Spätzle mit Himbeersoß - Ulrich Maier - E-Book

Spätzle mit Himbeersoß E-Book

Ulrich Maier

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Ein Feuerteufel treibt in Schoppendorf sein unheimliches Spiel. Zuerst brennt die Asylantenunterkunft, dann gehen weitere öffentliche Einrichtungen in Flammen auf. In Stuttgart finden Rita Delbosco und Nils Niklas endlich eine heiße Spur. Gehen die Anschläge auf das Konto von Rechtsradikalen oder ist der Täter unter den Asylanten selbst zu suchen? Der Hauptverdacht konzentriert sich immer mehr auf einen sympathischen Jungen aus Westafrika, der gerade damit begonnen hat, sich kreativ mit der schwäbischen Küche auseinanderzusetzen. Da stellt sich heraus, dass er durch seine Flucht schwer traumatisiert ist.

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Seitenzahl: 245

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Ulrich Maier

Spätzle mit Himbeersoß

Rita Delboscos dritter Fall

Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Schrebergartenmafia (2016), Gift im Brezelteig (2015)

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Eventuelle Seitenangabe beziehen sich auf die Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Lutz Eberle und Bratscher / photocase.de

ISBN 978-3-8392-5524-7

Zitat

»Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.«

 

(Johann Wolfgang Goethe, West-östlicher Divan, Stuttgart, 1819, S.334)

 

Handlungsorte

Schoppendorf: Schoppendorf am Neckar ist eine bedeutende Provinzhauptstadt im Württembergischen, umgeben vom Bäringer Bergland, ein erdachter, aber typischer Ort mitten in Baden-Württemberg. Er liegt an der Mündung der Sulz (ebenfalls erdacht bzw. nach Schwaben transloziert) in den Neckar. Das Sulztal öffnet sich in Richtung Schoppendorf, das zwischen ausgedehnten Weinberghängen in einem weiten, sonnigen Talkessel liegt.

Stuttgart: Landeshauptstadt und Schwabenmetropole am Nesenbach (heute größtenteils in der Mischkanalisation verschwunden)

Im Übrigen: Siehe Seite 119 / 20

 

Montag, 28.11., vormittags

»Deutschland den Deutschen! Asylantenpack! Assis raus!«, ertönen Sprechchöre vor der brennenden Unterkunft. Breitbeinig und grinsend lümmeln die Männer der »Schoppendorfer Heimatfront« auf ihren Motorrädern und schauen interessiert zu, wie sich das Feuer seinen Weg durch den Eingangsbereich des Schulzentrums frisst. Allen voran ihr Anführer, Dave S.

Inzwischen hat der Lärm ihrer laufenden Maschinen weitere Neugierige angelockt. In der Ferne ertönen die Sirenen der Feuerwehr. Aus der Turnhalle direkt neben der offenen Eingangshalle zum Uhland-Gymnasium laufen Bewohner des Notquartiers für Asylbewerber verschreckt auf den Schulhof. Mit aufgerissenen Augen starren sie hinüber, wo ein roter Feuerschein hinter der Glasfront aufleuchtet und schwarze Rauchwolken aus der offenen Tür qualmen. Einige schleppen bereits Feuerlöscher herbei.

Da greift der Brand auf die Eingangshalle über, die Schulgebäude und Turnhalle verbindet. Auch die Hecken zwischen Gymnasium und Turnhalle haben jetzt Feuer gefangen. Zwei Asylanten kämpfen mit ihren Feuerlöschern gegen die Flammen, um das Feuer vom Wohnheim abzuhalten. Als es ihnen schließlich gelingt, den Brand wieder zurückzudrängen, machen sich die Motorrad-Rowdies mit Knattern und Dröhnen auf den Weg. Ihre Maschinen abzustellen und mit anzupacken – daran haben sie wohl nicht gedacht.

Da geht in einem der Klassenzimmer im dritten Stock Licht an! Entsetzt starren die jungen Leute nach oben. Da sind Menschen eingeschlossen!

Eine Gruppe beherzter Asylbewerber versucht nun mit den Feuerlöschern in das Foyer der Schule einzudringen. Vergeblich! Der Brand wütet zu stark. Durch den schwarzen Qualm schlagen immer noch meterhoch die Flammen heraus. Einem von ihnen gelingt es, wenigstens den offen stehenden Türflügel zuzuwerfen, um dem Feuer den Luftstrom abzuschneiden, der den Brand drinnen immer weiter anfacht.

Ein weiterer versucht, über die Regenrinne aufs Dach der Eingangshalle zu klettern. Dort ist eine Feuerleiter, die nach oben führt, aber da ist auch ein Fenster direkt zu erreichen. Mit einem faustgroßen Kieselstein hämmert er auf die Scheibe ein. Ein zweiter Mann folgt ihm nach. Gemeinsam gelingt es ihnen, ein Loch in die Verglasung zu schlagen, hindurchzugreifen und das Fenster zu öffnen. Dann verschwinden sie im Gebäude.

