Space-Thriller 1: Grüße vom Sternenbiest - Robert Feldhoff - E-Book

Space-Thriller 1: Grüße vom Sternenbiest E-Book

Robert Feldhoff

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Beschreibung

Die Erde im 49. Jahrhundert: Ein Kind stirbt beim Sturz aus dem Fenster – ein "Unfall", der unmöglich ist. Ein Unbekannter ermordet auf scheußliche Weise Diplomaten von anderen Planeten. Und ein geheimnisvoller Schattenmann zieht hinter den Kulissen seine Fäden. Sein wahres Ziel ist unbekannt – aber es droht ein Inferno für Terrania, die Hauptstadt der Zukunft. Sholter Roog, Agent des Terranischen Liga-Dienstes, ist aufgrund "überdurchschnittlicher Gewaltbereitschaft" auf einen Schreibtischposten abgeschoben worden. Mehr durch Zufall wird er in das Komplott verwickelt. Er übernimmt die Ermittlungen – auf eigene Faust, auf eigenes Risiko und mit höchst eigenen Methoden ...

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Cover

Rückentext

1. Kapitel – Das Ekel

2. Kapitel – Die Zwangsjacke

3. Kapitel – Die Frau in Rot

4. Kapitel – Leichenteile

5. Kapitel – Pfefferminz

6. Kapitel – Zahlenspiel

7. Kapitel – Dünn und rot, dick und blau

8. Kapitel – Augenzeugen

9. Kapitel – Ernährungsfragen

10. Kapitel – Fressen und gefressen werden

11. Kapitel – Empress!

12. Kapitel – Spieltrieb

13. Kapitel – Geschenke

Impressum

Die Erde im 49. Jahrhundert: Ein Kind stirbt beim Sturz aus dem Fenster – ein »Unfall«, der unmöglich ist. Ein Unbekannter ermordet auf scheußliche Weise Diplomaten von anderen Planeten. Und ein geheimnisvoller Schattenmann zieht hinter den Kulissen seine Fäden. Sein wahres Ziel ist unbekannt – aber es droht ein Inferno für Terrania, die Hauptstadt der Zukunft.

Grüße vom Sternenbiest

von Robert Feldhoff

1. Kapitel

Das Ekel

»Irgendwann ist es nicht mehr genug, nur zuzusehen. Irgendwann willst du mitspielen. Du kennst ja jetzt die Regeln, kleiner Schelm.«

»Ja, Mama.«

»Du willst doch gewinnen, nicht wahr? Was wirst du dafür tun?«

»Ich tue alles.«

Das Schreien des Kindes kam vermutlich von oben. Auch wenn Cencenza im Augenblick blind war, so funktionierte sein Gehör doch mit großer Präzision. An diesem Tag blies in Terrania ein heftiger Wind. Das Kind weinte gerade laut genug, um die Hintergrundgeräusche der Stadt zu durchdringen.

Cencenza war kein Mensch, sondern er gehörte zum Volk der Antis. Es fiel ihm nicht leicht, die Stimmfarbe eines Menschenkindes zu deuten. Seiner Ansicht nach empfand das Kind Todesangst.

Nach dreißig Sekunden schrie das Kind immer noch. Cencenza neigte lauschend den Kopf. Die Parkbank, so hatte man ihm erklärt, befand sich wenige Meter entfernt von einem Glasturm, einem Wohngebäude für einige hundert Menschen. Wenn das Geräusch von oben kam, so hieß das also, es drang aus einem der Fenster. Cencenza überlegte, ob er etwas unternehmen musste. In dieser Stadt war er ein Fremder. Was sich im achten oder im zehnten Stockwerk eines Wohnturms abspielte, ging ihn nichts an. Von ihm wurden Zurückhaltung und Achtung der lokalen Sitten erwartet. Er hielt das für legitim, gerade in Anbetracht seiner hilflosen Lage, in der er auf die Terraner angewiesen war. Vielleicht, so dachte er, ängstigte sich das Kind wirklich vor einer Gefahr. Vielleicht schätzte es auch nur eine an sich harmlose Situation falsch ein. Ohne Augen konnte er das nicht beurteilen.

Das Kind schrie jetzt eine Minute lang. Von der Straße erreichte der Lärm vorbeihuschender Gleiter seine Ohren. Die gegenüberliegende Straßenseite war fünfzig Meter entfernt. Von dort hörte er keine Details, lediglich Fetzen eines Gespräches, das sich mit den Sprechern entfernte. Menschen besaßen keine sonderlich sensiblen Hörorgane. Er hielt es für ausgeschlossen, dass jemand außer ihm das Schreien wahrnahm.

Nur noch das Kind, das Rauschen des Windes – und dann war plötzlich Stille. Es dauerte zwei Atemzüge lang. Er hörte den Aufprall eines Objektes, zehn Meter von der Parkbank entfernt.

»Ist dort etwas?«, fragte er laut.

Der Anti erhielt keine Antwort.

Cencenza stand von seiner Bank auf, ging in die Knie und tastete sich mit großer Vorsicht nach vorn. Mit den Fingerspitzen glitt er über die ebene, trotz der Jahreszeit feuchte Rasenfläche. Als er ungefähr zehn Meter zurückgelegt hatte, stieß er auf das Objekt. Cencenza ertastete eine Hand, einen offenbar gebrochenen, sehr dünnen Arm und einen Schädel. Die Körpermitte war aufgeplatzt, soviel spürte er durch das getränkte Hemd. Die Genitalien waren noch sehr klein und nicht beschädigt. Ohne innere Beteiligung schätzte er, dass der Körper zu einem drei- bis fünfjährigen männlichen Kind gehörte. Rings um die zerschmetterten Glieder sickerte Flüssigkeit in den Boden, durch das Hemd hindurch. Dass in diesem Körper noch Leben steckte, konnte er sich nicht vorstellen. Jede Möglichkeit der Wiederbelebung schied aus, weil der Schädel gespalten war.

Der Anti erhob sich und fing an, tonlos zu schreien.

Sholter Roog konnte sich tagelang in Arbeit vergraben. Speziell dann, wenn es sich um interessante Arbeit handelte. War die Arbeit nicht hinreichend interessant wie jetzt, starrte er eben tagelang Löcher in die Wand. Dann wanderte sein Blick überallhin, nur nicht auf das Datenmaterial vor seiner Nase. ... GIBT DER ZEUGE AN, DAS VERSCHWUNDENE SCHWEBEFAHRZEUG GEGEN MITTERNACHT DES 1. APRIL 1282 NGZ ZUM LETZTEN MAL BEMERKT ZU HABEN. DER EIGENTÜMER HINGEGEN BEHAUPTET, ER HABE NOCH AM 3. APRIL DES JAHRES EINEN AUSTAUSCH DER ZERFALLSBATTERIE VORGENOMMEN UND DABEI ...

»Pff!«

99 Prozent aller Verwaltungsarbeit wurden von Automaten erledigt. Aber für das restliche Prozent, für die verzwickten Fälle, brauchte es immer noch die Arbeit von Menschen. Roog knüllte die Datenfolie zusammen, mit der er sich herumärgerte, schnippte das Knäuel in Richtung Müllvernichter und sandte einen Fluch hinterher.

»Scheiße. Daneben.«

Die kleine Dunkelhaarige namens Ammanda, am Schreibtisch gegenüber, zog die Brauen hoch; das höchste Zeichen von Missbilligung, das eine Schlaftablette dieser Art von sich geben konnte.

»Was soll das, Roog?«

»Nichts.«

»Denkst du, ich räume das auf? Denkst du das?«

»Halt einfach den Mund, okay?«

»Arrogantes Arschloch«, sagte sie leise.

»Bitte? Ich hör' doch wohl nicht recht?«

»Absolut! Du bist ein zutiefst arroganter und ungehobelter Mensch!«

»Oha.«

Roog nahm sich vor, sie bei Gelegenheit zum Essen einzuladen und dann sitzenzulassen. Er schaute aus dem Fenster. Die Straße war fünfzig Meter breit. Vor dem Glasturm auf der anderen Seite lag ein Rasengürtel. Neben der Gartenbank, die er in den letzten Tagen tausendmal angestarrt hatte, versammelten sich zehn oder fünfzehn Menschen, und es wurden noch mehr. Durch das Fenster klang kein Laut, aber er sah aufgeregte Gesten und Gesichter. In ihrer Mitte schien sich etwas zu befinden, was er nicht erkennen konnte.

»Was ist denn, Roog?«

»Irgendwas ist passiert«, antwortete er unwillig.

