Spätkirmes - Enno Stahl - E-Book

Spätkirmes E-Book

Enno Stahl

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Beschreibung

Im kleinen rheinischen Städtchen Kirchheim feiert der örtliche Bürgerschützenverein sein 175-jähriges Jubiläum. Daher hat die Gemeinde eine zweitägige "Spätkirmes" organisiert. Hannes Tannert und seine Frau Meta wohnen seit kurzer Zeit hier. Er ist Juniorprofessor in einem befristeten Anstellungsverhältnis, Meta ist seit der Geburt der gemeinsamen Tochter Cora auf 400 EUR-Basis tätig. Meta lebt gern im Grünen. Hannes will lieber nach Berlin und verachtet die "einfachen Leute" – das Dorf wiederum sieht beide als Fremdlinge. Meta immerhin bemüht sich darum, Kontakt herzustellen. Hannes wird bald seinen Job verlieren, was Meta nicht weiß. Dann eskaliert die Situation während der Kirmes… Enno Stahl hat erneut einen seiner hochgelobten analytisch-realistischen Romane geschrieben. In "Spätkirmes" dreht sich alles um die (eingebildeten) Leiden des Mittelstandes und um den verschleierten Widerspruch von "Heimat" und Sicherheit. Gerade die analytische Schärfe macht Stahls Buch so unerhört aktuell.

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Danksagung
Fußnoten
Impressum und Copyright
Enno Stahl
SPÄTKIRMES
Roman
Für Kiki
Für Siri
Denken wir uns, das Leben gleicht einer Fahrt, meinetwegen auf der Eisenbahn, überall Stationen, da wird hier einer oder mehrere ausgesetzt, nach einer kleinen Weile wieder ein Dutzend, da kommt eine Hauptstation, eine ganze Menge. Ob’s die Ältesten sind, weiß ich nicht, wie viele, auch nicht. So treten wir unsere Fahrt mit gutem Mute an und hoffen, dass, wenn der eine oder andere zum Aussteigen genötigt wird, gleich angekündigt wird: Station Paradies, oder wenigstens Vorstadt Fegefeuer.
Gerards, Predigten

I

Alle Täler sollen ausgefüllt und alle Berge und Hügel abgetragen werden, was krumm ist, soll gerade, und was uneben ist, soll ebner Weg werden.
Gerards, Predigten
Ist das nervig.
Hannes warf sich jäh zur Seite, rieb aufgebracht sein Muttermal, Juckreiz oder nervöse Störung, irritierender Fleck unter dem linken Auge,willst du dir das nicht wegmachen lassen, die schwarze, gutartige Wucherung ängstigte manche Bekannte, fast jeder kam irgendwann darauf zurück, aber Hannes konnte sich auf eine Reihe von Hautärzten berufen, Herr Tannert, keine Bange, das ist nichts, vollkommen harmlos. Natürlich, könnte ich machen, kleine OP, weg isses, mache ich aber nicht, das ist so … eine Gewohnheit, fast ein Markenzeichen. Da müssen sie mit leben, kleine Abweichung, ein Appell an ihre eigenen Ängste, diese Leute, die ständig hierher rennen, sich jeden kleinsten Leberfleck gleich rausschneiden lassen.
Hannes lag gekrümmt, wie unter Schmerzen, presste die Hände auf die Ohren, so laut, er stellte sich eine Schraubzwinge vor, was aber nicht viel brachte, die Glocken waren einfach zu nah, schwingen, schwingen, die Klöppel mit großer Wucht, wo sind die Ohrstöpsel?
»Warum am Samstag? Das ist … Ruhestörung, das darf nur die Kirche, jeden anderen könntest du dafür …«
»Weckst du das Kind oder ich?«
»Dann machst du den Kaffee!«
»Ich bin sowieso dran.«
Und da ist ja alles ganz rosa, was schön ist. Rosa ist meine Lieblingsfarbe, vielleicht ist das auch ein Vorhang, durch den man spinksen kann. Ich weiß nicht genau, vielleicht doch kein Vorhang, ich geh mal da durch, denn dort ist ja das Nest. Da muss ich die Eier reinlegen, das ist gar nicht so schwer. Tut auch nicht weh. Kein bisschen. Hübsch ein Ei nach dem anderen. Das sind ja nicht so große Eier. Eher kleine. Die sind so wie die, die Papa mitgebracht hat aus Düsseldorf. Diese kleinen grünen Eier. Die liegen jetzt im Nest, vier Stück, und da ist Papa.
– Jetzt musst du dich draufsetzen!
– Aber da gehen die doch kaputt.
– Du musst dich an den Rand setzen und das Nest schön warm halten. Dann passiert nichts. Anders geht es doch nicht. Du musst die Eier ausbrüten.
Das stimmt natürlich. Ausbrüten muss ich die, von alleine schlüpfen die Vögel nicht. Setze ich mich eben drauf.
– So richtig, Papa?
– Ganz genau, Cora. Jetzt musst du nur noch Geduld haben.
»Mein Schatz, bist du wach?«
