Spenser und der Graue Mann - Robert B. Parker - E-Book

Spenser und der Graue Mann E-Book

Robert B Parker

4,8

Beschreibung

Melissa Henderson wird brutal ermordet. Sie ist College-Studentin, aus gutem Elternhaus und weiß. Verdächtiger ist Ellis Alves: schwarz, mehrfach wegen Vergewaltigung vorbestraft und gewalttätig. Für die Justiz ein ganz klarer Fall. Alves landet hinter Gittern. Einige Monate später plagen die damals zuständige Staatsanwältin Rita Fiore Zweifel an der Richtigkeit des Urteils. Sie beauftragt Spenser, den Fall neu aufzurollen. Für den Detektiv zunächst ein ganz normaler Job. Doch dann stößt er auf zu viele Ungereimtheiten und eine Spur führt ihn in die obersten gesellschaftlichen Kreise von Boston. Plötzlich taucht ein grau gekleideter Mann auf, der Spenser vor die Wahl stellt: Entweder er lässt den Fall ruhen oder sein und Susans Leben sind in Gefahr. Die deutsche Erstausgabe erschien unter dem Titel "Der graue Mann". Für die Neuausgabe wurde die Übersetzung überarbeitet.

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Robert B. Parker

Spenser und der graue Mann

Robert B. Parker wurde 1932 geboren. Nach seinem M.A. in amerikanischer Literatur promovierte er 1971 über die „Schwarze Serie“ in der amerikanischen Kriminalliteratur. Seit seinem Debüt „Spenser und das gestohlene Manuskript“ im Jahr 1973 sind fast 40 Spenser-Krimis erschienen. 1976 wurde Parkers Roman „Auf eigene Rechnung“ von der Vereinigung amerikanischer Krimi-Autoren mit dem „Edgar Allan Poe Award“ als bester Kriminalroman des Jahres ausgezeichnet. Robert B. Parker verstarb 2010.

Infos zum Autor unter www.robertbparker.de

Robert B. Parker

Spenser und der graue Mann

Ein Auftrag für Spenser

Übersetzt von Heidi Zerning

PENDRAGON

Von Robert B. Parker sind bereits folgende „Spenser“-Bändebei Pendragon erschienen:

„Alte Wunden“, „Bitteres Ende“, „Bodyquard für Rachel Wallace“, „Das gestohlene Manuskript“, „Der gute Terrorist“, „Der stille Schüler“, „Die blonde Witwe“, „Drei Kugeln für Hawk“, „Hundert Dollar Baby“, „Kevin Bartlett ist verschwunden“, „Miese Geschäfte“, „Neun Mörder“, „Spenser und das Finale im Herbst“, „Spenser und der grauen Mann“, „Spenser und der Preis des Schweigens“, „Spenser und die brutale Wahrheit“, „Trügerisches Bild“, „Wetten gegen den Tod“, „Wo steckt April Kyle?“.

Auch als eBook erhältlich.

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel „Small Vices“ bei G.P. Putnam’s Sons, New York 1997.

