Spaceman of Bohemia - Jaroslav Kalfar - E-Book

Spaceman of Bohemia E-Book

Jaroslav Kalfar

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Beschreibung

»Ein Debüt voll überbordender Fantasie, sprühend vor Vitalität und Originalität.« New York Times April 2018: Die JanHus 1, das erste Raumschiff in der tschechischen Geschichte, erhebt sich in den Himmel. Eine ganze Nation ist auf den Beinen, um den Start vom staatseigenen Kartoffelacker aus mitzuverfolgen. Die Besatzung besteht aus einem einzigen Raumfahrer: Jakub Procházka, Spross einer Kollaborateursfamilie und Professor für Astrophysik mit einschlägiger Erfahrung in der Erforschung interstellaren Staubs. Nach dreizehn eintönigen Wochen im All ist der Forscherdrang Jakubs jedoch beinahe erloschen. Einziger Lichtblick sind die wöchentlichen Video-Chats mit seiner Frau Lenka. Doch als die ihn verlässt, gerät Jakubs Leben im Orbit in Schieflage. Und als wäre das nicht genug, schleicht sich auch noch ein haariger, achtbeiniger Mitbewohner in Jakubs Raumschiff ein. Jaroslav Kalfařs Debüt ist verrückt und voll überbordender Phantasie, dabei romantisch und ein klein wenig philosophisch. »Der Roman platzt vor Geschichten und Fantastereien, weil sein einfallsreicher Autor mit so ungebremsten Erzähldrang bei der Sache ist. Ebenso groß ist dementsprechend auch der Lesedrang.« taz »So überschäumend wie klug.« Frankfurter Allgemeine Zeitung »Ebenso absurd wie realistisch.« Der Tagesspiegel »In imaginärer Lichtgeschwindigkeit verbindet Kalfars Roman Politik, Märchen, Trash und die Geschichte einer scheiternden Liebe mit dem ersten und letzten Dingen. Steven Spielberg trifft auf Bohumil Hrabal.« Stuttgarter Zeitung »Spannend, unterhaltsam, nie oberflächlich.« Die Presse

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Seitenzahl: 427

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Dies ist der Umschlag des Buches »Spaceman of Bohemia« von Jaroslav Kalfar, Barbara Heller

Jaroslav Kalfař

Spaceman of Bohemia

Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt

Roman

Aus dem Amerikanischen vonBarbara Heller

Tropen

Impressum

Das Zitat auf S. 36 stammt aus »Robinson Crusoe« von Daniel Defoe, in der Übersetzung von Lore Krüger.

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 1973, 2008

Das Zitat auf S. 215 stammt aus dem Gedicht »Mai« von Karel Hynek Mácha, in der Übersetzung von Ondřej Cikán.

© LABOR edition a GmbH, Wien 2012

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Spaceman of Bohemia« im Verlag Little, Brown and Company, New York

© 2017 by Jaroslav Kalfař

Für die deutsche Ausgabe

© 2017, 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Klett-Cotta Designnach dem Originalcover von Allison Warnerunter Verwendung einer Illustration von © Dorling Kindersley / Getty Images (spaceman)

Gesetzt in den Tropen Studios, Leipzig

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-50177-3

E-Book ISBN 978-3-608-10890-3

Inhalt

Erster Teil

Aufstieg

Die Verliererseite

Die Welt des Raumfahrers

Ein sehr tiefer Fall

Die Geheimnisse des Menschentums

Der eiserne Schuh

Engmaschige Überwachung

Hexenverbrennung

Rusalka

Prag im Frühling

Die Klaue

Mai

Eine sehr kurze Unterbrechung

Zweiter Teil

Fall

Astronaut stirbt für sein Land

Keine Penelope

Ein Kind der Revolution

Selbst die Sonne brennt

Dank des Autors

Dank der Übersetzerin

Für meinen Großvater,Emil Srb.

Erster Teil

Aufstieg

Die Verliererseite

Mein Name ist Jakub Procházka. Das ist ein ganz normaler Name. Meine Eltern haben sich ein einfaches Leben für mich gewünscht: ein Leben in guter Kameradschaft mit meinem Land, ein Leben im Dienst der Welt, die sich im Sozialismus vereint. Dann fiel mit einem dumpfen Schlag der Eiserne Vorhang, und der Kapitalismus drang mit seinem Konsumwahn und seinen freien Märkten in unser Land ein.

Bevor ich Astronaut wurde, fragten mich die neuen Apostel des Kapitalismus, ob ich nicht einen anderen, einen exotischeren Namen annehmen wolle. Einen westlicheren. Einen, der besser zu einem Helden passte.

Ich lehnte ab. Ich ließ meinen Namen, wie er war: normal und schlicht.

* * *

Frühling 2018. An einem warmen Aprilnachmittag blickte die tschechische Nation vom Petřínhügel hinab, als das Raumschiff JanHus1 von einem staatseigenen Kartoffelacker abhob. Die Tschechische Philharmonie ließ zur Untermalung des Countdowns die Nationalhymne zwischen den gotischen Türmen der Stadt erklingen, während die Menge den Atem anhielt. Die Rakete sog den Treibstoff an, begann mit der Verbrennung und schoss dann aufwärts, die ganzen neun Millionen Kilo, plus die achtzig Kilo ihres einzigen menschlichen Insassen.

Blitzartig warf JanHus1 einen vogelähnlichen Schatten auf die hundert Türme der Stadt. Einwohner wie Touristen verfolgten den bogenförmigen Aufstieg des Raumschiffs, bis es schließlich im Sonnenlicht verschwand, ein winziger Punkt nur noch, eingefangen von hochentwickelten Kameraobjektiven. Dann stiegen die Menschen plaudernd den Hügel hinab, um ihren Bierdurst zu stillen, und überließen das Schiff am Himmel seinem Schicksal.

Ich verfolgte den Triumph meiner Nation an einem stumm flimmernden Bildschirm. Es dauerte etwa eine Stunde, bis ich mich an das Vibrieren des Sitzes gewöhnt hatte, das meinem Hinterteil heftig zusetzte. Einer der Gurte schnitt mir durch den Anzug brutal in die Brustwarze, aber ich konnte seinen hartnäckigen Griff nicht lockern. Die Startkabine, in der ich saß, hatte die Größe einer Besenkammer und beherbergte eine Reihe phosphoreszierender Monitore, anorektische Panels und den Raumfahrerthron. Ihrer eigenen Existenz nicht bewusst und gleichgültig gegenüber meiner Beklemmung, trug die Maschinerie mich von zu Hause fort. Meine Hände zitterten.

Vor dem Start hatte ich dem Drängen meiner Betreuer zum Trotz kein Wasser getrunken. Mein Aufstieg ins All war die Erfüllung eines unmöglichen Traums, eine spirituelle Erfahrung ohnegleichen. Die Reinheit meiner Mission sollte nicht getrübt werden durch etwas so profan Menschliches wie das Eindringen von Urin in mein Maximum AbsorbencyGarment, die Astronautenwindel. Auf dem Bildschirm vor mir schwenkten meine Landsleute Fahnen, umklammerten schwitzende Staropramen-Flaschen, tauschten Kronenscheine gegen Plastikraumschiffe und Astronautenfigürchen. Ich suchte nach dem Gesicht meiner Frau Lenka, in der Hoffnung, einen letzten Blick auf ihren Kummer zu erhaschen, und um mich zu vergewissern, dass ich geliebt und dass um mich gebangt wurde, dass unsere Ehe meiner achtmonatigen Abwesenheit – oder Schlimmerem – standhalten würde. Was machte es schon, dass meine Kehle ausgedörrt war, meine Zunge über raues Zahnfleisch schabte, meine Muskeln sich anspannten und verkrampften, während alle Annehmlichkeiten des menschlichen Daseins Meile um Meile durch die Schichten der Atmosphäre abgeschnitten wurden und verschwanden? Dieser historische Moment gehörte mir. Noch Jahrhunderte später würden Schulkinder meinen Namen kennen, und mein Abbild würde sich unvermeidlich in die Riege des Prager Wachsfigurenkabinetts einreihen. Schon jetzt prangte auf den Plakatwänden, die Böhmens Horizonte zustellten, mein begeistert himmelwärts gewandtes Gesicht. Klatschblätter hatten angedeutet, ich habe vier Geliebte und sei spielsuchtgefährdet. Oder die ganze Mission sei ein Fake und ich nichts weiter als ein computergeneriertes, mit der Stimme eines Schauspielers unterlegtes Bild.