Es dauert keine fünf Minuten, bis sie im obersten Stockwerk am Fenster neben der Feuerleiter wieder erscheinen. Der erste klettert voraus, die Leiter hinunter, der andere bleibt oben. Dann folgen Kinder! Eines nach dem anderen werden sie vorsichtig aus dem Fenster gehoben, in den Käfig der Feuerleiter. Sie hangeln die Leiter runter aufs Flachdach, zuletzt folgen zwei Frauen und ein junger Mann, bevor sich der oben gebliebene Retter selbst auf die Feuerleiter schwingt.

Vor der Eingangshalle hat sich ein enger Kreis von Asylanten gebildet. Während die Gruppe mit den Feuerlöschern immer noch das Feuer zurückhalten kann, fangen andere die Kinder auf, die vom Flachdach direkt in ihre Arme springen. Zuletzt folgen die Erwachsenen über die Regenrinne. Nach fünf Minuten ist die Rettungsaktion beendet.

Inzwischen treffen die ersten Löschzüge ein. Als die Schläuche endlich gelegt sind, scheint das Feuer bereits abzuklingen. Immer weniger Rauchschwaden dringen aus dem Gebäude. Die Kinder stehen etwas abseits und schauen ängstlich hinauf zu ihrem Klassenzimmer. Sie hatten in der Nacht zum Sonntag hier oben ihre Lesenacht verbringen wollen. Die Lehrerin, zwei Mütter und ein Referendar kümmern sich jetzt um sie.

Dann die Schreckensmeldung: Einer fehlt! Immer wieder ruft die Lehrerin verzweifelt seinen Namen. Während einer der beiden Retter zum Einsatzleiter läuft, klettert der andere noch einmal die Feuerleiter hoch und verschwindet im Gebäude.

Nun stoßen die Leute von der Feuerwehr mit einem ihrer Einsatzwagen in aller Eile rückwärts die Einfahrt hoch zur Eingangshalle und fahren eine Leiter aus. In einem Rettungskorb fährt ein Feuerwehrmann hoch. Da erscheint der junge Mann wieder beim Fenster und winkt. Er hat das Kind gefunden, aber es ist bewusstlos. Der Feuerwehrmann nimmt den leblosen kleinen Körper zu sich in den Korb, dann steigt der Retter dazu. Unten werden sofort Wiederbelebungsmaßnahmen eingeleitet.

Sie haben den Jungen etwas abseits auf eine Matte gelegt. Er beginnt zu husten und keuchend zu atmen. Als endlich der Krankenwagen eingetroffen ist, legen die Sanitäter ihn auf eine Bahre, wenig später geht es mit Blaulicht und Martinshorn ins Krankenhaus.

Wer aber sind die mutigen jungen Männer, die es gewagt hatten, ins brennende Schulhaus einzusteigen? Der Einsatzleiter spricht gerade mit ihnen. Einer von den beiden ist Michel S. aus Burkina Faso, erst seit wenigen Tagen im Notquartier der alten Turnhalle des Uhland-Gymnasiums untergebracht. Er spricht nur gebrochen Deutsch, aber fließend französisch. Der andere ist Mario R., Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr hier in Schoppendorf.

Alles drängt sich nun um den jungen dunkelhäutigen Asylbewerber, der unter Einsatz seines Lebens ein zweites Mal hochgeklettert ist und in dem verrauchten Schulhaus nach dem fehlenden Jungen gesucht hat.

Nach Aussagen des behandelten Arztes ist das Kind inzwischen außer Lebensgefahr und wird die Rauchvergiftung bald überwunden haben. Wie es zum Brand im Foyer des Gymnasiums gekommen ist, wird gegenwärtig von der Kriminalpolizei noch untersucht. Manches spricht für einen Brandanschlag – und dass die »Schoppendorfer Heimatfront« ihre Finger im Spiel hatte, ist nicht auszuschließen, obwohl von einem ihrer Mitglieder der Notruf an die Feuerwehr abgegeben worden sein soll.

Die Großsporthalle des Schulzentrums und die anderen Gebäude blieben unversehrt, ebenso die alte Turnhalle mit der Asylantenunterkunft. Wann das Schulgebäude des Uhland-Gymnasiums wieder genutzt werden kann, wird sich erst im Laufe des Tages herausstellen. Die Kriminalpolizei hat ihre Untersuchungen gestern Abend beendet. Heute und morgen fällt jedenfalls der Unterricht aus.

Noch ganz betroffen von dem Artikel faltete ich das »Schoppendorfer Echo« zusammen und lehnte mich in meinem Schreibtischstuhl zurück, die Augen starr auf die gegenüberliegende Wand meines Büros im sechsten Stock des SWR-Funkhauses in der Stuttgarter Neckarstraße gerichtet. Auf dem meterlangen Wandkalender blieb mein Blick in der letzten Novemberwoche hängen.

Das gute Stück war vollgeschrieben mit Notizen in allen Farben: Rot für ganz wichtige Termine, zum großen Teil bereits wieder durchgestrichen, schwarze Notizen für die alltäglichen Angelegenheiten, einige blaue für private Termine, Geburtstage von Freunden und Verwandten und Ähnliches.

