Sozialpsychologie des Schulalltags - Gisela Steins - E-Book

Sozialpsychologie des Schulalltags E-Book

Gisela Steins

3,8

Beschreibung

Das Berufsfeld Schule fordert von Lehrern und Lehrerinnen eine große Geschicklichkeit im Umgang mit einer Fülle sozialer Phänomene. Wie man die Aufmerksamkeit einer großen Gruppe heranwachsender Jungen und Mädchen fesseln kann, wie man anregende Diskussionen im Klassenzimmer bewirken kann ... Für diese und viele andere didaktischen Grundkompetenzen bedarf es nicht nur eines fundierten Fachwissens. Die Beschäftigung mit sozialpsychologischen Theorien eröffnet auf die Handlungsfelder des schulischen Alltags spannende Perspektiven, die das Verhaltensspektrum lehrender Personen erweitern und zur konstruktiven Lösung der zahlreichen Alltagsprobleme anregen, die Schule ausmacht.

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Das Berufsfeld Schule fordert von Lehrern und Lehrerinnen eine große Geschicklichkeit im Umgang mit einer Fülle sozialer Phänomene. Wie man die Aufmerksamkeit einer großen Gruppe heranwachsender Jungen und Mädchen fesseln kann, wie man anregende Diskussionen im Klassenzimmer bewirken kann ... Für diese und viele andere didaktischen Grundkompetenzen bedarf es nicht nur eines fundierten Fachwissens. Die Beschäftigung mit sozialpsychologischen Theorien eröffnet auf die Handlungsfelder des schulischen Alltags spannende Perspektiven, die das Verhaltensspektrum lehrender Personen erweitern und zur konstruktiven Lösung der zahlreichen Alltagsprobleme anregen, die Schule ausmacht.

Professor Dr. Gisela Steins ist Professorin für Allgemeine Psychologie und Sozialpsychologie der Abteilung Psychologie des Fachbereichs Bildungswissenschaften, Universität Duisburg-Essen.

Gisela Steins

Sozialpsychologie des Schulalltags

Das Miteinander in der Schule

Verlag W. Kohlhammer

FürMaria Limbourg, die mich zu diesem Buch inspiriert undNorbert Nothbaum, der mich immerzu ermuntert hat.

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2005 Alle Rechte vorbehalten © 2005 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany

Print: 978-3-17-018849-5

E-Book-Formate

pdf:

978-3-17-022790-3

epub:

978-3-17-028022-9

mobi:

978-3-17-028023-6

Inhaltsverzeichnis

Teil I: Eine Einführung

1 Die Absicht dieses Buches

1.1 Ein Interview mit einer Schülerin

1.2 Zusammenfassung und Fazit

1.3 Fragen und Übungen

2 Warum sind gute Theorien praktisch?

2.1 Auswahl der Theorien

2.2 Zusammenfassung und Fazit

2.3 Fragen und Übungen

3 Schule: Alle kommen schlecht weg

3.1 Eltern

3.2 Lehrer und Lehrerinnen

3.3 Schüler und Schülerinnen

3.4 Zusammenfassung und Fazit

3.5 Fragen und Übungen

4 Die Komplexität des schulischen Alltags

4.1 Schüler und Schülerinnen

4.2 Lehrer und Lehrerinnen

4.3 Eltern

4.4 Peers

4.5 Geschwister

4.6 Die institutionalisierte Ebene

4.7 Zusammenfassung und Fazit

4.8 Fragen und Übungen

5 Was ist eine Theorie?

5.1 Strukturelle Elemente

5.2 Dynamisches Element

5.3 Funktionen von Theorien

5.4 Was ist eine gute Theorie?

5.5 Zusammenfassung und Fazit

5.6 Fragen und Übungen

Teil II: Praktische Theorien für Facetten des Schulalltags

6 Wer sind die anderen Personen? Theorien der Personenwahrnehmung

6.1 Hintergrund

6.2 Implizite Persönlichkeitstheorien

6.2.1 Die Anwendung auf den schulischen Alltag

6.3 Ein Modell zur Perspektivenübernahme

6.3.1 Die Anwendung auf den schulischen Alltag

6.4 Zusammenfassung und Fazit

6.5 Fragen und Übungen

7 Ein Leben in der Gruppe: Theorien zu Konformität und Macht

7.1 Hintergrund

7.2 Grundlagen der Macht

7.2.1 Die Anwendung auf den schulischen Alltag

7.3 Majorität und Minorität

7.3.1 Die Anwendung auf den schulischen Alltag

7.4 Machtausübung ohne Mehrheiten und Minderheiten

7.4.1 Die Anwendung auf den schulischen Alltag

7.5 Zusammenfassung und Fazit

7.6 Fragen und Übungen

8 Das Ich und die anderen: Sozialer Vergleich und seine Folgen

8.1 Hintergrund

8.2 Die Theorie der sozialen Vergleichsprozesse von Festinger

8.2.1 Die Anwendung auf den schulischen Alltag

8.3 Das Selbstwerterhaltungsmodell

8.3.1 Die Anwendung auf den schulischen Alltag

8.4 Zusammenfassung und Fazit

8.5 Fragen und Übungen

9 Der Mensch als Wissenschaftler, Philosoph und Richter: Attributionstheorien, existenzielle Attributionen und attributionale Theorien

9.1 Hintergrund

9.2 Kelleys Attributionstheorie

9.2.1 Die Anwendung auf den schulischen Alltag

9.3 Existenzielle Attributionen

9.3.1 Anwendung auf den schulischen Alltag

9.4 Attributionale Theorien

9.4.1 Die Anwendung auf den schulischen Alltag

9.5 Zusammenfassung und Fazit

9.6 Fragen und Übungen

10 Die Bedeutung von Modellen: Die sozial-kognitive Lerntheorie

10.1 Hintergrund

10.2 Die sozial-kognitive Lerntheorie von Bandura

10.2.1 Die Anwendung auf den schulischen Alltag

10.3 Zusammenfassung und Fazit

10.4 Fragen und Übungen

11 Ein Blick nach innen: Die Selbstaufmerksamkeitstheorie

11.1 Hintergrund

11.2 Die Theorie

11.2.1 Die Anwendung auf den schulischen Alltag

11.3 Zusammenfassung und Fazit

11.4 Fragen und Übungen

12 Ein Blick von außen: Die Theorie der symbolischen Selbstergänzung

12.1 Hintergrund

12.2 Die Theorie

12.2.1 Die Anwendung auf den schulischen Alltag

12.3 Zusammenfassung und Fazit

12.4 Fragen und Übungen

13 Widerstand und Anpassung: Die Reaktanztheorie

13.1 Hintergrund

13.2 Die Theorie

13.2.1 Die Anwendung auf den schulischen Alltag

13.3 Zusammenfassung und Fazit

13.4 Fragen und Übungen

14 Die Ursachen und Folgen von Gefühlen: Emotionstheorien

14.1 Hintergrund

14.2 Die Zweikomponententheorie der Emotion von Schachter und Singer

14.3.1 Die Anwendung auf den schulischen Alltag

14.3 Das Emotionskonzept in der rational-emotiven Verhaltenstherapie

14.3.1 Die Anwendung auf den schulischen Alltag

14.4 Zusammenfassung und Fazit

14.5 Fragen und Übungen

Teil III: Theorien einsetzen

15 Theoriegeleitetes Handeln

15.1 Anwendung von Theorien in Spontansituationen

15.2 Ausgewählte Problemfelder

15.3 Zusammenfassung und Fazit

15.4 Fragen und Übungen

16 Theoriegeleitete Definition von Schlüsselbegriffen

16.1 Respekt

16.2 Lehrer/-innenpersönlichkeit

16.3 Zusammenfassung und Fazit

16.4 Fragen und Übungen

17 Theoriegeleitete Reformen

17.1 Primarstufenunterricht

17.2 Zusammenfassung und Fazit

17.3 Fragen und Übungen

18 Abschließende Bemerkungen

Empfehlungen für weiterführende Lektüre

Literatur

Stichwortverzeichnis

Teil I:Eine Einführung

„Na, warum willst du das werden, Lehrerin?“„Um die Plagen zur Sau zu machen“, antwortete Zazie. „Die, die in zehn Jahren, inzwanzig Jahren, in fünfzig Jahren, in hundert Jahren, in tausend Jahren mein Alter habenwerden, immer wird es Gören geben, die man zur Sau machen kann.“„Na ja, sagte Gabriel.“

(Aus „Zazie in der Metro“ von Raymond Queneau, 1986, S. 21 f.)