Dr. Kuřák, mein staatlich verordneter Therapeut, hatte immer wieder betont, dass mein Start von nackter Angst begleitet sein würde – ein Mensch reist ganz allein ins Unbekannte, auf Gedeih und Verderb gleichgültiger, stummer Technologie ausgeliefert. Ich mochte Dr. Kuřák nicht. Er roch penetrant nach Essiggurken und war ein Pessimist, der sich als Mann mit Erfahrung tarnte. Es war seine Aufgabe gewesen, meine labile Psyche auf die Mission vorzubereiten, aber die meiste Zeit hatte er sich nur Notizen zu meinen Ängsten gemacht: Lebensmittelvergiftung, Raupen, die Existenz eines Lebens nach dem Tod, weil man ja möglicherweise dem Leben nicht entkam. Der Feuereifer, den er dabei an den Tag legte, ließ darauf schließen, dass er meine offizielle Biografie zu schreiben hoffte. Er hatte mir geraten, während des Aufstiegs meine Lieblingssüßigkeiten zu essen (Tatranky – Schichtwaffeln mit Schokoüberzug, die ich in dem Fach links von mir gebunkert hatte) und mir Gedanken über meine wissenschaftlichen Verpflichtungen gegenüber der Welt zu machen, über das unerhörte Privileg und die Ehre, den Tschechen ihre größten Entdeckungen zu ermöglichen, seit Jan Evangelista Purkyně die Einzigartigkeit von Fingerabdrücken erkannt und Otto Wichterle die weichen Kontaktlinsen erfunden hatte. Meine Fantasie hatte sich auf diesen Egokitzel gestürzt, und ich flüsterte meine Nobelpreisrede in die Stille der Kabine hinein, bis mein Durst unerträglich wurde. Ich verabschiedete mich von meinem Vorhaben, betätigte den H2O-Schalter und ließ das Wasser aus dem Tank unter meinem Sitz in einen an meiner Schulter befestigten Trinkhalm laufen. Ich war meiner Körperlichkeit unterworfen, ein Zwerg, der eine Bohnenstange hinaufklettert, um gegen einen Riesen im Armdrücken anzutreten, ein Zellgebilde mit banalen Bedürfnissen nach Sauerstoff, Wasser, Entleerung. Vertreib die dunklen Gedanken, trink dein Wasser, flüsterte ich, während Adrenalinstöße meine Sinne schärften und die Schmerzen linderten.

Ein knappes Jahr zuvor war ein bis dahin unentdeckter Komet aus der Canis-Major-Zwerggalaxie in die Milchstraße gelangt und fegte nun als kosmischer Staubsturm durch unser Sonnensystem. Zwischen Venus und Erde hatte sich eine Wolke gebildet, ein nie da gewesenes Phänomen, dem seine Entdecker in Neu-Delhi den Namen Chopra gegeben hatten. Die Wolke hatte die Nächte auf der Erde in ein violettes Zodiakallicht getaucht und den Himmel, wie wir ihn seit Anbeginn der Menschheit kannten, verändert. Von der Erde aus gesehen war das Universum nachts nicht mehr schwarz, und die Wolke blieb vollkommen statisch. Sie stellte keine unmittelbare Gefahr dar, aber ihr stoisches Verhalten peinigte unsere Fantasie mit Horrorszenarien. Staaten planten fieberhaft Missionen, um Partikel der geheimnisvollen Wolke einzufangen und diese mikroskopischen Teilchen von Welten jenseits der unseren auf ihre chemische Zusammensetzung und Anzeichen von Leben zu untersuchen. Vier unbemannte Sonden waren losgeschickt worden, um Chopras Eigenschaften zu erkunden und Proben zu nehmen, aber sie waren ohne brauchbare Daten zur Erde zurückgekehrt, als wäre Chopra eine Fata Morgana, ein kollektiver Traum von Milliarden.

Der nächste Schritt war unvermeidlich. Wir konnten die Mission keinen Maschinen anvertrauen. Man schickte ein ferngesteuertes Raumschiff mit dem deutschen Schimpansen Gregor an Bord durch die Wolke, um sich zu vergewissern, dass ein menschlicher Insasse lange genug in ihrem Innern überleben konnte, um sie zu beobachten und Proben manuell zu analysieren.

Gregor war gerade unversehrt in seinen Laborkäfig zurückgekehrt, da veränderte die Wolke ihr Verhalten: Sie begann sich selbst zu zerstören, die Masse ihrer äußeren Schichten löste sich auf und verschwand im dichteren Kern. Manche sprachen von Antimaterie, andere schrieben ihr organische Eigenschaften zu. Die Medien ergingen sich in Spekulationen – welcher Staat würde es wagen, Menschen für Monate dort hinaufzuschicken, in eine kosmische Wolke aus unbekannten, möglicherweise tödlichen Partikeln? Von Amerikanern, Russen und Chinesen hörte man lediglich Gemunkel, ebenso von den Deutschen, die doch erklärt hatten, niemandem sei es – da sie ja Gregor geopfert hätten – so ernst mit Chopra wie ihnen.

Schließlich erfolgte eine Ankündigung aus einem Land mit nur zehn Millionen Einwohnern, meinem Land, Böhmen, Mähren und Schlesien. Die Tschechen würden zu Chopra fliegen und Anspruch auf deren Geheimnisse erheben. Und ich würde ihr Held sein, der Mann, der ihnen sensationellen wissenschaftlichen Ruhm verschaffen würde. Mit den Worten eines vom Absinth berauschten Dichters, die am nächsten Tag in jeder größeren Zeitung abgedruckt wurden: »JanHus1 verkörpert unsere Hoffnungen auf neue Souveränität und Prosperität, denn auch wir sind nun Erforscher des Universums. Wir wenden den Blick ab von unserer Vergangenheit, als wir von anderen vereinnahmt wurden, als unsere Sprache fast ausgerottet wurde, als Europa Augen und Ohren verschloss, während sein Herz geraubt und gemartert wurde. Nicht allein unsere Wissenschaft und unsere Technologie reisen durch dieses Vakuum, nein, auch unsere Menschlichkeit, unsere Schönheit in Gestalt Jakub Procházkas, des ersten Raumfahrers aus Böhmen, der die Seele der Republik zu den Sternen tragen wird. Heute können wir sagen, dass wir endlich und ausschließlich uns selbst gehören.«

Während der Vorbereitung auf die Mission wurde mein Tagesablauf Gemeingut. In der Straße vor dem Mehrfamilienhaus, in dem Lenka und ich wohnten, wimmelte es von Übertragungswagen, von Reportern, die schnell eine Kleinigkeit aßen, von Fotografen, die wie Heckenschützen ihre Ellenbogen auf Autodächer stützten, von Neugierigen; die Polizei musste Absperrgitter aufstellen und den Verkehr umleiten. Vorbei war es mit meinen einsamen Gängen durch die Stadt, dem ruhigen, wohlüberlegten Auswählen eines Apfels auf dem Markt. Man hatte mir einen Trupp Leute zugewiesen, die mir zu meiner Sicherheit (Briefe von geistesgestörten Fans und Möchtegerngeliebten kamen bereits zuhauf) und zu meiner Unterstützung – beim Einkaufen im Supermarkt, beim Zurechtrücken verirrter Strähnen auf meinem Kopf, beim Sprechen – überallhin folgten. Es dauerte nicht lange, und ich konnte es kaum noch erwarten, die Erde zu verlassen und wieder den simplen Luxus der Einsamkeit zu genießen. Die Stille.

Jetzt war die Stille nur noch ein weiteres unwillkommenes Geräusch. Ich öffnete das Snackfach und biss in die Tatranky-Waffel. Zu trocken, ein bisschen fad, nicht annähernd nach dem Frieden der Kindheit schmeckend, den sie heraufbeschwören sollte. Ich hatte das Bedürfnis, anderswo zu sein, in der Geborgenheit einer Zeit, die ich verstand, in dem Leben, das mich zu JanHus1 geführt hatte. Leben setzt Energie voraus, eine fließende Vorwärtsbewegung, und doch hören wir nie auf, nach dem Ursprung zu suchen, dem Urknall. Ich schaltete den Bildschirm, der mir die Festlichkeiten in meinem Land zeigte, aus und schloss die Augen. Irgendwo in den Tiefen der Zeit, die mit der Erinnerung kollidiert, tickte eine Uhr.

