schreie um Hilfe«, sagte sie leise, dann drückte sie die Tür auf und schlüpfte hindurch. Sie durchquerte den schmalen Korridor und ging zurück ins Piggery. Stimmengewirr und Wärme umfingen sie.

Sandra hatte sich von ihren Arbeitskollegen abgesetzt und stand nervös in der Nähe, als würde sie auf jemanden warten. Auf Crowley natürlich. Als Alice einen Schritt vortrat, erblickte sie wieder die gefürchteten Vögel, und ihre Beine gaben beinahe unter ihr nach. Wie zuvor waren es so viele, dass sie zu einer einzigen wirbelnden Masse verschwammen. Doch mit jedem Blinzeln verschwanden sie spurlos. Vögel. Keine Vögel. Vögel. Keine Vögel. Was geschah da bloß mit ihr?

Von heftigem Schwindel erfasst, legte sie die Hände auf die Augen. Ihre Haut war klamm, und ihre Beine zitterten. Sie musste nach Hause.

»Jen?«, krächzte sie. Ein paar Leute drehten sich zu ihr um, aber Jen war nicht unter ihnen. Der Raum hörte nicht auf, sich zu drehen und aus der Realität hinaus und wieder herein zu flimmern. Vögel. Keine Vögel. Vögel. Keine Vögel. Flügel streiften um ein Haar ihren Kopf, und sie zuckte zurück. Eine Hand griff nach ihr, aber sie riss sich los und taumelte zurück nach draußen.

»Hey, nicht so schnell. Nicht so schnell.«

Als sie über die Schwelle stolperte, fing sie der Raucher mit der Narbe im Gesicht auf und stützte sie.

»Ich wusste doch, dass es dir nicht gut geht«, sagte er. »Ich rufe dir ein Taxi.«

Sie starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an, voller Angst, was sie sehen würde. Keine Vögel. Sie blinzelte. Immer noch keine Vögel. Sie atmete auf und schlang die Arme um sich.

»Ich glaub, mir geht’s wirklich nicht gut«, murmelte sie.

»Komm«, sagte er. »Wir teilen uns ein Taxi, und ich sorge dafür, dass du sicher nach Hause kommst. Du siehst aus, als würdest du jeden Moment in Ohnmacht fallen.«

»Ich … Nein, schon okay«, sagte sie und schluckte schwer.

»Na komm, ich bringe dich nach Hause«, sagte der Mann und umfasste ihr Handgelenk.

»Nein. Wirklich. Mir geht’s gut. Meine Freundin ist noch …« Sie verstummte, als sie eine dunkle Gestalt am Fenster erspähte, die sie unverwandt anstarrte. Crowley. Hastig wandte sie sich zu dem Mann neben ihr um.

»Eigentlich wäre das sehr nett, danke«, sagte sie. Er grinste, hakte sich bei ihr unter und zog sie an den Straßenrand. »Ich … Ich weiß nicht mal Ihren Namen.«

»Vincent Kelligan. Aber du kannst mich Vin nennen.«

»Ich bin Alice.«

»Hübscher Name. Gefällt mir«, sagte er, als hätte sie nach seiner Meinung gefragt.