Ich hatte die neueste Ausgabe des »Schoppendorfer Echos« vor mir liegen. Heute war Montag. Der Brand im Uhland-Gymnasium war gestern ausgebrochen beziehungsweise gelegt worden, in den frühen Morgenstunden des ersten Advents. Die Meldung musste auf dem schnellsten Weg auf Sendung! Weshalb hatte ich weder gestern noch heute Morgen davon was mitgekriegt? Auch in der Onlineausgabe des »Echos« keinerlei Hinweise!

Ich griff zum Telefonhörer, wählte die Nummer der leitenden Lokalredakteurin, mit der ich seit meiner Zeit als Lokalredakteur in Schoppendorf befreundet war.

»Delbosco?«

»Rita, ich habe gerade deinen Artikel über den Brand im Uhland-Gymnasium gelesen. Das ist ja eine aufregende Geschichte. Sag mal, warum habt ihr das nicht sofort weitergegeben? Kein Mensch hier weiß Bescheid!«

Sie zögerte mit der Antwort. Es schien ihr schwer zu fallen, auf meine direkte Frage einzugehen. Schließlich seufzte sie: »Ach Nils, wir diskutieren seit gestern Nachmittag stundenlang in der Redaktion. Da ist noch so viel unklar, so viel muss da bedacht werden, das kann ich dir am Telefon so auf die Schnelle gar nicht verklickern. Außerdem ist ja – Gott sei Dank! – niemand ernsthaft zu Schaden gekommen …«

»Na hör mal«, unterbrach ich sie, »die Rauchvergiftung eines Schülers, du schreibst von mutmaßlicher Brandstiftung gleich neben einer Asylantenunterkunft, von möglicher Beteiligung einer rechtsradikalen Gang, ausländerfeindlichen Parolen und vom beherzten Eingreifen der Asylbewerber – diese Nachricht ist ein Hammer, nicht nur auf lokaler Ebene!«

»Eben«, gab Rita etwas kleinlaut zurück. »Das weiß ich auch. Aber genau das ist der Grund, warum wir so gezögert haben. Ach, das ist alles so verzwickt! Ich will das jetzt nicht übers Telefon erklären. Was meinst du, was bei uns zurzeit los ist! Am besten, du kommst selbst mal in der Redaktion vorbei. Ich bin heute den ganzen Tag in meinem Büro.«

Ich schaute wieder hoch zum Terminkalender an der Wand. Die Wochenbesprechung könnte ich ausfallen lassen, dann wäre da noch das Gespräch mit dem Ressortleiter.

»Ich seh’ mal, wann ich mich hier loseisen kann, bis nachher!«

Zehn Minuten später schwang ich mich auf mein Rad und sauste die Villastraße runter, bog in den Mittleren Schlosspark ein und trat feste in die Pedale. Zwischen Funkhaus und Bahnhof benutzte ich gerne das Fahrrad und konnte fast die ganze Strecke durch den ausgedehnten Park fahren, der Bad Cannstatt mit dem Zentrum verband – ganz ohne Autoverkehr. Wenn ich mich beeilte, könnte ich vielleicht noch den Zug um 9.20 Uhr nach Schoppendorf erreichen.

Es war noch einmal recht mild geworden an diesem Spätherbstmorgen Ende November. Die gerade aufgegangene Sonne strahlte von einem tiefblauen Himmel und malte die langen schwarzen Schatten der uralten Baumriesen auf die Wege, die mit einem Teppich aus leuchtend gelben Blättern bedeckt waren. Ich musste aufpassen, dass ich in dem feuchten Laub nicht rutschte. Dass gestern die Adventszeit begonnen hatte, war schwer zu begreifen.

Immer näher rückte die Großbaustelle mit ihren blauen Entwässerungsrohren, den Planierraupen und Baggern. Trotz der riesigen Bauflächen war ein Teil des Parks weiterhin zugänglich geblieben, bis zum Bahnhof.

Ich schloss mein Rad bei meinem bewährten Stellplatz kurz vor den Fußgängerunterführungen ab und hastete durch die Katakomben des Baustellenbereichs von Stuttgart 21 zu den vorverlagerten Bahnsteigen. Obwohl die Baukosten inzwischen ins Astronomische gestiegen waren, wurde hier fleißig weitergearbeitet – und weiterdemonstriert, denn viele Stuttgarter wollten sich mit diesem Großprojekt immer noch nicht abfinden. Ob der neue Bahnhof jemals fertig würde? Jetzt waren wohl Fakten geschaffen. Einfach alles wieder zuschütten und den alten Zustand wiederherstellen ging nicht mehr.

9.18 Uhr erhaschte ich beim Vorbeilaufen an einer Bahnhofsuhr. Da stand mein Zug! Ich lief bis zur ersten offenen Tür, hechte hinein und pünktlich schlossen sich die Türen. Mit einem Aufatmen ließ ich mich auf einen Sitz fallen.