»Was denn?«

»Weiß ich auch noch nicht.«

»Du willst es bloß nicht sagen!«, giftete sie. »Vergiss nicht, dass du hier auf deinem Hosenboden zu sitzen und zu arbeiten hast! Dreiundzwanzig Entscheidungen werden fällig. Morgen ist Stichtag! Eine Menge Leute warten darauf, dass ihre Fälle verhandelt werden. – Also, was ist es? Sag!«

Ganz sicher keine Kleinigkeit. Roog stellte sich ans Fenster und drückte sich die Nase platt; bis er es nicht mehr ertragen konnte.

»Stopp! Wo willst du hin?«

Er sagte: »Du hast immer noch Redeverbot«, dann verließ er den Raum, ohne Ammandas Erwiderung abzuwarten.

Hinter ihm wurde die Tür aufgerissen, trippelnde Schritte hallten im Korridor. »Warte, ich komme mit!«, rief die Dunkelhaarige durch den Flur.

»Du hast da unten nichts verloren, Ammanda.«

»Roog! Bitte ...«

»Nein. Denk lieber dran, dass morgen Stichtag ist.« Er drehte sich nicht um. Diesmal meinte er es ernst. Die Dunkelhaarige blieb oben zurück, als er in den Schacht sprang und schwerelos nach unten sank.

Das Haus stand in einer langen Reihe, eingequetscht zwischen einem Hightech-Markt und einer Schwimmbad-Anlage, in der keiner schwimmen wollte. Terrania galt als Stadt der Gegensätze. Drangvolle Enge existierte neben weitschweifigen Turmgefügen. Mittendrin das Bürohaus, zweihundert Jahre alt, aus der Zeit der Dunklen Jahrhunderte. Nicht, dass man Zeichen von Baufälligkeit sah, doch er empfand den antiquierten Baustil als persönliche Beleidigung. Dort, wo er hingehörte, war alles neu und in bestem Zustand. Hier dagegen wies ihn jedes Details darauf hin, dass er unwichtig geworden war. Draußen wehte ein heftiger Wind. Zwanzig Meter über der Straße zogen die Schwebegleiter ihre Bahn. Sie wurden von Terrania Traffic Control, dem Verkehrsverbund der Stadt, unfallfrei durch die Engen geschleust. Und TTC wiederum gehörte zu NATHAN, dem größten und wichtigsten Computer im Sonnensystem. Fußgänger gab es nur wenige.

Als Roog die Straße überquerte, sah er in einem Hologramm seine Gestalt auftauchen. Aber sein kurzgeschorenes blondes Haar erschien nun dunkel. Das kantige grobe Gesicht war zu einer lächelnden Grimasse entstellt. Die Verwandlungsspielerei gehörte zum Hightech-Markt; wer immer vorbeikam, er wurde gefilmt und verfremdet wiedergegeben. Wenn es nach Roog gegangen wäre, hätte man diese Sorte Unfug verboten. »Scheiße. Ich hasse Werbung.« Roog streckte die Zunge heraus und machte eine obszöne Geste. Im Holo lächelte er um so breiter, und die obszöne Geste wurde in ein freundliches Winken umgewandelt. Er ärgerte sich darüber. Gelächelt hatte er seit Wochen nicht, weil es nichts zum Lächeln gab. Das Feld verfolgte ihn ein paar Sekunden lang, bis zur Straßenmitte.

Die Leute an der Parkbank machten keinen guten Eindruck. Er zog es vor, sich zu beeilen.

»Was ist denn los?«

Keiner gab Antwort. Er hob die Stimme, fragte ein zweites Mal, was aber niemanden zu stören schien. Die Leute standen bis zur Häuserwand. Roog drängelte sich durch. Er war sehr viel kräftiger als die meisten. »Was zum Henker passiert hier? He!« Ein Kerl von zwei Metern Größe starrte ihn finster an, als Roog ihn zur Seite schubste. Aber Roog war die empörte Miene völlig egal. Denn im selben Moment sah er, was die Leute so magisch angezogen hatte. Es war ein Kind. Vor der kleinen Gestalt, die reglos am Boden lag, knieten ein paar Leute. Sie hatten alle bleiche Gesichter.

»... bleibt denn bloß der Krankenschweber ...«

»Das wird hier auch nichts mehr ...«

»Ich kann das nicht ansehen, ich halte das wirklich nicht aus ...«

»Dann verschwinde endlich!«

»... nichts gesehen, wenn man nur wüsste, was passiert ist ...«

Roog zog eine der knienden Personen hoch. Die Frau wog soviel wie eine Feder. Sie protestierte nicht, wahrscheinlich wäre sie ohne Hilfe sowieso nicht mehr hochgekommen. Ihre Arme zitterten. Sie hatte ein langes Gesicht, dunkle Augen und dünne, ungepflegte Haare. Roog war sie auf Anhieb unsympathisch. Die ganze Zeit sah sie aus, als ob sie irgendwas sagen wollte, aber ihr Mund öffnete und schloss sich, ohne dass ein Ton herauskam.

Er fragte: »Bist du die Mutter?«

Sie gab keine Antwort.

»Ich rede mit dir!«, herrschte er sie an.

Er wusste genau, dass er grob und brutal wirkte. Die Frau hatte Angst. Das lenkte sie einen Moment lang ab.

»Ja«, sagte sie.

»Was ja?«

»Ja, ich bin die Mutter. Ich bin Lucia.«

»Bleib in der Nähe!«

Sie nickte mit großen Augen. Wahrscheinlich hatte sie nicht verstanden, was er von ihr wollte.

Das Bündel war ein kleiner blonder Junge. Roog schätzte sein Alter auf vier Jahre. Der Junge musste aus großer Höhe zu Boden gestürzt sein. Sein Kopf war zerschmettert, die Gliedmaßen lagen allesamt falsch und waren gebrochen. Durch den geplatzten Rumpf und durch mehrere offene Frakturen trat Blut aus. Roog wurde nur deshalb nicht übel, weil er schon Leichen genug gesehen hatte. Es war jedoch eine andere Sache, ob man einen toten Mann, eine tote Frau, ein totes Fremdlebewesen zu sehen bekam – oder ein totes vierjähriges Kind.

»Sind die Ärzte alarmiert?«, fragte Roog den Mann neben ihm.

»Natürlich.«

»Wie lange ist das hier her?«

»Ich! ... Wie soll ich das wissen.« Der Mann weinte, aber er merkte nichts, weil er auf den Jungen starrte. »Zehn Minuten vielleicht. Das ist nur geschätzt. Gesehen hat's ja keiner. Vielleicht auch eine Stunde. Ach, dann würde er ja nicht bluten. Stimmt's? So lange blutet man nicht, wenn man tot ist ... Man hat ja keinen Blutdruck mehr. Man läuft praktisch bloß noch aus.«

»Halt deinen Mund. Bist du der Vater?«

»Ich? Nein. Dann wär' ich nicht so ruhig.«

»Wahrscheinlich nicht«, erwiderte Roog sarkastisch. »Schon gut, wir sprechen später noch.«

»Wann?«

»Lass dich überraschen.«

»Ich bin verabredet.«

»Du bleibst hier.«

»Ich wollte doch ... Ach. Klar.«

Roog legte den Kopf in den Nacken. Über dem Platz, an dem der kleine Junge gestorben war, erhob sich die Sonnenseite eines hundert Meter hohen Wohnturms. Er ging davon aus, dass die Verletzungen von einem Sturz aus großer Höhe herrührten. Das Haus besaß ein Alter von schätzungsweise achtzig Jahren. Jedes einzelne der zwanzig Fenster, die in Frage kamen, war gegen Stürze gesichert.

Er presste seinen Daumen auf das Funkgerät, das er am linken Handgelenk trug. »Hier Agent Sholter Roog«, sprach er ins Mikrofon. »Terranischer Liga-Dienst. Kennziffer 766554-A. Ich habe einen mutmaßlichen Mordfall zu melden.«

Es dauerte keine drei Sekunden, dann fragte eine künstliche Stimme: »Agent Roog identifiziert. Status: bedingt beurlaubt. Ort des Verbrechens?«

»Atlan Village, Guzmangrund. Gegenüber dem Bürogebäude der LFT.«

»Wie viele Einsatzfahrzeuge werden benötigt?«

»Drei Space Jets. Der Ort wird weiträumig abgesichert. Sämtliche Überwachungsgeräte in drei Kilometern Umkreis werden unverzüglich aktiviert.«

»Verstanden. Das Einsatzkommando ist in Marsch gesetzt.«

Roog schaltete sein Funkgerät aus. Er registrierte die Blicke der Leute. Sie hatten das Gespräch mitbekommen. »Alles mal herhören!«, sagte er laut. »Keiner entfernt sich vom Tatort. Die Sicherheitskräfte sind alarmiert. Das ist eine verbindliche TLD-Order, klar? Ich will nicht, dass irgendwer aus der Reihe tanzt.«

Für einen Augenblick vergaßen sie das tote Kind. Sie starrten ihn mit zornigen Blicken an. Die Bürger der Stadt konnten es nicht leiden, wenn sie gegängelt wurden. Auf der Erde galt das Prinzip maximale Freiheit. Wenn es Einschränkungen gab, so reagierten die Leute ungehalten, mit Trotz und mit äußerstem Misstrauen.