Pendragon Verlag

gegründet 1981

www.pendragon.de

1. Auflage

Veröffentlicht im Pendragon Verlag

Günther Butkus, Bielefeld 2015

© by Robert B. Parker 1997

© für die deutsche Ausgabe

by Pendragon Verlag Bielefeld 2015

Lektorat: Sarah Wiedenhöft, Anja Schwarz

Umschlag und Herstellung: Uta Zeißler, Bielefeld

Foto Umschlag: Elisabeth Botterweck

Satz: Pendragon Verlag auf Macintosh

Gesetzt aus der Adobe Garamond

ISBN: 978-3-865-32429-0

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

1

Bei meiner letzten Begegnung mit Rita Fiore war sie Staatsanwältin gewesen, mit roten Haaren, erstklassigen Hüften und mehr Haltung als eine Panzerechse. Sie hatte in der Bar unten im Parker House mit mir etwas getrunken, sich über die Männer beklagt und mir einen Angeber von der Drogenfahndung namens Fallon vorgestellt, der mir mehr Fragen über den Kokainhandel beantwortete, als ich gestellt hatte. Diesmal waren wir allein, in einem Konferenzraum im 39. Stock des ehemaligen Mercantile Building, mit weitem Blick über die Küste, der im Norden bis Greenland und im Süden bis Tierra del Fuego reichte. Rita Fiore hatte immer noch rote Haare. Sie hatte immer noch die Hüften. Und sie war immer noch härter als Pat Buchanan. Aber sie war nicht mehr Staatsanwältin. Sie war jetzt erste Prozessbevollmächtigte bei Cone, Oakes & Baldwin und Kompagnon dieser Anwaltskanzlei.

„Kaffee?“, fragte sie.

„Gern.“

Ich hielt mich mit Kaffee für munterer als ohne. Also genehmigte ich mir jeden Tag einige Tassen, um meinen Puls auf Trab zu bringen. Diese wäre an dem Tag bereits meine dritte, aber mein Puls war immer noch träge. Rita schickte eine Untergebene Kaffee holen, lehnte sich ein wenig in ihrem Sessel zurück und schlug die Beine übereinander. Ihr Rock war ein bisschen zu kurz fürs Büro und ihr Haar ein bisschen zu lang. Ich wusste, dass Rita das wusste, und ich wusste, dass es ihr schnurz war.

„Du kämpfst immer noch an vorderster Front“, sagte ich.

„Ja, und immer noch mit scharfer Klinge.“

„Das hier schlägt die Aussicht aus dem Bezirksgericht von Dedham“, sagte ich.

„Und ob. Beruflich bin ich verdammt erfolgreich. Aber bin ich verheiratet?“

„Teufel noch mal“, sagte ich. „Wenn ich dir bloß helfen könnte.“

„Du hattest deine Chance.“

Ich grinste.

„Da fällt mir ein alter Witz ein“, sagte ich.

„Den Witz kenne ich“, sagte Rita. „Mach dir nichts draus.“

Die Untergebene kam mit Kaffee in richtigen Tassen, einem Sahnekännchen und einer Zuckerdose zurück, alles auf einem silbernen Tablett. Und alles trug die Initialen der Firma.

„Hält die Klienten davon ab, das Zeug zu klauen“, sagte Rita.

Ich tat Zucker und etwas Sahne in meinen Kaffee und trank einen Schluck. Er war lauwarm.

„Ich dachte, Sie hast geheiratet“, sagte ich.

„Habe ich auch. Zweimal. Beides Nieten.“

„Vielleicht sollten du damit aufhören“, sagte ich.

„Nieten zu heiraten? Ja, sollte ich wohl. Aber wenn ich die Nieten aussortiere, wer bleibt dann zum Heiraten?“

„Eine Frau braucht einen Mann wie der Fisch ein Fahrrad.“

„Wieso ist das der einzige feministische Spruch, den Männer zitieren können?“

„Ich weiß noch einen“, sagte ich, „irgendwas mit Hure des Ehemannes und Sklavin der Kinder. Richtig?“

Rita lächelte.

„Kannst du vielleicht einfach die Klappe halten?“

„Klar.“

Rita trank einen Schluck von ihrem Kaffee und verzog das Gesicht.

„Limoges-Porzellan auf einem Silbertablett, aber sie kriegen’s nicht hin, dass der Kaffee heiß ist“, sagte sie.

Ich schaute aus dem Fenster. Das Meer war an dem Tag grau und der weite Himmel hatte die gleiche Farbe, so dass der Horizont schwer auszumachen war und Meer und Himmel sich einfach in der Ferne verloren. Ich konnte die Bugwelle eines nahezu unsichtbaren Motorbootes erkennen, das gerade eine der Bojen zur Markierung der Fahrrinne im Außenhafen passierte.