Coras Äuglein klimperten, noch tagfremd, die Lider so schwer, sie wollten sich nicht öffnen, das helle, zu helle Licht. Sie ließ also die Augen zugeklappt, nestelte an ihrer Bettdecke und lächelte, weil sie wusste, dass er ihr zusah. Spielte schlafend. Ein Streif Sonne wie eine verzogene Raute, Mahnzeichen, Tempelzeichen, okkulte Spur. Ihre Finger immer noch unendlich klein, als sie geboren wurde, wie unglaublich winzig, der ganze kleine Mensch, Finger, Hände und Füße, alles war da und doch, schwer sich daran zu erinnern, wie weggewischt, jedes neue Stadium des Kindes löscht das Vorhergehende aus, für immer, Erinnerung, Mnemosyne, halb Göttin, halb Taumel, Musenmutter, den Künsten darf das Gedächtnis auch nicht im Wege stehen, nie zu klar, immer verschwommen, anders entstehen keine Geschichten, ein schlafendes Rehkitz, das träumt von Fluchten und Jagd.
Ihr Anblick rührte Hannes, ihre rosige, glatte Haut, wie unter Zwang drückte er ihr Küsse auf die Schläfe, die Wange, die Lippen, jetzt lachte sie, jetzt schlug sie die Augen auf, die hell waren, wasserhell, als könne man direkt auf den Grund sehen, Metas Augen waren das. »Papa«, sagte sie, wie verzückt, dass ihm gleich wieder warm ward, »Ja«, sagte Hannes, »Papa«, wieder sie, ihr Atem roch säuerlich, ein Mundgeruch wie bei großen Menschen: »Das ist gut«, sagte sie, »dass du mir das mit den Eiern erklärt hast.«
»Mit den Eiern?«
»Ja, wie ich sie ausbrüten muss.«
»Du?«
»Ich habe doch diese Eier gelegt und dann hast du mir gesagt, wie ich sie ausbrüten muss.«
»Cora, du hast geträumt!«
»Meinst du wirklich, Papa? Aber das war gerade eben, in echt …«
»Mhm. Ganz sicher. Ich bin jetzt erst in dein Zimmer gekommen.«
»So.«
»Das ist aber ein ulkiger Traum gewesen. Den musst du mir erzählen.«
»Ja.«
»Sollen wir in unser Zimmer?«
»Ja.«
»Tragen oder selber gehen?«
»Tragen.«
Hannes umfing das bettwarme Kind, Thymian-Duft und Schwefelhölzchen, Cora klammerte sich an ihn, barg ihr Köpfchen in seinem Bart, ohne Rückhalt, die Arme fest um seinen Nacken, schwer wie ein Kasten Wasser, er hievte sie hinüber ins Elternschlafzimmer, legte sie hinein in die weiche Decke und sich dazu.
Diffus drang das Licht durch die gelben Vorhänge, Safrannebel, Rauch aus irgendeiner Nebenwelt, nur zwischen zweien dieser bodenlangen Fensterschleppen klaffte ein schmaler Spalt, der ausreichte, das Zimmer in ein fahles Zwielicht zu tauchen, Konturen und Gegenstände, ein hüfthoher weißer IKEA-Schrank, Regale, zwei kleine Nachttischchen, ein Stuhl und ein Reckchen, über dem einige Kleider hingen. Das warme Kind an seinem Leib, Kinderhitze, Hannes lüftete die Decke, kitzelte Cora an den Fußsohlen, dass sie sich wand und kicherte.
Meta kam mit dem Tablett, Kaffee und Marmeladenbrote, stellte es auf dem Bett ab und streichelte Coras Wange: »Guten Morgen, Schatz. Hast du gut geschlafen?«
Cora erwiderte nichts, sondern schlängelte sich wie ein Wurm unter der Decke hin zum Fußende. Meta hockte sich schräg aufs Bett, kauernde Steinzeitvenus im Halbprofil, missbilligend strich sie mit dem Finger über das Nachttischchen: »Ich komme einfach zu nichts hier.« Daraufhin Hannes abgelenkt: »Hm?«, ohne eine Antwort zu erwarten, Meta gab ihm auch keine. Sondern: ein Gähnen, laut, ein Strecken, die Gelenke knackten, dann schüttelte sie ihren Kopf, die Locken zahllos, sie ringelten sich hinab auf den Rücken, vielleicht lebten sie, Medusenhaupt, Königreich für eine Bürste, ihr rundlicher Leib im roten Satinnachthemd, fast eins mit der Düsternis des Raumes, nur Schultern und Arme, unbedeckt, stachen heller ab.
Nun ließ sich auch der Hund blicken, der unter dem Bett schlief, verborgen im dunklen Nirwana aus Staub und dort verstauten Taschen: »Singa, meine Süße, bist du schon wach? Na, komm mal her.« Die Hündin schwarz wie die Nacht, aus der sie eben hervorgekrochen war, dunkelbraun ihre Torfaugen, sie sprang an Meta hoch, aufgeregt, kaum wach, wollte sie schon spielen oder musste sie raus, Hannes wusste es nicht, Meta schon, Meta verstand immer, die Sprache der Menschen und der Tiere, sie zog den Kopf der Puli-Dame an sich und meinte: »Ein bisschen musst du dich gedulden, wir gehen gleich los. Und Cora, kein Guten-Morgen-Kuss von dir?«