Roog hatte ein böses Gefühl. In den vergangenen hundert Jahren war auf der Erde niemand mehr in den Tod gestürzt. Vor seinen Augen hörte das Kind allmählich zu bluten auf.

Von oben kam ein heulendes Geräusch. Eineinhalb Minuten nach der Meldung näherten sich drei Diskusraumer von Terrania Space-Port. Zwei verhielten in fünfzig Metern Höhe, die dritte Jet stieg auf hundert Meter, auf Warteposition. In ihrem Gefolge schossen zwei Gleiter heran. Nummer eins war mit einem roten Kreuz als Mediker-Fahrzeug gekennzeichnet, der zweite gehörte zur Polizei der Liga Freier Terraner.

Roog scheuchte die Leute zur Seite, damit die Gleiter landen konnten.

Neben der Leiche kletterten vier Polizisten und zwei Ärzte ins Freie. Die Ärzte, es waren ein Mann und eine Frau in Begleitung eines Medoroboters, wurden blass und zuckten mit den Achseln.

Er zeigte den Polizisten seinen Ausweis. »Als TLD-Agent übernehme ich am Tatort das Kommando. Wir benötigen einen energetischen Zaun, der das Gebäude, die Straße und den umliegenden Gartenpark absperrt.« Er deutete auf zwei der vier Polizisten. »Das übernehmt bitte ihr zwei. Ihr anderen bleibt bei mir.«

»Moment mal«, sagte einer der Polizisten, der Einsatzleiter. »Das hier ist Sache der Polizei. Euer Liga-Dienst hat mit einem Unglücksfall überhaupt nichts zu tun.«

Roog fixierte ihn mit einem kalten Blick. Der andere war einssechzig groß, ein Zwerg gegen ihn; er trug graue Freizeitkleidung und ein paar technische Geräte. Seine Augen standen eng beieinander.

»Ich bin Sholter Roog. Wer bist du?«

»Polizist Toldur.«

»Also, Polizist Toldur, ich habe nicht die Zeit, über Kompetenzen zu streiten. Die Gründe für meine Maßnahmen werden dir zu einem späteren Zeitpunkt erläutert.«

»Ich möchte es jetzt hören.«

»Abgelehnt.« Er zog noch einmal seinen Ausweis und hielt ihn den Polizisten unter die Nase. »Ich bestehe auf der Rangordnung. Der vorliegende Fall wird per Kompetenz des Liga-Dienstes als ›staatsgefährdend‹ definiert.«

Toldur riss die Augen auf. Er starrte zuerst die Leiche des Kindes, dann Sholter Roog an. »Staatsgefährdend? Spinnst du? Da ist ein Kind aus dem Fenster gefallen. Das ist kein Angriff auf die Erde oder so.«

»Ich bewerte diese Dinge, wie ich es für richtig halte. Überleg dir mal, wann so etwas in Terrania das letzte Mal passiert ist. Und dann schalte das Hirn ein, bevor du redest!«

Toldur tat das, was Roog ihm befohlen hatte. Er hielt den Mund.

Zwei Polizeiroboter errichteten den energetischen Zaun. Das Material holten sie aus dem Gleiter. Sie funktionierten selbständig, wurden in ihren Aktionen jedoch routinemäßig von NATHAN überwacht. Letzten Endes war es also NATHAN, der die Lage des Zauns bestimmte.

Derselbe Automatismus funktionierte im gesamten Sonnensystem. Wo es keinen Menschen gab, der eine Entscheidung traf, wo die Maschinenwelt des Jahres 1282 NGZ einfach nur in Gang gehalten wurde, da kam NATHAN ins Spiel. Der größte Computer, den die Menschheit je erbaut hatte, befand sich auf dem Mond. Von dort reichte ein unsichtbares Netz an die entlegensten Orte – von der Erde bis Jupiter, auf alle bewohnten und unbewohnten Welten. Unter anderem bis in den Guzmangrund, Atlan Village, Terrania: NATHAN war im buchstäblichen Sinne allgegenwärtig. Die Großsyntronik vom Mond unterlag strengsten Regeln zum Datenschutz. Es konnte gut sein, dass es maschinelle Wahrnehmungen zum Tod des Jungen gegeben hatte. Da sie in jedem Fall persönlicher Natur waren, hatte NATHAN sie nicht in Beziehung zu anderen Daten gesetzt. Mit anderen Worten, NATHAN hatte die Daten erstens nicht verstanden und zweitens sofort wieder gelöscht.

Polizeiroboter Nummer drei fertigte von der Szenerie ein detailgetreues Hologramm an. Er wurde im Zehnsekundentakt von NATHAN abgefragt. Zuerst kam der Leichnam an die Reihe, dann das Umfeld.

Toldur schickte den Protokoll-Rob auf eine Tour um den gesamten Gebäudekomplex. Es handelte sich um eine faustgroße Maschine, schwebefähig und mit diversen Aufzeichnungsgeräten ausgestattet. Gab es hinterher Fragen, ließ sich jede Einzelheit rekonstruieren. Und zwar nicht nur das sichtbare Licht, sondern alles von Infrarot bis radioaktiver Strahlung. Selbst Fingerabdrücke ließen sich dem Protokoll im Nachhinein entnehmen.

Die Ärzte knieten neben dem kleinen Jungen. Keiner von beiden dachte daran, irgendetwas zu tun.

Die Frau blickte auf. »Tot«, sagte sie zu Roog. »Kann man nichts mehr machen.«

»Ihr habt ihn ja nicht mal untersucht.«

Sie verzog das Gesicht zu etwas, das ein schräges Lächeln sein sollte. »Wozu? Sieht doch jeder, was los ist.«

»Ich will, dass ihr ordnungsgemäß den Tod feststellt.«

»Du kannst mich am Arsch lecken«, sagte die Frau. »Bin ich einer von deinen Polizisten?«

Roog antwortete mit erzwungener Geduld: »Ich erklär' es dir. Wir müssen präzise wissen, zu welchem Zeitpunkt das Kind gestorben ist. Sonst sind die Ermittlungen sinnlos. Überhaupt, ist das Kind mit hundertprozentiger Gewissheit tot oder nicht?«

»Was willst du? Soll ich Hirnströme messen?«

»Es wäre äußerst freundlich.«

»Das ist kein Hirn mehr. Das ist Pudding.«

»Messt es trotzdem.«

Die Ärzte packten aus einer Tasche Instrumente aus. Mit Hilfe des Medoroboters platzierten sie am ganzen Körper des Jungen Sonden. Sie brauchten zwei Minuten und erledigten das Ganze professionell. Abgesehen davon, dass sie sich ein bisschen störrisch verhielten, war Roog zufrieden mit ihrer Arbeit. Den Anblick musste man erst einmal verkraften.

»Hirnströme null«, sagte der Mann. »Todesursache: äußere Schockeinwirkung. Das Kind ist mit hoher Wahrscheinlichkeit vor zwölf bis vierzehn Minuten seinen Verletzungen erlegen.«

»Wie lange dauert es, bis man an solchen Verletzungen stirbt?«

»In solchen Fällen tritt der Tod sofort ein.«

»Kann es sein, dass der Junge schon tot war, bevor er herunterfiel?«

»Du meinst, hier wirft jemand mit Leichen herum?«, fragte die Frau angeekelt. »Deine Phantasie ist ja krank.«

»Kann man es feststellen oder nicht?«

»Nein, kann man nicht. Höchstens im Labor.«

Roog dachte eine Weile nach. »Könnt ihr mit Sicherheit sagen, dass der Junge ein Mensch ist?«

Die Frage überraschte die Ärzte.

»Ein Mensch? Was denn sonst?«

»Vielleicht ein Android. Oder eine lebensechte Puppe.«

Die Frau starrte auf das Kind, und Roog registrierte, wie ihre vorgeschützte Kälte langsam zu bröckeln anfing. Sie wollte es nicht, aber sie begann die blonden Haare und die Reste der großen Augen zu sehen. Ihre Finger zitterten.