1 Die Absicht dieses Buches

Unsere besten Fähigkeiten bestehen in der Möglichkeit zur Erkenntnis und positiven Veränderung. Auch wenn Menschen über lange Zeitspannen glaubten, dass die Erde der Mittelpunkt des Universums ist, konnten sie ihre Vorstellungen revidieren, als neue Erkenntnisse auftauchten. Lange Zeit ging man wie selbstverständlich davon aus, dass springende Pferde mit den Vorderbeinen gegenläufig zu den Hinterbeinen, alle vier weit ausgestreckt in der Luft, galoppieren, bis die Kunst der Fotografie zeigte, dass ein galoppierendes Pferd die Beine in der Luft anzieht (Gombrich, 1989). Wir neigen dazu, wie Gombrich schreibt (S. 11), konventionelle Ansichten darüber, wie etwas zu sein hat, zu übernehmen und nicht zu hinterfragen. Aber ab und zukommen wir dahinter. Es kann immer wieder eine große Freude machen, wenn wir merken, dass wir, wie ein Kind, etwas über einen Sachverhalt angenommen haben, der so gar nicht stimmig sein konnte. Wir haben etwas dazu gelernt, wir sehen nun bestimmte Zusammenhänge anders.

Jede wissenschaftliche Disziplin verfolgt diese Aufgabe, eigentlich bekannte Dinge, Prozesse oder Themen in einem neuen Licht zu betrachten, um zu neuen Erkenntnissen zu kommen, um neue, weiterführende Einsichten zu entwickeln. In diesem Buch wird die Disziplin Sozialpsychologie und mit ihr verwandte Theorien auf den schulischen Alltag angewendet in der Hoffnung, die interessierten Leser und Leserinnen zu neuen Interpretationen der Schulalltagswirklichkeit anzuregen und damit ihr Handlungsspektrum zu erweitern. Der Blickwinkel der Sozialpsychologie – der Wissenschaft über die Begegnungen zwischen Menschen, deren Ursachen und Auswirkungen – wird unsere Aufmerksamkeit auf die Beziehungen zwischen den in Schule involvierten Personen lenken, auf Schüler und Schülerinnen, Lehrer und Lehrerinnen und Eltern.

Nahezu jeder Mensch in unserer Gesellschaft hat in gewisser Weise einen wichtigen Abschnitt seines Lebens, wenn nicht sogar sein gesamtes Leben mit Schule zu tun: Als Schüler oder Schülerin, als Elternteil, als Großelternteil oder als weitere Verwandte von schulpflichtigen Kindern. Würde dieses Wissen sinnvoll zusammengetragen und geordnet werden können, dann wäre der schulische Alltag ein Gegenstand, über den möglicherweise konstruktive Diskussionen von vielen Menschen geführt werden könnten. Und diese Diskussionen könnten idealerweise zu langsamen, aber fundierten Veränderungen führen. Die Beschäftigung mit den in diesem Buch vorgestellten Perspektiven kann möglicherweise eine gezielte Diskussion bei Menschen unterschiedlichster Berufe anregen.

Es ist grundlegend wichtig, den schulischen Alltags so gut zu gestalten wie möglich, da wir als Kinder und Jugendliche einen beträchtlichen Teil unserer Zeit im schulischen Umfeld verbringen. Immerhin bewegen wir uns bei durchschnittlich vier Stunden täglich während der Grundschulzeit und fünf Stunden täglich bis einschließlich des 10. Schuljahres abzüglich der Ferien rund 146.800 Stunden unserer Kindheit und Teile unserer Jugend in der Schule. Es ist also nicht unerheblich wie dieses Umfeld beschaffen ist.

Auch sollen in dieser Zeit die Grundlagen für unsere Erkenntnisfähigkeit gelegt werden. Wir sollen das Handwerkszeug erlernen, welches es uns ermöglicht als mündiger Mensch selbstverantwortlich zu handeln.

Ein Weg zu einer konstruktiven Gestaltung von Schule kann in der Kenntnis und Anwendung psychologischer Grundlagentheorien liegen. Ein entscheidender Vorteil einer wissenschaftlichen Ausbildung liegt darin begründet, dass durch die Auseinandersetzung mit verschiedenen theoretischen Blickwinkeln eine Art des Denkens gelernt wird, die nicht eine mögliche Sicht der Dinge als absolute Wahrheit betrachtet, sondern die Komplexität von Realität akzeptiert und sich dieser durch verschiedene Zugänge annähert. Die Fähigkeit, theoretische Perspektiven anzuwenden und zu wechseln ist nützlich, um die eigenen Einstellungen und Meinungen zum schulischen Alltag zu ordnen, zu formulieren und damit in einen Diskurs zu treten.

Deshalb richtet sich dieses Buch an alle Menschen, die daran interessiert sind, sich konstruktiv mit dem schulischen Alltag zu beschäftigen, sich eine fundierte Meinung zu bilden und aktiv an sinnvollen Veränderungen im schulischen Alltag mitzuwirken. Die Formulierung eigener Erlebnisse im Lichte theoretischer Vorstellungen – dies ist meine These – wird sich als sehr nützlich erweisen, denn theoretisch heißt auch praktisch denken. Eine Analyse des Schulalltags im Lichte unterschiedlicher Betrachtungsweisen sollte zu neuen Erkenntnissen und weiteren Denkanstößen führen.

1.1 Ein Interview mit einer Schülerin

Beginnen wir diese Analyse mit einem Interview, das ich 2004 mit einer Schülerin der sechsten Klasse eines koedukativen Gymnasiums geführt habe. Die im Interview auftauchenden Themen werden bei vielen Lesern und Leserinnen eigene Erinnerungen an schulische Erlebnisse wecken. Die Inhalte schneiden viele brisante Themen des schulischen Alltags an: Die Macht der Lehrer und Lehrerinnen, aber auch die der Schüler und Schülerinnen, die Vorurteile auf beiden Seiten und deren Folgen für die Interaktionen untereinander, die Wünsche von Schülern und Schülerinnen an ihre Lehrer und Lehrerinnen, die menschlichen Bedürfnisse, die beide Seiten, Lehrer und Lehrerinnen, Schülerinnen und Schüler in den Unterricht hineintragen, die unzulänglichen Methoden mancher Lehrpersonen gegenüber den praktischen Problemen des Schulalltags wie beispielsweise mangelnde Motivation der Schüler und Schülerinnen und Unterrichtsstörungen.

I.: Wer ist eigentlich dein Lieblingslehrer1?

S.: Das ist eigentlich schwer, weil alle Lehrer nett sind. Aber auf eine andere Art und Weise. Ich mag Herrn M., Herrn K. und Frau W. und Frau B.

I.: Was magst du denn an denen so?

S.: Also Frau B. und Herr K., die verstehen auch mal Spaß, aber bei Herrn K., bei Frau B. und Frau W. ist das so, dass sie es nicht zu weit treiben mit dem Spaß. Herr M. übertreibt manchmal. Aber der ist zu jedem Schüler gleich nett und deshalb mag ich ihn.

I.: Was heißt denn „Spaß“ machen? Nenne mal ein Beispiel.

S.: Ja, wenn jetzt irgendwas passiert, wenn jetzt einer mit dem Stuhl umkippt, dann ist das nicht unbedingt witzig, aber wenn demjenigen nichts passiert ist, dann kann man da auch drüber lachen.

I.: Und was heißt übertreiben?

S.: Wenn man die ganze Stunde nur Scherze macht.

I.: Was ist daran nicht so toll?

S.: Ja, das ist ja Unterricht.

I.: Was ist denn noch nett an den Lehrern?

S.: Dass die überhaupt kommen und uns unterrichten.

I.: Aber das gehört ja zu deren Beruf. Du sagst du findest es nett, wenn der Lehrer auch mal einen Spaß machen kann. Was findest du an denen denn noch nett?

S.: Das weiß ich nicht.

I.: Machen die besonders interessanten Unterricht?

S.: Ja, ich finde schon.

I.: Was machen die denn da gut? Was ist denn daran besonders interessant? Liegt das am Fach oder liegt das am Lehrer?