Ortskunde I

Der Ort Kirchweiler liegt – mit den Koordinaten 51°9'38" Nord, 6°40'3" Ost, einer Fläche von 14,83 Quadratmetern und einer Höhe von 47–67 Metern über dem Meeresspiegel – in der niederrheinischen Bucht, genauer: der Jülicher Börde im Erftmündungstal. Die Gegend ist Ergebnis größerer Bruchstörungen, geprägt vom Einfallen in südwestlicher Richtung. Kirchweiler schmiegt sich in den Winkel zwischen Rhein und Erft, und entlang der Flussufer hat sich auf sandig- bis lehmig-tonigen Böden eine Auenlandschaft mit Büschen, Sträuchern und Kopfbaumweiden herausgebildet. Das Gros der Flächen wird landwirtschaftlich genutzt, bereits in fränkischer Zeit, zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert, ist hier viel gerodet worden, übrig geblieben sind nur wenige Waldstücke, Eichen-Eschenbestände hier und da, mitunter künstlich wie Truppenübungsgebiete. Gerade genug Bäume gibt es, dass die Jäger noch ein paar Hasen und Rehe schießen können, die Jagd ist in diesem Landstrich mit großer Schützentradition heilig.
Kirchweiler ist gut 1200 Jahre alt. 1816 wurde Kirchweiler gemeinsam mit dem Nachbarort Dorst in eine Personalunion geführt, 1927 entstand daraus die gemeinsame Bürgermeisterei Kirchweiler. 1975 wurde der Ort jedoch im Zuge der kommunalen Neuordnung gegen den Widerstand seiner Bewohner der Mittelstadt N. verwaltungsrechtlich zugeschlagen. Der Gebietsänderungsvertrag, der von beiden Kommunen am 6.März 1974 geschlossen wurde, sah vor, dass die Kreisstadt N. nunmehr die Kirchweiler Verwaltung übernähme, somit die Bebauungspläne und die Belegschaft, Beamte ebenso wie Arbeiter und Angestellte. Auch wurde ein Bezirksausschuss eingerichtet, bestehend aus 13 Personen, 5 Ratsmitgliedern und 8 Kirchweiler Bürgern, der ein Initiativrecht besitzt. Einerseits sollte sichergestellt werden, dass er zu allen wichtigen Fragen, die Kirchweiler betreffen, gehört wird, andererseits kann der Ausschuss in allen Belangen des Bezirks beratend tätig werden sowie Beschlussempfehlungen an Stadtrat oder Oberstadtdirektor abgeben. Im §11 des Vertrags verpflichtete sich die Stadt N., die Weiterentwicklung Kirchweilers zu gewährleisten – was darunter zu verstehen ist, regelte eine detaillierte Anlage mit insgesamt 31 Punkten. Vieles, was dort aufgeführt ist, hat die Verwaltung N.’s tatsächlich umgesetzt, aber von einer ganzen Reihe der hier getroffenen Vereinbarungen kann längst keine Rede mehr sein: So besitzt Kirchweiler keinen eigenen Polizeiposten mehr. Weder gibt es ein ausreichendes Angebot an Jugendeinrichtungen noch ein Altenwohnheim. Das Krankenhaus ist geschlossen worden, der versprochene Direktanschluss zum Städtischen Krankenhaus in N. existiert nicht.
Auch wenn sie das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen können, beteuern die Kirchweiler bei jeder Gelegenheit ihre Eigenständigkeit und weisen darauf hin, dass die Dinge vor der Eingemeindung besser gelaufen seien als heutzutage.
»Iss geh jetz’ Christian Reyer ärgern, denn Christian is ein Arschloch. Christian, das Aaaarschloch.« Schon immer. Der zu mir. Ich merk mir das, ich merk mir, was die Leute machen, gut für Bob, schlecht für Bob, ich merk mir das, wo soll ich jetzt hin? Ist es noch nicht zu spät? Wie viel Uhr ist es denn? Die Uhr, die Uhr, ich kann nicht. … Da ist ein Erwachsener, anhalten, den frage ich mal, da halte ich an, der weiß doch bestimmt.
»Entschuldigung … Entschuldigung bitte.«
»Ja?«
»Darf ich diss mal was fragen?«
»Was denn?«
»Kannss du mir sagen, wie viel Uhr jetzt ist?«
»Aber … da ist doch die Kirchturmuhr, warum …?«
»Ja, iss weiß das nisst.«
»Wie?«
»Iss kann nisst die Uhr. Iss hab sogar eine Uhr. Hat Mutter mir geschenkt. Aber iss kann die doch nisst.«
»Mein Gott, so ein großer Junge? Aber gut. Es ist kurz vor Eins.«
»Danke schön. Um ein Uhr soll ich zu Christian Reyer ins Pfarrzentrum.«
»Na, das schaffst du. Besonders mit dem Fahrrad. Ist ja gleich um die Ecke.«
»Danke.«
Christian ist im Pfarrzentrum, das hat er gesagt, das ist, das Pfarrzentrum ist, die Straße runter, das ist, wo die Bücherei ist, wo es die Spiele gibt, und die Bücher, da muss man nicht bezahlen, aber Bücher mag ich nicht, Spiele schon, wenn ich jemanden zum Spielen finde. Als Acki noch da war, aber seit der weg ist, mit wem soll ich jetzt Spiele machen. Da hinten ist das Pfarrzentrum, da sind Christian Reyer und die anderen, Christian ist immer, er ist immer so, nie durfte ich, bei denen durfte ich nie, Fußball, Verstecken, nie. Er immer nur: Hau ab, Spasti, was ich gar nicht bin, das ist es ja nicht. Und sonst gab’s Schläge. Achtung, Auto, es fährt schnell, anhalten, am Rand warten, immer aufpassen, lieber vorsehen, sieh dich vor, besser einmal zu viel als einmal zu wenig, der weiß das schon, der Herr Wegener, wenn der das sagt, besser einmal zu viel als einmal zu wenig, der weiß das, der sagt das richtig, das Auto ist vorbei, rüber auf die andere Seite, das Pfarrzentrum ist nicht auf dieser Seite, sondern auf der anderen Seite. Heute darf ich mitmachen, sie brauchen jeden Mann. Das hat Christian gesagt, gerade er, ausgerechnet, jeden Mann, vielleicht ist er jetzt doch kein Arschloch mehr, ich kann helfen, bei der Kirmes kannst du auch was tun, du kannst die Straße absperren. Das ist gut, da helfe ich, absperren, die Straße absperren, dieses Auto da, das rote da, was für eine Marke, kenne die nicht, die Marke, rot ist es