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Matthias Arning

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Beschreibung

Die Auseinandersetzung um die Entschädigung von Zwangsarbeitern hat das wiedervereinigte Deutschland nachhaltig erschüttert. Matthias Arning, der die Debatte als Journalist intensiv verfolgt hat, untersucht die Materie in ihrer historischen wie politischen Dimension. Er fragt nach Opfern und Tätern in der NS-Kriegswirtschaft, rekonstruiert die Verhandlungen zwischen Politik, Wirtschaft und Anwälten und stellt die Entschädigungsdiskussion in den großen Kontext öffentlichen Erinnerns in der Bundesrepublik. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Matthias Arning

Späte Abrechnung

Über Zwangsarbeiter, Schlußstriche und Berliner Verständigungen

FISCHER Digital

Inhalt

VorwortErstes Kapitel Wenn die Geschichte in die Gegenwart hereinbrichtZweites Kapitel Wie eine jahrzehntelange Blockade zu bröckeln beginntVom Londoner Schuldenabkommen zu »humanitärer Hilfe« – Entschädigung, Reparation, Wiedergutmachung»Unsere moralische Ehrenpflicht«: Adenauer trifft GoldmannEizenstat auf dem Weg ins 21. JahrhundertAdenauers Enkel schiebt einen Riegel vorKarlsruher Richter nähren die Hoffnungen der OpferDrittes Kapitel Zwangsarbeiter im »Dritten Reich«Unternehmer basteln eine LegendeKonzerne profitieren von der BarbareiWenn Schuhe beim Überleben helfenHimmler trägt ein dringendes Anliegen vorJunge Menschen müssen zum ArbeitseinsatzDer »Blitzkrieg« gerät ins StockenZementsäcke sollen Wärme spendenDer Anwerber stellt sich gegen Speer»Die Rüstungsindustrie hofft auf Kriegsgefangene«Deutsche werben ausländische Arbeiter anPartisanen, ausgesondert für das Programm ZwangsarbeitWenn Ukrainer aufbegehrenDeutsche fürchten die Rache der ZwangsarbeiterHans Frankenthal legt sich mit der IG Farben anViertes Kapitel Die Verhandlungen zur Entschädigung von ZwangsarbeiternEine Bundestagsdebatte über EntschädigungNachhaltige Vorgaben – Volkswagen und Siemens zahlen auf eigene FaustBeim BDI geraten Autobauer und Banken aneinanderDruck aus Washington – Wenn wider Erwarten alle ganz lieb sindEine Initiative deutscher Konzerne – Die Erklärung vom 16. Februar 1999Die Buhmänner – US-Anwälte machen sich unbeliebtDimensionen des Unrechts – Historiker suchen nach Kategorien für EntschädigungszahlungenDas Glück des Stanislaw A. – Wenn Gerichte einen Vergleich vorschlagenDas Erstaunen deutscher Manager – Historiker erschließen Ausmaße des UnrechtsGegenseitiges Belauern – Die Parteien halten sich in SchachDie Vermittler – Lambsdorff und Eizenstat suchen einen KompromißFinger, die auf andere zeigen – Warum Konzerne sich verlassen fühlenÜber Arglosigkeiten – Die Kommunen schlummern sanftDie Kirchen verpassen die ZeitgeschichteÜber die Zahlungsmoral – Die Wirtschaft sieht sich in der KlemmeGemengelagen – Als sich plötzlich ein Kompromiß findetDie Verteilung der Mittel – Ansprüche stehen gegen AnsprücheEine leidenschaftslose Debatte – Der Bundestag will noch ein Wort mitredenIrritationen aus Athen – Reparationen sind für Berlin kein ThemaUngereimtheiten des Gesetzentwurfs – Wer was kriegt, und wer nichtEin »historischer Tag« in Berlin – Zehn Milliarden Mark für den freien Zugang zum US-MarktDie Zweifel des Jiri Sitler – Opfer warten auf das Versprechen der deutschen WirtschaftDer Trick des Grafen – Wie sich die Stiftung an die Arbeit machtFünftes Kapitel Geschichte der Gegenwart, Gegenwart der Geschichte – Verständigungsverhältnisse in Zeiten der Einheit»Wenn wir nicht mehr sein wollen, was wir sind«»Nicht schuldig« – Über Westintegration und AntifaschismusDeutsche suchen nach Maßstäben für sich selbstBeleidigte LandserWenn simple Formate Komplexität reduzierenTäter gedenken der OpferÜber Selbstbehauptungen und ErinnerungskulturenÜber-Leben in BuchenwaldErinnerungspolitische RessourcenAnmerkungenBibliographie

Vorwort

6650 Arbeitsstunden, die Stunde für 60 Pfennig. Die Gestapo stellt dafür 4000 Reichsmark in Rechnung. Die Deutsche Bank, Filiale Leipzig, zahlt prompt. 4000 Reichsmark für Zwangsarbeiter, die die Gestapo auf direktem Wege beschafft. Das belegen Nachforschungen im Staatsarchiv Leipzig Ende des Jahres 2000 – mehr als 56 Jahre, nachdem Zwangsarbeiter die Filiale der Deutschen Bank nach Bombenangriffen von Trümmern befreit hatten.[1] Diese Zwangsarbeiter gehörten zu den knapp 7,7 Millionen ausländischen Arbeitskräften, die im August 1944 im »Großdeutschen Reich« beschäftigt waren – zumeist in der Rüstungsindustrie und bei militärischen Bauprojekten, im Bergbau und in der Landwirtschaft.