* * *

Mein Urknall ereignet sich im Winter 1989 in einem Dorf namens Středa. Die Linde hat ihr Laub verloren; was nicht zusammengerecht wurde, verrottet und bedeckt das welke Gras mit braunem Matsch. Es ist der Morgen des Tötens, und ich sitze im apfelduftenden Wohnzimmer meiner Großeltern und male mit fest aufgedrücktem Stift ein Bild des Schweins Louda in mein Skizzenbuch. Mein Großvater schärft sein Schlachtmesser am ovalen Schleifstein und hält ab und zu inne, um in ein dickes Schmalzbrot zu beißen. Meine Großmutter gießt ihre Pflanzen, deren dichtes Lila, Rot und Grün jedes Fenster umrahmen, und pfeift im Takt zum Ticken einer Uhr. Unter der Uhr hängt ein Schwarz-Weiß-Foto meines Vaters als Schulkind, breit lächelnd, der Gesichtsausdruck dabei gleichzeitig ernst und arglos; ich habe ihn nie so lächeln sehen. Šíma, unser dicker Cockerspaniel, schläft neben mir und schnauft heiß und beruhigend gegen meine Wade.

Es ist die beschauliche, stille Welt eines kleinen Dorfes Stunden vor der Samtenen Revolution. Eine Welt, in der meine Eltern noch leben. In der unmittelbaren Zukunft erwarten mich frisch gekochtes Gulasch, Schweinsfüße mit Meerrettich aus dem eigenen Garten und der Kapitalismus. Mein Großvater hat uns verboten, das Radio einzuschalten. Der Tag des Tötens ist sein Tag. Er hat Louda jeden Morgen und jeden Nachmittag mit einem Gemisch aus Kartoffeln, Wasser und Bulgur liebevoll gefüttert, hat ihn hinter den Ohren gekrault und ihm grinsend in die fetten Flanken gegriffen. Louda ist so fett, sagt er, der platzt, wenn wir ihn heute nicht schlachten. Die Politik kann warten.

Dieses Wohnzimmer, diese Kaminwärme, diese Rhythmen aus Lied, Messer, Hund, Stift, Magenknurren – vielleicht kam es irgendwo hier zu einer spontanen Energiefreisetzung, die mein Schicksal als Raumfahrer besiegelte.

Um zwei kommen meine Eltern aus Prag. Sie sind spät dran, weil mein Vater unterwegs an einer Wiese gehalten hat, um Gänseblümchen für meine Mutter zu pflücken. Meine Mutter wirkt selbst in ihrem alten blauen Parka und einer Jogginghose meines Vaters wie eine dieser rothaarigen, milchhäutigen Frauen, die im Fernsehen stramme junge Genossinnen spielen – der Habitus starker Weiblichkeit und unerschütterlicher Parteigläubigkeit inklusive. Vaters Koteletten sind länger, als ich es gewohnt bin, weil er sich jetzt nicht mehr für die Arbeit rasieren muss. Er ist mager, und seine Augen sind vom Sliwowitz verquollen, den er vor dem Schlafengehen trinkt. Mehr als vierzig Nachbarn kommen und mit ihnen der Dorfmetzger, der Opa beim Schlachten hilft. Mein Vater meidet den Blick der Nachbarn, die nichts von seiner Arbeit wissen. Wenn sie erfahren, dass er ein Kollaborateur und Mitglied der Geheimpolizei ist, brechen sie den Kontakt zu meinen Großeltern ab und spucken auf unseren Namen. Nicht offen, sondern mit der stummen Feindseligkeit, die der Angst und dem Misstrauen gegenüber dem Regime entspringt. Die Revolution verurteilt alles, wofür mein Vater steht. Die Nachbarn sind nervös in ihrem Hunger nach Veränderung, während mein Vater Rauch aus seinem bleichen Mund bläst; er weiß, dass diese Veränderung ihn auf die falsche Seite der Geschichte rücken würde.

Der Hof ist lang und schmal, auf einer Seite vom Wohnhaus meiner Großeltern begrenzt, auf der anderen von der hohen Wand der benachbarten Schusterwerkstatt. Normalerweise liegen hier überall Zigarettenkippen und Omas Gartengeräte herum, aber am Tag des Tötens werden Erde und Rasenstücke sauber gefegt. Ein hoher Zaun trennt den Hof und den Schweinekoben vom Garten, sodass eine Arena entsteht, ein Kolosseum für Opas letzten Tanz mit Louda. Wir bilden einen Kreis und lassen eine Öffnung frei. Um fünf holt Opa Louda aus dem Koben und klatscht ihm aufs Hinterteil. Während das Schwein im Hof herumrennt, aufgeregt an unseren Füßen schnüffelt und einer Katze nachjagt, lädt Opa seine Steinschlosspistole mit Schießpulver und einer Bleikugel. Louda ermüdet allmählich und wird langsamer. Ich verabschiede mich von ihm mit einem Klaps auf die Schnauze, dann zieht Opa ihn in die Mitte des Kreises und tritt ihm mit dem Stiefel in die Seite. Er hält ihm die Pistole hinters Ohr, und die Kugel durchschlägt die Haut, das Fleisch, den Schädel. Die Beine des Schweins zucken noch, als Opa ihm den Hals aufschlitzt und einen Eimer darunterhält, um das Blut für Suppe und Wurst aufzufangen. Ein Stück entfernt errichten der Metzger und die Männer des Dorfes ein Gerüst mit einem Haken daran und schütten kochendes Wasser in eine Blechwanne. Mein Vater runzelt die Stirn und zündet sich eine Zigarette an. Er mag das Schlachten nicht. Barbarisch, sagt er immer, Tieren Leid zuzufügen, die einfach nur ihrem Erdendasein nachgehen. Die wahren Schweinehunde sind die Menschen. Meine Mutter sagt dann, er soll mir nicht solche Sachen in den Kopf setzen, und außerdem: Ob er vielleicht Vegetarier sei?

Die Borsten fallen von Loudas rosa Leib in die Wanne. Wir hängen ihn mit den Füßen an den Haken und schlitzen ihn von der Leiste bis zum Kinn auf. Wir ziehen die Haut ab, schneiden Schinken zurecht, kochen den Kopf. Mein Vater schaut auf die Uhr und geht ins Haus. Durchs Fenster beobachte ich meine Mutter, die ihn ihrerseits beim Telefonieren beobachtet. Nein, nicht sprechen. Zuhören. Er hört zu, dann legt er auf.

In Prag strömen fünfhunderttausend Demonstranten durch die Straßen. Ziegelsteine und zerbrochene Schutzschilde säumen ihren Weg. Schlüsselrasseln und Geklingel übertönen die Radiodurchsagen. Die Zeit für Worte ist gekommen und wieder gegangen, jetzt ist da nur noch Lärm. Das Chaos, die Befreiung. Zeit für eine neue Unordnung. Die sowjetische Besatzung, die von Moskau unterstützte Marionettenregierung – alles bricht zusammen, als die Menschen im Land nach den Freiheiten des Westens rufen. Zur Hölle mit diesen Parasiten, diesen undankbaren Scheißkerlen, sagt die Parteiführung. Sollen die Imperialisten sie doch geradewegs zur Hölle schicken.

Wir kochen Loudas Zunge. Ich spieße die Würfel mit dem Messer auf und schiebe sie mir in den Mund – heiß, fett, köstlich. Opa reinigt den Darm des Schweins mit Essig und Wasser. Dieses Jahr wird mir die Ehre zuteil, den Fleischwolf zu bedienen: Ich stopfe Kinn, Leber, Lunge, Brust und Brot zerkleinert in den Trichter und drücke alles nach unten, während ich die Kurbel drehe. Opa füllt die Masse in den gesäuberten Darm. Als Einziger im Dorf macht er jitrnice noch von Hand statt mit einer Maschine. Die Nachbarn warten geduldig auf ihre kleinen Geschenke. Während Oma die noch dampfenden Päckchen verteilt, gehen die Gäste nach und nach, viel früher als sonst; die Hälfte ist noch nicht einmal beschwipst. Sie wollen schnell nach Hause zu ihren Fernsehern und Radios, wollen wissen, was in Prag vor sich geht. Šíma bettelt um Abfälle, und ich lasse ihn das Fett von meinen Fingern lecken. Meine Mutter und meine Großmutter bringen das Fleisch ins Haus, um es zu verpacken und einzufrieren, mein Vater setzt sich aufs Sofa, schaut aus dem Fenster und raucht. Ich gehe hinein und atme den scharfen, herrlichen Duft des Gulaschs ein, das es zum Abendessen gibt.

»Man kann noch nichts sagen«, meint meine Mutter.

»So viele Menschen, Markéta. Die Partei wollte die Miliz auf sie loslassen, aber Moskau hat Nein gesagt. Weißt du, was das bedeutet? Es bedeutet, dass wir nicht kämpfen. Die Rote Armee steht nicht mehr hinter uns. Wir sind erledigt. Wir sollten hierbleiben, im Dorf sind wir vor diesen Horden sicher.«

Ich gehe wieder hinaus. Opa stellt eine Schubkarre mitten in den Hof. Er legt trockene Holzscheite hinein und macht ein kleines Feuer. Die Erde unter unseren Füßen ist blutgetränkt. Als die Sonne untergeht, schneiden wir Brotscheiben, rösten sie und essen sie zum Gulasch.