Sven Blaschke, mein Ressortleiter, hatte mich geradezu gedrängt, im Funkhaus alles stehen und liegen zu lassen und mich sofort auf den Weg nach Schoppendorf zu machen.

»Nils, das ist genau das, was wir jetzt in dieser aufgeheizten Atmosphäre gegen die Flüchtlinge brauchen«, hatte er mich dankbar angelächelt, als er Ritas Artikel überflogen hatte. »›Asylbewerber retten eine Schulklasse aus dem brennenden Schulhaus‹ – das schafft Sympathien und stopft den Nörglern und Zauderern das Maul! Das muss noch heute in die Landesschau!«

Aber was sollte dieses merkwürdige Herumdrucksen von Rita Delbosco am Telefon bedeuten? Was konnte an diesem Geschehen denn problematisch sein? Ich nahm mir noch einmal ihren Artikel zum gründlicheren Studium vor.

Die »Schoppendorfer Heimatfront«! – Ich schüttelte den Kopf. Dieser Dave Schmelzle, mehrfach wegen Diebstahls und Rauschgiftdelikten vorbestraft, hatte seine Jungs vom »Abstellgleis«, wie sie letztes Jahr ihren autonomen Jugendclub getauft hatten, nun also zu einer rechtsradikalen Motorradbande umgemodelt. Waren sie etwa zufällig am Tatort vorbeigekommen – mitten in der Nacht? Oder steckten sie hinter der Brandstiftung, wie Ritas Artikel vermuten ließ? Aber warum sollten sie die Schule und nicht die alte Turnhalle direkt daneben angesteckt haben, wo die Asylanten untergebracht sind? Hatten sie die Lokalitäten etwa verwechselt? So dumm waren selbst die wohl nicht! Aber wenn sie tatsächlich Feuer gelegt hatten, warum alarmieren sie dann selbst die Feuerwehr?

Woher hatte Rita überhaupt all diese detaillierten Angaben über den Ablauf des Geschehens? Der Artikel war so geschrieben, als ob sie persönlich dabei gewesen wäre. Respekt, Respekt, da hatte sie wohl den ganzen Sonntag über gründlich recherchieren müssen!

Dann dieser Asylant, der spontan in das brennende Schulhaus geklettert war, Michel aus Burkina Faso. Das lag wohl südlich der Sahara, irgendwo da unten in Westafrika. War Frankreich nicht die ehemalige Kolonialmacht in Westafrika gewesen? Französisch war immer noch Verkehrssprache in den meisten Ländern der sogenannten Francophonie. Michel sprach man dann wohl französisch aus, mit langem »e«. Dieser Michel also hat mit einem jungen Feuerwehrmann zusammen die Kinder aus der brennenden Schule herausgeholt! Moment mal, Rita schrieb doch, dass die Feuerwehr erst nach der Rettungsaktion eingetroffen war! Wo kam dann so plötzlich dieser Feuerwehrmann her?

Vom Bahnhof, einem langgezogenen Gebäude aus den Fünfzigerjahren, nahm ich ein Taxi zum Redaktionsgebäude des »Schoppendorfer Echos« in der Robert-Bosch-Straße. Durch die Bahnhofsvorstadt ging es zunächst zur Theodor-Heuss-Brücke, die über den Neckar in den Stadtkern führt. Kurz davor bog der Fahrer in einem Kreisverkehr links ab und fuhr auf der gut ausgebauten Umgehungsstraße am Fluss entlang Richtung Industriegebiet.

Fünf nach elf betrat ich das gläserne Foyer des Echogebäudes. Mit einer Mischung aus Neugier, Wehmut und Erleichterung ließ ich meine Augen schweifen. Nichts hatte sich hier verändert. Immer noch dasselbe etwas steril wirkende Dauergrün in gestylten Pflanzkästen in kühler Atmosphäre! Mit einem Mal waren die alten Gefühle wieder da, wie ich als junger Redakteur vor zwei Jahren hier meine ersten Erfahrungen gesammelt hatte und nach kurzer Zeit im hohen Bogen hinausgeflogen war. Der Krach mit dem Juniorchef! Aber die hier geschlossenen Freundschaften hatten bis heute gehalten.

Den Aufzug ließ ich links liegen und stürmte die Treppen hoch zu Ritas Büro.

Als ich um die Ecke schoss, wäre ich beinahe mit Susanne Friedle zusammengestoßen, die mit zwei Tabletts voller leckerer Häppchen aus dem Aufzug stieg und krampfhaft versuchte, die Balance zu halten.

»Hi Nils, wo kommst du denn her?«

»Direkt aus der Landeshauptstadt, wohl gerade rechtzeitig«, grinste ich frech, griff nach einem der Sandwiches und biss herzhaft hinein. Lachs mit Ei und falschem Kaviar.

Susanne zog die Augenbrauen hoch und blickte mich griesgrämig an. Uiuiui, was war denn das für eine gereizte Stimmung? Sie wirkte völlig gestresst, mit dunklen Ringen unter den sonst so munter dreinblickenden Augen. Hatte ich mich im Ton vergriffen oder war sie heute einfach nur schlecht drauf?