aber, wenn ich helfe, kann ich nicht auf den Spielplatz, bei dem schönen Wetter, wenn sie da, wenn sie da alle, und die Mädchen. Aber wenn ich eine Aufgabe habe, wenn ich gesagt habe, dass ich das mache, dann muss ich, obwohl es Christian Reyer ist, das Arschloch aus der Nachbarschaft. Hoffentlich schaffe ich das, absperren, hoffentlich ist das nicht zu schwer, was, wenn die Autofahrer wütend werden, wenn sie nicht durchfahren dürfen, was sage ich und wen kann ich fragen … Aber ich habe ja mein Handy, mit dem Handy kann ich Christian anrufen, wenn es ein Problem gibt. Bei Problemen frage ich ihn übers Handy, was ich machen soll. Sonst muss er selber herkommen, da sind Sachen, die kann ich nicht alleine. Hier ist das, Pfarrzentrum, Lagebesprechung haben sie gesagt, hier erfahre ich, was zu tun ist. So, Fahrrad abschließen, ich kann mein Fahrrad nicht einfach so stehen lassen, jemand wird es nehmen, wenn ich es nicht abschließe, den Helm lasse ich auf. Dann brauche ich ihn nachher nicht wieder … Was ist aber, wenn ich mal aufs Klo muss? Ich kann ja nicht stundenlang da stehen bleiben, wenn ich aufs Klo muss.
»Hi, Bob! Los, setz dich, du bist gleich dran.«
Christian Reyer will, dass ich mich hinsetze, will ich aber nicht. Nein, ich bleibe hier stehen, sitzen will ich nicht, soll er halt sitzen, wenn er will, oder er steht auf, wenn ihn das stört. Wenn ihn das stört, soll er selber aufstehen.
Behutsames wie zögerndes Anschlagen des Windspiels, Kalebassenlaut hell, kehlig, Bambusstäbe an Nylonfäden, vom Holland-Urlaub, schön, dabei meinte Hannes sofort, das ist nichts, aber ich … Wo stammt das eigentlich her, in Holland wächst doch kein Bambus, balinesisch vielleicht?
Das Spinnennetz unterm Holzverschlag zitterte in der Brise, und die Kreuzspinne, lauernd inmitten ihres filigranen Gewebes, schaukelte mit, Meta kräuselte die Nase: »Hallo, Esmeralda, gut geschlafen? Fang mir mal schön das Ungeziefer weg, die Mücken und die Fliegen, die mir immer die Minze wegmampfen.«
Sie atmete tief ein, schnupperte, Geruchsmischung diverser Spätblüher: Stachelmohn, die rosa Bissmäuler der Belladonnalilien, daneben die Leuchtblüten der Ochsenzunge, violettblau, selbst die Hornveilchen, Monsterklee in Bunt, lockten noch mit prächtigen mischfarbigen Dreiblättern. Jede Menge zu tun, die Äpfel sind bald dran, der Birnbaum muss raus, der hat’s leider nicht geschafft, kein Wunder nach dem letzten Winter, war aber auch arschkalt, der eine Tag, glatt die Leitungen eingefroren, ganz was Neues, in der Stadt ist das nie passiert, was wir da für ein Schwein gehabt haben, Hannes hat gar nichts begriffen, und was kann dann passieren … Wasserrohrbruch, ist das schlimm? Der Beinwell wuchert zu sehr, muss ich noch mal ran, gar nicht mehr lange, dann muss alles winterfest gemacht werden.
Meta spannte die Wäschespinne auf, sie schloss die Augen, einen Moment nur innehalten, bis ein Gefühl sie wärmend durchströmte, dann griff sie sich das erste T-Shirt und befestigte es mit Holzklammern am wackelnden Plastikstrang. Erneut lärmten die Glocken, einmal mehr, Samstagmittag, Sondertermin wegen der Kirmes? Damit sich die Festgäste moralisch stärken können, bevor es auf die Piste geht? Na. Nichts dagegen. Warum auch? Immer dieses Rechten und Hadern, bin ja nicht Hannes, der. Man lebt besser, wenn man einverstanden ist, Zufriedenheit, klingt platt, trotzdem ist es das, zufrieden mit der Situation und mit sich selbst im Einklang. Mit dem Großen Ganzen nicht, der Politik, der Einrichtung der Welt … das nicht, natürlich nicht. Aber wir, das ist doch prima, geradezu privilegiert. Wenn er nur nicht so unruhig wäre, warum ist er nur so unruhig? Fast verbittert, warum? Er sitzt immer in seiner Bürohöhle, brütet und sinnt, das ganze Zimmer raucht davon, wie in so ’ner Comiczeichnung, brüt,brüt, und so Rauchringe überm Kopf. Genau so sieht das aus. Und das ist lästig, belastend, man hat doch nur dieses eine Mal, es gibt keine zweite Chance. Lohnt sich das? Wegen Geld? Schon mal gar nicht. Sicher, die geringen Spielräume, hätte das auch gerne anders, Sechser im Lotto, nie mehr dran denken, aber sonst ist alles in Ordnung. Alles in bester Ordnung. Schau dich mal um, wer kann das von sich sagen, ein eigenes Haus, na ja, Kredit von der Bank, trotzdem, wir leben drin, der kleine Garten, Supermarkt um die Ecke und die Nachbarn sind nett. Er muss nicht klagen. Was soll ich sagen, 400-Euro-Job, Koch- und Backkurse im Offenen Ganztag, davon ist gar nicht zu reden. Als könnte man mit den Schülern … Kaum zu motivieren sind die, Hausaufgabenhilfe, mehr ist nicht drin. Dabei würden sie es brauchen, viele schon so übergewichtig, zwölf, dreizehn Jahre und trotzdem. Unterschichtenthema, hatte ich ja reingeschrieben ins Konzept, genau das wollten die, aber. Hat keinen Sinn. Die saufen weiter ihre Riesencolas und Eisteetüten. Fuck-egal, was die Alte da erzählt. Was soll ich scheiß-kochen, ich geh lieber zu McDonald’s. Wozu habe ich überhaupt studiert? Könnte ich auch fragen. Trotzdem. Werde mir davon nicht mein Leben vermiesen lassen. Ganz bestimmt nicht, manchmal ist es auch schön, als Yvonne da mit ihrer Freundin, wie heißt die noch gleich? … Hm … Komm nicht drauf. Das Hirn, das Hirn. Oder war das Nicole? Ja, genau, freudestrahlend, dass sie am Wochenende zusammen einen Kuchen gebacken haben, einen eigenen Kuchen zu Hause, nach meinem Rezept. Ohnehin nur vorübergehend, bald ändert sich das. Wenn Cora in die Schule kommt … Alles zu seiner Zeit, will schließlich was mitbekommen von meinem Kind, diese Mütter, die ihre Tochter bloß frühmorgens zu Gesicht kriegen und die Erziehung anderen überlassen. Businessfrau, drei Kinder und dann eine solche Karriere hingelegt – wer soll das glauben? Was bleibt auf der Strecke? Das wird nicht erwähnt.