S.: Ich glaube das liegt auch am Lehrer.

I.: Was machen die denn da so interessant?

S.: Mein Musiklehrer, der bemerkt nicht mal, der weiß nicht mal, wann er zum letzten Mal, wann er zuletzt die A-Moll-Tonleiter gemacht hat und wiederholt die dann fünfmal in der Woche und die anderen Lehrer, die haben einfach Übersicht über das, was sie gemacht haben.

I.: Und was machen die noch besser am Unterricht als die anderen Lehrer?

S.: Die Klasse einfach ruhiger halten.

I.: Wie machen die das denn?

S.: Also, ich weiß nicht. Man respektiert die mehr.

I.: Warum? Nenne mir mal ein Beispiel von einem Lehrer, den ihr überhaupt nicht mögt.

S.: Herrn T.

I.: Warum respektiert ihr den nicht?

S.: Weil der, na ja, das ist so. Ich respektiere den schon, aber viele aus der Klasse halten den eh für homosexuell und verachten den deswegen, weil die sich davor ekeln.

I.: Wie kommen die darauf, dass Herr T. homosexuell sein soll?

S.: Weil – das weiß ich auch nicht, aber –, ich weiß es nicht.

I.: Meinst du, die würden auch Herrn K. so behandeln, wenn sie denken, der ist homosexuell?

S.: Nein.

I.: Woran liegt das noch?

S.: Er kann sich nicht richtig gegen die Klasse wehren, die ist mächtiger als er. Also, er kann Klassenbucheinträge verteilen, aber, wenn er das gemacht hat, dann finden die anderen das toll.

I.: Warum finden die das denn toll?

S.: Weil das als besonders cool gilt. Schätze ich mal.

I.: Was heißt das denn, den zu respektieren?

S.: Na, Respekt heißt ja, das man einem anderen Menschen auch zuhören kann und auch die Ideen der anderen Personen entgegennimmt und sich nicht immer sofort dagegenstellt.

I.: …?

S.: Ich glaube, weil der Sebastian, der ist bei den Jungen relativ beliebt und der hatte von Anfang an Schwierigkeiten mit Herrn T., glaub‘ ich. Und weil der eben bei den Jungen immer ein großer Hecht ist, denke ich, dass die anderen Jungen auch gegen den was haben und das hat sich dann bis zur 6. Klasse so als Hass entwickelt, weil, die hassen Herrn T. richtig.

I.: Was könnte denn Herr T. tun, damit das aufhört?

S.: Also, wenn ich er wäre, würde ich aufhören zu unterrichten.

I.: Ja? Der sollte gar nicht mehr unterrichten? Der kann also gar nichts mehr machen, damit die Schüler ihn mehr respektieren?

S.: Selbst wenn, also einmal hat sich Frau B. dazu gesetzt und der Lärm hat trotzdem nicht aufgehört. Und Herr K. hat sich auch einmal dazu gesetzt und der Lärm hat nicht nachgelassen.

I.: Was hätte Herr T. denn vielleicht vor zwei Jahren anders machen sollen?

S.: Keine Ahnung.

I.: Na gut, aber war das da auch schon so schlimm wie jetzt?

S.: Ja. Ja, genauso schlimm. Sogar noch schlimmer.

I.: Hast du vielleicht noch anderen Ideen, was er noch machen könnte, damit es leiser wird? Ist es denn jede Musikstunde gleich laut? Oder gab es schon mal Ausnahmen?

S.: Es gab auch einmal, es gab zwei bis dreimal eine Ausnahme. Das waren nämlich die Wochen, wo er „Usher“ gemacht hat.

I.: Was heißt das?

S.: Zum Beispiel, dass er seinen Unterrichtsstoff abgewechselt hat, also, Montags gab es immer Klassik und Tonleitern und so was, was er unterrichten wollte, aber am Mittwoch, was die Schüler eigentlich haben wollten. Und er hat sich eben nicht an unsere Abmachung gehalten und deswegen mag ihn jetzt niemand mehr.

I.: Wieso hat er sich denn nicht mehr an die Abmachung gehalten?

S.: Herr T. hat gesagt, er habe 25 Jahre klassische Musik studiert und möchte nichts anderes machen, weil er mit der modernen Musik von heute, weil er sich damit nicht auskennt.

I.: Und was war eure Vereinbarung? Habt ihr eine wirkliche Vereinbarung getroffen?

S.: Ja.

I.: Wie sah die denn aus?

S.: Die Abmachung?

I.: Ja.

S.: Wie die ablief?

I.: Inhaltlich.

S.: Dass wir das so machen, dass eben ein Kompromiss gemacht wird.

I.: Zwischen euren Interessen?

S.: Genau.

I.: Und von wem ging diese Anregung aus? Diese Vereinbarung zu treffen?

S.: Von uns allen. Weil Frau B. hat das geraten, als das einmal ziemlich schlimm wurde. Da hat Herr T. auch geweint, glaub ich, vor Anstrengung und Stress, denk ich mal und Verzweiflung. Da hat Frau B. gesagt, dass wir doch mal ein Klassengespräch mit Herrn T. führen sollen. Das haben wir dann auch in Angriff genommen und haben das auch besprochen mit den beiden Klassensprechern und in der Stunde waren wir auch sehr zurückhaltend und haben erst unsere Meinung gesagt, also ganz offen, und dann hat Herr T. ganz offen seine Meinung gesagt.

Und dann haben wir das eben abgemacht, also diesen Kompromiss zwischen „Usher“ und Klassik.

I.: Ein paar Wochen habt ihr dann den Kompromiss ausprobiert?

S.: Ja. Zwei Wochen bis drei Wochen und, nee, einen Monat, aber in diesem Monat hat er zwei Wochen Klassik gemacht und nur zweimal „Usher“, also viermal Klassik und zweimal „Usher“.

I.: Und in der Zeit war der Unterricht ruhiger?

S.: In den Klassikstunden war es ruhiger, weil alle wussten, wenn sie sich ruhig verhalten würden, dann würde „Usher“ auch weitergehen. Das haben wir zumindest gehofft. Weil, er hatte vorher einmal „Usher“ abgebrochen und als wir dann wieder ruhig waren, da waren wir eine Woche ganz ruhig im Unterricht, da wollte er trotzdem „Usher“ im Unterricht nicht mehr weitermachen.

I.: Hat er das begründet, warum er das nicht mehr weiter machen wollte?

S.: Ja, ich habe ihn gefragt und er hat gesagt, wir müssen endlich mit dem richtigen Unterrichtsstoff weitermachen. Aber ich weiß ja nicht, was er unter richtigem Unterrichtsstoff versteht. Ich denke mal das, was er über seinen Musikstil weiß.

I.: Er hat doch bestimmte Themen, die muss er im Unterricht durchnehmen.

S.: Ja, aber er kann doch nicht fünf Wochen hintereinander die A-Moll-Tonleiter machen, obwohl wir die schon alle haben.

I.: Das heißt, ihr habt nicht vereinbart, wie lange ihr „Usher“ durchnehmt?

S.: Doch, bis zum Ende des Schuljahres.

I.: Ach so. Das hat er dann einfach beendet?

S.: Ja.

I.: Und seitdem ist es in der Klasse schlimmer geworden?

S.: Ja, weil jetzt alle wissen, dass Herr T. sich nicht an unsere Abmachung gehalten hat und dann wollten sich ein paar Leute auch nicht an die Abmachung halten, dass wir ruhig sind.

I.: Und wie geht Herr T. jetzt mit Kindern um, die in den Unterricht reinreden?

S.: Zu einem Jungen, der sehr laut war, ist er hingegangen und ist krebsrot angelaufen und hat ihn angebrüllt, richtig angebrüllt, dass er ihm noch eine 5 auf das Zeugnis gibt.

I.: Hat denn nur ein Junge gebrüllt oder auch andere?

S.: Auch andere.

I.: Was macht er dann?

S.: Also, er, also er provoziert sie auch irgendwie, ohne das zu wissen.

I.: Was macht er denn?

S.: Er geht zu denen hin, die gar nichts getan haben, zum Beispiel zu Sebastian – und der hat sich in letzter Zeit ziemlich angestrengt in Musik – weil er vorher immer so laut war. Der ist jetzt nicht mehr laut. Und Herr T. denkt immer, dass Sebastian das alles wäre und beschuldigt deshalb immer Sebastian.