Aber bei Banken? Wer wollte auf so eine Idee kommen? Zwar wußten auch die Geldinstitute das nationalsozialistische System für ihre Interessen zu nutzen. Doch Banken haben nun mal mit der kriegswichtigen Industrieproduktion und der Bestellung von Äckern zumindest unmittelbar nichts zu tun.

Der Fall aus der Filiale Leipzig macht jedoch deutlich – Zwangsarbeiter gehörten während des Zweiten Weltkriegs spätestens nach dem Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion zum Alltag in Deutschland. Wohl kein Unternehmen, kaum ein mittelständischer Betrieb, wenige Bauernhöfe und auch private Haushalte wollten zu dieser Zeit auf Fremdarbeiter oder auch Kriegsgefangene zumeist aus osteuropäischen Ländern verzichten. Wohl kein anderes Unrecht aus dieser Zeit dürfte den Deutschen so präsent gewesen sein wie die Ausbeutung dieser Arbeitskräfte vor der eigenen Haustür oder in den eigenen vier Wänden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg aber spricht kein Mensch mehr darüber. Erst mehr als fünf Jahrzehnte danach gelingt es Opferverbänden und US-amerikanischen Anwälten, die Belange dieser vergessenen Opfer auf die politische Tagesordnung zu setzen und die Republik damit doch noch zu konfrontieren.

Dieses Buch wäre über eine anfängliche These nicht hinausgekommen, wenn Walter H. Pehle vom Fischer Taschenbuch Verlag nicht gleich Interesse bekundet hätte. Für wertvolle Anregungen bin ich auch Naomi Naegele, Reino Schönberger und Judith von Sternburg ausgesprochen dankbar.

 

Frankfurt am Main, im Dezember 2000

Erstes Kapitel Wenn die Geschichte in die Gegenwart hereinbricht

Zu Beginn des Jahres 1990 setzt sich die Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl im wesentlichen zwei Ziele für die bevorstehenden Verhandlungen mit den Alliierten des Zweiten Weltkriegs: Das Kabinett will die Vereinigung der beiden deutschen Staaten nach dem Kollabieren der DDR zustande bringen und – auf jeden Fall – die in diesem Zusammenhang sicherlich wieder aufkommenden Forderungen auf Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter vor allem aus Osteuropa ausschließen. Wenn jetzt, stellt der CDU-Politiker Kohl dem Wortprotokoll zufolge in einem Gespräch mit dem britischen Außenminister Douglas Hurd am 12. März klar, »wenn jetzt eine innenpolitische Diskussion über Reparationen beginne, werde das katastrophale Wirkungen haben«[2].

Am frühen Abend des 9. Juni 1942 wendet sich Heinrich Himmler in Berlin in einer Rede an die Obergruppenführer und Gruppenführer der SS. Der Chef der nationalsozialistischen Terroreinheiten blickt – wie sein Dienstkalender vermerkt – voraus auf die Dinge, die nach einem für das Deutsche Reich siegreichen Ende des Zweiten Weltkriegs kommen mögen. Himmler stellt fest: Allein aus finanziellen Gründen müsse man »unsere Lager mit Sklaven vollfüllen – in diesem Raum sage ich die Dinge sehr deutlich und sehr klar –, mit Arbeitssklaven, die ohne Rücksicht auf irgendeinen Verlust unsere Städte, unsere Dörfer, unsere Bauernhöfe bauen«.[3] Seine Zuhörer dürften unmittelbar verstanden haben, was Himmler, der sich zunächst aus rassenideologischen Gründen energisch gegen den Einsatz etwa russischer Zivilarbeiter gewehrt hatte, mit diesem Entwurf eines künftigen Aufgabengebietes der SS meint – schließlich gehören sie zu diesem Zeitpunkt bereits zu den Organisatoren des Zwangsarbeitsprogramms im Deutschen Reich. Die deutsche Kriegswirtschaft funktioniert ein Jahr nach dem Angriff der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion, der sich angesichts des ungeahnt zähen Widerstands nicht länger als »Blitzkrieg« führen läßt, ohne Arbeitskräfte aus den besetzten Gebieten – bevorzugt Osteuropas – nicht mehr.

Vier Jahre nach dieser SS-Konferenz verkündet das Internationale Militärtribunal in Nürnberg sein Urteil gegen deutsche Kriegsverbrecher. Zu den zentralen Anklagepunkten gegen führende Nationalsozialisten, Industrielle und Befehlshaber der Wehrmacht gehört »die Politik der Zwangsarbeit«, die das Gericht seiner Begründung zufolge »an die schwärzesten Zeiten des Sklavenhandels« erinnert.[4] Doch obgleich die alliierten Gerichte dem Thema Zwangsarbeit durchaus große Bedeutung zumessen, bleibt es »wenig bedeutsam (…) für die Auseinandersetzung mit den Prozessen in der deutschen Öffentlichkeit«, merkt Ulrich Herbert in seiner grundlegenden Studie über »Politik und Praxis in der Kriegswirtschaft des Dritten Reichs«[5] an.