„Vor etwa anderthalb Jahren, als ich noch Staatsanwältin war, hatten wir den Fall eines Typen namens Ellis Alves. Angeklagt des Mordes an einer Studentin vom Pemberton College namens Melissa Henderson.“

„Ich erinnere mich“, sagte ich. „Du hast damals einen Schuldspruch erreicht.“

„Ja, eine ungeheure Leistung, nicht? Er ist schwarz und hat zwei Vorstrafen wegen Vergewaltigung. Sie ist weiß und studiert am renommierten Pemberton. Vater besitzt acht Banken. Großvater war mal Wirtschaftsminister.“

„Und?“

„Ich habe das getan, wofür ich bezahlt worden bin. Ich habe ihn angeklagt. Ich habe gewonnen. Ellis sitzt jetzt in Cedar Junction. Lebenslänglich.“

„Gut gemacht, Rita.“

„Eine leichte Übung. Er hatte eine Pflichtverteidigerin, die erst ein Jahr vorher Examen gemacht hatte, in Yale, glaube ich. Ein Mädchen namens Marcy Vance. Ein ernsthaftes Mädchen. Talbots-Kostüme. Nur ein bisschen Lippenstift. Hatte wahrscheinlich mehr Ahnung vom Recht als ich je haben werde. Hatte aber null Ahnung von Strafverteidigung. Mit ihr als Verteidigerin hätte ich den Weihnachtsmann eingebuchtet.“

Sie trank ihren Kaffee aus und stellte die Tasse beiseite.

„Du rauchst nicht mehr“, sagte ich.

„Die Nikotinpflaster haben gewirkt. Ich bin jetzt dreieinhalb Jahre davon los.“

„Gut“, sagte ich.

„Kann dir doch egal sein“, sagte Rita. „Du liebst Susan.“

„Das ist wahr“, sagte ich. „Aber ich leide nicht an Monomanie.“

„Gut zu wissen“, sagte Rita. „Jedenfalls, mir gefiel der Fall nicht, aber er musste erledigt werden. Also habe ich ihn erledigt. Währenddessen habe ich mich hier beworben und ein paar Wochen, nachdem ich Ellis ins Cedar Junction gebracht hatte, habe ich hier die Arbeit aufgenommen und angefangen, Kaffee aus Porzellantassen zu trinken.“

„Und?“

„Ja, und wer taucht letztes Frühjahr hier auf, mit mehr Makeup, aber immer noch in Talbots-Kostümen? Meine alte Gegnerin, Marcy Vance. Und sobald wir erneut miteinander Bekanntschaft gemacht haben, setzt sie mir zu wegen Ellis Alves. Ihm sei das alles untergeschoben worden. Sie sei zu unerfahren gewesen, um ihn angemessen zu verteidigen. Er sei ein Opfer von Rassendiskriminierung geworden.“

„Glauben Sie ihr?“

„Ich glaube, Alves wurde saumäßig verteidigt. Ich glaube, es ist leicht, die Verurteilung eines Schwarzen zu erreichen, dessen Opfer reich, weiß und weiblich ist.“

„Glaubst du, er war unschuldig?“

„Die meisten Leute, die ich angeklagt habe, waren’s nicht.“

„Stimmt“, sagte ich.

„Aber Marcy sagt, er hat’s nicht getan. Sie gibt offen zu, dass er ein schlimmer Finger und wohl so was wie ein Berufsverbrecher ist und wahrscheinlich viele andere Sachen auf dem Gewissen hat. Aber sie sagt, mit dem Henderson-Mädchen hatte er nichts zu tun.“

„Wenn sie recht hat, heißt das, jemand anders hat’s getan. Und ist ungeschoren davongekommen.“

„Ja.“

Wir schwiegen. Das Motorboot war inzwischen außer Sichtweite, irgendwo draußen in der Bucht. Der graue Himmel schien sich herabgesenkt zu haben, und die Sicht hatte während unseres Gesprächs beträchtlich abgenommen.