»Soweit ich feststellen kann«, sagte sie leise, »handelt es sich um ein menschliches Kind.«

»Danke.«

»Na, dann ... dann wäre es wohl Zeit für den Leichentransport.«

Roog wehrte ab: »Nein, das wird von uns erledigt.«

»Von euch? Was soll das denn heißen?«

»Vom Terranischen Liga-Dienst. Das heißt, wir schaffen den Leichnam ins Labor.«

»Wie du meinst. Wir können gehen?«

»Ja.«

Sie und ihr Kollege holten aus dem Medogleiter eine Plane. Damit bedeckten sie die Leiche. Roog sah den Ärzten hinterher, bis sie verschwunden waren. Ihr Gleiter hob vom Boden ab und raste in Richtung Stadtzentrum davon. Es war das vorerst letzte Fahrzeug, das sich vom Tatort entfernte. Die ersten Maßnahmen der Polizei griffen nun, zwanzig Minuten nach dem Tod des Kindes. Der Gleiterverkehr durch die Straße wurde von Terrania Traffic Control umgeleitet. Die ersten Maschen eines energetischen Zauns riegelten das Gebäude nach hinten und zur Seite ab. Niemand konnte mehr das Gelände betreten, ohne dass es Roog oder einer der Polizisten merkten. Außerdem waren da die Space Jets, hoch oben am Himmel. Keine Fliege konnte herein oder hinaus.

»He, Sholter!«

Er wandte sich um, sah den Polizisten Toldur und fragte: »Ja? Was denn?«

»Wir sollten uns um die Eltern kümmern.«

»Das sehe ich auch so. Komm.«

Roog ordnete an, die Personen am Tatort nach ihren Personalien und ihren Beobachtungen zu befragen. Toldurs drei Begleiter übernahmen das.

Ein paar Meter weg von der Leiche kniete immer noch die schmale Dunkelhaarige, die er vor ein paar Minuten als die Mutter des Kindes erkannt hatte. Roog ging zu ihr und fasste sie am Arm.

»Lucia! Du musst mich jetzt begleiten.«

»Wie?«

Sie schaute auf, und er sah an ihren Augen, dass sie vollständig verwirrt war. Einen solchen Schock zu verkraften, das war keine einfache Sache. Ihre Finger zitterten so heftig, dass sie sich permanent an der eigenen Kleidung festhielt. Vielleicht hatte sie gar nicht begriffen, was passiert war. Roogs Hoffnungen, von ihr den Hergang der Sache zu erfahren, sanken auf einen Punkt, der bei nahezu null lag.

»Du bist doch Lucia.«

»Ja. Lucia Schirmer.«

»Wie viele Kinder hast du?«

»Eines.«

»Und wie ist sein Name?«

Roog verkniff sich absichtlich die Formulierung »Wie war sein Name?«

»Jomie. Jomie ist vier.«

»Und wie kommt es, dass Jomie aus dem Fenster gefallen ist?«

Die Dunkelhaarige machte wieder große Augen. Roog überlegte, ob Toldur ihr ein Psychopharmakum verabreichen sollte. »Versuchen wir es anders, Lucia«, sagte er sanft. »Weißt du, ob jemand gesehen hat, was passiert ist?«

»Nicolos.«

»Wer ist Nicolos?«

»Mein Freund.«

»Ist er Jomies Vater?«

»Ja. Wir wohnen zusammen.«

»Wo können wir Nicolos finden?«

Sie zeigte am Glasturm hinauf, in den Bereich zwischen Stockwerk acht und vierzehn. Insgesamt waren es einundzwanzig Etagen. Roog registrierte, dass sie auf eine jener Wohnungen deutete, die in Frage kamen. In diesem Bereich standen mehrere Fenster offen.

»Bitte führ uns zu Nicolos, Lucia. Kannst du laufen?«

Die Dunkelhaarige starrte auf die Plane, die über dem Leichnam ihres Kindes lag. Sie öffnete einige Male den Mund, aber sie sagte nichts. Dann schaute sie auf, erhob sich und ging wortlos voran. Roog fielen ihre steifen Schritte auf. Er hielt es für denkbar, dass sie einen Nervenzusammenbruch bekam. Polizist Toldur schaute hoch und klopfte auf seine Tasche; er hatte Medikamente und alles Notwendige in einer umgehängten Tasche.

Der Wohnturm besaß drei Ausgänge. Jeder führte in eine andere Richtung. In der Mitte des Gebäudes befanden sich zwei Antigravschächte. Roog hielt den Kopf in den aufwärts gepolten Sog, schaute nach unten in den Keller und nach oben bis zum Dach. Beide Schächte verliefen ohne Unterbrechung.

Lucia nahm den linken Schacht. Sie schwebten nebeneinanderher bis in den zehnten Stock. »Hier«, sagte sie. Die Dunkelhaarige führte sie bis vor eine Wohnungstür. Auf einem Schild standen die Namen Lucia Schirmer, Nicolos Gmokett und Jomie.

Die Tür stand offen. Dahinter schloss sich eine großzügig geschnittene Wohnung an. Von der Diele zweigten sechs Türen ab. Man konnte ein Kinderzimmer, ein Schlafzimmer und einen Aufenthaltsraum erkennen. Die Einrichtung wirkte wenig abgestimmt. Kantige und runde Möbel standen nebeneinander. Braune und pinkfarbene Töne dominierten. Unter der Decke schwebten Leuchtkörper, die ein dumpfes grünes Licht verbreiteten. Roog empfand die Möblierung als hässlich.

»Hast du die Wohnung eingerichtet, Lucia?«, fragte er.

»Ja«, antwortete sie.

Tür Nummer vier verschloss eine Nasszelle oder ein Bad, Nummer fünf war abgesperrt. Das sechste Zimmer erwies sich als spärlich eingerichteter Wohnraum. Unaufgeräumte Regale bedeckten die eine Wand, in der Mitte stand ein Glassit-Tisch. Auf der Platte türmten sich Datenträger, abgepackte Süßigkeiten, Kinderspielzeuge. An den Wänden standen Sitzmöbel und eine Couch für zwei Personen. Ein Trivideo-Gerät spulte Nachrichten ab, doch der Ton war heruntergeregelt.

Das mittlere von drei sehr breiten Fenstern stand offen. Davor saß in einem der Sessel ein Mann, der nicht einmal den Kopf drehte, als sie kamen.

»Lucia? Bist du das?«

Die Dunkelhaarige gab keine Antwort.

Stattdessen sagte Roog: »Sie ist bei uns.«

Der Mann erschrak und sprang auf. Obwohl er so grobschlächtig aussah, war es eine fließende Bewegung. Er trug ein weißes Hemd ohne Ärmel. Roog fand das bemerkenswert, weil die Temperatur am Fenster niedrig sein musste. Eine Glatze, ein breites Gesicht, starker Bartwuchs, kräftige Arme; er sah aus wie ein Siedler von einem Agrarplaneten.

»Bist du Nicolos Gmokett?«

»Na und?«

»Mein Name ist Sholter Roog. Ich bin ein Agent des TLD.«

»Liga-Dienst? Dieser Geheimverein?«

»Korrekt.« Roog hielt den Ausweis hoch, dann zeigte er auf seinen Begleiter. »Das ist Polizist Toldur. Toldur wird in dieser Wohnung die Spuren sichern.«

»Spuren?«, wiederholte der Mann. »Was für Spuren denn?«

»Noch einmal: Bist du Nicolos Gmokett?«

»Ja, bin ich.«

»Dann weißt du doch, was passiert ist.«

»Jomie ist aus dem Fenster gefallen«, sagte Gmokett tonlos.

Polizist Toldur nahm aus seiner Tasche zwei schimmernde Kugeln. Die Robs blieben schwerelos hängen, knapp in Kopfhöhe, dann setzten sie sich lautlos in Bewegung. Einer nahm sich den Raum und speziell die Fensterfront vor, der andere verschwand im hinteren Teil der Wohnung. Verschlossene Türen stellten für einen Protokoll-Rob kein Hindernis dar.

»Fangen wir einfach mal mit ein paar persönlichen Daten an. Erzähle etwas über dich.«

»Was denn? – Ich weiß schon. Nicolos Gmokett, 46 Jahre alt. Beschäftigt im Reaktor No. 13 Terrania/West. Wir sind zwanzig Leute, ich steuere den Wartungsbereich.«

»Und deine Freundin?«

»Lucia und ich, wir sind derselbe Jahrgang. Sie arbeitet nicht. Ist nichts für sie.«

Roog ließ ein paar Sekunden vergehen.