Den Sebastian ärgert das ziemlich, da er ja ungerecht behandelt wird und dann schreit er auch rum, der will sich das eben nicht gefallen lassen.

I.: So dass der ständig laut losbrüllt?

S.: Ja.

I.: Ist denn die Musik interessant, die Herr T. macht?

S.: Also ich finde das schon ganz o.k., ich hab da nichts gegen, was er macht, aber ich finde, er sollte sich eben an unsere Abmachung halten. Damit alle Spaß am Unterricht haben und nicht nur er und ein paar andere.

I.: Aber er hat ja auch keinen Spaß.

S.: Ja, aber, ich finde das schon. Wenn er das nicht gewollt hätte mit dem „Usher“, dann hätte er uns das ja ruhig sagen können und dann hätte er ja nicht sagen dürfen, ja o.k., dass machen wir dann. Da hat er uns ja auch ein bisschen angelogen.

I.: Gibt es noch einen anderen Lehrer, den du nicht so besonders toll findest?

S.: Eigentlich nicht, nur, ach ja, genau, Herr R.

I.: Warum?

S.: Weil der immer so blöde Sprüche ablässt.

I.: Nenn mal ein Beispiel.

S.: „Das interessiert jetzt hier keine Sau!“

I.: Zu wem sagt er das denn?

S.: Er meint damit natürlich eine bestimmte Person, die etwas gesagt hat, das nicht zum Unterrichtsthema passt.

I.: Meinst du, er macht sich dann über dieses Kind lustig?

S.: Ja. Ja, heute zum Beispiel war wieder so ein Beispiel. Wir haben ja sehr viele Brillenträger bei uns in der Klasse. Der Simon zum Beispiel, der ist ein ganz starker Außenseiter und der trägt auch ‘ne Brille und die hat er heute, aus welchem Grund auch immer, abgelegt und vor sich auf den Schreibtisch gelegt. Und da hat jemand aus dem Buch vorgelesen und da kam der Herr R. zu dem Simon, der sitzt hinten, und hat die Brille vom Schreibtisch genommen und hat die sich selber aufgesetzt.

I.: Und was fandest du daran doof?

S.: Ja, ich finde, der sollte den Simon schon fragen, ob er die Brille aufsetzen darf und außerdem darf er im Unterricht nicht einfach da hinten hingehen. Es ist schließlich Unterricht.

I.: Hat jemand in der Zeit ein Referat gehalten?

S.: Nein, da hat jemand vorgelesen.

I.: Was findest du denn an dem so doof? Dass er sich so lässig benimmt?

S.: Ja.

I.: Warum benimmt er sich denn so lässig?

S.: Weil er, weil es bei den Jungs aus meiner Klasse, weil es bei denen gut ankommt.

I.: Wie kommst du denn darauf, dass es ausgerechnet bei denen gut ankommt?

S.: Ich weiß nicht. Das ist so mein Eindruck.

I.: Hat Herr R. gesagt, er möchte gut bei den Jungs ankommen?

S.: Nein, aber… wenn er zum Beispiel dieses T-Shirt mit dem Totenkopf vorne trägt, dann, als er das zum ersten Mal an hatte, da schrie Bastian in die Klasse, „Das ist aber cool, Herr R.“ und am nächsten Tag hatte er das dann wieder an.

I.: Warum, denkst du, hat er das gemacht?

S.: Weil er genau dieselben Sprüche ablässt wie unsere Jungs.

I.: Was denn zum Beispiel?

S.: Das habe ich doch eben schon gesagt!

I.: Das mit dem „Das interessiert hier keine Sau?“. Das sagen die Jungs in eurer Klasse auch?

S.: Ja.

I.: Und was gefällt dir daran nicht?

S.: Ja, er ist unser Lehrer und er müsste eigentlich ein Vorbild für uns sein. Also für mich ist so ein Lehrer kein Vorbild.

I.: Stört das denn auch andere?

S.: Ja, viele.

I.: Ja?

S.: Ja.

I.: Auch die Jungen?

S.: Ja, aber die tun, wenn der Herr R. da ist, dann tun die so, als ob sie den Herrn R. total cool finden würden.

I.: Warum tun die denn dann so?

S.: Ich weiß es nicht. Aber, viele von denen sind nicht so gut und kriegen vielleicht auch eine 4 oder eine 5 aufs Zeugnis und ich glaube, dass manche aus meiner Klasse denken, wenn sie sehr nett zu dem Herrn R. sind und den eben als cool bezeichnen, dann kriegen die eine bessere Note aufs Zeugnis.

I.: Ist das denn so? Kriegen die eine bessere Note deswegen?

S.: Nein.

I.: Das heißt, Herr R. kann das durchaus unterscheiden?

S.: Ja.

I.: Wer ist denn dein Lieblingslehrer? Dein absoluter Lieblingslehrer oder Lehrerin? Ich weiß, die Entscheidung fällt dir schwer, aber versuche es mal.

Bei wem fühlst du dich am wohlsten?

S.: Bei Frau B.

I.: Erklär mal warum.

S.: Die hat alles im Griff. Also, bei der verdrehen wir nicht die Augen, wie beim Herrn K. und die ist auch irgendwie, die kann gut mit uns umgehen.

I.: Was heißt das? Nenne mal ein Beispiel.

S.: Der Herr K., wenn jemand die Hausaufgaben bei Frau A. nicht gemacht hat, dann kommt der in die Klasse und schreit uns an und sagt, dass das sehr respektlos wäre und so. Aber wenn Frau A. das der Frau B. sagen würde, bin ich mir eigentlich ziemlich sicher, dass die Frau B. nicht so reagieren würde wie der Herr K.

I.: Was nimmst du denn an, wie die reagieren würde?

S.: Ich denke, sie würde auch in die Klasse kommen, das dann aber in einem ruhigen Ton halt sagen und nicht so ausflippen.

I.: Das heißt, sie reagiert in einem ruhigen Tonfall?

S.: Ja.

I.: Ist das alles, was du so toll an ihr findest?

S.: Die macht auch einfach ihren Unterricht interessant. Bei der verstehe ich das alles sehr gut in Mathe.

I.: Ist Mathematik dein Lieblingsfach?

S.: Schriftlich ist es ganz bestimmt nicht mein Lieblingsfach, aber seitdem ich bei Frau B. bin, find ich das alles viel interessanter. Weil sie das alles sehr gut erklärt und man merkt, dass sie sich auch dafür interessiert und ich denke, das steckt auch einfach an und deshalb gehört es schon zu meinen Lieblingsfächern.

I.: Ist es das Fach, wo du am besten bist?

S.: Nein.

I.: Welche Note hast du denn in Mathematik?

S.: Auf dem Zeugnis?

I.: Ja.

S.: Eine 3.

I.: Aha. Das heißt, obwohl es nicht dein bestes Fach ist, hast du es bei ihr sehr gern?

S.: Ja.

I.: Wie schafft sie das?

S.: Wenn sie zum Beispiel von dem Koordinatensystem redet, dann wirkt sie immer sehr begeistert.

I.: Was heißt das? Was macht sie denn dann?

S.: Dann kriegt sie auf einmal gute Laune, wenn sie vorher schlechte Laune hatte. Und sie macht das dann alles auf einmal mit Schwung. Und wenn jemand das dann nicht versteht, dann macht sie sehr viele Beispiele an der Tafel. Und was ich allerdings nicht so gut an ihr finde ist, dass sie nicht alle Dinge richtig erklärt. Also, sie erklärt es schon, aber wenn manche das nicht verstehen, dann macht sie zwar Beispiele an der Tafel, aber wenn einige es dann immer noch nicht verstehen, dann sagt sie „macht das einfach“ und das finde ich nicht so gut, denn es ist ja ihr Unterricht und den sollte sie schon richtig unterrichten können.

I.: Das heißt, perfekt ist sie nicht?

S.: Nein.

I.: Und wie geht sie sonst so mit euch um? Macht sie auch mal Späße?

S.: Ja, aber nicht zu viele. Das finde ich ganz gut, weil man sollte das ja nicht übertreiben.

I.: Ihr geltet ja als ziemlich schwierige Klasse? Das sagen die Lehrer ja. Findest du denn, dass sich die Lehrer angemessen verhalten bei Schülern, die sich daneben benehmen?