Meta hatte den Bottich geleert, alles aufgehängt, die Spinne war erst halb voll, doch eine ganze Maschine voller Wäsche wartete noch. Die Treppe runter in die Kellergrotte, der Geruch der Sickergrube, müsste mal gereinigt werden – aber da muss ich Hannes erst mal zu kriegen, mache ich wohl besser selbst –, sie zerrte Knäuel nasser Wäsche aus der Maschine, abwechselnd mit beiden Händen, als zöge sie an einem Tau, bis der ganze Batzen auf einmal hineinplumpste in die Bütt, nicht enden wollende Menge an T-Shirts und Hemden von Hannes, Hosen von Cora, Strümpfe, unendlich viele winzige Söckchen. Ein einziges Kind, was das allein schon verbraucht, nicht auszudenken, wenn es zwei oder drei wären, sie stöhnte innerlich, wieso bin ich eigentlich für die Wäsche zuständig? Von wegen Gleichberechtigung. Sowieso Illusion, ungleiche Bezahlung, ungleiche Rente, ungleiche Krankenkassenbeiträge. Und diese Karrieresache, ob mit Frauenquote in deutschen Firmenvorständen oder ohne, soll das das etwa Gleichberechtigung sein? Aufstieg um jeden Preis, genauso werden wie die Männer in den Führungsetagen? Nach dem Abi die Frage, wie geht es weiter, tiefste Eifel, unser Hof bei Neroth … Wie der jetzt wohl aussieht mit den neuen Eigentümern? … Traurig, ein bisschen traurig, aber doch sehr abgelegen, da haben wir es hier besser, sind sofort in Düsseldorf oder Köln, wenn wir wollen. Eigentlich wollen wir gar nicht … Genau diese Überlegung, Karriere, was soll das, ich pfeif drauf, geprüft und ausgeschlossen. Wozu etwas darstellen in dieser verkorksten Gesellschaft, die sich immer zweifelhaftere Ikonen sucht? Erfolg, Ruhm, alles nur Ballast, der einen am Leben hindert. Ist doch nicht das, was es ausmacht. Wenn Hannes es nur mal begreifen würde. Ist doch hyperintelligent, im Intelligenztest als Kind habe ich über 140 gehabt … Da ist er dann stolz drauf, aber dass er wirklich mal was kapiert, etwas Essenzielles, das ihn lehrt, sein Leben zu führen, so weit ist er nicht, der Ehrgeiz, der an ihm nagt, ist das Problem. Was bringt das? Ruhm ist unwichtig, Karriere auch, gelingendes Leben hängt davon nicht ab. Will gar nicht daran mitwirken, dass es hierzulande immer so weitergeht, die Wenigen viel, die Vielen wenig, wo bleibt da die Gerechtigkeit?
Sie wuchtete den Wäschebottich die Kellertreppe hoch, Stufe um Stufe, dazwischen auch mal absetzend, die nasse Wäsche wog wie Blei, sie wischte sich den Schweiß ab, der über die Stirn rann, setzte sich wieder in Bewegung, blau vom Himmel geschirmt, Kaiserwetter für die Kirmes, schon jetzt war es backofenheiß, und das im September. Sie pustete sich eine feuchte Locke aus dem Gesicht, schnaufte, diese ganze Hausarbeit, eine Putzfrau, so eine Zugehfrau, die sich auch um die Wäsche kümmert, das wäre ein Traum. Aber auch komisch: andere für sich arbeiten zu lassen … Wenn Hannes nur ein bisschen mehr täte, aber da machst du nichts, der sieht gar nichts, nicht den Staub, nicht die Wäscheberge, da ist er elend traditionell, ich arbeite den ganzen Tag, komme erst abends nach Hause, verdiene das Geld, wie soll ich da noch, was kann ich … außerdem tue ich schon alles Mögliche, ja, Spülen ab und zu, immer diese Leier. Für eine Putzfrau fehlt nun das Geld, es sei denn, ich suche mir eine zusätzliche Stelle – was für eine absurde Idee, selbst mehr arbeiten, um eine Putzfrau bezahlen zu können …
Hm? Was jetzt? Die Glocken … so plötzlich still, jetzt sitzen sie wohl alle drinnen, modernder Dunst, Weihrauchschwengel, innere Einkehr, aber schön kühl ist es da sicher. Ah, nun hört man’s, sehr weit weg noch, sehr leise, Blasmusik, sie ziehen schon, sie ziehen durch die Straßen, das wird lustig. Diese Umzüge bräuchte ich nicht, Karneval ist mir lieber. Hoffentlich hängt Hannes nicht wieder so durch. Hach, ist das alles wieder schlecht. Ich hab ja so miese Laune. Das muss ich jetzt aber allen mal zeigen. Was ist denn das? Ist das etwa ein Slip von mir? Der ist doch nicht von mir. He, Hannes, hast du …? Ich… ich weiß auch nicht, wie der hierhin kommt. Das fehlte noch. Mama hat mir den … Wenn er nur einmal über seinen Schatten springen würde, aber nee. Wenn er so ist, immer so schwarze Wolke über seinem Haupt, dann soll er zu Hause bleiben. Kann er ja, bringt er mal das Kind ins Bett und ich geh feiern, habe ich mir verdient. Sieht er sicher ganz anders. Ich versteh gar nicht, wieso du abends immer so fertig bist. Genau. Betreuungsarbeit. Ist gar nichts wert. Dem Mann nicht, dem Staat nicht. Kochkurse mit den Kindern, ich bitte dich … Die mache ich noch zusätzlich, er wollte unbedingt, dass ich mehr Geld einbringe in den Haushalt, Geld, Geld, immer dieses Geld. Soll ich mein Leben damit vertändeln, mir über Geld Sorgen zu machen? Was wäre das beruhigend für mich, wenn nicht alles von mir abhängen würde. Alles. Alles von ihm, nichts von mir. Kann ich was dafür, dass die Kinderkochschule so schleppend anläuft? Das muss sich halt erst mal rumsprechen, das wird schon. Wie viel Uhr? Einmal … Ist das jetzt halb eins oder eins?