»Wenn Papa nur mit mir reden würde«, sage ich.

»Diesen Gesichtsausdruck hab ich zuletzt bei ihm gesehen, als er noch klein war und ein Hund ihn in die Hand gebissen hat.«

»Was passiert denn jetzt?«

»Nichts Schlechtes, Jakub, aber sag’s nicht deinem Vater.«

»Also verliert die Partei?«

»Es wird Zeit, dass die Partei abtritt. Zeit für was Neues.«

»Werden wir dann Imperialisten?«

Er lacht. »Ich nehm’s an.«

Über den Bäumen links und rechts vom Hoftor ist der Himmel klar und voller Sterne, die ohne die Prager Straßenlaternen viel heller leuchten. Opa gibt mir ein Brot, das am Rand verbrannt ist; ich nehme es mit den Zähnen und komme mir dabei vor wie jemand aus dem Fernsehen. Die Leute im Fernsehen essen langsam, wenn sie mit einer neuen Realität konfrontiert werden. Vielleicht durchbricht in diesem Moment ein Quantum neuer Energie die festen Wände der Physik und greift ein ganz und gar unwahrscheinliches Leben heraus. Vielleicht verliere ich in diesem Moment die Hoffnung auf ein normales Erdlingsdasein. Ich esse das Brot auf. Es ist Zeit, ins Haus zu gehen und meinem Vater beim Schweigen zuzuhören.

»In zwanzig Jahren wirst du dich als ein Kind der Revolution bezeichnen«, sagt Opa. Er dreht mir den Rücken zu und pinkelt ins Feuer.

Er hat recht, wie meistens. Was er mir damals nicht sagt, vielleicht aus Liebe, vielleicht aus einer schmerzhaften Naivität heraus: Ich bin ein Kind der Verliererseite.

* * *

Oder auch nicht. Trotz meines unbequemen Raumfahrerthrons, trotz meiner Angst, die den gefürchteten Urin zu guter Letzt doch noch in mein Maximum AbsorbencyGarment entließ, war ich bereit. Ich diente der Wissenschaft, aber ich fühlte mich mehr wie ein Draufgänger, der von seinem Motorrad aus in die gewaltige Kluft des größten Canyons der Welt blickt und in allen Sprachen zu allen Göttern betet, bevor er den Sprung in den Tod, in den Ruhm oder in beides wagt. Ich diente der Wissenschaft, nicht dem Andenken eines Vaters, dessen Weltbild im Samtenen Winter zerbrochen war, nicht dem Andenken von Schweineblut an meinen Schuhen. Ich würde nicht scheitern.

Ich wischte mir die Tatranky-Krümel vom Schoß. Die Erde war schwarz und golden, ihre Lichter überzogen die Kontinente wie endlos sich teilende Mitosekerne und endeten abrupt, wichen der unangefochtenen Herrschaft dunkler Ozeane. Die Welt hatte sich verdunkelt, und die Krümel schwebten davon. Ich war über das Phänomen, das wir Erde nennen, emporgestiegen.

Die Welt des Raumfahrers

Nach dem Aufwachen zu Beginn meiner dreizehnten Woche im All schnallte ich mich los, streckte mich und wünschte mir, ich hätte Vorhänge, die ich aufziehen, oder Speck, den ich braten müsste. Ich schwebte in Korridor 2 und drückte eine erbsengroße Menge grüner Paste auf meine blaue Zahnbürste, zur Verfügung gestellt von SuperZub (führender Anbieter von Dentalbedarf und Sponsor der Mission). Während ich mir die Zähne putzte, riss ich die Plastikverpackung eines Feuchttuchs auf, zur Verfügung gestellt von Hodovna, führende Kette von Lebensmittel-Megastores und Sponsor der Mission. Ich spuckte in das Tuch und inspizierte dann mein Zahnfleisch – rosa wie ein frisch gebadetes Baby – und die gebleichten Backenzähne, Produkt des Spitzenniveaus zahnärztlicher Kunst in meinem Land und akribischer Mundhygiene an Bord des Schiffs. Einen davon tastete ich entgegen meinem Vorsatz, es nicht mehr zu tun, mit der Zunge ab, was einen wohlbekannten Schmerz verstärkte. Ungeachtet der guten Noten, die meine Zahnärzte mir vor dem Start ausgestellt hatten, war bereits in meiner ersten Woche im All ein gewisses Fäulniskribbeln aufgetreten, das ich jedoch verheimlichte. Zähne ziehen hatte ich nicht trainiert, und wo sollte ich einen guten Weltraumzahnarzt finden? Würde er sein eigenes Lachgas mitbringen, oder würde er es der verschmutzten Erdatmosphäre entnehmen? Ich grinste vor mich hin, wollte aber nicht lachen. Lachen Sie auf keinen Fall über Ihre eigenen Witze, hatte Dr. Kuřák mir geraten. Das sei ein sicheres Zeichen geistigen Verfalls.

Am meisten störte mich an der Mission, wie schnell ich mich auf die tägliche Routine eingestellt hatte. Die erste Woche war eine Übung in permanenter Erwartung gewesen, so als säße ich in einem leeren Kino und wartete darauf, dass ein Projektor zu summen beginnt, die Leinwand anstrahlt und jeden eigenen Gedanken vertreibt. Das geringe Gewicht meiner Knochen, die Funktionen meiner Geräte, das Knarren und Pochen des Raumschiffs, als wohnte jemand über mir – alles war aufregend und staunenswert. Aber schon in Woche zwei regte sich der Wunsch nach etwas Ungewohntem, und das Ausspucken von Zahnpasta in ein Feuchttuch statt in ein irdisches Waschbecken verlor den Reiz der Neuheit. Bis Woche dreizehn hatte ich mich von dem Klischee, der Weg sei höher zu schätzen als das Ziel, endgültig verabschiedet und in der täglichen Langeweile zweierlei Trost gefunden: den Gedanken daran, die Staubwolke zu erreichen und ihre beschwerlichen Früchte zu ernten, und die Telefonate mit Lenka, deren Stimme mir die Beruhigung verschaffte, dass es noch eine Erde gab, auf die ich zurückkehren konnte.

Ich schwebte weiter durch Korridor 3, öffnete die Tür der Speisekammer und strich einen Klecks Nutella auf ein weißes Fladenbrot. Ich warf es hoch und sah zu, wie es ähnlich dem Teig eines virtuosen Pizzabäckers durch die Luft kreiselte. Das Essen war mein stummer Mitverschwörer auf dieser Reise fort von daheim, Bestätigung der Lebenserhaltung und damit Zurückweisung des Todes. Das Schiff verbrannte seinen Treibstoff, und ich verbrannte meinen, die Proteinriegel mit Schokogeschmack, die dehydrierten Hühnerfleischwürfel und die Orangen, frisch und saftig aus dem Kühlschrank. Die Zeiten hatten sich seit damals geändert, als Astronauten sich noch von Pulvern ernährten, so reichhaltig und schmackhaft wie abgepackte Algen nach dem Verfallsdatum.

Während des Essens klopfte ich auf das tote Auge der schnittigen Überwachungskamera, zur Verfügung gestellt von Cotol, führender Elektronikhersteller und Sponsor der Mission. Von den zwölf Kameras des Schiffs war eine nach der anderen ausgefallen, was dem Ansehen des Unternehmens sehr geschadet und ihm herbe Verluste am Aktienmarkt beschert hatte. Niemand fand den Fehler – die Firma hatte mich sogar per Videokonferenz mit ihren drei fähigsten Ingenieuren durch einen Reparaturprozess geführt und das Video dann in der Hoffnung, ihre Marke zu rehabilitieren, ins Internet gestellt. Vergeblich. Von dem beharrlichen Kratzen, das im Schiff zu hören war, sobald eine der Kameras offline ging, und das sich, wenn ich um eine Ecke bog, schnell entfernte, sagte ich natürlich nichts. Akustische Halluzinationen seien zu erwarten, hatte Dr. Kuřák vor der Mission erklärt, denn Geräusche verwiesen auf etwas Irdisches, sie spendeten Trost. Kein Grund, Gespenster zu jagen. Mich störte es nicht, dass die Kameras nicht mehr jede meiner Bewegungen registrierten: Ich konnte jetzt mit Süßigkeiten und Alkohol genussvoll von meinem strengen Ernährungsplan abweichen, ich konnte Trainingseinheiten auslassen, ich konnte Stuhlgang haben und freudig onanieren, ohne befürchten zu müssen, dass meine Wachhunde zuschauten. Es war herrlich, unsichtbar zu sein, und vielleicht war es auch ganz gut, den Erdlingen Rund-um-die-Uhr-Videos ihres Raumfahrers in Jogginghosen vorzuenthalten und dadurch ihre kollektive Fantasie anzuregen.