S.: Nein.

I.: Warum nicht?

S.: Weil Lehrer, also wenn ein Schüler oder eine Schülerin häufig die Hausaufgaben vergessen hat und wenn diese schon früher aufgefallen sind durch Hausaufgabenvergessen oder Klassenbucheinträge, dann werden die immer runtergemacht. Wenn jemand anders die Hausaufgaben zum zweiten Mal in der Woche vergessen hat, dann sagen die Lehrer „Du wirst ja schon wie der oder die!“ und die machen das eben auf Kosten anderer und das finde ich nicht in Ordnung.

I.: Was sollten die denn stattdessen machen?

S.: Ich finde, die sollten die Eltern benachrichtigen, dass der Sohn oder die Tochter die Hausaufgaben schon so oder so oft vergessen hat. Ja und dann sollten sich die Eltern darum kümmern und die Lehrer sollten vielleicht auch nachgucken, ob die Person die Hausaufgaben auch in das Hausaufgabenheft eingetragen hat.

Das kann die Lehrer ja auch nerven, aber wenn den Lehrern auch wirklich was daran liegt, dann sollten sie es auch machen.

I.: Wie ist es denn, wenn ein Kind ein anderes Kind beleidigt oder sich total daneben benimmt? Reagieren dann die Lehrer, wenn sie das mitbekommen?

S.: Ja, also beim Herrn K. gefällt mir das gut, wenn er darauf reagiert. Weil, wenn die Melanie zu mir zum Beispiel sagen würde „Du Schwein!“, dann reagiert er genauso darauf, wie wenn der Sebastian zur Melanie sagt „Du Idiot!“. Das finde ich gut. Das ist so Gleichberechtigung.

I.: Was sagt er denn? Oder macht er dann irgendwas?

S.: Nein, aber er steht dann eben immer noch vorne und sagt „Sebastian, musste das jetzt sein?“. Bei der Melanie sagt er das dann eben auch.

I.: Und dann passiert aber nichts weiter? Dann muss man sich nicht entschuldigen?

S.: Doch. Oder nein – muss man nicht.

I.: Es gibt dann keine Strafe?

S.: Nein. Wir haben mal eine Strafe erfunden, in unseren Klassenstunden. Und die lautet, dass, wenn man ein anderes Kind beleidigt, dann muss man eine Woche lang Ordnungsdienst machen und an die wird sich aber nicht gehalten.

I.: Warum nicht? Hat Herr K. das nicht eingeführt?

S.: Nein.

I.: Die habt ihr also aufgestellt und dann wurde sie nicht eingehalten?

S.: Ja.

I.: Wie findest du das?

S.: Ja, doof natürlich. Auch wenn ich jetzt ein anderes Kind beleidigen würde und eine Woche lang Ordnungsdienst machen müsste, dann find ich das natürlich auch doof für mich, aber im nachhinein ist es ja berechtigt, dass ich das eine Woche machen musste. Aber es ist dann auch nicht besser geworden, weil man hat ja seine Freunde dabei und man wusste ja, dass einen die Freunde nicht gleich verpetzen, dann hat man das ein bisschen ausgenutzt.

Im Lichte einiger ausgewählter sozialpsychologischer Theorien kommen wir auf die Inhalte dieses Gespräches zurück.

1.2 Zusammenfassung und Fazit

Jeder und jede kann beim Thema Schule mitreden, denn die meisten Menschen haben selber eine Schule besucht und haben auch als ehemalige Schüler und Schülerinnen indirekt weiterhin mit dieser Institution zu tun. Dieses informelle Experten- und Expertinnenwissen kann durch eine gezielte Beschäftigung mit wissenschaftlichen Theorien reflektiert und von Lehrern und Lehrerinnen, zukünftigen wie gegenwärtigen, konstruktiv genutzt werden, um den Schulalltag für alle Beteiligten positiv zu gestalten.

1.3 Fragen und Übungen

Fragen
Was ist Ihre persönlich positivste Erfahrung als Schüler/-in gewesen?Was war Ihre negativste Erfahrung?Welchen Aspekt in dem dargestellten Interview finden Sie besonders interessant? Warum?
Übungen
Führen Sie selbst ein Interview mit einem Schüler oder einer Schülerin durch. Überlegen Sie genau, was Sie wissen möchten. Versuchen Sie, Ihre Fragen offen zu formulieren. Schreiben Sie die wichtigsten Punkte auf, die Sie aus diesem Interview gelernt haben.Führen Sie ein Gespräch mit einer erfahrenen Lehrperson (die mindestens schon seit fünf Jahren unterrichtet). Versuchen Sie zu erkunden, welche Aspekte für diese Person zentrale Bedingungen eines gut durchgeführten Unterrichts sind. Schreiben Sie die wichtigsten Punkte auf, die Sie aus diesem Gespräch gelernt haben.

2 Warum sind gute Theorien praktisch?

Warum sollten gute Theorien etwas Praktisches sein? Immerhin widerspricht diese These doch so ziemlich den weit verbreiteten Sätzen „Probieren geht über Studieren“ oder „Grau ist alle Theorie“. Sätze, die gern von Menschen vertreten werden, die nichts von der akademischen Kopflastigkeit halten und diese als realitätsfern, wenn nicht sogar realitätsfeindlich, bezeichnen. Dieser Kontrast von Theorie und Praxis ist überholt. Die Anwendung der Theorien auf den schulischen Alltag wird zeigen, dass gute Theorien praktisch sein können, wenn wir gelernt haben, sie einzusetzen.

Dass nichts so praktisch sei wie eine gute Theorie ist ein Satz, der von Kurt Lewin stammt, dem Begründer der sog. Group Dynamics Ende der 1940er Jahre (Lewin, 1948). „Die Theorie solle zwei wesentliche Funktionen erfüllen: Erstens solle sie erklären, was bekannt sei; zweitens solle sie den Weg zu neuem Wissen zeigen“ (in Marrow, S. 41, 1977).

Gute Theorien sind also deshalb nützlich, weil sie uns Richtlinien an die Hand geben, wie wir die vielfältigen Eindrücke aus einem komplexen Erfahrungsbereich sinnvoll ordnen können. So sind wir eher in der Lage, unsere Erfahrungen, Gedanken und Eindrücke zu formulieren und bestimmte Ereignisse besser zu erklären. Gute Theorien liefern uns also einen Bezugsrahmen, den wir verwenden können. Sie helfen, komplexe Situationen zu beschreiben und zu erklären und, wenn sie wirklich gut sind, dann beinhalten sie auch Ansätze für Lösungen von spezifischen Problemen. Sie liefern uns für komplexe Situationen eine Metaebene, die uns Distanz zu den Verwicklungen des Alltags geben kann.

Wir alle haben Theorien über andere Personen, über bestimmte soziale und nichtsoziale Vorgänge. Manche dieser Theorien sind ausgereift, manche sind möglicherweise nur kleine Minimodelle. Diese Theorien sind uns oft nicht bewusst, aber wir erleben, denken, fühlen und handeln dennoch entsprechend. Nehmen wir als Beispiel einen Schüler, der sich als Außenseiter wahrnimmt. Natürlich wird er eine Theorie darüber entwickeln, warum dies so ist. Wenn seine Theorie für ihn schlecht ausfällt, wird er als Ursache sich selbst ausfindig gemacht haben und denken, dass er eben ein Kind ist, das für andere Kinder nicht liebenswert ist, weil er vielleicht nicht genauso stark ist wie die meisten seiner Mitschüler. Und weil er das denkt, wird er versuchen, diese erlebte Minderwertigkeit auf einem anderen Gebiet auszugleichen, aber alle anderen Bereiche, die mit dem kritischen Gebiet zusammenhängen, zu vermeiden. Er fehlt zum Beispiel bei sportlichen Wettkämpfen oder beginnt, sich über Jungen „mit Muskeln, aber wenig Hirn“ lustig zu machen. Sein Verhalten und das dadurch bei anderen provozierte Verhalten wird er als Bestätigung für seine Annahmen werten. Auf alle Fälle beeinflusst seine kleine Theorie über sich selbst und andere einen Teil seines schulischen Alltags. Die Ereignisse in seiner schulischen Umgebung haben ihm Anlass gegeben, Theorien über sich selbst und andere zu bilden, die sein Verhalten und seine Gefühle beeinflussen (siehe Abb. 1).