Ortskunde (Infrastruktur)

Die inoffizielle Webseite von Kirchweiler vermerkt 7628 Seelen, es ist jedoch unklar, von wann diese Zahl stammt, anscheinend ist sie nicht beständig aktualisiert worden, denn 2012 ist die Zahl der Einwohner nach offiziellen Angaben der Kreisstadt bereits auf 7670 geklettert, mit einem leichten Übergewicht an Frauen (3917, also 51,1%). Insgesamt 487 (6,3%) Bürger mit einer anderen als der deutschen Staatsangehörigkeit leben in Kirchweiler. Die große Mehrzahl der Ortsansässigen ist römisch-katholisch (4237, 55,2%), nur 1326 (17,3%) protestantisch und der Rest (2107, 27,5%) anders oder gar nicht gläubig. Auffällig ist der hohe Anteil von Einwohnern über fünfzig (3284, 42,82%), eine Tatsache, die man im Straßenbild wahrnimmt, viele Senioren trotten über die Gehsteige, Junge oder Menschen mittleren Alters sind fast schon die Ausnahme. Die meisten dieser Alten wurden hier geboren und kennen sich von klein auf. Doch ihre Reihen lichten sich, die Lücken werden durch nachziehende Mittelschichtfamilien aufgefüllt, deren gut qualifizierte Versorgerinnen und Versorger in der nahen Landeshauptstadt arbeiten. Noch deutlich in der Unterzahl, sind diese jüngere Generation und ihre Kinder dennoch spürbar.
Ein Grund für die wachsende Attraktivität Kirchweilers ist die gute Verkehrsanbindung. Neben Bussen in alle größeren und kleineren Ortschaften ringsum existiert bereits seit 1869 ein Bahnhof mit einer direkten Linie in die Landeshauptstadt, sechzehn Minuten pro Strecke, auch mit dem Auto kann man Düsseldorf mit einem Sprung über die Brücke erreichen. Ob Köln, Aachen, Mönchengladbach oder das Ruhrgebiet, über die nahen Autobahnen sind Ziele in allen vier Himmelsrichtungen leicht anzusteuern.
Die Gemeinde ist stolz auf ihre drei Kindergärten: In der katholischen Tagesstätte Maris Stella versammeln sich die Kinder der neuen Bürgerfamilien, der eingesessenen Handwerker und Unternehmer. Ausländer und Angehörige der Unterschicht, die vornehmlich in der Hochhaussiedlung am Ortsrand leben, bringen ihre Sprösslinge im nahen evangelischen Kindergarten unter. Die Tagesstätte der Arbeiterwohlfahrt wiederum, frequentiert von den Übriggebliebenen aller sozialen Niveaus, liegt hinter der Bahnschranke, die Kirchweiler alle halbe Stunde für lange Minuten in zwei Hemisphären teilt, eine faktische Grenzlinie, die generell Bestand zu haben scheint, denn der Austausch zwischen den beiden Ortshälften ist gering.
An Schulen hat Kirchweiler eine katholische Grundschule und eine Realschule vorzuweisen, beide gut beleumundet. Andere weiterführende Schulen verteilen sich auf die benachbarten Stadtteile, weswegen der nur zur Rush Hour häufig verkehrende Bus morgens und mittags von Pendelschülern überquillt.
Sechs Restaurants und Kneipen bieten Einiges an kulinarischem Programm, deutsche, griechische, portugiesische Küche, dazu zwei Take-Away-Pizzabäcker, zwei Frittenbuden sowie eine kleine, aber sehr beliebte Gelateria, zu der im Sommer Eishungrige aus dem ganzen Umkreis pilgern. Drei Supermärkte, zwei Backstuben, eine Metzgerei, zwei Fahrschulen, drei Podologen und eine ganze Handvoll von Versicherungsbüros. Die ärztliche Versorgung ist gut, Fachärzte praktizieren zwar eher im Stadtzentrum von N., in Kirchweiler hat sich aber eine ganze Reihe von Allgemeinmedizinern niedergelassen, häufig in Praxisverbünden organisiert.
Ein Passagierflugzeug zog am Himmel dahin, entließ weiße Rauchwürmer ins makellose Blau, ein anderes schraubte sich vom nahen Düsseldorfer Flughafen in die Höhe, hören konnte man nichts, dafür war es zu weit weg, zum Glück, dachte Meta, die Chance, dass uns mal eines aufs Dach fällt, ist vergleichsweise gering. Sie schüttelte energisch die Wäsche aus, mit geübten Händen hängte sie alles über die Leine, in Windeseile, und doch wollte der Berg von nassen Kleidungsstücken nicht schrumpfen. Eine Amsel zischte vorbei und verschwand in einer Häuserecke, hat die etwa ein Nest gebaut? Jetzt noch im September? Der Vogel nutzte den Holzstapel nur zur Zwischenlandung, gewissermaßen als Startrampe, um von dort steil in die Höhe zu schießen, von der Dachrinne nun stimmte er ein Triumphlied an – ganz so, als verspotte er Meta dafür, dass sie, flügellos, gezwungen war, am Boden zurückzubleiben.
»Komm du mir mal runter«, drohte sie und seufzte, ein verwickeltes Handtuchknäuel war zu Boden gefallen, wieder bücken, alles vorsichtig auseinander fummeln, nicht dass noch eins auf den Rasen, in den Dreck, sonst kann man’s gleich wieder waschen. Cora erschien. Ihr Haar wehte und Meta dachte, mein Engelchen, und sagte das auch, wollte ihre Wange streicheln, doch das Kind tauchte weg und kramte einen Ball unter dem Tisch hervor, schmutziggelbe Werbegabe, die Luft war schon halb entwichen, aber Cora kickte die Plastikkugel auf den Rasen und rief: »Mama! Sollen wir Fußball spielen?«
»Fußball? Das ist wohl eher was für deinen Vater!«
»Ach, der Papa«, murrte Cora. Meta schaute, ihre Tochter scharrte im Sand, der Kummer der Kinder, unglaublich betrübt, wenn nicht alles gleich nach ihrem Kopf geht. So waren wir und so sind wir noch, selbst als Erwachsene, dachte Meta, kleine und große Verletzungen, Niederlagen, unerfüllte Träume, Tag für Tag verdrängen wir das, aber nichts davon bleibt in den Kleidern stecken. Besser man hält die Träume klein, schätzt, was man hat, das ist der eigentliche Reichtum.
»Ich spiele gleich mit dir. Muss nur noch die Wäsche aufhängen. Du kannst ja so lange Blumen gießen.«
»Die Blumen gießen?« Coras Stimme klang wenig begeistert, dennoch holte sie sich die Gießkanne und tunkte sie ins Regenfass, ein schmatzendes Geräusch, Vakuum saugte Wasser ein, Meta wippte im Rhythmus der Musik vom Platz, summte eine Melodie mit, die sie zu vernehmen glaubte. Die Wäschespinne füllte sich, Fahnen im Wind, Cora hatte bald drei Runden durch den Garten gedreht und die Beete ausgiebig gewässert.
»Gieß nicht zu viel auf den Basilikum. Das mag der nicht.«
»Mama, woher weißt du das? Hast du mit ihm gesprochen?«
»Nein, mein Schatz. Ich weiß das aus Erfahrung.«
»Aus Erfahrung weißt du das? Aus Erfahrung?«
»Nachher gehen wir auf die Kirmes, hörst du, sie spielen schon?«
»Ja«, sagte Cora und wässerte unverdrossen die Beete.
»Freust du dich schon?«
»Ja.«
Hh-Hh, Schrittschritt – Ff-Ff, Schrittschritt, Hh-Hh, Schrittschritt – Ff-Ff, Schrittschritt, Hh-Hh Schrittschritt – Ff-Ff, Schrittschritt, ein Hundebellen, kleiner Hund, sehr kleiner, jetzt ein anderer, ganz tief, grollend, Bellen wie aus der Hölle, »Nein, Ronni, ich glaube, das ist keine so gute Idee! … Tschuldigung.« »Kein Problem.« Ein Flugzeug von weither, der Wind in den Bäumen, Hh-Hh, Schrittschritt – Ff-Ff, Schrittschritt, Hh-Hh, Schrittschritt – Ff-Ff, Schrittschritt, Hh-Hh, Schrittschritt – Ff-Ff, Schrittschritt, Hh-Hh, Schrittschritt – Ff-Ff, Schrittschritt, Singvogel-Parlando, dazwischen das salvenartige Klopf-Staccato des Spechtes, das Fisteln der Raubvögel, »Guten Tag!« – »Hallo …« Hh-Hh, Schrittschritt – Ff-Ff, Schrittschritt Hh-Hh, Schrittschritt – Ff-Ff, Schrittschritt Hh-Hh, Schrittschritt – Ff-Ff, Schrittschritt, Hufschlag, Pferde im Trab, »Können Sie bitte den Hund zurückhalten? Der geht mir sonst durch.« »Ja, ja. Schon gut. Aber wenn Sie ihr Pferd nicht beherrschen, haben Sie hier nichts zu suchen. Auf diesem Weg sind nun mal viele Hunde.« »Sehr freundlich. Also echt …« Hh-Hh, Schrittschritt – Ff-Ff, Schrittschritt Hh-Hh, Schrittschritt – Ff-Ff, Schrittschritt, Cellophanrascheln, Hh-Hh, Schrittschritt – Ff-Ff, Schrittschritt Hh-Hh, Schrittschritt – Ff-Ff, Schrittschritt, Hh-Hh, Schrittschritt – Ff-Ff, Schrittschritt, Naseschnauben, Abputzen, Zusammenknüllen, raschelnd zurück in die Hosentasche, Hh-Hh, Schrittschritt – Ff-Ff, Schrittschritt, das Hecheln des Hundes, knapp dahinter.