»Warum warst du nicht unten, Nicolos?«, fragte er plötzlich.

»Unten?«

Gmokett ließ sich schwer in seinen Sessel fallen. Der Kerl betrachtete sie als Gegner. Er war kaum zu überrumpeln. Die Art und Weise, wie er sich zurückhielt, weckte Roogs Misstrauen.

»Bei deinem Sohn. So wie Lucia.«

»Hätte auch nichts genützt«, erwiderte Gmokett böse. »Mindestens dreißig Meter Höhe. Wir hätten vorher aufpassen müssen, dann wäre nichts passiert. Aber wer kommt auf so was?«

»Wie ist es denn passiert?«

Roog überzeugte sich, dass ein Protokollant alles mitschnitt. Gmoketts Aussage durfte nicht verlorengehen.

»Der Kleine spielte am Fenster. Es war offen. Dann muss er wohl aufs Fensterbrett geklettert sein. Ich hab' noch gesehen, wie Jomie nach draußen fiel.«

»Konntest du nichts dagegen unternehmen?«

»Nein. Was denn wohl? Ich stand in der Tür. Das ist zehn Meter weg.«

»Ich nehme an, Nicolos, du kannst das beweisen.«

Roog sah sich einem plötzlich hasserfüllten Blick ausgesetzt. Gmokett sprang aus seinem Sessel hoch, näherte sich drohend und baute sich vor ihm auf, so dass es wie eine Drohung aussah.

»Jetzt hör mal zu, Agent. Du kannst mit deinen blöden Fragen bleiben, wo du willst. Mein Sohn ist gerade gestorben. Ich kann gut auf ein Arschloch verzichten, das hier oben stöbert und bösartige Fragen stellt.«

Roog blieb stehen, wo er war. Gmokett war genauso groß, um die einsneunzig, auf den ersten Blick sehr viel bulliger. Für Leute von der Sorte brauchte er drei Sekunden. Das Problem war nur, er durfte sich mit Gmokett nicht anlegen. Schwierigkeiten mit dem Liga-Dienst konnte er nicht brauchen. Wenn es zu machen war, musste die Sache ohne Aufhebens über die Bühne.

Ohne Gewalt, ohne Tote und Verletzte.

»Geh mal zur Seite!«, befahl er.

Gmokett verharrte kurz, dann rückte er ärgerlich nach links.

Roog ging ans Fenster und schaute nach unten. Dreißig Meter, eine schöne Höhe. Der Ausblick in die Umgebung war atemberaubend. Man konnte viele Kilometer weit sehen, durch das Atlan Village, bis in den angrenzenden Stadtteil. Dahinter stiegen drei kugelförmige Raumschiffe auf, 800 Meter durchmessende Raumriesen der PAPERMOON-Klasse. Sie boten einen majestätischen Anblick. Terrania war die schönste Stadt, die Roog je erlebt hatte; eingeschlossen seine Reisen nach Arkon, Sphinx und Olymp. Und doch war in dieser Stadt ein vierjähriges Kind aus dem Fenster gefallen.

Roog blickte eine Weile auf seine Fingerspitzen. Die Oberflächen der Nägel waren mit einer optisch variablen Folie überklebt. Die Hornsubstanz enthielt ein miniaturisiertes, in mehrere Bestandteile zerlegtes Ortergerät. Für den, der Bescheid wusste, ergab sich eine Art Bildschirm. Gewisse Daten ließen sich mit bemerkenswerter Präzision ablesen; ohne dass man eine klobige Gerätschaft mitführen musste.

»Was ist mit deinen Fingern? Sind sie schmutzig, Roog?«

Er gab keine Antwort. Seine Nagelorter lieferten einen schwachen Ausschlag, der sich dem Fensterrahmen zuordnen ließ.

Roog drehte sich plötzlich um. »Toldur! Wirf mal eine von diesen Bonbonschalen rüber.«

Der Polizist nahm eine aufgerissene Packung vom Tisch.

Roog tat, als wolle er die Schachtel fangen – und machte stattdessen einen Schritt zur Seite.

Die Packung flog durch das geöffnete Fenster.

Einen halben Meter vom Fensterbrett entfernt blieb sie mitten in der Luft hängen.

»Siehst du, Gmokett?«, fragte er. »Das ist der Grund, warum ich Fragen stelle. Das Fenster besitzt eine automatische Rückhaltevorrichtung. Jomie konnte gar nicht aus dem Fenster fallen.«

Gmoketts Bericht fiel kurz und präzise aus. Er wiederholte die erste Fassung, nur detaillierter. Auf den ersten Blick schien es keine Lücke zu geben. Lucia stellte sich schon dümmer an, sie erzählte alle fünf Minuten eine neue Version, weil sie sich nicht konzentrieren konnte. Allen Versionen war eines gemein: Sie hatte überhaupt nicht gesehen, was passiert war.

Roog witterte eine böse Sache. Aus eigener Kraft konnte der kleine Jomie nicht aus dem Fenster gefallen sein. Also Mord? Jedes Fenster der Stadt wurde mit einer Rückhaltevorrichtung ausgestattet, wenn es höher als zehn Meter lag. Die Vorrichtung bestand aus einem Antigrav, einem Sensor und einem Mikrocomputer, der entschied, wann der Antigrav zu aktivieren sei. Roog fielen auf Anhieb zwei Dutzend Möglichkeiten ein, wie man sein Kind leichter und vor allem weniger auffällig tötete. Vorausgesetzt, man hatte die Absicht dazu. Und wenn es ein Unfall war? Eine technische Einrichtung, die hundertprozentig zuverlässig arbeitete, existierte nicht. Er nahm sich vor, die Rückhaltevorrichtung auf Mängel untersuchen zu lassen. Wenn etwas passierte, das eigentlich nicht sein konnte, wenn zum ersten Mal seit undenklicher Zeit ein kleiner Junge ermordet wurde, dann steckte etwas dahinter. Roog war natürlich nicht sicher. Aber das Quäntchen Unsicherheit reichte aus.

Er hob das Armband an die Lippen. »Agent Sholter Roog«, formulierte er. »Terranischer Liga-Dienst. Kennziffer 766554-A. Die Ermittlungen im vorliegenden Fall erfordern Unterstützung aus dem Tower.«

Die künstliche Stimme antwortete: »Agent Roog identifiziert. Status: bedingt beurlaubt. Welche Form von Unterstützung wird gewünscht?«

»Ich benötige einen TARA-V-UH.«

»Die Maschine trifft in zehn Minuten ein. Ende.«

Nicolos Gmokett und Polizist Toldur starrten ihn an. Beide hatten eine misstrauische Miene aufgesetzt.

Toldur wollte wissen: »Was bedeutet eigentlich dieses ›bedingt beurlaubt‹? Bist du nun im Dienst oder nicht?«

»Für diesen Fall bin ich es«, behauptete Roog.

»Und sonst?«

»Bin ich beurlaubt. Aber sei gewiss, dass ich über die vollen Kompetenzen verfüge.«

»Ich erkundige mich morgen früh, Roog. Und zwar direkt im Tower.«

»Meinetwegen.«

Dass der Polizist in Anwesenheit eines Verdächtigen solche Gespräche führte, verärgerte Roog.

Gmokett schickte noch eine Frage hinterher: »Was bedeutet eigentlich TARA-V-UH? Diese Maschine, die kommen soll?«

»Das merkst du noch, Nicolos.«

Roog schaute sich in der Wohnung um. Natürliches Licht kam von der Außenseite, von den Fenstern zur Straße. An den restlichen Wänden hingen Kunstlicht-Holoramen. Sie waren von echten Fenstern kaum zu unterscheiden. Der Betrachter erblickte Gatas, eine wenig heimelige Blues-Welt. Winzig kleine Gestalten gingen abwechselnd voreinander in die Knie. Teure Holoramen spielten Filme ab, die bis zu einigen Tagen reichten; man konnte die vermeintlichen Fenster öffnen, den Kopf hinausstrecken, fremde Gerüche atmen. Aber nicht in diesem Fall, die Bewegungen der Tellerköpfe wiederholten sich in einer Endlosschleife von zehn Sekunden Dauer.

Im Kinderzimmer herrschte Unordnung. Zerbrochene Gegenstände lagen in großer Menge herum, unter dem Bett, auf den niedrigen Schränken oder auf dem Boden. Der kleine Jomie musste ein aggressives Kind gewesen sein. Was wiederum Schlüsse auf die Eltern zuließ, überlegte Roog.