»Dafür helfe ich dir jetzt«, versuchte ich sie zu beschwichtigen, steckte den Rest meines Brötchens in den Mund und nahm ihr vorsichtig eines der beiden Tabletts aus der Hand.

Als ich geschluckt hatte, fragte ich: »Zu Ritas Büro?«

Susanne nickte wortlos und ging voraus.

Meine frühere Kollegin Susanne Friedle arbeitete in der Lokalredaktion des »Echos« eng mit Rita Delbosco zusammen, mit der sie auch persönlich befreundet war. Ein bisschen flatterhaft und sensibel hatte ich sie in Erinnerung und immer für eine Überraschung gut. Wir hatten bestens zusammengearbeitet – trotz mancher Fehlpässe und Missverständnisse.

»Ich versteh’ euch nicht«, begann ich sie auf die Brandgeschichte anzusprechen, während wir hintereinander den Gang nach hinten liefen. »Ihr haltet die Nachricht zurück, bringt aber selbst die Sache als Aufmacher auf der ersten Seite! Das ist doch sonst nicht euer Stil!«

Susanne blieb stehen und drehte sich abrupt zu mir um. »Nach heißer Diskussion«, gab sie seufzend zurück, »und wie es weitergehen soll – davon hat niemand eine Ahnung!«

Ich balancierte mein Tablett auf die flache rechte Hand, um die linke frei zu bekommen, klopfte kurz, die heftigen Wortwechsel hinter Ritas Tür verstummten jäh, und als ich eintrat, blickte ich auf betretene Gesichter, die sich erst allmählich aufhellten. Wegen mir oder wegen der Häppchen?

Rita Delbosco, meine frühere Kollegin und Leiterin des Regionalteils beim »Schoppendorfer Echo«,Mike Kalupke, mein Nachfolger im Redaktionsteam und die Seniorchefin Nora Martini begrüßten mich mit einem herzlichen Hallo. »DieGräfin«, wie man Nora Martini respektvoll aber mit leiser Ironie nannte, war längst offiziell im Ruhestand, mischte aber als Anteilseignerin der Zeitung und Freundin von Rita Delbosco bei der aktuellen Tagesarbeit in der Lokalredaktion als graue Eminenz immer noch kräftig mit.

»Wenigstens bringste was Vernünftiges mit!«, flachste Rita, als ich das Tablett mit Schwung auf den runden Tisch platzierte, um den sie versammelt waren. Sie bot mir Platz an. Susanne stellte leise ihr Tablett daneben.

»Ich hab dir schon mal einen Stuhl dazustellen lassen.« Rita wies auf einen leeren Bürostuhl zwischen Kalupke und Nora Martini. »Vielleicht kannst du uns ja auch frischen Wind in die Diskussion pusten. Die hat sich nämlich gerade ein bisschen verhakt.«

Ich setzte mich brav und schaute sie neugierig an.

Nora Martini räusperte sich. Ihre lebendigen Augen funkelten. Sie strich sich eine weiße Haarsträhne aus der Stirn, blickte kurz zu Rita, die ihr mit einer kurzen Handbewegung signalisierte, dass sie nichts dagegen hätte, wenn sie es übernähme, mich aufs Laufende zu bringen.

»Über das, was geschehen ist, weißt du im Wesentlichen Bescheid, nehme ich an«, begann sie, »du hast ja Ritas Artikel gelesen. Dort wird doch dieser junge Asylant Michel erwähnt.«

Ich nickte.

»Den Namen Michel habe ich von der Polizei«, unterbrach Rita sie. »Der heißt wirklich so.«

»Dieser junge Asylant aus Burkina Faso also steht unter Verdacht, etwas mit der Brandstiftung zu tun zu haben«, setzte Nora ihre Ausführungen fort.

»Aber er war es doch, der die Kinder gerettet hat!«, warf ich ein.

»Und steht jetzt als Held da«, mischte sich Susanne mit bedrückter Stimme ein.

»Ja ist er das denn nicht?«, platzte ich heraus. Allmählich zweifelte ich am gesunden Menschenverstand meiner Kolleginnen. »Wer kommt denn auf so einen blödsinnigen Verdacht?«

»Die Polizei«, sagte Nora ruhig und lächelte mich fast dankbar an. »Ich bewerte diesen Verdacht übrigens genauso wie du – als ausgemachten Unsinn!«

Ich begriff immer noch nicht. »Dieser Michel hat doch überhaupt kein Motiv!«

»Vielleicht schon.«

Susanne Friedle stand auf und begann im Raum auf und ab zu gehen. Ihr Pferdeschwanz wippte rhythmisch – besonders, wenn sie die Laufrichtung änderte.