Nach Nürnberg spielt das Thema über fünf Jahrzehnte hinweg in der Öffentlichkeit überhaupt keine Rolle. Selbst die Forschung nimmt es kaum wahr, wenngleich sich ostdeutsche Historiker bei ihrer steten Suche nach Belegen für die These vom Faschismus als einem Produkt des Kapitalismus gelegentlich daranwagen. Die appellative Entschließung des Europäischen Parlaments von 1986, die ehemaligen Zwangsarbeiter endlich zu entschädigen, bleibt weitgehend unbeachtet. Parlamentarische Vorstöße der Opposition im Deutschen Bundestag, die Entschädigung dieser NS-Opfer anzugehen, schmettert die Regierung Kohl immer wieder ab. Die Entschädigungskasse, betont der Kanzler kurz vor der Bundestagswahl 1998 noch einmal, bleibt zu.

Doch im Zuge der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, außenpolitisch besiegelt über den Zwei-plus-Vier-Vertrag, eröffnen sich für diese Opfer des Nationalsozialismus durchaus auch Chancen. Das Bundesverfassungsgericht erschließt ihnen in einem Beschluß von 1996 einen individuellen Weg, ihre Ansprüche auf Entschädigung geltend zu machen: Völkerrechtlich, befinden die Karlsruher Richter, stehe individuellen Ansprüchen nichts entgegen. Das zieht eine Reihe von Verfahren nach sich, in denen frühere Zwangsarbeiter vor Arbeitsgerichten ihre Ansprüche anmelden.

Noch einmal drei Jahre später setzt Bundespräsident Johannes Rau am Ende langwieriger Verhandlungen über einen Entschädigungsfonds einen von der rot-grünen Koalition und großen Teilen der deutschen Industrie ersehnten Schlußpunkt: Das deutsche Staatsoberhaupt entschuldigt sich bei den Opfern für das Unrecht, das ihnen Deutsche angetan haben. »Im Namen des deutschen Volkes«, sagt der Bundespräsident am 17. Dezember 1999 in Berlin, bitte er alle ehemaligen Sklaven- und Zwangsarbeiter um Vergebung. Sklaven- und Zwangsarbeit habe nicht nur das Vorenthalten des gerechten Lohnes bedeutet, sondern auch Verschleppung, Heimatlosigkeit, Entrechtung und brutale Mißachtung der Menschenwürde.[6] Er selbst bedauere, daß die von den Nationalsozialisten geknechteten Menschen so lange Zeit auf eine Entschädigung hätten warten müssen.

Damit sind die Bausteine dieser Studie abgesteckt. Sie zielt nicht nur auf eine Rekonstruktion der zähen Verhandlungen zwischen Regierung, Industrie und Opferverbänden über den schließlich seit Ende des Jahres 2000 vorbereiteten Entschädigungsfonds. Sie bemüht sich vielmehr auch darum, anhand dieses jüngsten und wohl auch letzten Beispiels einer »späten Abrechnung« Vergangenheitspolitik in Deutschland zu reflektieren. Keine andere Gruppe von Opfern des Nationalsozialismus hat so lange darauf warten müssen, bis eine Entschuldigung an sie herangetragen und eine Entschädigung mit ihr vereinbart wurde. Bis zum Antritt der rot-grünen Bundesregierung von Gerhard Schröder hatte es unter früheren christ- wie auch sozialdemokratisch geführten Regierungen den Konsens gegeben: Eine Entschädigung für Zwangsarbeiter fällt in den Bereich von Reparationen, lasse sich nicht mit den Wiedergutmachungszahlungen abwickeln. Über Reparationen aber lasse sich erst reden, wenn es einen Friedensvertrag gibt. Dahinter verbirgt sich der Grundsatz, den jede US-Regierung bis zum Fall des Eisernen Vorhangs immer wieder herausstellt: In den Ostblock darf nicht eine Mark fließen.

Am Anfang dieser Überlegungen steht die Beobachtung: Je konkreter das Wissen um das begangene Unrecht des NS-Regimes, desto weiter schiebt die deutsche Nachkriegsgesellschaft es von sich weg. Nach dem Ende des Krieges konnte kaum ein Zeitgenosse behaupten, von Zwangsarbeitern nichts gewußt zu haben, denn diese Opfer hatten sich in Fabriken und auf Bauernhöfen in unmittelbarer Nachbarschaft der Deutschen abrackern müssen. Anders als bei den im weit entfernten Auschwitz ermordeten Menschen, über deren Schicksal viele allenfalls Spekulationen anstellten, gehörten sie zum Alltag: Zwangsarbeiter waren ein Teil der damaligen deutschen Gesellschaft. Ein Indiz dafür liefern etwa die Schilderungen des US-Offiziers Saul K. Padover. Nicht wenige Deutsche fürchteten unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die Zwangsarbeiter könnten sich rächen: »In Wiesbaden«, notiert Padover bei seinen »Vernehmungen im besiegten Deutschland«, »gibt es einen schwarzen Markt für Handfeuerwaffen. Die Zukunftsangst ist so groß, daß die Leute fast jeden Preis bezahlen. Sie kaufen die Waffe nicht, um sie gegen die Alliierten zu richten, sondern zum Schutz vor einem eventuellen Aufstand der Zwangsarbeiter und auch vor fanatischen Nazis.«[7]