Würde er lernen, wissenschaftlich zu denken, dann würde er die soziale Zurückweisung durch seine Mitschüler aus einer Vielzahl von Perspektiven beleuchten. Er würde verschiedene Hypothesen testen und erkennen, dass die Wirklichkeit in der Regel so komplex ist, dass sie nicht nur mit einer Theorie zu erklären ist. Diese Methode würde eher zu Lösungen führen als die Beschränkung auf eine eigene unreflektierte und unüberprüfte Theorie.

Abb. 1: Theorien über sich selbst und andere und die Folgen

Bei Schülern und Schülerinnen übernehmen in der Regel die Eltern die Rolle derjenigen, die versuchen herauszufinden, was eigentlich in ihrem Kind vor sich geht, wie es sich dieses oder jenes Ereignis erklären mag. Entdecken sie beispielsweise einen „Minderwertigkeitskomplex“, dann setzen sie diesem meistens etwas dagegen. Sie versuchen, ihrem Kind Erfahrungen zu vermitteln, die es überzeugen, genauso wertvoll zu sein wie andere. Sie setzen also ihre eigenen Theorien gegen die ihres Kindes und bemühen sich, Beweise zu erbringen, die ihr Kind von der Ungültigkeit seiner eigenen Theorie überzeugen.

Lehrer und Lehrerinnen haben es hier schon schwerer. Es fehlt häufig die Zeit und die Gelegenheit, herauszubekommen, was in den einzelnen Schülern und Schülerinnen vor sich geht und dementsprechend zu handeln. Dennoch verwenden auch Lehrer und Lehrerinnen Theorien, die ihr Verhalten gegenüber den Schülern und Schülerinnen steuern. Im Sinne von selbsterfüllenden Prophezeiungen können sie Schüler und Schülerinnen zu eher negativen, aber auch positiven Verhaltensweisen verleiten. Das kennt jeder aus dem Alltag: Wenn wir verschlossen und kühl auf andere Personen zugehen, ist es wahrscheinlicher, dass wir negative Reaktionen erfahren, als wenn wir offen und positiv auf dieselben Personen zugehen würden. Wie wir aber auf andere Personen zugehen, das hängt vor allem davon ab, welche Theorien von diesen wir entwickelt haben.

In dem unter 1.1 aufgeführten Interview zeigt sich dies an der Interaktion zwischen Lehrer T. und Sebastian. Sebastian war eine Weile störend im Unterricht, strengt sich nun aber an. Herr T. bemerkt die Veränderung jedoch nicht, sondern behandelt Sebastian als würde er weiter stören. Sebastian reagiert mit negativen Emotionen. Es wird eine Frage der Zeit sein, bis er sich wieder störend verhalten und so Herrn Ts Erwartungen bestätigen wird.

Theorien werden also von uns allen verwendet, aber häufig automatisch und unreflektiert. Und es ist die Frage, ob diese automatisierten Theorien sich immer als so nützlich erweisen. Sie sind es in keinem Fall, wenn sie der Komplexität z. B. des schulischen Alltags nicht gerecht werden und nicht durch weitere Theorien ergänzt werden.

In diesem Sinne soll dieses Buch allen an Schule interessierten Personen Theorien an die Hand geben, mit Hilfe derer bestimmte Ausschnitte aus dem schulischen Alltag aus unterschiedlichen Perspektiven heraus beleuchtet werden können. Von Interesse ist ausschließlich das soziale Gefüge des schulischen Alltags. Mit Hilfe der hier aufgeführten Theorien können eigene Erfahrungen besser geordnet und erklärt werden. Idealerweise ergeben sich Anregungen für Lösungen bestimmter Probleme. Für Lehrer und Lehrerinnen ist dieses Vorgehen hilfreich, indem sie bestimmte Probleme von Schüler und Schülerinnen schneller und besser wahrnehmen, einordnen und diesen begegnen können. In jedem Fall – und dies ist das hauptsächliche Ziel des vorliegenden Buches – kann durch die Fähigkeit, mit theoretischen Blickwinkeln zu spielen und nicht vorbehaltlos an der eigenen persönlichen Theorie festzuhalten, der Blick auf den schulischen Alltag vielfältiger und individueller gestaltet werden. Die Lektüre dieses Buches stellt ein Training in Perspektivenwechsel dar.

2.1 Auswahl der Theorien

Ein wichtiges Auswahlkriterium für die in diesem Buch vorgestellten Theorien war besonders die Langlebigkeit der Theorie, die in der Regel durch eine immerwährende Weiterentwicklung und eine empirische Stützung der Theorie zustande kommt. Dabei habe ich sozialpsychologische Theorien ausgewählt, die sich in den vergangenen Jahrzehnten vielfach bewährt haben und innerhalb ihrer empirischen Prüfung auch bereits auf Realitätsausschnitte angewendet wurden, die ich als relevant für den schulischen Alltag erachte.

Weiterhin war mir bei der Auswahl der Theorien wichtig, dass jede der möglichen zwischenmenschlichen Beziehungen, also von Schüler/-innen untereinander, Schüler/-innen und Lehrer und Lehrerinnen, Lehrer und Lehrerinnen untereinander usw., beleuchtet werden können. Nicht jede der aufgeführten Theorien ist immer für alle in Frage kommenden Beziehungskonstellationen aussagekräftig. Jede der ausgewählten Theorien beleuchtet immer nur einen bestimmten Ausschnitt.

Bevor diese Theorien angewendet werden, beginnen wir zunächst mit der Erkundung des Feldes Schule. Durch welche sozialen Kräfte ist dieses Feld charakterisiert?

2.2 Zusammenfassung und Fazit

Wissenschaftliche Theorien haben den Anspruch, einen Realitätsausschnitt angemessen zu ordnen, zu beschreiben, zu erklären und Prognosen für weitere Ereignisse innerhalb dieses Ausschnittes abzuleiten. Sie werden anders gebildet und überprüft als unsere Alltagstheorien, die wir in der Regel intuitiv als wahr erachten. Gerade Lehrer/-innen, deren subjektive Theorien über Schüler/-innen gravierende Konsequenzen haben können, profitieren davon, wenn sie über ein wissenschaftlich fundiertes Instrumentarium verfügen, mit Hilfe dessen sie die eigenen Alltagstheorien identifizieren, reflektieren und der Realität anpassen können.

2.3 Fragen und Übungen

Fragen
Was ist eine Alltagstheorie?Wie unterscheidet Sie sich von einer wissenschaftlichen Theorie?
Übungen
Versuchen Sie eine für Sie relevante Alltagstheorie zu identifizieren und zu beschreiben. Reflektieren sie diese kritisch. Was ist möglicherweise falsch an Ihrer Theorie?Interviewen Sie einen Gesprächspartner oder eine Gesprächspartnerin Ihrer Wahl. Fragen Sie diesen bzw. diese nach seinen oder ihren Erklärungen für unterschiedliche Schulleistungen. Warum gibt es leistungsbezogen „gute“ Schüler und Schülerinnen, warum „schlechte“? Welche Alltagstheorien verwendet Ihr Gegenüber?

3 Schule: Alle kommen schlecht weg

Schule ist schon lange ein brisantes Thema. Immerhin müssen wir einen großen Teil unserer Kindheit und Jugend in dieser Institution verbringen. Danach fängt erst das Leben als selbstständige Person an. Dass Schule ein Thema von Brisanz ist, wird nicht nur an Studien wie Pisa erkennbar, deren Anlass der internationale Vergleich schulischer Institutionen war, sondern auch daran, dass die menschlichen Elemente der Schule häufig Gesprächsgegenstand sind, sei es im Alltag oder in den Medien. Dabei kommen die involvierten Personengruppen oft nicht besonders gut weg. Die Schuldzuweisung für die Bildungsmisere wird den am Schulalltag beteiligten Personen in einem hohen Maße zugeschrieben. Schauen wir uns die dabei entstehenden Bilder an.