Es versprach ein angenehmer Tag zu werden. Nach Erledigung einiger der üblichen niederen Tätigkeiten – eine Funktionsprüfung von Ferda, dem kosmischen Staubsammler und Technologiestar der Mission, eine lustlose Cardioeinheit und die Kontrolle des Flüssigsauerstofftanks – hatte ich ein paar Stunden Ruhe und konnte lesen, bevor ich mich für einen Videochat mit meiner Frau umzog. Danach wollte ich mir ein Glas Whisky genehmigen, zur Feier des Umstandes, dass ich nur noch vier Wochen von meinem Ziel, der Chopra-Wolke, entfernt war, jenem Gasgiganten, der den Nachthimmel der Erde verändert hatte und sich unseren Versuchen entzog, ihn zu erforschen. Nach Eintritt in die Wolke sollte ich mithilfe von Ferda, dem ausgereiftesten Stück Raumfahrttechnik, das Mitteleuropa je hervorgebracht hat, Proben nehmen und sie auf dem Rückflug zur Erde in meinem maßgeschneiderten Labor untersuchen. Zu diesem Zweck war ich, ordentlicher Professor für Astrophysik an der Karls-Universität mit einschlägiger Erfahrung in der Erforschung interstellaren Staubs, vom Raumfahrtprogramm der Tschechischen Republik angeheuert worden. Man hatte mich in Raumflug, Raumfahrttechnik und dem Unterdrücken von Brechreiz in schwerelosem Raum ausgebildet. Und man hatte mich gefragt, ob ich auch dann zu der Mission bereit sei, wenn die Möglichkeit bestehe, dass ich nicht mehr von ihr zurückkehrte. Ich hatte zugesagt.

Gedanken an den Tod suchten mich nur beim Einschlafen heim. Sie machten sich als leichtes Kältegefühl unter den Fingernägeln bemerkbar und gingen wieder, wenn ich das Bewusstsein verlor. Träume hatte ich keine.

Ich wusste nicht, was mich nervöser machte: die Begegnung mit den Mysterien Chopras oder das anstehende Gespräch mit Lenka. Mittels wöchentlicher Videochats eine Erde-Weltraum-Ehe zu führen war so, als beobachtete man, wie eine Infektion Zentimeter für Zentimeter in gesundes Gewebe vordringt, während man Pläne für den Sommerurlaub schmiedet. In diesen dreizehn Wochen hatte ich festgestellt, dass menschliche Sehnsucht einem gleichmäßigen Rhythmus unterliegt.

Montag, Grobphase: O Gott, Baby, du fehlst mir. Ich träume von deinem morgendlichen Atem auf meinen Handgelenken.

Dienstag, besinnliche Nostalgie: Weißt du noch, wie die Kroaten uns an der Grenze festgehalten haben und unsere Schnitzelsandwiches konfiszieren wollten? Du hast eins ausgepackt und reingebissen und mir zugerufen, ich soll auch eins essen, wir sollten alle aufessen, bevor wir über die Grenze fahren und diesen Faschisten zeigen, wo der Hammer hängt. Da wusste ich, dass ich dich heiraten würde.

Mittwoch, Nichtwahrhabenwollen: Ich muss es mir nur fest genug wünschen, dann werde ich in unser Schlafzimmer zurückkehren.

Donnerstag, sexuelle Frustration und passive Aggression: Warum bist du nicht hier? Was machst du mit deiner Zeit, während ich in ein blaues Tuch spritze – zur Verfügung gestellt von Hodovna, Sponsor der Mission – und die Stunden zähle, die mich noch von der Schwerkraft trennen?

Freitag, leichtes Irresein und Komponieren von Songs: Es juckt, und du kannst dich nicht kratzen. Es juckt, und du kannst dich nicht kratzen. Was da juckt, ist die Liebe, und du kannst dich nicht kratzen. Die Liebe, und du kannst dich nicht kratzen, oh, oh.

In den ersten Wochen meines Einsatzes überschritten Lenka und ich regelmäßig die vom Raumfahrtprogramm vorgegebene Gesprächszeit von neunzig Minuten. Lenka schloss den dunkelblauen Vorhang, mit dem sie uns von der Außenwelt abschottete, und zog ihr Kleid aus. Beim ersten Mal trug sie nagelneue Dessous – am selben Tag gekauft, schwarze Spitze, der BH rosa eingefasst. Beim zweiten Mal trug sie gar nichts mehr, war nur in den sanften blauen Widerschein des Vorhangs gehüllt. Petr, der Missionsleiter, ließ uns so viel Zeit, wie wir brauchten. Das Zeitlimit war ohnehin nicht sehr sinnvoll; ich hätte den ganzen Tag mit Lenka sprechen können – an der computergesteuerten Flugbahn des Schiffs hätte das nichts geändert. Aber die Welt brauchte die Story der tragischen Trennung von Mr. und Mrs. Raumfahrer. Welcher Held kann schon beliebig lange telefonieren?

Nach unseren letzten Telefonaten aber war ich froh über die zeitliche Begrenzung. Noch ehe eine Stunde um war, wurde Lenka schrecklich schweigsam. Sie sprach leise und nannte mich beim Vornamen statt bei einem der vielen Kosenamen, die wir uns im Lauf der Jahre ausgedacht hatten. Von Ausziehen oder körperlichem Begehren war keine Rede mehr. Wir flüsterten einander nicht mehr unsere feuchten Träume zu. Lenka kratzte sich am rechten Ohr, als hätte sie eine allergische Reaktion, und lachte nicht mehr über meine Witze. Erzählen Sie Witze nur vor Publikum, auf keinen Fall sich selbst, hatte Dr. Kuřák geraten. Wenn Sie dem Irrtum aufsitzen, Sie könnten sich selbst Gesellschaft leisten, überschreiten Sie die gefährliche Grenze zwischen Zufriedenheit und Wahnsinn – ein guter Rat, wenn auch im luftleeren Raum schwer zu befolgen. Das einzige Publikum, an dem mir lag, war Lenka. Die Leere des Alls war nichts gegen die Verzweiflung, die mich ergriff, wenn ihr Lachen knisternder Stille wich.

Auf der Suche nach der Ursache dieser Entwicklung hatte ich wieder und wieder über meine letzte Nacht und den letzten Morgen mit Lenka nachgegrübelt, während ich an Bord von JanHus1 die niederen Tätigkeiten verrichtete. Ich überprüfte Filtersysteme, um Bakterien den Garaus zu machen, die unter Weltraumbedingungen unvorhersehbar mutieren und mich mit einer auf der Erde unbekannten schweren Krankheit infizieren konnten. Ich studierte Daten, um die reibungslose Sauerstoffrückgewinnung sicherzustellen (oft wünschte ich mir, in den dazugehörigen Wassertank eintauchen zu können, wie ein sorgloser Urlauber, der sich in einem sonnigen Land in die Fluten des Meeres wirft), und protokollierte den Verbrauch der Lebensmittelvorräte. Um mich herum summte und brummte der dumpfe Bariton des Schiffs, das mich, nichts ahnend und ohne um Rat zu fragen, unserem gemeinsamen Ziel entgegentrug. Ich nahm Kontrollen auf Flugbahnabweichungen vor – unnötigerweise, denn der Computer war ein besserer Wissenschaftler, als ich es je sein würde. Hätte Kolumbus, dieser gefeierte Schwindler, ein so hoch entwickeltes GPS besessen wie ich, hätte er mit hochgelegten Füßen und einem Glas Wein in der Hand jeden gewünschten Kontinent erreichen können. Die dreizehn Wochen der Mission hatten mir ohne Frage viel Zeit gelassen, über meine Ehe nachzugrübeln.