„Meinst du, sie hat recht?“

„Ich bin mir nicht sicher, ob sie unrecht hat.“

„Aha“, sagte ich. „Also geht es hier um mehr als nur die Chance, mir deine Beine zu zeigen und mich daran zu erinnern, was ich verpasst habe.“

„Das ist natürlich meine Hauptabsicht, aber die Kanzlei ist außerdem bereit, dich zu beauftragen, auf unsere Kosten die Angelegenheit Ellis Alves zu untersuchen.“

„Und wenn ich herausfinde, dass er es nicht getan hat?“

„Dann wären wir sehr froh, wenn du ermitteln würdest, wer es war.“

„Das muss ich wahrscheinlich sowieso“, sagte ich. „Es ist der sicherste Weg, zu beweisen, dass er’s nicht getan hat.“

„Dazu möchte ich eines klarstellen“, sagte Rita. „Die Kanzlei beauftragt dich nicht damit, den Kerl rauszupauken. Die Kanzlei beauftragt dich damit, die Wahrheit festzustellen.“

„Du bist mir eine schöne Anwältin“, sagte ich.

Rita lächelte.

„Ich weiß, mir ist dabei auch nicht ganz wohl“, sagte sie. „Aber so sieht es nun mal aus.“

„Gut, okay, wenn du so dazu stehst“, sagte ich.

Rita nahm einen dicken Umschlag von ihrem Schreibtisch und reichte ihn mir.

„Die Prozessprotokolle“, sagte sie.

„Ich werde sie lesen“, sagte ich. „Wenn auch ungern. Und wahrscheinlich muss ich mit Marcy reden. Und dann muss ich mit Ellis reden. Was hat Ellis für eine Meinung von den Weißen?“

„Er meint, dass einige von ihnen ihn lebenslänglich ins Gefängnis gebracht haben.“

Ich nickte.

„Wäre besser, wenn ich hier mit ihm reden kann“, sagte ich.

„Wieso?“

„Bring ihn her, setz ihn in einen Konferenzraum, stell ihm ein anständiges Essen hin, lass Hawk mit dabei sein. Schuldet dir jemand von der Strafvollzugsbehörde einen Gefallen?“

„Hawk?“

„Könnte die Schwarz-weiß-Geschichte ein bisschen entschärfen.“

„Ja, ich kann es so einrichten. Er wird wahrscheinlich gefesselt bleiben müssen.“

„Nur Fußeisen“, sagte ich. „Und keine Wärter im Zimmer.“

„Ellis ist ein ziemlich gefährlicher Typ“, sagte Rita.

„Die Wärter können direkt draußen vor der Tür stehen“, sagte ich.

„Ja … Ist Hawk eigentlich mit irgendjemandem zusammen?“

„Immer, und nie für lange“, sagte ich. „Ich glaube, er ist kein Material für einen Ehemann.“

„Nein“, sagte Rita. „Ist er nicht. Aber gut für ein tolles Wochenende. “

„Das habe ich auch über dich gehört“, sagte ich.

„Ist wahr? Wo?“

„Ich glaube, es stand mit Bleistift an der Wand einer Ausnüchterungszelle im Dedham-Gefängnis“, sagte ich.

Rita grinste.

„Und das Traurige ist, ich hab’s hingeschrieben.“

2

„Ich muss zugeben“, sagte Marcy Vance zu mir, „es war zum großen Teil meine Schuld.“

Wir saßen auf Barhockern an einem Stehtisch in einem Sandwichrestaurant in der State Street und schauten in die Mittagskarte.

„Wie das?“, fragte ich.

„Haben Sie die Protokolle gelesen?“, fragte sie.

Ich nickte.