3.1 Eltern

Moderne Eltern erzielen denkbar schlechte Bewertungen. Um ihre Kinder loszuwerden, setzen sie diese vor den Fernseher und kaufen ihnen elektronisches Spielzeug von der Playstation bis zum Computer, das ihre Sprösslinge absorbiert und ihre aktive Fürsorgepflicht auf ein Minimum zu reduzieren scheint. Selbst mit der Ernährung des Nachwuchses geben sie sich keine Mühe. Sie versorgen ihre Kinder nicht mit einem Frühstück. Sie bringen ihnen bei, sich selbst mit minderwertiger Fertignahrung zu versorgen. Lebenstüchtigkeit lehren sie nicht, weder durch Anweisungen, noch durch ein vorbildliches Modellverhalten. Um selber Ruhe zu haben, verwöhnen sie ihre Kinder maßlos, erfüllen ihnen alle materiellen Ansprüche. Frustrationen werden also möglichst vom eigenen Nachwuchs ferngehalten, dessen Frustrationstoleranz demzufolge immer weiter sinkt. Allerdings sollen die Kinder überdurchschnittlich sein. Bekommen die Kinder keine guten Noten oder dürfen nicht auf eine „angemessene“ Schule gehen, wird gegen die Schule prozessiert.

Eltern werden zunehmend negativ in der Presse und den Medien dargestellt (z. B. Gaschke, 2003). Berufstätigen Eltern werden materielle Werte unterstellt, die vorrangig vor dem Kindswohl sind. Die gesamte Gesellschaft wird gleich als infantil dargestellt.

Dem widerspricht der zu beobachtende Trend, dass immer mehr Eltern die aus dem Boden sprießenden Elternkurse besuchen. Dies spiegelt wider, dass sich ganz im Widerspruch zur Pressemeinung, Eltern durchaus ihrer Verantwortung für Wohl und Wehe des Nachwuchses sehr bewusst sind, dass sie sich aber zugleich auch hilfloser und ratloser fühlen (Tschöpe-Scheffler, 2005).

3.2 Lehrer und Lehrerinnen

Die Lehrpersonen kommen nicht besser weg. Das Berufsfeld des Lehrers und der Lehrerin erstreckt sich von „Allmachtsphantasien“, was die Erwartungen und Ansprüche von außen angeht bis zur „Zuschreibung völliger sozialer Impotenz“, wie Pesendorfer bereits 1974 feststellt. Entweder sind sie alkoholabhängig und alt oder urlaubs- und freizeitsüchtig oder aber alles zugleich. Auf alle Fälle machen sie alles Mögliche, sie bereiten nur keine angemessenen Unterrichtsstunden vor. Und das alles nur, weil sie einen viel zu sicheren Job haben und nicht ausreichend kontrolliert werden. Die Sicherheit ihres Jobs war sowieso der Hauptgrund für die Wahl ihrer Berufsausbildung. Kinder oder gar die schwierigen, weil pubertierenden Jugendlichen, mögen sie eigentlich gar nicht; die müssen sie eben notgedrungen in Kauf nehmen. Außerdem sind Lehrer/-innen – das weiß man – sadistisch, willkürlich und ungerecht im Umgang mit Schüler/-innen.

Diese negative Pressemeinung mag erklären, warum 1966 noch 37 % der Westdeutschen eine besondere Hochachtung vor Grundschullehrer/-innen äußerten und 28 % eine solche vor Studienrät/-innen, 1999 jedoch nur noch 20 % vor Grundschullehrer/-innen und nur noch 15 % vor Studienräten/-innen (Meyer, 1997).

Lehrer und Lehrerinnen werden häufig negativ dargestellt in der Presse. Nach einer Analyse von Etzold (2000) enthalten 75 % aller Urteile und Zuschreibungen negative Inhalte wie „überfordert“, oder „faul“. Werden einmal positive Inhalte formuliert, dann sind diese konditional formuliert, wie z. B.: „Der Lehrer müsste engagiert sein.“

Die Reaktionen auf das Berufsbild der Lehrerin und des Lehrers sind widersprüchlich. Die meisten Befragten möchten zwar selber nicht Lehrer/in werden. Immerhin weisen drei von vier Befragten diese Rolle für sich selber zurück. Dennoch empfinden die meisten Befragten Sozialneid auf die Privilegien dieses Berufsstandes. Das als hoch eingeschätzte Ausmaß der Freizeit, die im Vergleich zu anderen Berufsfeldern extrem langen Ferienzeiten und die Sicherheit des Jobs durch die Möglichkeit einer Verbeamtung würde man selber gerne in Anspruch nehmen.

Die Erwartungen an die Ausübung des Berufes sind hoch. Obwohl die überwiegende Meinung vieler Befragten dahin tendieren, dass die Fähigkeit für die Ausübung des Berufes angeboren sei, erwarten 85 % der Befragten eine erworbene sozialpädagogische und therapeutische Kompetenz. Insbesondere Eltern erwarten bei den Lehrpersonen ihrer Kinder eine Kombination von einer guten Fähigkeit zur Wissensvermittlung und der Übernahme von Erziehungsaufgaben in Hinblick auf die Vermittlung guter Umgangsformen, Toleranz und Höflichkeit. Sie machen die Schule und damit die Arbeit des Lehrpersonals verantwortlich für die Zukunftschancen ihrer Kinder.

3.3 Schüler und Schülerinnen

Die Schüler/-innen haben aber eigentlich weder bessere Eltern noch bessere Lehrer/-innen verdient, auch wenn sie solche bitter nötig hätten. Eigentlich sind die Kinder und Jugendlichen heutzutage eine große Last. Viele leiden unter einem Aufmerksamkeitsdefizit und einer Hyperaktivitätsstörung, können also weder stillsitzen, noch zuhören. Viele sind unhöflich und gewaltbereit. Und weil der heutige Nachwuchs unter einer extrem geringen Frustrationstoleranz durch die Laissez-faire-Erziehung moderner Eltern leidet, also eine regelrechte Angst entwickelt hat, sich anzustrengen und mal nachzudenken und zu schwitzen, ist es fast unmöglich, einen konzentrierten Unterricht zu gestalten.

Wenn Kinder und Jugendliche von heute wenigstens schön anzuschauen wären, aber auch das sind sie nicht mehr. Kinder sind übergewichtig und richtig bewegen können sie sich auch nicht mehr. Nach den in der Presse dargestellten gängigen Klischees gibt es in deutschen Schulen eine beträchtliche Zunahme an Aggression und Gewalt. Die Konsumhaltung der Kinder und Jugendlichen ist enorm angestiegen, alle werden immer dicker, dümmer und unbeweglicher, hyperaktiver und unpolitischer und damit unmündiger. Nicht alle diese Trends sind eindeutig durch Statistiken belegt. Fest steht zur Zeit nur, dass, statistisch betrachtet, Kinder schlechtere Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten entwickeln; das gilt aber auch für die Erwachsenen (inklusive Lehrpersonen und Eltern), ist also ein gesamtgesellschaftlicher Trend und hängt sicherlich auch mit dem recht hohen Fernsehkonsum und dem Gebrauch anderer elektronischer Medien zusammen2.

Vor dem Hintergrund dieser Gerüchte, Übertreibungen und Generalisierungen, die hier überspitzt dargestellt sind, wundert es niemanden, zu hören, Lehrer/-innen wären überfordert, da sie die mangelnde und schlechte Erziehungsarbeit der heutzutage hauptsächlich materiell eingestellten Eltern übernehmen müssten und deswegen wären Kinder eben im Grunde genommen verhaltensauffällig, wenn nicht sogar gestört. Und es wundert auch niemanden, Eltern über die Institution Schule schimpfen zu hören. Immerhin passt das ja sowieso ins allgemeine Bild – hat Deutschland im internationalen Vergleich nicht furchtbar schlecht abgeschlossen? Kinder lernen ja gar nichts in der Schule. Woanders wären sie jedenfalls besser dran.

Das Gesamtbild wird präzise zusammengefasst von Kaube (2002): „Eltern zeigen auf motivationsarme Lehrer, diese zurück auf erziehungsunwillige Familien, beide auf die Bildungsverwaltung…“.

Dennoch müssen alle in Schule involvierten Gruppen miteinander klar kommen und sollen auch noch kreativ, aufnahmebereit und entwicklungsfähig sein. Das erscheint unmöglich.