»Er könnte seinen Auftritt doch inszeniert haben. Nehmen wir einmal an, der Verdacht der Polizei trifft zu. Er legt Feuer, schlägt Alarm, holt die Kinder raus – hat sich vorher schon mal den Rettungsweg überlegt, die Feuerleiter gesehen. Seit Tagen geht er ja immer wieder daran vorbei. Er weiß, dass die Feuerwehr bald sowieso zum Löschen kommt, also ist niemand ernsthaft in Gefahr, er ist als erster am Brandherd, setzt sich ein, wird von den Medien gefeiert …«

Rita brauste auf und unterbrach sie unwirsch. »Lass doch diese Spekulationen, Susanne! Wir sollten von den Fakten ausgehen.«

Nora Martini wandte sich wieder zu mir und erklärte: »Noch in der Nacht wurde Michel im Polizeiwagen vernommen. Da entdecken die Beamten ein Päckchen Kaminanzünder, das aus seiner Jackentasche herausblitzte. So weiße Tabletten aus Trockenspiritus, du weißt schon. Darauf angesprochen, sagt er aus, er habe das Päckchen auf dem Boden zwischen Turnhalle und Schulgebäude gefunden, einfach aufgehoben und eingesteckt.«

»Reste derselben Kaminanzünder hat die Spurensicherung im Foyer sichergestellt – als Brandbeschleuniger«, schaltete sich Kalupke mit wichtiger Miene ein. »Der Karton lag angekohlt in einer Ecke hinter der Tür.«

»Mit diesen Dingern kann man doch kein Haus anzünden«, lachte ich erregt auf. »Das klappt ja kaum bei einem Kaminfeuer. Bis da was brennt, da brauchst du schon kunstvoll aufgeschichtete Holzspäne und viel, viel Geduld.«

»Hier spricht offenbar der Fachmann«, versetzte Rita spöttisch. »Aber ich kann dich beruhigen. Hauptsächlich hat der Brandstifter mit Benzin gearbeitet, aus einem Kanister überall im Foyer verteilt, dann wohl eine dieser Spiritustabletten angezündet und in eine Benzinlache hineingeworfen, von der Tür aus, die er ganz bewusst nicht wieder geschlossen hat, damit das Feuer Luft bekommt.«

»Aber dieser junge Asylant kann doch die Wahrheit gesagt haben!«, rief ich aus, immer noch aufgebracht.

Nora nickte mir wieder lächelnd zu und wies mit offener Hand in meine Richtung. Sie wollte mit dieser Geste wohl klar machen, dass ich sie in ihrer Auffassung gerade bestätigte. Susanne dagegen zog ihre Stirn kraus.

Ihre meergrünen Augen blitzten mich an. »Warum hat er dann nicht den Einsatzleiter auf den Fund angesprochen, der gleich danach mit ihm gesprochen hat? Warum nicht die Polizei, als sie ihn zur Vernehmung führte, warum hat er dieses Päckchen Brandbeschleuniger einfach eingeschoben? Kann mir das bitte mal jemand erklären?«

»Mein Gott, bei all dem Trubel!«, rief ich aus. »Er hatte, weiß Gott, anderes im Kopf, als an dieses dumme Päckchen zu denken, von dem er wahrscheinlich gar nicht wusste, was drin war! Es ging um die Rettung der eingeschlossenen Kinder!«

»Die Polizei hat auch noch einen anderen Hinweis, der ihn belastet«, warf Kalupke ein. »Aber den hat sie uns leider nicht mitgeteilt – aus ermittlungstechnischen Gründen.«

»Und jetzt stellen wir uns die Frage, ob wir in der Ausgabe morgen von den Verdachtsmomenten gegen den jungen Asylanten berichten sollen«, fasste Rita mit bedrückter Stimme zusammen.

»Was dann los ist, kannst du dir vorstellen!«, rief Nora entrüstet.

Mir verschlug es die Sprache. Mit einem Mal konnte ich meine Kolleginnen verstehen. Schlimmer noch: Ich saß in derselben Patsche wie sie. Mein Chef erwartete einen Beitrag für die Landesschau heute Abend. Für heute Nachmittag hatte ich den Sendewagen zum Schulzentrum bestellt. Ich wollte den beherzten Retter in einem Interview vorstellen, hatte mir schon eine Dolmetscherin besorgen lassen. Konnte ich dieses Gespräch durchführen ohne den Verdacht zu erwähnen? Ich müsste ja auch dem Sprecher der Polizei Gelegenheit zu einer Stellungnahme geben!

Nora unterbrach die beklommene Stille, die sich ausgebreitet hatte. »Jetzt bleiben wir doch einmal alle schön auf dem Teppich. Dass der junge Asylant etwas mit der Brandstiftung zu tun hat, ist doch nur ein sehr vager Verdacht. Warum gehen wir nicht einfach davon aus, dass seine Aussage zutrifft und er wirklich das Zeug nur aufgelesen und eingesteckt hat? Im Übrigen gilt doch: ›im Zweifel für den Angeklagten‹! Das ist ein alter Rechtsgrundsatz. Wenn wir das einfach so berichten, entspricht es genau dem, wie sich der Fall uns zurzeit stellt, wir verschweigen nichts und brauchen deshalb den Verdacht der Polizei auch gar nicht zu erwähnen. Wir bewerten dieses weiße Päckchen in seiner Tasche eben anders, nämlich als ein völlig nebensächliches Detail.«