„Er wollte mit einem Schuldgeständnis auf ein milderes Urteil hinaus“, sagte Marcy. „Ich habe ihm gesagt, nein. Wenn er unschuldig ist, müssen wir kämpfen. Er hat gesagt, die würden ihn sowieso verurteilen. Ich wollte ihm beweisen, dass er Unrecht hat, dass das System funktioniert. Ich habe ihn sogar in den Zeugenstand gerufen. Er ist ziemlich einsilbig und kann sich nicht gut ausdrücken, aber ich habe an seine Unschuld geglaubt und war überzeugt, die Wahrheit kommt immer ans Licht.“

„Alle fangen mal jung an“, sagte ich.

Ich zog das Clubsandwich mit viel Mayo in Erwägung.

„Ich habe jünger angefangen als die meisten“, sagte sie.

Sie war groß und schlank und immer noch jünger als die meisten. Noch keine 30, mit heller Haut, grünen Augen und glatten, braunen, praktisch geschnittenen Haaren. In ihrem Gesicht ließen sich Sommersprossen erahnen, die keine Sonnenbräune je zu vollem Glanz erweckt hatte. Sie hatte große Hände mit langen Fingern. Sie trug keinen Schmuck, und ihr einziges Make-up war farbloser Lipgloss.

„Außerdem habe ich im Kreuzverhör einem der Detectives eine Frage gestellt, die es ihm ermöglichte, das Vorstrafenregister von Ellis zu erwähnen. Der Richter hat es zugelassen. Er meinte, wenn ich Fragen stelle und mir die Antworten nicht ausmalen kann, dann muss ich mit den Folgen leben.“

„Nur dass es Ellis ist, der damit leben muss.“

„Ja.“

Es gab ein ehernes Gesetz: Wenn ich ein Clubsandwich aß, landete immer ein Teil auf meinem Hemd. Die Frage war nur, ob mir das etwas ausmachte oder nicht. Im Moment hing es damit zusammen, wie ich zu Marcy stand. Was ich noch nicht entschieden hatte.

„Warum glauben Sie, dass er unschuldig ist?“

„Er hat es gesagt. Ich habe ihm geglaubt.“

„Das ist alles?“

„Und die Tat passt nicht zu ihm. Die Frauen, die er bisher vergewaltigt hat, waren schwarze Frauen aus seinem Viertel. Der Rest seines Vorstrafenregisters ist aus einem Guss. Straßenkriminalität, Nötigung, unerlaubtes Tragen einer Waffe, solche Sachen, alles im Umkreis der Ruggles Station.“

Die Kellnerin hatte es eilig. Sie wollte nicht abwarten, bis ich meine Gefühle für Marcy taxiert hatte. Marcy bestellte Mohrrübensuppe. Ich ging auf Nummer sicher.

„Schinken auf Roggenmischtoast, Senf“, sagte ich. „Als Beilage Krautsalat. Koffeinfreien Kaffee.“

Die Kellnerin stürzte auf flachen Absätzen davon und knallte unsere Bestellung auf den Tresen. Dort lagen ungefähr schon zehn weitere Bestellzettel.

„Hat Ellis ein Auto?“, fragte ich.

„Nein.“

„Hat er eine Kreditkarte?“

„Weiß ich nicht. Wieso?“

„Mit Kreditkarten hätte er ein Auto mieten können. Ohne ist es schwer.“

„Daran habe ich nie gedacht …“, sagte sie.

Die Kellnerin kam hastig zurück. Stellte einen weißen Becher mit Koffeinfreiem vor mir und eine Cola Light vor Marcy auf den Tisch.

„Wäre gut zu wissen, wie er nach Pemberton rausgekommen ist“, sagte ich.

„Er sagt, er war nicht da.“

„Wäre gut zu wissen, wo er war.“

„Er sagt, er war bei einer Frau, weiß aber nicht mehr, wie sie heißt oder wo sie wohnt. Er kann sich nicht erinnern. Sie haben getrunken.“

„Ein Wahnsinnsalibi“, sagte ich.

„Meinen Sie nicht, wenn er’s getan hätte, hätte er ein besseres gehabt?“

„Nicht unbedingt. Nicht jeder im Knast ist eine Intelligenzbestie.“

Ich trank einen Schluck Kaffee. Er war genauso gut wie koffeinhaltiger. Oder fast genauso. Wenigstens war er heiß.