Drei Tage vor meinem Einsatz waren Lenka und ich ins Kuratsu gegangen, unser japanisches Lieblingsrestaurant im Bezirk Vinohrady. Sie trug ein Sommerkleid mit Löwenzahnmuster und hatte ein neues Parfüm aufgelegt, das nach Zimt und in Rotwein eingelegten Orangen duftete. Am liebsten wäre ich unter den Tisch gekrochen und hätte mein Gesicht in ihrem Schoß vergraben. Sie sagte, das Opfer, das ich brächte, sei edel und poetisch, und ließ große Mengen Thunfischtatar in ihrem Mund verschwinden, während sie diese Abstraktionen von sich gab. Unser Leben werde zu einem Symbol werden. Ich träufelte Limettensaft über meine Nudeln und nickte zu ihren Worten. Sie machten die Euphorie meines Weltraumabenteuers zunichte, denn ich war mir nicht sicher, ob das ganze Universum es wert war, Lenka zurückzulassen, mitsamt ihren Morgenritualen, ihren Parfüms und ihren heftigen Panikausbrüchen mitten in der Nacht. Wer sollte sie nun wecken und ihr sagen, dass alles gut war, dass die Welt noch ganz war? Das Blitzlicht einer Kamera blendete uns. Die Gewürze brannten mir auf der Zunge, und zum ersten Mal wusste ich nicht, was ich zu meiner Frau sagen sollte. Ich legte die Gabel hin und entschuldigte mich bei ihr.

»Sorry« – so formulierte ich es. Nur das, nur ein einziges Wort, in ihre Richtung gesprochen. Es hallte in meinem Kopf wider. Sorry, sorry, sorry. Auch sie hörte auf zu essen. Ihr Hals war schlank, ihre Lippen waren provozierend rot. Es war nicht mein Opfer, es war unser Opfer. Sie ließ mich ziehen. Sie, die an meiner Schulter eingenickt war, während ich über Astrophysikbüchern und den Hausarbeiten meiner Studenten saß. Sie, die vor Begeisterung ihr Handy in einen Brunnen geworfen hatte, als ich ihr sagte, dass man mich für die Mission ausgewählt hatte. Über Sterblichkeit wurde nicht gesprochen, nur über die Chance, die Ehre. Lenka schwieg zu den negativen Schwangerschaftstests, die unseren Abfalleimer füllten, während ich meine Tage damit zubrachte, mich im Trainingsbecken des Tschechischen Raumfahrtprogramms SPCR an die Schwerelosigkeit zu gewöhnen, um dann mit Muskelkrämpfen und einem auf »Hunger, schlafen« reduzierten Wortschatz nach Hause zu kommen.

Ich fand nie heraus, ob sie meine Entschuldigung akzeptierte. Wir nahmen wieder unsere Gabeln und beendeten das Essen in Gesellschaft stummer Zaungäste, die mit ihren Kameras unser Konterfei einfingen. Wir küssten uns, tranken Sake und sprachen von einer Reise nach Miami, sobald ich zurück sei. Schließlich machten wir selbst ein Foto von diesem letzten Abendessen auf der Erde und posteten es auf Facebook. Siebenundvierzigtausend Likes bereits nach einer Stunde.

Kaum waren wir an diesem Abend wieder zu Hause, lockerte ich meine Krawatte und übergab mich. Die Antiemetika hatten durch den Alkohol beim Essen ihre Wirkung verloren, mein Körper war zu seinem natürlichen Zustand der Revolte gegen die Strapazen des Raumflugtrainings zurückgekehrt und wehrte sich mit ständigem Erbrechen gegen die Schwerelosigkeit. Während ich mit hohlem Bauch über der Toilettenschüssel würgte, strich mir Lenka durchs Haar. Ich sagte, wir müssten es noch mal versuchen, ich müsse mir nur erst die Zähne putzen, um den widerlichen Geschmack loszuwerden. »Okay«, sagte sie, aber ich wusste, es war nicht okay. Sie wartete im Bett, bis ich mich gesäubert hatte, dann kroch ich mit zitternden Armen zu ihr hinauf und fuhr mit der Zunge über ihr Schlüsselbein. Sie bog den Rücken durch, griff mir in die Haare und schob sich gegen mich, während ich mit der Hand meinen schlaffen Schwanz rieb. Wir streichelten uns, wir wanden uns und seufzten, und schließlich drückte sie sanft gegen meine Brust und meinte, ich bräuchte Schlaf. Ich war mir sicher, dass der Zeitpunkt perfekt, vielleicht sogar vorherbestimmt war – Mann und Frau zeugen ein Kind, Mann reist ins All und entdeckt Großes, Mann kehrt zur Erde zurück, und vier Wochen später wird er Vater. Lenka rieb sich die Arme mit Lotion ein und meinte, wenn ich wieder da sei, würden wir’s hinkriegen, ganz bestimmt. Noch mal zum Arzt gehen. Das Problem lösen. Ich glaubte ihr.

Die nächtliche Enttäuschung war nicht meine einzige Sorge. An meinem letzten Morgen mit Lenka hatte ich gegen eines unserer Rituale verstoßen. Als Erdenmensch hatte ich mit Morgenritualen nicht viel anfangen können. Warum sollte man aus dem Fenster blicken, Flüssigkeiten trinken, an denen man sich die Zunge verbrannte, und auf heißen Flächen Festmähler bereiten, wenn die Welt draußen so frisch war, bereit, erobert zu werden? Aber meine Frau liebte den Morgen. Im Morgenrock (warum sich nicht gleich anziehen?) tischte sie Eier, Speck, Brötchen und Tee auf (warum sich nicht einen Donut und einen Becher Kaffee holen, bevor man in die U-Bahn stieg?) und sprach von unseren Erwartungen für den Tag (solange wir nicht tot oder pleite sind, ein dreifaches Hurra), und ich spielte das Spiel mit. Aber warum hätte ich mich auch nicht darauf einlassen sollen, an dieses Stück häuslicher Gefühligkeit gebunden zu sein, meine Oberschenkelmuskeln zu entspannen, beim Eierverquirlen zu helfen und den einen oder anderen Blick auf Lenkas schlanke Fußgelenke zu werfen, während sie auf ihrer täglichen Morgenfeier durch die Wohnung tanzte? Sie briet dicke Speckscheiben, keine abgepackten, sondern die vom Metzger an der Ecke, die noch penetrant nach Lebendvieh rochen. Sie präsentierte sie mir wie eine Opfergabe und zwang mir damit ihren gemächlichen Morgenrhythmus auf, obwohl sie wusste, dass ich darauf brannte, mich zu bewegen, mich in den Kampf mit der Welt zu stürzen. Sie wusste, dass sie die Macht besaß, das Tempo unserer Lebensweise zu einem beruhigenden Tanz zu drosseln, durch ihre Berührung, ihre Stimme, ihre Kurven meinen Puls zu regulieren. Durch zerlassenes Schweinefett auf Porzellan. Das war eine der zahlreichen Klauseln in unserem Vertrag – Speck und Anmut im Tausch dafür, dass ich mich an unser Ritual hielt –, und nicht ein einziges Mal verstieß ich dagegen. Bis zum letzten Erdenfrühstück mit meiner Frau.

An dem Morgen war mir beim Aufwachen wie immer übel vom Schwerelosigkeitstraining unter Wasser. Ich warf ein paar Paracetamol ein und ging in die Küche, wo bereits das Frühstück wartete. Lenka trank aus einer überdimensionalen Tasse und arbeitete mit ihrem Laptop auf dem Schoß an einer Budgetpräsentation. Als ich eintrat, klappte sie den PC zu.

»Das Frühstück wird kalt«, sagte sie.

»Heute nicht«, antwortete ich.

»Wie?« Sie verschränkte die Arme.

»Ich will heute nicht frühstücken. Hab keinen Hunger.«

Sie klappte den Laptop wortlos wieder auf und brach damit ebenfalls einen Vertrag zwischen uns: PC-Verbot beim gemeinsamen Essen.

Ich setzte mich, trank einen Schluck Tee und schob dann meinen Teller weg. Ich sah keine Notwendigkeit, mich zu rechtfertigen, und checkte auf dem Handy meine Mails. An diesem Tag wollte ich keine Rituale. Unser Leben würde sich von Grund auf ändern, und dazu passte keine Heuchelei. Vielleicht war mir zu schlecht, oder mir war himmelangst, vielleicht war ich auch einfach labil – jedenfalls verletzte ich eine unserer Vertragsklauseln, definitiv und unvorhersehbar, ein Verstoß, der nie mehr ganz aus der Lebensbilanz zu tilgen ist. Nach einer Weile kippte Lenka mein Frühstück in den Abfalleimer.

»Das letzte Mal also«, sagte sie.