Für die nationalsozialistische Arbeitspolitik gilt wie für andere Politikfelder auch: Das Regime hatte bei der Übernahme der Macht keine klaren und zielorientierten Pläne. Es stützte sich auf eine menschenverachtende Ideologie, die die Nationalsozialisten in aggressive, schließlich auf Expansion zielende Aktion umsetzten. Vor allem aber bestach der Nationalsozialismus »durch Macht, Phantasien der Machbarkeit alles Möglichen, durch die Lizenz, die eigenen Wünsche rücksichtslos verwirklichen zu können, (…) durch die Zerstörung der in Institutionen geronnenen Tathemmungen bei gleichzeitiger instrumenteller Nutzung dieser Systeme, schließlich durch eine ziemlich sichere Grenzziehung zwischen möglichen Opfern und möglichen Exekutoren von Terror und Mord«.[8] Zielvorstellungen der nationalsozialistischen Politik entwickelten sich zumeist erst unter dem Einfluß der durch das Regime selbst hervorgebrachten Umstände – so ist die Vernichtung der europäischen Juden ohne die Folgen, die die Annexions-, Umsiedlungs- und Neuordnungspolitik in Osteuropa mit sich brachte, nicht denkbar. Vergleichbares gilt auch für die Arbeitspolitik: Erst der sich im Verlauf des Zweiten Weltkriegs enorm verschärfende Mangel an Arbeitskräften in der Rüstungsproduktion wie auf dem Land macht auch die bis dahin als weitgehend unproduktiv geltende Zwangsarbeit in den Konzentrationslagern zu einem überaus wichtigen kriegswirtschaftlichen und auch kriegspolitischen Faktor für das Regime wie für die deutsche Industrie, die von 1942 an einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Arbeitskräfte in Lagern hielt.

Mit einer solchen Sichtweise versteht sich diese Schilderung als Beitrag zur »Geschichte der Gegenwart«.[9] Eingebettet ist sie in den Kontext der Verständigungsdiskurse, die sich den Fragen zur Zukunft der »Berliner Republik« widmen. Die großen Debatten in der Bundesrepublik der 90er Jahre dienen deren Protagonisten, anknüpfend an den Historikerstreit, als Medien der eigenen Verortung – die Kontroverse zwischen Martin Walser und Ignatz Bubis, der Streit um die vom Hamburger Institut für Sozialforschung pünktlich zum 50. Jahrestag des 8. Mai konzipierte Wehrmachtsausstellung, die Auseinandersetzungen um das Holocaust-Mahnmal südlich des Brandenburger Tores, die Thesen des US-amerikanischen Historikers Daniel Jonah Goldhagen und schließlich das Gezerre um den Entschädigungsfonds für ehemalige Zwangsarbeiter.

Die spezifische Qualität dieser Debatte bemißt sich nicht zuletzt über den Vergleich zu früheren Einschnitten, die für das Ringen um eine Selbstverständigung stehen: Die 50er Jahre sind geprägt durch die Gleichzeitigkeit der Amnestierung nach Kriegsende zunächst aus dem öffentlichen Dienst verbannter NS-Bürokraten und das Versprechen an Israel, Wiedergutmachung leisten zu wollen. »Das Thema Kriegsverbrecher war ein entscheidendes, wenn nicht das wichtigste Element in jenem Ringen um die Deutung der Vergangenheit«, schreibt der Historiker Norbert Frei: »Der zähe Kampf um die Freilassung der ›Kriegs-verurteilten‹ führte zu einer fatalen Solidarisierung breiter Kreise der Bevölkerung mit den durchaus nicht repräsentativen Interessen von Straftätern und politischen Apologeten; in gewisser Weise erfuhr die nationalsozialistische Volksgemeinschaft damals ihre sekundäre Bestätigung.«[10]

Der in der zweiten Hälfte der 50er Jahre sinkenden Bereitschaft der Deutschen, sich mit den Verbrechen der NS-Zeit auseinanderzusetzen, tritt zu Beginn der 60er Jahre der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer entgegen: Am 20. Dezember 1963 beginnt in Frankfurt am Main das Strafverfahren gegen »Mulka und andere«, der erste Auschwitz-Prozeß, der »zweifellos historisch-politisch bedeutsamste Versuch, dem verbrecherischen Geschehen im größten der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager mit den Mitteln des Strafrechts beizukommen«.[11] Sein symbolischer Gehalt geht weit über die unmittelbar strafrechtliche Bedeutung hinaus. In den 70er Jahren eröffnen aufbegehrende Studenten der Diskussion vor allem eine moralische Dimension: Auschwitz wird zum Emblem sämtlichen Unrechts, eine Metapher für das Böse schlechthin. Den Anstoß für die Debatte in den 80er Jahren gibt die von Ernst Nolte vorgetragene These, der Angriff der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion habe präventiven Charakter gehabt, weil der Ansturm von Stalins Armeen ohnehin zu erwarten gewesen sei. Somit habe die Wehrmacht Westeuropa gegen die Barbaren verteidigt. Eine Ansicht, an der sich schließlich der Historikerstreit entzündete.