„Was hat Ellis in dem Fall am meisten belastet?“, fragte ich.

„Zwei Augenzeugen erkannten ihn bei einer Gegenüberstellung wieder.“

„Zwei?“

„Ja, eine Pemberton-Studentin und ihr Freund. Sie sagten, sie hätten gesehen, wie er Melissa Henderson unweit vom Campus in ein Auto gezerrt hat.“

„Haben sie die Polizei benachrichtigt?“

„Nein, da noch nicht“, sagte Marcy. „Sie hielten das für den Streit eines Liebespärchens und sie wollten nicht rassistisch wirken, verstehen Sie, ein Schwarzer und eine Weiße.“

„Was eine rassistische Überlegung war“, sagte ich.

Marcy runzelte die Stirn, schien befremdet und sah aus, als ob sie widersprechen wollte. Sie begnügte sich mit einem Achselzucken.

„Aber sie haben sich gemeldet, nachdem Melissa ermordet aufgefunden wurde“, sagte ich.

„Ja. Sie gingen zur Polizei von Pemberton und berichteten, was sie gesehen hatten.“

„Wie ist die Polizei auf Ellis gekommen?“

„Die Polizei von Pemberton bekam einen anonymen Hinweis.“

„Also haben sie sich Ellis gegriffen und eine Gegenüberstellung durchgeführt, und die beiden Zeugen erkannten ihn.“

„Ja.“

Die Kellnerin hetzte wieder an den Tisch, stellte eine Mohrrübensuppe für Marcy ab und ein Schinkensandwich für mich. Neben dem Sandwich stand ein kleiner Pappbecher mit Krautsalat auf dem Teller. Marcy bekam zu ihrer Suppe ein Minibrötchen.

„Ich muss Ihnen noch etwas sagen“, meinte Marcy. „Irgendwie hat mich Ihr Kommentar getroffen, warum die Augenzeugen nicht die Polizei geholt haben, dass das eine rassistische Denkweise war.“

„Tief in Ihrem Herzen haben Sie Ellis für schuldig gehalten“, sagte ich. „Also haben Sie es überkompensiert, weil Sie wussten, dass Sie da einen unreinen rassistischen Gedanken hegten.“

„Wie sind Sie darauf gekommen?“

„Ich bin ein erfahrener Detektiv“, sagte ich.

„Ich hatte Angst vor ihm.“

„Wahrscheinlich aus gutem Grund“, sagte ich.

„Vielleicht, aber ich habe mich dafür geschämt. Nein, ich schäme mich immer noch.“

„Sie haben’s mir ja gestanden“, sagte ich. „Vielleicht hilft das. Haben Sie eine Privatnummer, falls ich Sie außerhalb der Dienstzeit erreichen muss?“

„Ja. Ich habe sie Ihnen aufgeschrieben. Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich nicht über mich lustig machen würden.“

„Tut mir leid“, sagte ich. „Das ist ein Charakterfehler von mir. Ich mache mich über fast alles lustig.“

Sie gab mir ein Stück gelbes liniertes Papier, auf das sie mit zartlila Filzstift ihren Namen, ihre Adresse und ihre Telefonnummer geschrieben hatte. Vielleicht war Marcy aufregender als sie aussah.

3

Ich war der einzige Weiße weit und breit und saß auf der Seaver Street, unweit vom Zoo, in einem Streifenwagen mit einem Polizisten namens Jackson, dem Kontaktbereichsbeamten für den zweiten Distrikt. Er war ein langsamer, ruhiger, stämmiger Mann mit grauem Haar. Er hatte eine dieser tiefen Bassstimmen, die allem Gesagten Gewicht verleihen, obwohl er nicht so redete, als wäre ihm das bewusst.

„Ellis hat die gleiche Geschichte wie die meisten Kids, die Sie hier sehen“, sagte Jackson. Er machte eine elegante umfassende Handbewegung.