Ortskunde (Strategischer Bahndamm)

Immer wenn das Militär zu denken beginnt. Immer wenn es Neuigkeiten gibt. Immer wenn Forschung, Technik, Innovationen Raum greifen, will die Kriegskunst ihren Teil. Der Bahndamm unvermindert geradeaus, zwanzig Kilometer geradeaus, zwischen N. und R., er war so eine Idee, Aufmarschpläne gegen Frankreich, Truppenverlagerungen in schnellem Stil, Alfred von Schlieffen, Chef der kaiserlichen Armee, Planung strategischer Bahndämme, »Ruhr-Mosel-Entlastungslinie«, zweigleisig von N. bis ins Ahrtal, und von da zur französischen Grenze, Baubeginn 1904, doch nie fuhr hier ein Zug, das ließen sie nicht zu, die früheren Erzfeinde, heutigen Erzfreunde. Geblieben ist ein Bodendenkmal, von Brücken und Unterführungen gequert, nun wuchert hier Gras, schreiten hier Pferde, spazieren Spaziergänger, joggen Jogger, rappeln Mountainbikes über den splittersteinbedeckten Pfad, und die Sonne scheint durch die Zweige, nichts wirkt mehr militärisch, alles friedlich und zivil.
Muss das absperren, hier darf keiner durch, absperren mit dem rot-weißen Band, Signalband heißt das, das soll ich nehmen und es über die Straße ziehen, wie viel Uhr ist jetzt? Wieso schenkt mir Mama eine Uhr mit Zeiger zum Geburtstag, keiner da. Absperren, und wie mache ich das fest? Hab ich ja gesagt, ich weiß nicht, wie ich das festmachen kann, hab ich ja gesagt: Und wie mach ich das fest? und da regt Christian sich wieder auf: Du Trottel! wirst schon was finden, wo du’s festbinden kannst. Oder willst du’s die ganze Zeit in der Hand halten? Das will ich natürlich nicht. Aber was ist, wenn jemand durchwill? – Sicher soll da keiner durch. Nur wenn einer etwas anliefert. Nachschub, Getränke oder Essen. Die dürfen natürlich durch. Oder wenn jemand in der Christophstraße wohnt, eh klar. Wie soll ich das auseinanderhalten? Erst darf keiner durch, dann dürfen manche schon, woher soll ich denn wissen …? Christian, du Idiot, wie soll ich wissen …? –WER ist hier der Idiot? Wer? – Christian, ist gut, komm, das hat Bob doch nicht so gemeint. Da wird er gleich wütend, wie immer, knallrote Bombe, gleich platzt er, aber die anderen halten ihn fest, Christian Reyer darf mir sowieso nichts tun, mir nicht, ich bin ja behindert, der Bob ist gestört, der ist behindert, den darf man nicht schlagen, Christian beruhigt sich, man kann ihn gut ärgern. Christian Reyer, das Arschloch. Hier, wenn was ist, nimmst du das. – Was ist das? – Ein Walkie-Talkie. – Hä? – Ein Sprechgerät, du Dummie. Das ist gut, Sprechgerät gefällt mir, aber ich habe doch … Ich habe auch ein Handy, ich kann euch anrufen. – Ja, ja, klar. Aber das Handy hört man manchmal nicht, das hier hört man immer. Das stimmt, mein Handy höre ich oft sehr schlecht. Deshalb ist es gut, dass sie mir das Sprechgerät geben, nur Leute, die wichtig sind, haben so ein Sprechgerät, ich bin für die Absperrung zuständig und darf niemanden durchlassen, deshalb bekomme ich es. Wenn ich mir nicht sicher bin, frage ich Christian über das Sprechgerät. Das kracht und knattert und rauscht, das kann man nicht überhören, und ich muss nur auf den roten Knopf drücken, dann spreche ich und Christian hört das direkt, muss er eben rüberkommen, vom Bierstand, der ist nicht weit weg, dann muss er eben kommen und sagen, ob die Leute durchdürfen oder nicht.
Wo binde ich das jetzt fest? Hier am Straßenschild? Nicht zu hoch und nicht zu niedrig, haben sie gesagt, die Autos dürfen nicht durchfahren, tun sie es doch, zerreißen sie das Band, wie die Läufer bei den Sportspielen, die so rennen, ganz schnell, und dann das Band durchreißen, so Muskeln hätte ich auch gerne, mit so Muskeln würde Christian Reyer nicht mehr wagen, auf mich loszugehen, und er müsste sehr vorsichtig sein, was er sagt. Wenn er was sagt, was ich nicht mag, dann zerfetze ich ihn, so richtig in Stücke reiß ich den, das Scheiß-Arschloch Christian Reyer, dieses scheiße Scheiß-Kacke-Arschloch, auseinanderreißen tu ich den, so, das ist fest. Ich kann Christian anrufen und ihm sagen, er soll vorbeikommen und gucken, ob das richtig ist. Dann kann er nachher auch nicht meckern.
Das brauche ich heute wirklich nicht, nicht in dieser Situation, diesen Zirkus, Mützen, Litzen, Holzgewehre, wie erwachsene Männer … warum gehen sie nicht einfach in die Kneipe und besaufen sich, wozu dieses Beiwerk? Stellt sich die Frage, ist das Ganze ein Epiphänomen des Trinkens oder umgekehrt? Undurchschaubar, jedenfalls für mich, ich sehe, begreife da nichts … Zusammenhalt, Freundschaft, Tradition. Kann man auch anderweitig, vage, diffus, unklar, und wenn man dann konkret nachfragt, weichen sie nur aus. Erinnert mich beinahe … wie dieser Borkumer Brauch, Walfängerfest, keine Fremden zugelassen, Meta und ich in dieser einen Kneipe, ziemlich versackt, das Kind war da noch nicht, so lange ist das her: Was ist das für ein Fest? Und was passiert da? – Na ja, Klaasohm. Das kann man nicht erklären, das muss man gesehen haben. Hm. Ja. Na klar. Wie soll man sich das ansehen, wenn Auswärtige keinen Zutritt haben?! Norddeutscher Humor.
Bei den Schützen gibt es keine Geheimnisse, ein Rätsel bleibt die Sache selbst. Wie weit noch? Die Wade macht dicht, nicht dass die Zerrung wieder aufreißt, aufpassen, weich auftreten, gut abrollen, der Rückriem-Stein, immerhin schon, dann sollte es klappen, da komme ich wohl zurück. Bin noch immer zurückgekommen, das Gewinsel des eigenen Körpers, darf man nichts drauf geben, das ist eigentlich gemeint mit dem Spruch: Der Körper ist das Nachrangige. Und überhaupt: Dass in einem gesunden Körper ein ebensolcher Geist wohnte, wäre eher die Ausnahme, Gewichte stemmen ist kein Ausweis von Intelligenz, Schwachmaten ausm Fitnessstudio, so klein die Köpfe, Hirne passen da gar nicht mehr rein. Die Juvenalsche Satire ist dem Spruch leider abhandengekommen, das Drama geflügelter Worte, meist gestutzte Federn, der Sinn elementar verdreht.
Passt in unsere Epoche, man will gar nichts mehr komplett verstehen, nur Bestätigung finden. Wir müssen in die Zukunft unseres Landes investieren, haha, die Bildung eine zentrale Aufgabe, blabla, meine Seminare, wie das runterzieht, die neue Elite … ahnungslos, aber eingebildet, worauf bilden die sich eigentlich was ein? Glotzen wie Kühe, nee, wie kuhblöde Lämmer, so unbeleckt, überall weiße Flecken auf der kognitiven Landkarte, Praxisbeispiele, Methodenwechsel, anregende, offene Fragen, alles Quatsch. Da regt sich nichts, da ist ganz große Stille im Hirn. Wer ist Heinrich von Kleist, schon mal gehört? Schulterzucken, ja, der war so … erste Hälfte zwanzigstes. Jahrhundert, nie was von gelesen, Germanistikstudium bietet sich dann wirklich an.
Aber nachher die Evaluationen: Das war alles sehr elementar. Der Dozent geht viel zu langsam voran. Fische im Aquarium, blub blub, solche Blasen steigen da auf, die platzen und dann … Das ist eine Abwärtsspirale, Analphabeten, nur noch Analphabeten, wenn die später überall … Ja, eben … die geburtenschwachen Jahrgänge, Arbeitslosigkeit ist für die kein Thema mehr und unsereins wird womöglich verdrängt. Vielleicht sogar – schon sehr bald … das wäre, na, die Hoffnung, die bleibt. Immerhin noch was in petto, vielleicht wird das ja, der Schäferhund sieht übel aus, Singa: »Singa, komm her! … Singa! Kannst du bitte mal herkommen!« Verdammt, willst du wohl? Hört nur auf Meta, der Köter, ich bin auch dein Herrchen, verstehst du das. Weiter, bereits vorbeigeflogen, da die zweite Stele, gleißend wie ein Zeichen, ein weißes Tor, und darauf zu … Der Fluss, wie beruhigend, Flüsse immer, so schön stetig, aber unaufhaltsam, von der Quelle bis zur Mündung. So hätten wir das gern, nicht diese Winkelzüge, dieses Unwägbare, das ist ja die ganze Ablenkung, weil man sich ständig kümmern muss, dem Alltäglichen verfallen … Eudaimonia, das wäre vollkommene Selbstgenügsamkeit, das ist, was sie damit meinen, Sein zum Tode hin.
»So, Singa, Endspurt, ab nach Hause!«