In den 90er Jahren spielt nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten und dem Ende des kalten Krieges die geschichtspolitische Konstellation eine wesentlich größere Rolle als noch in der alten Bundesrepublik und der vergangenheitspolitisch im wesentlichen auf den Mythos des Antifaschismus gegründeten DDR: Im Hinblick auf die Verortung der »Berliner Republik« bekommt die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit eine zentrale Bedeutung. Der Nationalsozialismus ist seitdem der Bezugspunkt für den Versuch, für eine gemeinsame – ost- wie westdeutsche – Erinnerungskultur als Basis eines künftigen Selbstverständnisses Schnittmengen zu bilden. Das hebt diese Phase ganz entscheidend von den 50er Jahren ab.

Zugleich aber treten Parallelen deutlich zutage: Konrad Adenauer und Gerhard Schröder sehen sich gleichermaßen dem Problem der Integration gegenüber – in Zeiten der Selbstfindung sucht das Kollektiv mit dem Markenzeichen »Bundesrepublik Deutschland« nach einer Vorstellung von Gemeinschaft, die nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem kalten Krieg auch außenpolitisch tragfähig ist. Beide Bundeskanzler lassen sich in dem Augenblick auf Entschädigungsforderungen ein, in dem der außenpolitische Status möglicherweise zur Disposition stehen könnte und der Druck daher – vor allem seitens der USA – groß ist. Sie beschwören eine Schicksalsgemeinschaft, die zusammen nicht Schuld bekennen soll, sondern Verantwortung zu übernehmen hat: Für Adenauer der inneren Harmonie wegen, bei Schröder ob der Arbeitsplätze – der Entschädigungsfonds für ehemalige Zwangsarbeiter ist ihm dafür eine Gewähr.

Einer kurzen Skizze der Gemengelage, der sich die deutsche Industrie von 1998 an durch die Sammelklagen früherer Zwangsarbeiter in den USA gegenübersieht, schließt sich im dritten Kapitel der Versuch an, die Dimensionen der Zwangsarbeit im Deutschen Reich historisch zu erschließen. Das vierte Kapitel zeichnet die unterschiedlichen Positionen und Selbststilisierungen derer nach, die über knapp zwei Jahre hinweg an den Auseinandersetzungen um den Entschädigungsfonds beteiligt sind – sie stehen am Ende des 20. Jahrhunderts noch einmal konkret wie auch stellvertretend für überaus unterschiedliche geschichtspolitische Perspektiven. Das fünfte Kapitel diskutiert schließlich die aus den Debatten der 90er Jahre erwachsenden Ressourcen künftiger Erinnerungskulturen im Deutschland des 21. Jahrhunderts – für die Zeit also, wenn die verbliebenen Zwangsarbeiter und Überlebenden von Auschwitz gestorben sind. Insofern also geht es um eine Geschichte der Gegenwart wie um die Gegenwart der Geschichte.

Zweites Kapitel Wie eine jahrzehntelange Blockade zu bröckeln beginnt

Im November 1998 haben führende, auf den Export orientierte Konzerne der deutschen Industrie eine Menge Ärger am Hals. Opfer des Nationalsozialismus werfen der Deutschen wie der Dresdner Bank und dem DegussaHüls-Konzern vor, mit Gold und sogenannten nachrichtenlosen Konten während des Zweiten Weltkriegs lukrative Geschäfte gemacht zu haben. Die beiden Geldinstitute sollen dafür 18 Milliarden Mark an die Opfer zahlen, die sich in Sammelklagen zusammengeschlossen haben. Die Klagen sind bei US-amerikanischen Gerichten anhängig. Sammelklagen, dieses eigenwillige, für das US-Recht spezifische Element, bündeln Ansprüche von Klägergruppen unter dem Dach eines gemeinsamen Interesses und lassen somit überaus hohe Streitwerte zu.

18 Milliarden Mark gelten als ein Betrag, der – gemessen an den Sammelklagen gegen die US-amerikanische Tabakindustrie – vor allem symbolischen Gehalt besitzt: Er steht für den Versuch einer justitiablen Dimensionierung des Verbrechens und soll sich – in dem Wissen, daß auch diese Verfahren auf einen Vergleich hinauslaufen dürften – abheben von dem kurz zuvor gefundenen Kompromiß mit den Schweizer Großbanken: Die eidgenössischen Geldinstitute verpflichteten sich vor einem New Yorker Gericht dazu, für sogenannte nachrichtenlose Konten aus den Jahren des Zweiten Weltkriegs insgesamt umgerechnet 2,25 Milliarden Mark in einen humanitären Fonds zu geben, der hilfsbedürftigen Menschen weltweit zur Verfügung stehen soll – Opfer des Holocaust eingeschlossen.