* * *

Vielleicht maß ich dieser Episode zu viel Bedeutung bei. Vielleicht auch nicht. Aber bei unserem heutigen Videochat wollte ich Lenka fragen, ob sie unsere langen Gesprächspausen und unsere Humorlosigkeit genauso empfand wie ich. Ich wollte ihr sagen, wie viel ich darüber nachgedacht hatte, dass ich mich an diesem letzten Morgen ihrem Ritual verweigert hatte. Ich wollte sie fragen, ob sie in den Zeitungen Vorhersagen über die Wahrscheinlichkeit meiner Rückkehr gelesen hatte. Ich wollte ihr sagen, dass meine Nächte (oder Schlafperioden, um genauer zu sein; Dr. Kuřák hatte mir jedoch geraten, den Tag-Nacht-Rhythmus beizubehalten) neuerdings voll von Tellern mit fetttriefendem Speck waren und ich mir die Lippen leckte in Erwartung karnivorer Erfüllung. Ich wollte Speck auf meinen Nutellabroten, meinem Sellerie, meinem Eis. Ich wollte Speckstückchen in die Nase, die Ohren, zwischen die Beine gestreut bekommen. Ich wollte Speck in die Haut aufnehmen, mich an den prallen Pickeln weiden, die er sprießen ließ. Bei unserem heutigen Telefonat musste ich meinen Vertragsbruch unbedingt ansprechen und Lenka um Verzeihung bitten. Nie wieder würde ich etwas zurückweisen, was sie mir mit ihren eigenen Händen darbot.

Das Gespräch würde uns wieder vereinen. Eine neue Welle der Fernleidenschaft anstoßen, die den Triumph der Mission noch weit befriedigender machen würde.

Ich trug die Habitat- und Ernährungsdaten ins Logbuch ein; meine Schokoaufstrich- und Apfelmostexzesse ließ ich weg. Ich rekalibirierte Ferda, den Staubsammler, und ließ die interne Diagnostik durchlaufen, um sicherzugehen, dass die Filtermatten sauber waren, dann war ich bereit für das, was Chopra zu bieten hatte. Nachdem ich meine Vorbereitungen abgeschlossen hatte, vertrieb ich mir die Zeit mit Robinson Crusoe, einem Lieblingsbuch meiner Kindheit; Dr. Kuřák hatte empfohlen, es mitzunehmen, um »eine Assoziation von Trost« zu erzeugen. Einleuchtender war seine Erklärung, Robinson sei das Paradebeispiel eines Menschen, der sich von der Einsamkeit nicht entmutigen lässt, sondern sie nutzt, um an sich zu arbeiten.

Schließlich meldete ein Signal am Hauptcomputer, dass es in Prag fünf Uhr war. Ich zog ein schwarzes T-Shirt an, schaltete meinen Elektrorasierer ein und fuhr mir damit über Wangen, Kinn und Hals. Das Gerät fing die Stoppeln auf und schloss sie ein – ein einziger Haarfollikel konnte in der Schwerelosigkeit so gefährlich werden wie eine Gewehrkugel auf der Erde. Der Stress des bevorstehenden Gesprächs mit Lenka war mir schon den ganzen Tag auf den Darm geschlagen, aber ich hatte mich zusammengerissen, um mich nicht zweimal entleeren zu müssen. Ich schwebte durch Korridor 3 zur Toilette und aktivierte die Luftreiniger, deren Ventilatoren für klimatisierte, frische, nach Vanille duftende Luft sorgten. Ich schnallte mich auf der Toilette an, ich drückte, und der Unterdruck zupfte an meinen Arschhaaren und beförderte die Exkremente außer Sicht. Unterdessen las ich weiter – auf der Toilette hatte meine Liebe zu Robinson Crusoe auch ihren Anfang genommen. Als Kind hatte mich jedes Jahr eine Darmgrippe für zwei bis drei Wochen außer Gefecht gesetzt. Geschwächt von einer Diät aus Bananen und in Essiggurkenwasser gequollenem Reis, schiss ich Wasser und las zum x-ten Mal von Robinsons Einsamkeit. So sehen wir niemals unsere wahre Lage, bis sie uns durch ihr Gegenteil klar wird, und wir wissen das, was wir genießen, nur dann zu schätzen, wenn wir es entbehren. Es war dasselbe Exemplar wie damals, vergilbt und zerfleddert, noch mit den Kaffeeflecken meines Urgroßvaters, der es aus der Wohnung eines Nazi-Hauptmanns gestohlen hatte, wo er die Böden hatte schrubben müssen. Trotz des Vanilledufts nahm ich den Gestank meines Darmtrakts wahr, dem unregelmäßiges Essen, Stress, Wasser mit Chlorgeschmack und eine Kost aus Fertiggerichten und Tiefkühlgemüse nicht mehr behagten. Ich inspizierte das struppige Schamhaar, das bis auf die Innenseiten meiner mageren Schenkel spross. Früher waren dort Muskeln gewesen, modelliert durch jahrelanges Laufen und Radfahren, jetzt war da nur noch bleiches Fett, das mein halbherziges Laufbandtraining nicht hatte fernhalten können. Ich wischte mich mit Feuchttüchern ab, zog meine Hose hoch und säuberte die Toilette.

Dann schlüpfte ich in ein weißes Hemd und band mir eine schwarze Krawatte um, dieselbe, die ich bei meinem letzten romantischen Dinner auf der Erde getragen hatte. Die Boxershorts, seit fünf Tagen in Gebrauch, tauschte ich gegen frische aus. Als Erdenmensch war ich nie zu einem Date gegangen, ohne vorher die Unterwäsche zu wechseln. Ich öffnete den Komposterschacht und warf die Shorts hinein – auch dies eine Neuentwicklung in der Raumfahrt: Ein Mix aus Bakterien und organischen Kleinabfällen wurde auf die Unterwäsche losgelassen und zersetzte sie, bis kaum noch etwas davon übrig war. So brauchte ich weder Stauraum zu opfern noch meine schmutzigen Unterhosen ins All zu schießen.

Ich betrachtete mich im Spiegel. Das früher gut sitzende Hemd hing mir wie ein Poncho um die schmächtigen Schultern. Die Krawatte rettete es noch halbwegs, aber nichts konnte kaschieren, dass meine Vogelscheuchenarme und meine eingefallene Brust ungesund wirkten. Mein Klappergestell entsprach den Schmerzen in meinen Knochen. Die Ringe unter meinen Augen zeugten von den Albträumen, die meinen Schlaf störten, und von flüchtigen Visionen langer Arachnoidenbeine, die durch die abgedunkelten Korridore des Raumschiffs krabbelten. Dieses Phänomen verschwieg ich in meinen Berichten und enthielt es damit Dr. Kuřáks Gier nach Wahnsinn vor. Der Zentrale zufolge ging es mir gut. Guter Puls, gute Ergebnisse der psychologischen Tests, trotz der Selbstgespräche, die ich vor dem Schlafengehen führte. Die Zentrale musste es ja wissen.

Ich schwebte in Korridor 4, eine improvisierte Lounge, und schnallte mich auf dem Sitz vor dem Monitor an, meiner Quelle von Kontakt und Unterhaltung, einem großen, einwandfrei funktionierenden Touchscreen, dessen Internetverbindung der Satellit SuperCall bereitstellte (führender Anbieter drahtloser Dienste und Sponsor der Mission). Das Gerät hatte eine Datenbank mit zehntausend Filmen zu bieten, von Die Spur des Falken bis hin zu Ass Blasters3. Zu den sozialen Netzwerken hatte ich nur begrenzt Zugang – jegliche Kommunikation mit der Außenwelt musste natürlich über die Zentrale laufen, dann über die Public-Relations-Abteilung, dann über das Büro des Präsidenten und dann noch einmal über die Public-Relations-Abteilung –, aber der Rest des Internets mit seiner großartigen Fähigkeit, überall, wohin seine allwissenden Finger reichten, jegliches Gehirn mit jeglichem Thema zu unterhalten, stand mir zur Verfügung. Ich musste mich fragen: Wenn wir allen Hungernden und Überforderten einen einfachen Laptop geben und den ganzen Globus in die Wärme unbegrenzten WLANs hüllen könnten, wären dann nicht Hunger und Überforderung um vieles angenehmer – unbegrenztes Streaming für alle? In meinen dunkelsten Stunden auf JanHus1, wenn meine Augen zum Lesen zu sehr schmerzten und ich mir sicher war, dass mich irgendetwas beobachtete, sobald ich diesem Etwas den Rücken zukehrte, sah ich mir Dutzende von Norm-the-Sloth-Videos an; Norm ist ein unentwegt lächelndes Faultier, dessen Besitzer die geniale Idee hatte, es mit Bootcut-Jeans und einem Cowboyhut auszustaffieren. Ich musste über Norms Faultierstreiche grinsen und redete im Flüsterton mit ihm. Norm.

An der Decke der Lounge war eine der letzten noch funktionierenden Überwachungskameras angebracht, deren blauer Bewusstseinspunkt stolz strahlte und mir beim Leben zusah.