Die Fähigkeiten, Stile und Eigenschaften von Gruppen beschreiben zu wollen, schürt Vorurteile. Es entstehen Theorien über Vertreter/-innen dieser Gruppen, die zu deren Stigmatisierung führen – das sollte die hier überspitzte Darstellung deutlich machen. Gruppen beschreiben zu wollen, indem man sie insgesamt bewertet, schafft weder konstruktive Lösungen noch die Bereitschaft, nach solchen zu suchen. Es schafft aber Fronten zwischen Gruppen, zieht Gräben, entfremdet einander und schürt gegenseitige Ängste. In Gruppen zu denken ist auch willkürlich. Egal ob es sich um Mädchen oder Jungen handelt, um Kinder oder Jugendliche, um erfahrene oder junge Lehrpersonen, um leistungsschwache oder -starke Personen, um deutsche oder ausländische Menschen: Wir werden der Vielfalt von Realität nicht annähernd gerecht, wenn wir die Individualität der involvierten Personen aus den Augen verlieren.

Das Spiel mit Perspektiven ist eine entscheidende Voraussetzung, um die Komplexität eines Realitätsausschnittes zu verstehen und zu akzeptieren. Beginnen wir hiermit, indem wir die in den schulischen Alltag involvierten Gruppen und Ebenen genauer betrachten.

3.4 Zusammenfassung und Fazit

Schule besteht aus einem komplexen Miteinander unterschiedlicher Gruppen. Zunehmend werden diesen Gruppen – Eltern, Lehrkräften, Schülern und Schülerinnen – negative Merkmale zugeschrieben, die sicherlich nicht zur Motivation, es besser zu machen, beitragen. Die häufig generalisierende Darstellung dieser drei in Schule involvierten Gruppen in den öffentlichen Medien zeigt deutlich, wie destruktiv undifferenzierte Theorien über Gruppen von Personen sind. Generalisierende Alltagstheorien tragen nicht nur nicht zur Problemlösung bei; sie schaffen möglicherweise genau die demotivierte Einstellung zur Arbeit in der Schule, die dann die Ergebnisse hervorbringt, die Schule oft vorschnell bescheinigt werden.

3.5 Fragen und Übungen

Fragen
Welche der hier genannten Urteile über die involvierten Gruppen Lehrer/-innen, Eltern, Schüler/-innen finden Sie zutreffend? Begründen Sie Ihre Meinung.Welche Alltagstheorien stecken vermutlich hinter den Urteilen über die Mitglieder dieser drei Gruppen?
Übungen
Interviewen Sie einen Lehrer bzw. eine Lehrerin. Beginnen Sie damit, dass Sie sich für die Reaktionen von Personen, die selber nichts mit dem Lehrberuf zu tun haben, interessieren. Fragen Sie Ihren Gesprächspartner bzw. Ihre Gesprächspartnerin nach eigenen Erfahrungen. Fassen Sie die Essenz Ihres Interviews zusammen.Interviewen Sie einen Elternteil eines Schülers oder einer Schülerin. Welche Erfahrungen hat dieser Elternteil mit Schule gemacht? Fassen Sie die zentralen Aspekte des Interviews zusammen.„Lehrer sind faule Säcke.“ Starten Sie eine Diskussion in Ihrem Freundeskreis: Was stimmt daran, was stimmt nicht? Fassen Sie die zentralen Aspekte der Diskussion zusammen.

4 Die Komplexität des schulischen Alltags

Das Ganze ist immer mehr als die Summe seiner Teile. Diese aus den Prinzipien der Gestaltpsychologie abgeleitete Aussage trifft auch auf das soziale Geschehen im schulischen Alltag zu.

Die einzelnen Elemente bestehen aus verschiedenen Personengruppen: Schüler und Schülerinnen, Lehrpersonen, Familie und Peers (siehe Abb. 2). Jede dieser Personengruppen steht in einer mehr oder weniger engen Wechselbeziehung mit der jeweils anderen Gruppe. Die Intensität und Häufigkeit dieser Beziehungen sind nicht stabil, sondern werden sich in Abhängigkeit von situationalen Umständen, Entwicklungsschritten und anderen Einflussgrößen verändern. Jede Veränderung in der Beziehung zwischen zwei Personengruppen wird auch Veränderungen in den anderen Konstellationen beeinflussen. Das ganze Gefüge stellt ein dynamisches komplexes System dar. Betrachten wir zunächst die einzelnen Elemente.

4.1 Schüler und Schülerinnen

Schüler/-innen sind den gesamten Schulalltag in soziale Interaktionen involviert (siehe Abb. 3). Sie sind mit ihren Peers zusammen, sie müssen auf die Anforderungen der Lehrpersonen reagieren. Sie tragen die verinnerlichten Erwartungen und die Stimmung ihrer Familie von Zuhause in die Schule. Diese vielfachen Beziehungen sind charakterisiert durch ein komplexes Geflecht von Ablehnung und Zuneigung, in dessen Mittelpunkt sich ein Schüler oder eine Schülerin befindet, denn die „Stars“ unseres Alltags, um die sich alles dreht, sind in der Regel wir selbst (Berger & Luckmann, 1966). Kommt der/-die Schüler/-in nach Hause, befindet er oder sie sich erneut in einer Gruppe. Diesmal sind es die Beziehungen zu Vater, Mutter und Geschwistern, die im Vordergrund stehen. Mit zunehmendem Alter werden Freunde und Freundinnen wichtig. Auch hier geht es um Anerkennung, Ablehnung, Sympathie und Akzeptiertwerden.

Abb. 2: Die Komplexität des schulischen Alltags

Abb. 3: Die Komplexität des schulischen Alltags aus der Perspektive des Schülers und der Schülerin

Unfreiwillige Involviertheit in Gruppen

Der Alltag eines Kindes und später der oder des Jugendlichen ist also in einem hohen Ausmaß durch die nicht selbst gewählte Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen gekennzeichnet. Dabei mag je nach Erwartungsdruck des Elternhauses die Schule ein Übergewicht in der Lebensgestaltung von Schüler/-innen finden, zu denen insbesondere im jüngeren Alter die emotionalen Aspekte von Beziehungen in den Vordergrund rücken. Die Beziehung zu eigenen Freunden und Freundinnen ist hier frei und wird deswegen möglicherweise besonders geschätzt.

Das permanente Eingebundensein in soziale Interaktionen ist auf den ersten Blick für die erwachsenen involvierten Personen genauso gegeben. In einem Berufsleben sind alle Menschen mit Kolleg/-innen und Vorgesetzten, in einem Privatleben mit Verwandten konfrontiert, die ebenfalls nicht gewählt wurden. Dennoch verfügen Erwachsene über eine Metaebene, die es ihnen sehr viel leichter macht als Kindern oder Jugendlichen, mit diesem Beziehungsgeflecht kontrolliert umzugehen.

4.2 Lehrer und Lehrerinnen

Innerhalb ihres Berufslebens sind auch die Lehrpersonen der Institution Schule in die Dynamik unterschiedlicher Gruppen involviert. Sie müssen innerhalb verschiedenster und wechselnder Gruppenkonstellationen vorgeschriebene Unterrichtsziele einhalten und dabei dennoch die Stärken und Schwächen der einzelnen Kinder und Jugendlichen im Auge behalten. Im Unterschied zu ihren Schüler/-innen sind sie jedoch in der Schulklasse in der Regel nicht in weitere Beziehungen verwickelt. Die Lehrperson erscheint im Klassenzimmer in der Hauptsache als Individuum, das sich in kritischen Situationen des Rückhalts anderer Lehrpersonen oder Freunde versichern kann.

Relativ große Kontrolle im schulischen Alltag im Vergleich zu Schüler/-innen

Lehrpersonen sind mit unterschiedlichen Quellen der Macht ausgestattet. Sie können positive und negative Sanktionen verteilen, sie gelten als Expert/-innen ihres Faches. Sie sind auf unterschiedliche Gruppendynamiken vorbereitet und verfügen häufig im Laufe ihrer Berufserfahrung über eine Metaperspektive, die ihnen insgesamt entschieden mehr Kontrolle einräumt als Schüler/-innen.

Diese Kontrolle ist jedoch begrenzt, was die Einschätzung des eigenen sozialen Verhaltens angeht: Menschliche Selbstwahrnehmung, auch diejenige von Lehrer/-innen ist verzerrt. Die realistische Einschätzung der eigenen Fähigkeiten ist ohne ein offenes Feedback unterschiedlicher anderer Personen nicht möglich und dies fehlt Lehrpersonen recht häufig.

Diskrepanzen in der Wahrnehmung