„Seine Mutter ist ungefähr 15 Jahre älter als er. Sie und er wohnen bei ihrer Mutter, seiner Großmutter. Keiner von ihnen arbeitet. Weiß nicht, wer der Vater ist. Mutter nimmt Drogen, weil sie sonst nichts hinbekommt. Großmutter macht, was sie kann. Was nicht viel ist. Sie hat nichts gelernt. Sie hat kein Geld. Sie weiß nicht, wer der Vater von ihrer Tochter ist. Als Ellis geboren wurde, war seine Großmutter um die 32. Ellis geht nicht oft in die Schule. Zu Hause ist offenbar niemand dazu fähig, morgens früh genug aufzustehen, um ihn hinzuschicken. Er wird Mitglied in einer Gang, sobald sie ihn nehmen. Bleibt eine Weile bei der Hobart-Gang. Als er erwachsen ist, ist seine Laufbahn vorgezeichnet. Körperverletzung, Drogenhandel, kleinere Diebstähle. Zur Entspannung vergewaltigt er Frauen. Jeder, den er in seinem ganzen Leben kennengelernt hat und der erfolgreich ist, macht genau das Gleiche. Jemand wie Michael Jordan könnte genauso gut vom Mars kommen.“

„Meinen Sie, dass er die Frau in Pemberton erledigt hat?“

„Kann sein. Ist mir ziemlich egal. Er ist, wo er hingehört. Von mir aus braucht er nie wieder rauszukommen.“

„Seine Anwältin meint, es wurde ihm angehängt, weil er schwarz ist.“

Jackson zuckte die Achseln.

„Kann gut sein. Kommt oft vor. Weil er schwarz ist. Weil er arm ist. Beides für sich ist schlecht. Beides zusammen ist sehr schlecht.“

Ich sah zu, wie die Kids auf dem Bürgersteig an mir vorbeiliefen. Sie sahen nicht viel anders aus als alle anderen Kids. Sie waren so angezogen, wie es sich unter ihnen gehörte. Die Klamotten in Übergrößen, Sportschuhe, Baseballmützen verkehrt herum oder seitwärts auf. Die meisten versuchten selbstbewusst zu wirken. Die meisten von ihnen taten nur so. Alle waren ein bisschen von der Geschwindigkeit überfordert, mit der die Welt über sie herfiel. Aber diese Kids waren nicht wie andere Kids, und ich wusste es. Diese Kids hatten keine Chance. Und sie wussten es.

Jackson beobachtete mich, wie ich mir die Kids ansah.

„Das stinkt, wie?“, sagte er.

„Ja, das stinkt, und zwar schon ziemlich lange“, sagte ich.

„Vor ein paar Wochen war ich bei einer Diskussionsveranstaltung“, sagte Jackson. „Irgendein Politiker hielt es für eine gute Idee, ein paar einflussreiche Leute zusammenzuholen und darüber zu reden, wie man die Kinder retten kann. Hat mich gebeten vorbeizukommen und vielleicht ein paar Fragen zu beantworten.“

„Lassen Sie mich raten“, sagte ich. „Wie viele von denen waren im Ghetto aufgewachsen?“

„Nur ich“, sagte Jackson. „Alle sind weiß. Alle sind der Meinung, dass die Eltern sich mehr kümmern müssen. Sie sagen, sie hatten in der Schule alle mit Problemen zu kämpfen. In Marblehead haben die Schüler die Pulte bekritzelt, und in Newton haben sie unanständige Wörter an die Toilettenwände geschrieben.“

„Da ist aber dringend polizeiliche Präsenz erforderlich“, sagte ich.