Das Gold, um das es am Anfang der Verfahren gegen deutsche Konzerne in den Vereinigten Staaten vor allem geht, hatten SS-Leute vorwiegend in nationalsozialistischen Konzentrationslagern erbeutet. Es handelte sich zumeist um Zahngold von Juden: Die Männer der Terroreinheiten brachen den getöteten Juden die Goldkronen heraus. Die Nationalsozialisten wollten Beute machen und ließen ihren Opfern nichts: »Auch eine Anzahl Füllfederhalter und Drehbleistifte aus purem Gold sind vorhanden«, berichtete beispielsweise der SS-Gruppenführer August Frank am 13. März 1943 seinem Chef Heinrich Himmler nach Berlin. Offensichtlich war Frank zu diesem Zeitpunkt nicht recht klar, was mit der Beute passieren sollte: »Sollen diese an die Reichsbank zum Auslandsverkauf oder zum Einschmelzen abgegeben werden?« fragte er vorsichtshalber in der Zentrale nach.[12]

Im Mai 1997, zu einem Zeitpunkt, als die Enthüllungen über Hitlers Bankiers in der Schweiz einem Höhepunkt zusteuern, erfährt eine breitere Öffentlichkeit davon, daß die Degussa, nach eigenen Angaben seit Anfang des Jahrhunderts die größte Edelmetall-Scheideanstalt in Europa, während der Zeit des Nationalsozialismus Gold und Silber aus jüdischem Besitz eingeschmolzen hat. Bei einer öffentlichen Fachtagung der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte, kurz: GuG, im IG Farben-Haus in Frankfurt am Main räumt der Generalbevollmächtigte von DegussaHüls, Michael Jansen, schließlich auch ein, daß das Unternehmen das Gold eingeschmolzen und an die Reichsbank zurückgeliefert habe – und das nicht nur unter dem Einfluß oder gar dem Druck der Reichsregierung. Die Manager des Konzerns hätten sich während des Zweiten Weltkriegs auch selbst darum bemüht, an Gold und Silber aus dem Besitz ermordeter Juden zu gelangen, bekennt Jansen in einer bis dahin nicht für möglich gehaltenen Offenheit.[13] Plötzlich bricht ein Konstrukt zusammen, mit dem deutsche Manager die Verhältnisse zwischen 1933 und 1945 auf eine recht schlichte Art zu erklären versucht hatten: hier das terroristische System der Nationalsozialisten, dort die Wirtschaft. Mit der Übersetzung der gesellschaftlichen Verhältnisse in moralische Kategorien erschienen hier die Täter, auf der anderen Seite die Opfer.

Diese geschönten Versionen der Firmengeschichten werden mit dem Untergang des real existierenden Sozialismus plötzlich durcheinandergebracht. Denn der fördert zutage, was bei Kriegsende zunächst über Jahrzehnte hinweg verschüttet blieb. In Moskau und Prag stehen die Archive offen, Ansprüche osteuropäischer Opfer prallen nicht länger am Eisernen Vorhang ab. Auf einmal tauchen in der zweiten Hälfte der 90er Jahre Fragen nach geraubtem Gold, unterschlagenen Versicherungspolicen, sogenannten nachrichtenlosen Bankkonten und dem Millionenheer von Zwangsarbeitern wieder auf.

Im November 1997 tagt in London eine internationale Raubgold-Konferenz. Sie bilanziert zunächst die Ergebnisse, die kurz zuvor zwei Kommissionen erzielt haben: Das eine Gremium hat US-Präsident Bill Clinton unter dem Vorsitz seines stellvertretenden Handelsministers Stuart Eizenstat eingesetzt, um den Fluß des von den Nationalsozialisten geraubten Goldes zu rekonstruieren. Dieser Frage widmete sich auch die zweite Kommission, eingesetzt von der Schweizer Regierung auf Beschluß des Bundesparlaments und gelenkt von Professor Jean-François Bergier. Doch diese zweite Expertengruppe interessierte sich auch dafür, wie das Gold den Kriegszielen des nationalsozialistischen Staates etwa im Hinblick auf den Erwerb von Rohstoffen während des Kriegs nutzte. Es zeigt sich: Die Nationalsozialisten gebrauchten die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs als »Golddrehscheibe« und knüpften ein weites Handelsnetz zur Versorgung der deutschen Kriegswirtschaft mit Rohstoffen. Berlin ging es vor allem um Devisen, um im Ausland, etwa in Spanien oder in Portugal, Rohstoffe wie Chrom und Wolfram kaufen zu können. In Bern erhielten die Deutschen jene Devisen, die auch in den Kriegsjahren auf dem Weltmarkt nichts von ihrer Seriosität einbüßten – Franken. Die Reichsregierung machte die Schweiz zu ihrer Waschanlage für Raubgold. Allein 1943 beliefen sich die Goldeinfuhren aus Deutschland auf insgesamt 588,9 Millionen Schweizer Franken.[14] Als sich am Ende des 20. Jahrhunderts ein Geheimnis nach dem anderen um das überaus begehrte Gut lüftet, hat das Gold nach einer Beobachtung des Historikers Jonathan Steinberg »wie der Hort der Nibelungen von der allgemeinen Phantasie Besitz ergriffen und bündelt wie ein Magnet das Interesse an den Verbrechen der Nazis«.[15]