»Aber alle werden doch mehr von diesem Michel aus Burkina Faso hören wollen«, rief Susanne in den Raum. »Können wir ihn denn als Held aufbauen und uns dann von der Polizei eines Besseren belehren lassen?«

»So kommen wir nicht weiter. Wir müssen dringend Zeit gewinnen«, versuchte Rita die Gemüter zu beruhigen. »Mein Artikel für morgen steht. Es gibt ja auch noch die anderen Asylbewerber, die an der Rettung der Kinder beteiligt waren. Dann stellen wir eben die in den Vordergrund!«

»Es wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben«, seufzte ich auf und ging in Gedanken schon meinen Bericht für die Landesschau durch. Aber was los wäre, wenn der Verdacht der Polizei gegen den jungen Asylanten zuträfe, das wollte ich mir gar nicht ausmalen.

Montag 28.11., nachmittags

»Wenn du willst, nehm ich dich mit.«

Rita wies auf ihr rotes Sportcabriolet auf dem Parkplatz vor dem Redaktionsgebäude, einen Alfa Romeo aus den Achtzigerjahren, ein Traumauto aus meiner Jugendzeit. Seit ich ab und zu bei ihr mitfahren durfte, hatte sich die Begeisterung allerdings etwas gelegt. Ich war ja auch deutlich größer geworden.

Obwohl ich ihren Fahrstil zur Genüge kannte, nickte ich hocherfreut und zwängte mich durch die Beifahrertür auf den schmalen Sitz tief unten im Chassis. Dann sah ich plötzlich nur noch grüne Sterne und ein stechender Schmerz klopfte in meinem Schädel. Ich hatte wohl die Höhe der Türöffnung überschätzt. Stöhnend rieb ich meinen Kopf und begann meine Beine nachzuziehen. Wenn ich auf der Schiene ganz nach hinten fuhr, brachte ich sie in diesem Schlitten einigermaßen unter.

»Du Armer, tut’s noch sehr weh?«

»Geht schon«, murmelte ich und ärgerte mich über mein Missgeschick.

Trotz ihrer Körperfülle saß Rita längst hinter dem Lenkrad und schaute belustigt zu mir rüber. Als ich meinen Gurt endlich eingeklickt hatte, brauste sie los.

Unterwegs fasste sie die Diskussion zusammen: »Bisher gibt es für die Polizei anscheinend nur einen Verdächtigen, was natürlich noch gar nichts heißt. Susanne und Kalupke halten es ebenfalls für möglich, dass dieser Asylbewerber den Brand tatsächlich selbst gelegt hat, und haben sich dieses merkwürdige Tatmotiv zusammengebastelt: Michel hätte durch einen fingierten Rettungseinsatz Punkte für sein Anerkennungsverfahren sammeln wollen. Nora hält das für blanken Unsinn, das hast du ja selbst gehört, und du scheinst ja auf Noras Linie zu liegen.«

»Was ist eigentlich mit dir?«, unterbrach ich sie.

Rita trat aufs Gaspedal und witschte bei Spätgelb über die Kreuzung. »Ich bin mir da nicht mehr so sicher, weiß ja auch nicht, was die Polizei noch sonst gegen ihn in der Hand hat. Aber ganz gleich, wer Recht hat – wir müssen höllisch aufpassen, wenn wir den Pressesprecher der Polizei interviewen. Wir sollten auf jeden Fall ein ausführliches Vorgespräch mit ihm führen. Vielleicht lässt er was raus, wegen des anderen Hinweises.« Hastig fügte sie an: »Du hast ihn doch dazu gebeten?«

»Ja klar«, beruhigte ich sie und sah auf meine Armbanduhr. Viertel vor zwei. Sicherheitshalber hatte ich mit dem Polizeisprecher den Termin erst um halb vier ausgemacht. Blieb noch genügend Zeit, sich vor Ort gründlich umzusehen.

»Und da ist noch was«, gab sie mir zu verstehen, als wir auf den Parkplatz zum Schulzentrum einbogen. »Dieser Michel hat vermutlich noch keine Ahnung, dass ihn die Polizei verdächtigt. Wir dürfen ihn deshalb auch nicht darauf ansprechen.«

Das war ja tatsächlich recht verzwickt. Da gäbe es endlich eine prächtige Story und dann überall diese Fußangeln! Nicht unterkriegen lassen, Nils!, sagte ich mir und nahm dankbar zur Kenntnis, dass wir beim Parkplatz des Schulzentrums angekommen waren und ich diese enge Kiste endlich verlassen konnte.

Schon von Weitem fielen uns die großen rotbraunen Container auf. Als wir näherkamen, sahen wir, dass einer von Ihnen schon bis oben mit Brandschutt gefüllt war. An die zwanzig südländisch aussehende junge Männer waren damit beschäftigt, das Foyer des Gymnasiums auszuräumen, kommandiert von einem rüstigen Senior mit wallenden weißen Haaren und imposantem Vollbart. Sie schleppten verkohlte Reste von Schultischen, Brettern und Ausstellungstafeln heraus, wuchteten sie zu den Containern hoch und ließen sie polternd hineinfallen.