„Und den ganzen Abend über benutzt keiner das Wort schwarz oder das Wort Latino. Als ob da keine Rassengeschichte läuft. Als ob in der Innenstadt nur weiße angloamerikanische Kids rumlaufen und ’ne Eisdiele suchen. Also sage ich, hören Sie schon auf, Innenstadt zu sagen, wenn Sie schwarz meinen. Und hören Sie bloß endlich auf, von den Eltern zu reden. Die Kids in der lnnenstadt haben die üblichen biologischen Angehörigen. Aber meistens haben sie keine Eltern. Meistens ist ihre einzige Familie die Gang, und das Einzige, was sie sich verschaffen können, ist Respekt. Und das Einzige, womit sie sich den verschaffen können, ist Mut und eine Wumme.“

„Das Ganze macht einen müde, wie?“

„Ich bin’s gewohnt.“

„Wenigstens haben sie die richtigen Fragen gestellt“, sagte ich.

„Aber sie fragen nicht die richtigen Leute“, sagte Jackson.

„Zum Teufel“, sagte ich, „selbst wenn …“

Jackson nickte.

„Ja. Das Einzige, was hilft, ist, wenn die Menschen sich ändern.“

„Meinen Sie, die werden sich ändern?“

„Bin jetzt seit 34 Jahren Polizist“, sagte Jackson.

„Mhh.“

Wir schwiegen. Es war der zweite Montag nach dem Labor-Day, und die Kids, die zur Schule gingen, mussten wieder hin. Es war ein trockener Sommer gewesen, aber es versprach ein regnerischer Herbst zu werden. Seit fünf Tagen drohte ein Wetterumschwung, und jeder Tag wirkte regenschwerer als der vorherige. Die Fernsehmeteorologen überschlugen sich fast.

„Machen Sie sich über ihn bloß keine romantischen Illusionen“, sagte Jackson. „Ellis ist ein übler Typ. Vielleicht hatte er in der Hinsicht keine große Wahl, aber das heißt nicht, dass er kein schlimmer Mensch ist. Wenn Sie ihn frei kriegen, tun Sie ihm vielleicht einen Gefallen. Aber Sie helfen niemandem sonst. Und ihm wahrscheinlich auch nicht. Wenn Sie ihn aus dem Bau holen, geht er irgendwann wieder rein.“

Ich nickte und betrachtete das Laub, das immer noch grün war und sich ahnungsvoll unter dem verhangenen Himmel bewegte.

„Meinen Sie, Sie können das Verbrechen beseitigen?“, fragte ich.

Jackson gab nur ein abfälliges Geräusch von sich.

„Was tun Sie dann hier?“, fragte ich.

„Ich tue, was ich kann“, sagte Jackson langsam mit seiner tiefen Stimme. „Niemand begeht in diesem Moment an dieser Ecke ein Verbrechen. Und zwar deshalb nicht, weil ich hier bin. Irgendjemand begeht vielleicht irgendwo anders eins, aber im Moment ist diese Ecke okay … Das ist nicht viel. Aber alles, was möglich ist.“

„Mhh.“

Jackson sah mich eine Weile an. Dann nickte er langsam.

„Okay“, sagte er. „Sie auch. Okay.“

Wir schwiegen wieder. Die Straße war jetzt fast leer, als wären alle in den Häusern und würden auf das Unwetter warten.

„Erwarten Sie bloß nicht zu viel von Ellis Alves“, sagte Jackson.

„Ich erwarte gar nichts“, sagte ich.

„Wird auch alles sein, was Sie kriegen“, sagte Jackson.

4

Susan und ich saßen in meiner Wohnung zusammen auf der Couch vor dem Apfelholz-Feuer im Kamin. Sie war direkt von der Arbeit gekommen, ohne sich vorher umzuziehen, also hatte sie ein Kleid und hohe Absätze an. Das Kleid war schwarz und schlicht und wurde nur von einer Perlenkette geschmückt. Ihr schwarzes Haar glänzte und roch wie Regen. Ich hatte meinen Arm um sie gelegt, was ich mir nur erlauben konnte, weil Pearl der Wunderhund in dem Sessel am Kamin schlief. Pearl lag auf dem Rücken und hatte die Pfoten in die Luft gestreckt.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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