Fauna und Flora (Märchenwald)

In der Altrheinschlinge, ebenso links und rechts der Erft, ist eine typische Stromlandschaft erhalten geblieben, Erlen-, Eschen- und Weichholzauenwälder sowie Erlenbruchwälder, nasse, zeitweilig auch überstaute Wälder mit seggenreicher Krautschicht. In Tümpeln und Lachen siedelt die kleine Wasserlinse, daneben giftige Pflanzen wie Drachenwurz, Aaronstab und Bittersüßer Nachtschatten. In Flussnähe haben sich feuchte Hochstaudenfluren ausgebildet mit Wasserschierling, Ufer-Wolfstrapp, Blutweiderich, Zungen-Hahnenfuß und Fluss-Ampfer. Am Rande der Erft führen Trampelpfade hinein in die Uferwälder, flankiert von Schlingpflanzen und Bodendeckern. Im Sommer werden diese Pfade von Indischem Springkraut und Brennesseln, die explosionsartig aus dem Boden schießen, überwuchert, sodass manche nicht mehr passierbar sind.
Im Wald selbst wallt Knoblauchgeruch auf – mit jedem Schritt durch Bärlauchrabatten. Brombeeren, wilde Johannisbeeren, Farne, Winden und andere Ranken verhaken sich in der Kleidung, erschweren das Vorwärtskommen. Unterholz und umgestürzte Bäume bestimmen das Bild, mehlig-verfaulte Stämme, von Ameisenvölkern bewohnt, Humus, malerisch, wie unberührt. Teils klaffen Löcher wie Bombenkrater, über denen riesige Wurzeln ragen, Lebensraum einer Unzahl von Wesen, Mega-Citys für Insekten, Würmer und Asseln. Pastellblüten bedecken im Frühling den Boden, Gundelrebe, Buschwindröschen, Schlüsselblumen, Wiesenschaumkraut, Blauminze und Brennesselblüten. Mitunter bricht ein Reh oder ein Hase durchs Gehölz und oberhalb der Wipfel kreisen Greifen: Bussarde, Habichte, der rote Milan, über der Wiese rüttelt der Falke. Doch lassen sich Krähen, Schwalben und Tauben davon nicht irritieren, sie schießen durch die Lüfte, passen nicht ins Beuteschema. Auch der Specht nicht, der seinen Code in die Baumrinde drischt.