Noch dreißig Minuten, bis die Verbindung hergestellt würde. Ich spielte Patience und strich über meine Wangen, um mich zu vergewissern, dass ich beim Rasieren nichts übersehen hatte. Ich stellte mir vor, wie Lenka sich für mich ankleidete, die glatte Strumpfhose über ihre milchkaffeebraunen Beine streifte, bis knapp unter das halbmondförmige Grübchen in ihrem Kreuz. Ich übte meine Begrüßung:

Ahoj lásko.

Oder Čau beruško?

Vielleicht ein lässiges Ahoj Leni?

Ich probierte verschiedene Betonungen – höher, tiefer, rau, gefühlvoll, fast flüsternd, mit meiner Morgenstimme, Darth-Vader-mäßig, kindlich. Nichts klang so, wie es sollte. Was konnte ich als Nächstes sagen?

Inzwischen steh ich auf Speck. Ich will dich damit füttern, mit meinen Fingern, an einem Strand in Griechenland oder der Türkei. Im Weltraum schmeckt nichts so, wie es soll. Ich sehne mich so nach deinem Geschmack.

Ich würde sie an unsere besten Zeiten erinnern. An den Tag, als wir zum See hinausfuhren, unter Eichen Pot rauchten und über die Orte sprachen, an die wir reisen wollten. Wir knutschten im Auto und kamen gerade rechtzeitig nach Hause, um noch Schokocroissants zu essen und dann in einem Bett voller Krümel einzuschlafen, das Kinn mit Wein und Speichel bekleckert. Unsere Körper von der Sonne ausgedörrt, die Waden mit grobem Sand überzogen.

Oder an den Tag, als wir uns in den Turm der Astronomischen Uhr stahlen und dort so heftig fickten, dass wir ein nationales Kulturdenkmal entweihten.

Oder an den Abend, als wir heirateten, beschwipst und barfuß, mitten in einem mährischen Weinberg. Damals mussten wir uns das Glück nicht erarbeiten. Es war einfach da.

Das brauchten wir jetzt. Eine Unterbrechung in der Kette unserer distanzierten außerirdischen Gespräche. Ich wusste es einfach. Vielleicht würde Lenka sogar wieder den Vorhang der Telefonkabine zuziehen. Damit ich den jazzclubblauen Schimmer auf ihrer Haut sehen konnte.

Behaarte Arachnoidenbeine lugten schattenhaft unter der Loungetheke hervor.

»Nicht jetzt«, sagte ich mit zitternder Stimme.

Die Beine verschwanden.

Noch zwei Minuten. Ich schloss alle anderen Fenster und starrte auf den Monitor. Würde Lenka etwas früher anrufen? Schon wenige Sekunden würden Hoffnung bedeuten. Noch eine Minute. Sie musste den Anfang machen. Ich durfte nicht verzweifelt wirken. Zwei Sekunden über der Zeit. Ich durfte nicht einknicken. Probleme mit dem Auto? Eine Minute drüber. Ich atmete tief ein und aus; die Herzfrequenz auf meiner Armbanduhr erhöhte sich. Zwei Minuten. Fuck. Ich drückte die Wähltaste.

Jemand meldete sich. Das Gesicht meiner Frau, das ich erwartet hatte, verwandelte sich in einen fleckigen grauen, zugezogenen Sichtschutzvorhang hinter einem leeren Stuhl.

»Hallo?«, sagte ich zu niemandem.

Eine große Hand mit roten Haarbüscheln auf den Knöcheln griff nach dem Vorhang. Ich zögerte. Noch war kein Körper zu sehen, aber ich wusste, es war Petr, der Missionsleiter.

»Hi, ja, ich warte«, sagte ich.

Die Hand zog den Vorhang beiseite, und endlich sah ich Petr komplett, in seinem üblichen schwarzen T-Shirt, auf dem Unterarm das verblasste Iron-Maiden-Tattoo, der kahl rasierte Kopf schweißglänzend, der Bikerbart bis auf die Brust herabhängend. Er nahm Platz und schloss den Vorhang hinter sich. Mein Zeigefinger zuckte.

»Jakub, scharf siehst du aus. Wie geht’s?«

»Gut. Ist Lenka noch nicht so weit?«

»Hast du was gegessen?«, fragte er.

»Ja, steht im Bericht. Wo ist sie? Heute ist doch Mittwoch, oder?«

»Ja, Mittwoch. Was ist mit dem Brechreiz? Wirken die Tabletten?«

»Hörst du mir bitte mal zu?« Ich verschränkte die Arme. Petr trommelte mit den Knöcheln auf den Tisch. Eine Weile schwiegen wir.

»Okay«, sagte er schließlich. »Ich bin Ingenieur. Für so was bin ich nicht ausgebildet. Hier herrscht Chaos. Wir versuchen immer noch rauszukriegen, was passiert ist.«

»Wie, passiert?«

»Also, Lenka war heute vier Stunden zu früh da. Sie hat die ganze Zeit nervös herumgezappelt und ihre Sonnenbrille aufbehalten. Wir haben sie mit einer Tasse Kaffee in den Pausenraum gesetzt. Ein paar von uns wollten mit ihr sprechen, aber sie hat immer nur genickt. Kuřák hat auch kurz mit ihr geredet. Und dann, fünfundzwanzig Minuten vor eurem Telefonat, ist sie einfach aufgestanden und rausgegangen, in die Lobby, und unser Mann unten ist hinter ihr her und hat sie gefragt, was los ist, ob sie was vergessen hat, und sie hat sich eine Zigarette in den Mund gesteckt und gesagt, sie muss hier raus.«

»Sie raucht doch gar nicht mehr«, sagte ich. »Aber egal. Wann kommt sie wieder?«

»Keine Ahnung. Sie ist wie der Blitz in ihr Auto und ich ihr nach. Sie hat die Türen verriegelt, und dann ist der Wagen nicht angesprungen. Ich stand da, sie hat mit dem Schlüssel rumgefummelt, der Motor hat gestottert und ist wieder abgestorben. Da lässt sie das Fenster runter und fragt mich, ob ich sie wohin fahren kann. Ich hab gesagt, das geht nicht, ich bin mit dem Rad da, aber ich kann mir einen von den Jungs oben schnappen. In dem Moment hat sie angefangen zu weinen und gesagt, sie kommt nicht klar mit dem Ganzen, sie weiß auch nicht, warum sie gedacht hat, sie packt das, und sie kann’s nicht fassen, dass du dein Leben mit ihr einfach aufgegeben hast. Sie hat aufs Lenkrad gehämmert, dann hat sie’s noch mal probiert, der Wagen ist angesprungen, und sie ist losgerast; beinah wär sie mir über den Fuß gefahren.«

Ich blickte in das blaue Auge meiner Webcam, die letzte noch funktionierende Linse, die mein Konterfei einfing. Sollte ich ihm einen Namen geben? Es war so ein treuer Beobachter. Ich tätschelte es freundschaftlich.

»Jetzt versteh ich gar nichts mehr«, sagte ich.

»Ich auch nicht, Jakub. Vielleicht hat sie irgendwelche Probleme? Ich hab in Endlosschleife bei ihr anrufen lassen. Ich hab bei ihrer Mutter anrufen lassen. Wir wollen noch Freunde von ihr anrufen. Aber sie ist einfach abgehauen. Sie ist aus der Lobby raus, als wär der Teufel hinter ihr her.«

»Das würde sie doch nie tun«, sagte ich. »Sie weiß doch, wie dringend ich sie sprechen muss.«

»Hör zu, wir finden sie schon. Wir kriegen raus, was da los ist.«

»Sonst hat sie nichts gesagt?«

»Nein.«

»Sicher? Wenn du lügst, oder wenn das ein Scheißwitz sein soll, dann schwör ich dir –«

»Jakub, deine Vitalparameter sind total durcheinander. Es ist jetzt wichtig für dich, dass du versuchst, dich auf die Mission zu konzentrieren, auf Dinge, die du im Griff hast. Wir finden Lenka. Sie ist im Moment einfach neben der Spur. Das kommt schon wieder in Ordnung.«

»Sag du mir nicht, was jetzt wichtig für mich ist.«

»Halt dich an deinen Tagesplan. Was wolltest du nach dem Gespräch machen? Zu Abend essen?«, fragte Petr.

»Ich wollte masturbieren und dann lesen.«

»Okay, also, so genau wollte ich’s nicht wissen, aber du solltest ganz normal weitermachen. Einen klaren Kopf behalten.«

»Das will ich aber nicht.«

»Iss einen Proteinriegel. Mach Cardiotraining. Das hilft immer bei –«