Im Schlafzimmer dominierten die Farben Schwarz und Weiß. Roog öffnete die Schränke und fand schwarze Wäsche, eine Peitsche mit Blutspuren daran und diverse Sexspielzeuge. In einer Schublade lag ein durchsichtiger Würfel aus Plastik. An der Seite befand sich eine Sensortaste; der Würfel spulte auf Berührung eine Szene ab, in der eine daumengroße Lucia Schirmer von einem ebenfalls verkleinerten Nicolos Gmokett geprügelt wurde. Er schlug so oft und so fest zu, bis Lucia zu bluten anfing. Den Szenen ließ sich nicht entnehmen, ob Lucia Schirmer aus freiem Willen bei der Sache war. Gewalt und Sexualität gehörten oft zusammen.

»Warum zeichnen die so was auf?«, fragte Toldur neben ihm. Seine Stimme klang angewidert.

»Ich bin froh, dass sie es getan haben.«

»Wieso?«

»Die Aufzeichnung ist eine Spur. Sie erlaubt uns Schlüsse.«

Am interessantesten schien ihm das verschlossene Zimmer. Roog ließ den Kode von einem Protokoll-Rob knacken. Im Inneren fand sich eine Werkstatt. Neunzig Prozent aller Kleinstgeräte, die auf engstem Raum verstaut standen, hatte Roog niemals vorher gesehen. Die restlichen zehn Prozent erkannte er als Kameras oder syntronisch gesteuerte Aufnahmegeräte. Im TLD-Tower gab es Kammern, die enthielten ähnliches Gerät. Allerdings waren die Sachen im Tower für Agententätigkeit vorgesehen, nicht für den Freizeitgebrauch.

»Mein Hobby«, erklärte Gmokett von hinten. »Videografie in allen modernen und altertümlichen Formen. Ich schließe die Kammer ab wegen der Chemikalien. Jomie soll nicht damit spielen.«

»Ah.«

»Ist doch nichts verboten dran.«

»Natürlich nicht. – Du besitzt eine Menge Mikrofilme, Nicolos. Ich will, dass du keinen mehr anrührst. Wir werden sie alle ansehen.«

Gmokett lachte. Roog fragte sich, wie man zwanzig Minuten nach dem Tod seines Sohnes lachen konnte. »Viel Spaß«, wünschte der Mann sarkastisch. »Lucia hat sich immer geweigert.«

»Sind auch Filme über Lucia dabei?«

Gmokett hatte wieder diesen wachsamen Blick. »Ein paar«, sagte er. »Interessantes Zeug. Für Spezialisten.«

»Spielst du auch mit?«

»Natürlich. Ich bin Laie, aber ich bin gut.«

»Und ... was ist mit Jomie?«

Damit gelang es ihm zum ersten Mal, Gmokett auf dem falschen Fuß zu erwischen.

»Du bist ein Schwein, Roog. Jomie ist mein Sohn.«

»Schon gut. Wir prüfen es.«

Draußen klingelte es. Polizist Toldur öffnete die Tür. Hereingeschwebt kam eine zylindrische Maschine von eineinhalb Metern Höhe. Die Hülle war mit einer Unzahl winziger Aufbauten ausgestattet, Arme oder Tentakel gab es nicht, weder Augen noch sichtbare akustische Öffnungen.

»Agent Roog?«

»Kennziffer 766554-A. Ich nehme an, du hast mich anhand der Individualschwingung identifiziert, TARA.«

»Das ist korrekt.«

»Ich erteile folgenden Auftrag: Du wirst diese Wohnung überwachen und sämtliche Aktivitäten aufzeichnen. Du wirst verhindern, dass im kriminalistischen Sinne verwertbare Spuren beseitigt oder verfälscht werden. Du wirst im Bereich dieser Wohnung jede Straftat verhindern. Du wirst jede Aktivität, deren Zweck du nicht bewerten kannst, an den Tower melden. Wir lassen zwei Protokoll-Roboter in dieser Wohnung zurück. Für deine Beobachtungen kannst du dich ihrer Sensoren bedienen.«

»Ich habe verstanden«, sagte der TARA.

Roog wandte sich an Lucia Schirmer und an Nicolos Gmokett: »Wir sprechen morgen wieder. Bis dahin steht ihr beiden unter Arrest.«

»Soll das so was wie eine Anklage sein?«

»Nein, vorläufig nicht. Kann aber noch kommen.«

Der TARA schwebte mitten im Raum und machte keine Anstalten, sich zur Seite zu bewegen. Sie verließen die Wohnung und schlossen hinter sich die Tür. Der Polizist schaffte es bis zum Schacht, dann platzte es aus ihm heraus: »Du willst dich verdammt noch mal wichtig machen, Roog!«, warf der Polizist ihm vor, als sie nach unten schwebten. »Einen TARA-V-UH! Du kannst nicht ganz dicht sein! Wieso sie dich auch immer beurlaubt haben, es wird nicht ganz ohne Grund sein.«

»Halt doch den Mund, Toldur«, versetzte Roog müde. »Ich hab' nicht mal richtig gefrühstückt.«

»Nein! Halte ich nicht! Ein TARA-V-UH ist ein Mordinstrument! Denke nicht, dass ich nicht Bescheid wüsste. So ein Ding ist mit Transformkanonen ausgerüstet, nicht wahr? Für militärischen Einsatz. Wenn der loslegt, vernichtet er ein ganzes Raumschiff.«

»Um genau zu sein, ein ganzes Stadtviertel.«

»Und so was stellst du denen in die Wohnung? Die haben gerade ihr Kind verloren. Das ist keine Kampfgruppe oder so was.«

»Du kannst dich ja beschweren.«

»Werde ich. Langsam kommt was zusammen.«

Draußen fuhr kalter Wind in ihre Kleidung, und Roog konnte nicht anders, als trotz des Sonnenscheins zu frösteln. Es war ein lausiger Sommer. Mittlerweile war die Leiche fortgeschafft. Toldurs Leute vernahmen immer noch Zeugen. Roog setzte sich auf die Parkbank vor dem Turm und schaute zu, gut eine Stunde lang. Die Zeugen wurden der Reihe nach entlassen, bis auf einen Mann mit auffällig hoher Stirn, der das Geschehen überhaupt nicht zu beachten schien. Er hatte am Polizeigleiter Platz genommen. Roog sah ihn nicht ein einziges Mal mit den Wimpern zucken.

Dann war der letzte durch. Roog erhob sich von der Bank. »Hat sich was ergeben?«, fragte er.

Toldurs Leute zuckten mit den Achseln. »Niemand will gesehen haben, was passiert ist«, fasste einer zusammen. »Keine Augenzeugen. Alle kamen später dazu.«

»Scheiße.«

»Na ja, nicht ganz ...« Einer der Polizisten zeigte auf den Mann mit der hohen Stirn, der immer noch am Schweber saß, und zwar als einziger. »Der dahinten. Gesehen hat er nichts. Aber gehört, behauptet er.«

»Wer etwas hört, sieht auch etwas.«

»Der nicht. Er ist nämlich blind. Übrigens ein Anti.«

»Mmmh.«

Wenn man in der Sonne genauer hinsah, ließ sich der olivfarbene Schimmer in der Haut nicht verkennen. Die hohe vorgewölbte Stirn, fein gezeichnete Züge, albinotisch rote Augen, geringe Körperkraft; ein typischer Vertreter seines Volkes. Roog näherte sich dem Anti, ohne ein Geräusch zu verursachen. Seine Schritte waren auf dem feuchten Gras und gegen den Wind praktisch nicht hörbar. Er blieb eine Weile stehen. Dann sagte er: »Du weißt genau, dass ich da bin, nicht wahr?«

»Ja.« Der Anti zuckte nicht. »Du bist Roog.«

»Woher hast du das?«

»Ich konnte euch reden hören.«

»Was hast du mitgekriegt?«

»Deine Dispute mit einem Polizisten namens Toldur und deinen Funkverkehr. Zumindest nehme ich an, dass der unterbrochene Monolog mit einem sogenannten Tower ein Gespräch per Funk war.«

»Ja«, gab Roog mit einer gewissen Hochachtung zu, »du besitzt ein feines Gehör. Ein Mensch könnte das nicht, auf zwanzig Meter, bei dem Wind.«

»Das ist zweifellos richtig.«

»Wie ist dein Name?«

»Ich heiße Cencenza. Mit vollem Namen Cuul Basten Cencenza.«

»Du bist einer aus dem Volk der Báalols?«

»Du kannst mich ruhig einen Anti nennen, so redet ihr Menschen doch alle. Ich habe kein Problem damit.«

»Gut. – Erzähl mir, was du gesehen hast.«

»Du wurdest zweifellos informiert, dass ich nichts gesehen habe.«

»Dann was du gehört hast«, verbesserte sich Roog ungerührt.