Die SS hatte einen Raubzug ungeheuren Ausmaßes durch ganz Europa organisiert. SS-Hauptsturmführer Bruno Melmer, von 1942 bis 1944 Leiter der »Amtkasse Hauptabteilung A/II/3«, dient den Industriemanagern als Kontaktperson für die geheimen Transaktionen während des Krieges: Melmer liefert das Raubgold aus den Vernichtungslagern zum Einschmelzen bei der Reichsbank ab. Dieses Vorgehen belegen Finanzexperten der US-Armee, gestützt auf 26 von Melmer verfaßte Hefte, bereits eine Woche nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie legen eine Bilanz vor, in der sie den bis heute nicht detailliert bezifferbaren Umfang von 76 Melmer-Lieferungen hochrechnen auf einen Gesamtwert von 36,17 Millionen Reichsmark. Ein Drittel dieser Beute machten ausländische Banknoten aus, das Zahngold schätzten die Fachleute auf eine Summe in Höhe von 1,65 Millionen Reichsmark.[16] Dennoch, gibt der Historiker Steinberg in seinem 1999 veröffentlichten Bericht über Transaktionen der Deutschen Bank zu bedenken, dennoch bleiben die Zahlen über die Menge geraubten Goldes weitgehend ungenau: Bekannt sind nur die Angaben »aus den Büchern der Reichsbank über die dortigen Goldeingänge nach dem Einschmelzen des Goldes zu Barren«.[17] Die Schweizer Bergier-Kommission kommt zu dem Ergebnis, daß Melmer insgesamt 2577 Kilogramm Feingold an die Reichsbank geliefert hat. Neben der Deutschen beteiligte sich auch die Dresdner Bank an den Goldtransaktionen: »Auf die Dresdner Bank entfiel – ebenso wie auf die Deutsche Bank – ein überproportional hoher Anteil des von der Reichsbank abgegebenen Goldes aus dem Melmer-Bestand. Die Dresdner Bank erhielt mindestens 10,6, höchstens aber 12,6 Prozent dieses Bestandes.«[18] Für den Historiker Johannes Bähr, der den Goldhandel der Dresdner Bank am Hannah-Arendt-Institut untersuchte, »kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Dresdner Bank wissentlich mit Beutegold aus den von Deutschland besetzten Ländern gehandelt hat«. [19] Das Geldinstitut bezog sein Gold zumeist von der Reichsbank, »Ankäufe in der Schweiz, der anderen möglichen Bezugsquelle, sind nur in geringem Umfang belegt«.[20] Die Dresdner Bank konzentrierte ihren Goldhandel auf die Türkei, die während des Kriegs eine Inflation erlebte, so daß »der Goldpreis hier erheblich höher (lag) als in Deutschland oder in der Schweiz«. Dresdner und Deutsche Bank nutzten dies »zu lukrativen Geschäften, indem sie Gold ankauften, um es zu einem sehr viel höheren Preis auf dem freien Markt in Istanbul gegen türkische Währung zu verkaufen«. Abgewickelt wurden diese Geschäfte über deutsche Diplomaten in Istanbul und Ankara. Im Hinblick auf Rohstoffe für die deutsche Rüstungsproduktion spielte die Türkei allerdings keine Rolle. Bähr verweist in diesem Zusammenhang die Geschichte vom Gold-Chromerz-Handel während des Krieges in den Bereich der Legende. In Wahrheit habe die Türkei für das Chromerz nicht Gold, sondern Waffen erhalten. Die Alliierten ziehen später in Deutschland verbliebenes Gold ein. Aber sie haben keinen Zugriff auf die während des Kriegs in die Türkei geschafften Bestände. Auf überaus kuriose Weise gelangt das Gold erst zwei Jahrzehnte später wieder in die Bundesrepublik. Ein Kurierdienst des Auswärtigen Amtes bringt 100 Kilogramm Barrengold und 20000 Goldmünzen »unter Umgehung der türkischen Behörden (…) zunächst in fünf Sendungen auf dem Landweg nach Bonn. Die letzten zwölf Säcke wurden am 29. Mai 1965 unter Ausnutzung der Nato-Sonderrechte mit einer Bundeswehrmaschine ausgeflogen.«[21]