Die bereits tief stehende Novembersonne hatte sich durch die dunklen Wolken gezwängt und beleuchtete grell die Szenerie. Der Alte sah uns kommen, schirmte mit seiner Hand das Sonnenlicht ab, das ihn offensichtlich stark blendete, und als er uns erkannt hatte, eilte er freudig herbei. Über seinen dicken Pullover hatte er ein T-Shirt gezogen, mit der Aufschrift: »Jeder ist Ausländer, fast überall auf der Welt.« Das auffällige Kleidungsstück spannte etwas über seinem beachtlichen Bauch, wodurch die Schrift aber desto besser lesbar wurde.

»Heinz Engel!«, begrüßte ich ihn herzlich. »Sie packen hier mit an?«

»Wer loslässt, hat beide Hände frei!«, antwortete er kryptisch, wie es typisch für ihn war. Wie oft hatte er mir schon einen seiner Sprüche an den Kopf geknallt, den ich erst einmal dechiffrieren musste. Aber diesmal verstand ich sofort, was er meinte: Heinz Engel, ewiger Student, dann Taxifahrer in Berlin, Tierpfleger, Seemann, erfolgreicher Werbeunternehmer in den Vereinigten Staaten, reisender Philosoph und Aussteiger – immer da zu finden, wo er gerade gebraucht und nicht erwartet wurde. Er hatte losgelassen, – um sein Leben ganz nach seinen Vorstellungen zu führen. Ich hatte ihn schon vor zwei Jahren kennenglernt, als er uns dabei geholfen hatte, die Bäringer Giftaffäre aufzuklären.

»Ich kümmere mich hier um die Jungs – ehrenamtlich«, erklärte er, strahlte übers ganze Gesicht und rieb sich die Hände. »Gerade sind wir dabei, hier klar Schiff zu machen, damit übermorgen wieder der Unterricht beginnen kann.« Er lachte verschmitzt. »Die Kinder brennen sicher schon darauf – Verzeihung, falscher Begriff – Ton zurück, sie freuen sich schon darauf, endlich wieder in die Schule zu dürfen. Morgen früh kommen die Handwerker. Wollt ihr mal einen Blick hineinwerfen?«

Er wartete unsere Antwort erst gar nicht ab, drehte sich um und stiefelte voraus. Wir folgten fünf Schritte hinter ihm.

Die angekohlten Eingangstüren waren ausgehängt. Stattdessen baumelte rechts und links ein dicker Vorhang herab, auf die Seiten zurückgeschlagen und notdürftig mit Seilen zusammengerafft.

»Glücklicherweise ist es zurzeit nicht kalt, aber nachts gehen die Temperaturen deutlich runter«, erklärte Engel, als er uns am Eingang erwartete. »Die Türen da müssen weg, die sind nicht mehr zu retten. Für meine Jungs sind sie aber zu schwer. Die müssen fachmännisch entsorgt werden. Das macht morgen der Bauhof. Die rücken mit Motorsägen an.«

Wir machten zwei jungen Asylanten Platz, die verrußte Deckenbretter an uns vorüber zu den Containern trugen. Innen im Schulhaus-Foyer schlug uns ein scharfer Geruch nach Brandschutt entgegen.

»Das wird sich wohl noch wochenlang halten«, meinte Engel, der uns spöttisch betrachtete, als wir die Nase rümpften. »Aber morgen kommen die Maler, dann stinkt’s wenigstens sauberer.«

Die Wände ringsum waren mit einer schmierigen Rußschicht überzogen, angekohlte Deckenverkleidung lag abgerissen am Boden, fertig zum Abtransport. Leitern und ein kleines Malergerüst lehnten an der Wand. Trotzdem – ich hatte mir den Schaden irgendwie spektakulärer vorgestellt.

Rita verzichtete darauf zu fotografieren. »Die Motive draußen sind besser, vor allem auch vom Aussagewert. Ich seh’ schon die Schlagzeile: ›Erneuter Einsatz der Asylanten zum allgemeinen Wohl‹.«

Engel wies uns mit einer seitlichen Kopfbewegung und Augenzwinkern auf zwei Personen im Obergeschoss hin, die gerade dabei waren, die Treppen zu uns hinabzusteigen. Eine resolute, trotz angegrauten Haaren jugendlich wirkende Dame in anthrazitfarbenem Hosenanzug und kurz geschnittener Frisur redete erregt und gestenreich auf einen gemütlich wirkenden Endfünfziger ein.

»Die Schulleiterin und der Brandmeister«, raunte uns Engel zu und verzog leicht die Mundwinkel zu einem angedeuteten Grinsen. Dann fügte er laut hinzu: »Ich darf Sie dann hier allein lassen und mich wieder auf den Weg zu meinen Jungs machen?«

Als sie Engel vernahm, blickte die Schulleiterin mit hochgezogenen Augenbrauen zu uns herab, während sie an der Seite ihres Begleiters auf uns zuschritt.