»So ist es. Ich saß auf der Parkbank unterhalb des Wohnturms. Ich hörte, dass ein Kind schrie. Das Geräusch kam von oben. Das Kind schrie mehrere Male. Ich nehme an, dass es Angst hatte.«

»Wie kommst du darauf?«, fragte Roog schnell. »Ein Anti-Kind schreit nicht wie ein Menschenkind.«

»Ich gebe zu, dass darin ein Unsicherheitsfaktor liegt. Es kann sein, dass das Kind Schmerzen hatte. Aber es handelte sich eindeutig um ein Schreien aus negativem Anlass. So unterschiedlich sind unsere Völker nicht, entwicklungsgeschichtlich liegen zwischen Báalols und Menschen nur 50.000 Jahre.«

»Okay, Cuul Basten ... Wie war der dritte Name?«

»Cencenza«, ergänzte der Anti. »Soll ich weitermachen?« Er bewegte weder den Kopf, noch zeigte er das geringste Mienenspiel.

»Bitte.«

»Das Schreien des Kindes hörte auf. Ein schweres Objekt prallte kurz danach auf den Boden.«

»Das war alles?«

»Ja.«

»Du bist sicher, dass das Kind mehrmals schrie?«

»Natürlich. Ich besitze ein sehr viel besseres Gedächtnis als die meisten Terraner.«

»Das will ich nicht bestreiten, Cencenza«, sagte Roog.

»Aber etwas weckt dein Misstrauen?«

»Richtig. Deine Geschichte klingt, als hättest du sie auswendig gelernt.«

»Ich habe sie deinen Leuten dreimal erzählt. Mittlerweile weiß ich, was ihr hören wollt.«

»Gibt es etwas, das du noch hinzufügen möchtest? Irgendwas, das dir anfangs unwichtig schien?«

»Nichts. Ich verfüge über eine äußerst präzise Auffassungsgabe und über ein exakt funktionierendes Gedächtnis. Das erwähnte ich bereits.«

Roog lachte leise. »Erinnerst du dich an meine Identifizierungsnummer?«

»Kennziffer 766554-A«, antwortete der Anti prompt. Er musste nicht einmal überlegen. »Du nanntest sie in deinem Funkgespräch.«

»Danke. Ich bin überzeugt. Mich interessiert noch, was du auf der Parkbank zu suchen hattest.«

»Ich habe gewartet.«

»Worauf?«

»Dass die Zeit vergeht.«

»Eine ziemlich öde Beschäftigung, stimmt's?«

»Manchmal hat man nicht die Wahl. Ich gehöre zur Anti-Botschaft von Terrania. Vor drei Tagen erlitt ich einen Unfall. Meine Augen wurden irreparabel geschädigt. Du kannst es ohne Instrumente nicht erkennen, aber ich besitze keinerlei Sehfähigkeit mehr. Deine Leute haben das von einem Medoroboter prüfen lassen. Außerdem liegt ein Bericht aus dem Medikum des HQ Hanse vor. Das bedeutet, ich kann derzeit keine Tätigkeiten ausführen, die mit Bewegung oder mit Sehfähigkeit zu tun haben.«

»Deshalb sitzt du auf einer Bank mitten in Terrania?«

»So ist es. Ich warte auf den Termin meiner Operation. Im Medikum wurden mir Körperzellen entnommen. Es dauert zwei Tage, dann stehen Ersatzaugen zur Verfügung. Sie werden derzeit aus meinem Körpergewebe geklont. Ich bat heute morgen darum, an einer beliebigen Stelle der Stadt auf die Nacht zu warten. Meine Betreuer setzten mich an dieser Parkbank aus.«

Roog fand das ungewöhnlich, aber nicht ausgeschlossen. Es passte zur Mentalität des Anti-Volkes.

»Was wirst du nun tun, Cencenza?«

»Ich lasse mich von einem Betreuer abholen. Übermorgen ist der Termin meiner Operation.«

»Ich muss dich bitten, auch danach Terrania nicht zu verlassen. Die Untersuchung kann eine Weile dauern.«

»Damit habe ich gerechnet. Ich gehe davon aus, dass die Liga Freier Terraner meine Unkosten ersetzt.«

Roog antwortete: »Sofern dir welche entstehen, ist das selbstverständlich. Schön, Cencenza, das wäre es für heute.«

Der Anti sagte: »Ich wünsche dir einen angenehmen Tag.«

Roog ging zum Polizeigleiter. Am rechten Sitz befand sich ein Terminal mit holographischer Projektionsfläche. Er holte sich einen Straßenplan von Atlan Village herein, mit dem Wohnturm und dem Guzmangrund in der Mitte. Jedes einzelne Gebäude ließ sich zuordnen. Das technische Kaufhaus gegenüber, das Bürogebäude des TLD – und der Glasturm, vor dem der Junge gestorben war. Schrittweise vergrößerte er den Ausschnitt. In zehn Kilometern Entfernung vom Guzmangrund befand sich die Anti-Botschaft. Roog zog eine imaginäre Linie zwischen der Botschaft und dem HQ Hanse; dem Ort, an dem Diplomaten gewöhnlich zu arbeiten hatten. Der Guzmangrund lag präzise auf dieser Linie. Das stützte Cencenzas Aussage. Seine Anwesenheit auf der Parkbank war ein glaubwürdiger Zufall.

»Na?«, fragte Polizist Toldur mit einer gewissen Häme. »Was Neues herausgekriegt?«

»Er ist unser wichtigster Zeuge. Wenn er wieder gesund ist, sprechen wir noch einmal mit ihm.«

»Gut. Und was jetzt, Roog? Ich nehme an, wir sind hier fertig.«

»Keineswegs. Oder wart ihr bereits auf der anderen Straßenseite?«

»Die Anwohner in den Wohnungen und Büros werden bereits befragt, falls du das meinst. Aber da würde ich mir nichts ausrechnen. Wenn jemand was gemerkt hätte, wüssten wir es schon.«

»Das sehe ich genauso. Ich denke auch nicht an einen lebendigen Zeugen.«

»Sondern?«

»Komm mit. Gleich passiert was.«

Roog und der Polizist überquerten die Straße. Über ihnen wälzte sich mittlerweile wieder Gleiterverkehr durch den Guzmangrund; es gab keinen Grund, die Sperre aufrechtzuerhalten. Als sie die Mitte erreichten, gesellten sich zwei freundliche Begleiter zu ihnen. Die Gestalten sahen für einen oberflächlichen Betrachter echt aus.

Toldur erschrak im ersten Augenblick. »Was ist das?«, fragte er verblüfft. Dann musste er lachen, als er das manipulierte Zerrbild seiner selbst erkannte.

»Ein Werbegag vom Hightech-Markt. Passanten kommen mit bösen Gesichtern vorbei. Ein optisches System erfasst die Leute und trimmt ihre Gesichter auf fröhlich.«

»Schlau.«

»Für uns möglicherweise ein Vorteil.«

»Wieso?«

»Ich will wissen, was das optische System aufgezeichnet hat. Ob sie einen permanent selbstlöschenden Speicher verwenden oder einen normalen Syntron, der seine Daten am Ende des Tages vernichtet.«

Polizist Toldur klappte den Mund zu. »Du meinst, ob der Unfall darauf ist?«

»Zum Beispiel. Könnte sein, dass sie einen engen Kamerafokus verwenden. Oder sie erfassen den gesamten Hintergrund und filtern dann erst die Personen heraus. Ich kann mir noch eine Menge interessantes Zeug vorstellen.«

»Woher wusstest du das mit der Kamera?«

»Sag' ich dir nicht.«

Roog verspürte keine Lust, die Geschichte von seiner Suspendierung, von einer Schlaftablette namens Ammanda und von dreiundzwanzig Akten auf seinem Schreibtisch zu erzählen. Stattdessen betraten sie den Markt. In der untersten Etage waren sie die einzigen Besucher. Technische Geräte wurden auf Stellflächen präsentiert, holographische Filme führten auf Knopfdruck die Funktion vor. Das Erdgeschoss bot Geräte aus dem Kommunikationsbereich: Armbandfunkgeräte, die ein halbes Lichtjahr reichten, Großanlagen für den Einsatz in Raumschiffen, Translatorgeräte für die Übersetzung fremder Sprachen. Von einem gesonderten Podest drohte eine schwarze Gestalt, den Rachen aufgerissen, die Hände zu Fäusten geballt. Sie war einsfünfzig groß und stellte einen Haluter dar, ein albtraumhaftes Wesen mit vier Armen, kuppelförmigem Kopf und Reißzähnen. Die Puppe funktionierte ferngesteuert. Haluter gehörten zu den Freunden der Menschheit; als Kinderschreck gab die Puppe jedoch eine passable Figur ab. Mit der ausgestreckten Hand des linken Handlungsarms präsentierte sie einen Sender für Normalfunk.