Die spät erhobenen Vorwürfe im Hinblick auf das Raubgold sorgen in den Vorstandsetagen der betroffenen Firmen für große Aufregung. Hektisch richten die Unternehmen Sonderstäbe ein, die sich dieses sensiblen Problems annehmen, um es »zu kommunizieren« und vor allem eines zu vermeiden: Die bei New Yorker Gerichten eingereichten Sammelklagen von Holocaust-Opfern, die sich inzwischen auch gegen Volkswagen, BMW, Daimler-Benz, Audi, MAN, Krupp, Henkel, Leica, Diehl und WMF richten, dürfen aus Sicht der Unternehmen auf gar keinen Fall dem eigenen Image weiteren Schaden zufügen und womöglich ehrgeizig geplanten Fusionen auf dem expansionsorientierten US-amerikanischen Markt im Wege stehen. Zu diesem Zeitpunkt laufen beispielsweise die Verhandlungen über eine Fusion der Deutschen Bank mit Bankers Trust in den USA. Für die betroffenen, zu den führenden deutschen Konzernen gehörenden Unternehmen zeichnet sich alsbald eine Maxime ab: Was auch immer aus den jetzt erhobenen Ansprüchen der Opfer werden sollte, nach diesen Forderungen müsse ein für allemal Schluß sein mit Wiedergutmachung, Restitution und Entschädigung. Den Managern geht es darum, völlig unterschiedliche Forderungen im Hinblick auf geraubtes Gold, unterschlagene Versicherungspolicen, verschwundene Konten, enteignete Immobilien und schließlich Zwangsarbeit zu bündeln, um ein größeres Paket gegen die Sammelklagen in die Waagschale werfen zu können und zugleich eine größtmögliche Reichweite der geforderten Rechtsgarantien zu schaffen. So zeichnet sich bald ab, daß im Zusammenhang mit Ansprüchen aus Zwangsarbeit gleichzeitig ultimativ über Forderungen wegen sogenannter Arisierungsgeschäfte gesprochen werden soll. Aus dieser Zeit stammt also die Idee, die sich später als fundamentaler Konstruktionsfehler des Entschädigungsfonds erweisen soll – einen Topf zu schaffen, in dem sämtliche noch bestehenden Ansprüche von NS-Opfern an deutsche Unternehmen zusammengefaßt werden. Ein großes Paket zu schnüren zielt darauf ab, den Geltungsbereich der angestrebten Rechtssicherheit gegen Klagen in den USA auszudehnen, um einzelne Sparten der deutschen Industrie am Ende nicht im Regen stehen zu lassen. Außerdem strebt diese Option auch an, die Opfer mit ihren so unterschiedlichen Ansprüchen in eine gegenseitige Konkurrenz bringen zu können, wenn es nach der Ausstattung eines Entschädigungsfonds um die Verteilung des Geldes geht.

Vom Londoner Schuldenabkommen zu »humanitärer Hilfe« – Entschädigung, Reparation, Wiedergutmachung

Was sich für die Opfer als Entschädigungsfonds darstellt, gibt die Industrie hartnäckig als »humanitäre Geste« an ihre ehemaligen Zwangsarbeiter aus. Von der Zahlung von Reparationen will sie seit Kriegsende partout nichts wissen und beharrt darauf, »historische Verantwortung« zu übernehmen – das aber habe mit einem Eingeständnis von Schuld überhaupt nichts zu tun. Eine Position, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf das Selbstverständnis der deutschen Wirtschaft verweist: Für das in der Zeit des Nationalsozialismus begangene Unrecht hat allein der Staat aufzukommen.

Die Bundesrepublik Deutschland erkennt nach 1945 an, Rechtsnachfolgerin des untergegangenen Dritten Reiches zu sein. Somit ist das damalige Bonn die Adressatin für Forderungen im Zusammenhang mit im Krieg verursachten Schäden wie im Hinblick auf individuelle Ansprüche von Opfern des Nationalsozialismus.

Reparationen sind Leistungen für Schäden, die während eines Krieges entstanden sind, für die der Verursacher dieser Schäden aufkommen muß. Das Völkerrecht kennt diesen Tatbestand seit dem Ersten Weltkrieg. Anders als Restitutionen, die Ersatz für kriegsbedingte Schäden für Personen bezeichnen, werden Reparationen allein zwischen Staaten beansprucht und geleistet.

Über Forderungen auf Reparationszahlungen zeichnen sich bereits bei der Potsdamer Konferenz vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 Konflikte zwischen den Alliierten ab. Deutlich zeigt sich bei dieser Zusammenkunft, daß sie mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Substanz ihres Konsenses verloren haben – die Feindschaft zu Deutschland. Fortan tritt die Konkurrenz der unterschiedlichen politischen Systeme wieder in den Vordergrund und mündet schließlich in den kalten Krieg. Bei der Potsdamer Konferenz, dem einzigen Gipfel mit den USA, der UdSSR und Großbritannien nach Kriegsende, dringt Moskau darauf, eine Summe für die vom besiegten Deutschland zu leistenden Reparationen festzusetzen. Washington will dies vermeiden. Bereits in der Alliierten Reparationskommission, die im Anschluß an die Konferenz von Jalta im Februar 1945 in Moskau zusammengekommen ist, hatte der sowjetische Vertreter verlangt, von Deutschland Reparationen in Höhe von 20 Milliarden Dollar zu fordern, von denen »mindestens 50