An unsichtbaren Fäden hing eine Spielzeugkamera von derselben Sorte, wie sie im Schaufenster ausgestellt war. Sie kostete 28 Galax. Ein Sonderangebot.

Roog sagte laut: »Ich will mit der Leitung des Hauses sprechen.«

Eine Stimme aus dem Nichts antwortete: »Wünschst du eine technische Beratung?«

»Nein. Es handelt sich um eine offizielle Angelegenheit.«

»Bitte folg dem Lichtsignal.«

Mitten in der Luft entstand ein blinkender Punkt. Das Licht führte zu einer Tür, die sich vor ihnen öffnete. Dahinter tat sich ein nüchterner Raum fast ohne jede Möblierung auf. Nur ein pultförmiges Terminal mit Sprachausgabe und optischen Elementen ragte aus dem Boden. Der Manager war ein Computer.

»Mein Name ist Sholter Roog. Agent des Terranischen Liga-Dienstes. Kennziffer 766554-A. Bitte überprüfe meine Identifikation.«

»Das ist hiermit geschehen.«

»Gut. Verwaltest du das Kaufhaus für eine Privatperson oder für die LFT?«

»Für die LFT. Meine Funktionen werden direkt von NATHAN überwacht.«

»Wir haben Interesse an der Spielzeugkamera, die im Schaufenster zur Straße Guzmangrund angebracht ist. Die Kamera mitsamt ihren Speicherelementen muss an mich übergeben werden. Die Speicher dürfen nicht gelöscht werden.«

»Ich habe verstanden, Sholter Roog. Der Zugang zum Schaufenster wurde soeben von mir geöffnet.«

»Danke.«

Roog und Toldur begaben sich zurück in die Verkaufsräume. An der Wand, die der Straße zugekehrt war, stand eine Tür offen.

»Toldur, sieh mal in deiner Tasche nach. Hast du noch einen Protokoll-Rob da?«

»Sicher.«

»Gib her!«

Roog setzte die Kugel ins Schaufenster, ließ sie schwerelos eine Runde drehen, holte den Rob wieder ein und setzte ihn sich auf die Schulter. Die Kamera stellte ein Beweismittel dar. Solange er manuell damit umging, musste jeder Griff festgehalten werden. Er kletterte in die Dekoration und kam mit der Kamera zurück. Sie wog nur wenige Kilogramm. Wie der Speicher und der Erfassungsbereich des Objektivs konstruiert waren, ließ sich von außen nicht sagen.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Toldur nachdenklich. »Am besten, wir spielen das Ding einfach ab. Dann sehen wir ja, was wir haben und was nicht.«

»Stimmt«, bestätigte Roog. »Allerdings mit einer kleinen Berichtigung. Wir sehen uns das nicht gemeinsam an. Das mache ich allein. Du kannst dich ab jetzt wieder um deine Arbeit kümmern. Offizieller Kram und so weiter.«

Roog behielt den Polizisten im Auge.

Der wurde rot. »Irrtum, Roog!«, presste er so gedämpft wie möglich heraus. »Dieses tote Kind ist auch mein Fall. Ich will nicht, dass du mich da rausdrängst.«

»Es tut mir leid«, log er.

»Verfluchter Wichtigtuer!« In die Beleidigung legte Toldur allen Abscheu, den er empfand.

»Was war los?«, wollte Ammanda wissen.

Roog antwortete: »Schlimme Sache. Im Glasturm gegenüber gab's einen Unfall.«

Sie schmorte, bis sie fast geplatzt wäre. »Ja! Weiter!«

»Eine Frau hatte mit ihrem Lieblingskochgerät irgendwas gebrutzelt. Ich glaube, Pudding. Sie kriegte dann das Übergewicht, und das Kochgerät fiel ihr irgendwie aus dem Fenster.«

»Ehrlich?«

»Es war ihr Lieblingsgerät. Und dann ist es aus dem zehnten Stock gefallen. Die arme Frau rannte natürlich nach unten. Als sie sah, dass ihr Lieblingsstück zerschellt war, erlitt sie einen Nervenzusammenbruch. Wir haben versucht, ihr zu helfen.«

Ammanda schaute ein bisschen misstrauisch. Sie war unsicher, ob sie ihm glauben sollte oder nicht. »Aus dem Fenster kann doch gar nichts fallen, Roog.«

Er lachte böse. »Und da, meine liebe Ammanda, hast du gar nicht mal unrecht.«

»Außerdem habe ich die Schweber gesehen. Polizei und Ärzte.«

»Ich sag' ja, dass es eine schlimme Sache war.«

Alles, was auf seinem Tisch lag, räumte er mit dem ganzen Arm zur Seite. 23 Aktenfolien flatterten zu Boden. Mit der Erledigung bis zum Stichtag, also bis morgen, sah er ernstlich schwarz; sollte NATHAN das besorgen. Roog baute stattdessen die Kamera auf. Der Protokoll-Rob auf seiner Schulter registrierte jeden kleinen Handgriff. Zunächst klärte er die Sache mit dem Speicher. Er fand eine kleine Syntronik vor, die hundert Stunden Holofilm ablegen konnte. Von diesen hundert Stunden Kapazität waren vierzig ausgeschöpft. Mit anderen Worten, der fragliche Zeitraum ließ sich über die Kamera lückenlos dokumentieren.

»So, meine Kleine ...«, murmelte er. »Und wie funktionierst du jetzt?«

Das Objektiv zerlegte jede Sekunde in 1016 holographische Bilder. Bewegten sich im Schaufensterbereich des Kaufhauses menschliche Gestalten, wurden sie aus dem Datenmaterial herausgefiltert. Der Syntron nahm eine Bearbeitung vor, ein Mikroprojektor ließ neben den Passanten deren holographische Karikatur entstehen. Roog verfügte demnach über die kompletten Hintergrundbilder. Der Syntron hatte sie aufgezeichnet, jedoch für die Wiedergabe nicht verwendet.

Probeweise spulte er die ersten Szenen ab. Zwei Frauen flanierten über die Straße: mit plötzlich erschreckten, dann amüsierten Gesichtern, als sie ihre Doppelgänger identifizierten. Im Hintergrund erkannte man gestochen scharf den Glasturm und die Parkbank.

»Ammanda!«

»Was denn?«

Sie linste herüber. Wahrscheinlich überlegte sie, was Roog mit den Holos wollte.

»Ich hab' Hunger, Ammanda.«

»Geh über den Flur. Da steht ein Nahrungsautomat.«

»Gehst du bitte?«

»Da kannst du lange warten.«

Er zog ein böses Gesicht. Nach ein paar Minuten stand sie auf, verließ den Raum, knallte ihm eine Schale Erdbeeren auf den Tisch. Er mochte keine Erdbeeren.

Roog ließ den Film im Raffertempo laufen. In der Rangliste der langweiligen Straßen von Terrania stand der Guzmangrund ganz oben. Interessant wurde es am frühen Morgen des 1. Juni. Ein Gleiter mit dem Emblem der Báalolschen Botschaft trieb in geringer Höhe heran und sank auf den Rasenplatz vor dem Turm nieder. Eine Báalol-Frau kam zum Vorschein. Sie half einer zweiten, etwas größeren Gestalt, aus dem Luk zu klettern; es war Cuul Basten Cencenza, und er war eindeutig blind. Cencenza wurde zurückgelassen, der Gleiter verschwand.

Roog stopfte sich Erdbeeren in den Mund. Er kaute, ohne es zu merken.

Um diese Zeit kamen nicht viele Passanten vorbei. Hin und wieder zog am oberen Ende des Erfassungsbereichs ein Gleiter durch das Bild. Der Strom bewegte sich in zwanzig Metern Höhe. Wenn sporadisch die Sonne zum Vorschein kam, konnte man zahlreiche Schatten sehen, wie sie über die Straße zogen.

Um acht Uhr morgens wurde der Verkehr intensiver. Cencenza saß immer noch auf der Bank. Wie er das durchhielt, ohne sich zu erheben oder Spuren von Langeweile zu zeigen, war Roog ein Rätsel.