Spielball Erde - Claus Kleber - E-Book
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Claus Kleber

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Beschreibung

Der beliebteste deutsche Nachrichtenmoderator eröffnet die Debatte über die Neuverteilung der Welt

Der Klimawandel verändert bereits jetzt das Antlitz unseres Planeten massiv. Davon ist »heute journal«-Moderator Claus Kleber überzeugt. Auf der Basis langjähriger Recherchen und aktueller Eindrücke an klimapolitisch brisanten Hotspots skizziert er zusammen mit seiner Koautorin Cleo Paskal die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – mit ihren Siegern und Verlierern.
Extreme Wetterereignisse konfrontieren die komplexen Gesellschaften und ihre hochsensiblen Infrastrukturen mit dramatischen Einbrüchen. Eine eisfreie Arktis eröffnet dem Kampf um Ressourcen neue Dimensionen. So verschieben sich Machtverhältnisse infolge des Klimawandels tiefgreifend. Dass China im Rennen um eine weltweite Vormachtstellung die Poleposition besetzt, belegt Claus Kleber anhand von Indizien, die er rund um den Globus gefunden hat. Sein Buch beschreibt Entwicklungen, die erschrecken, mit denen wir uns aber jetzt auseinandersetzen müssen.

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Seitenzahl: 446

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Claus Kleber · Cleo Paskal

SPIELBALL ERDE

Machtkämpfe im Klimawandel

C. Bertelsmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Redaktion: Angela Andersen, Boston (USA)

Fachlektorat: Dr. Eva Danulat, Hamburg

Lektorat: Eckard Schuster, München

Übersetzungen: Thomas Pfeiffer, Stuttgart

Grafiken: Peter Palm, Berlin

© 2012 by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: buxdesign, München

Bildredaktion: Dietlinde Orendi

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-08777-7 V003

www.cbertelsmann.de

Vorausgeschickt:

Es war Weihnachten 1968, ich ein Junge von dreizehn Jahren. Die Stimme des Astronauten Bill Anders im Fernseher klang verzerrt durch ein kosmisches Rauschen. Der Text war zu anspruchsvoll für mein Schulenglisch, aber ich wusste, dass diese Worte in einer Umlaufbahn um den Mond gesprochen wurden, und ich spürte, was für ein magischer Augenblick es war.

»Gleich wird die Sonne aufgehen über dem Mond«, sagte die Stimme, »und wir, die Crew von Apollo 8, haben eine Nachricht für alle Menschen unten auf der Erde, die wir mit Ihnen teilen wollen.« Nach einer kurzen Pause tauchte dieselbe Stimme wieder aus dem Rauschen auf, eine Lesung begann: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. Gott sprach: Es werde Licht! Und es wurde Licht. Gott sah, dass das Licht gut war. Gott schied das Licht von der Finsternis.«

Wieder füllte Rauschen eine Pause, als Bill Anders die Bibel weiterreichte an Jim Lovell. In unserem Wohnzimmer starrten meine Eltern, mein kleiner Bruder und ich atemlos auf das fast unbewegte Bild, das sich den Astronauten aus ihrer Kapsel bot: die trostlos graue Oberfläche des Mondes, um den sie kreisten. Dann begann erneut die Lesung. Nie zuvor hatte jemand eine menschliche Stimme aus solcher Entfernung gehört.

»Und Gott nannte das Licht Tag, und die Finsternis nannte er Nacht. Es wurde Abend, und es wurde Morgen: erster Tag. Dann sprach Gott: Das Wasser unterhalb des Himmels sammle sich an einem Ort, damit das Trockene sichtbar werde. So geschah es. Das Trockene nannte Gott Land, und das angesammelte Wasser nannte er Meer. Gott sah, dass es gut war.«

Auf diesem Flug entstand eines der berühmtesten Fotos aller Zeiten. Es zeigt leuchtend blau über dem Mondhorizont den Aufgang der Erde aus dem tiefen Schwarz des Weltraums. Für mich hatte dieser Anblick eine große Bedeutung. Meine Kindheit fiel in eine besonders kalte Zeit des Kalten Krieges. Die Gefahr, dass wir unseren Planeten in einen nuklearen Winter bomben würden, war jeden Augenblick präsent. Da erschien das Bild aus dem All wie ein Hilferuf. Es galt, diese zerbrechliche blaue Kugel vor dem kollektiven Wahnsinn der Menschen zu schützen.

Mehr als vierzig Jahre später stehe ich auf dem Dach eines Hochhauses in der Inneren Mongolei, auf der Hauptverwaltung des chinesischen Stahlriesen Baotou Iron and Steel und sehe die Folgen eines neuen Wahnsinns. So weit das Auge reicht: Kraftwerksblöcke, rauchende Schlote, schwarz-braune Löcher von gewaltigen Minen. Hierher wurde schmutzige Produktion verschoben, für die sich erst Europa und die USA, dann Japan, Taiwan, Hongkong und schließlich Chinas Städte an der Pazifikküste zu schade waren. Wir konnten uns einbilden, dass wir damit nichts zu tun haben, weil es so weit weg ist. Aber hier liegt eine Endmoräne unseres gemeinsamen Industriezeitalters. Wir haben unseren Planeten aufgewühlt und von Grund auf verändert. Nicht mit Atomwaffen, sondern mit Baggern und Schornsteinen, Sägen und Feuer. Es war ein gewaltiges Werk.

Würde die gesamte Masse der Erde unter ihren derzeit sieben Milliarden menschlichen Bewohnern aufgeteilt, bekäme jeder von uns einen Anteil von eintausend Milliarden Tonnen. Dieses Größenverhältnis lässt den Gedanken zunächst irrsinnig erscheinen, dass das Treiben von uns Winzlingen den Planeten nachhaltig verändern könnte. Und doch ist das passiert.

Die landwirtschaftliche Produktion ist in den letzten beiden Jahrhunderten durch den Einsatz von Stickstoffdünger geradezu explodiert. Über neunzig Prozent des Pflanzenlebens auf der Erde ist – so wird geschätzt – von Menschen gezüchtet oder beeinflusst. Die schiere Biomasse von Menschen und der von Menschen gezüchteten Rinder, Schweine und Hühner übertrifft bei Weitem die aller anderen großen Tiere. Bäume, Getreide, Gemüse und Tierarten, die allein nach menschlichen Nützlichkeitsmaßstäben gezüchtet wurden, dominieren die Biosphäre. Das in Jahrmillionen in fossilen Brennstoffen gebundene Kohlendioxid wird seit Beginn der Industrialisierung immer schneller freigesetzt und in die Luft geblasen.

Die Auswirkungen auf den Planeten sind so dramatisch, dass manche Erdwissenschaftler – Geologen, Klimatologen und Stratigrafen (Menschen, die die Erdgeschichte in Äonen, Epochen und Stufen einteilen) – ein neues Erdzeitalter ausrufen wollen. Das Holozän, das vor etwa 11500 Jahren begann, sei vorbei. Seinen letzten Abschnitt – das »neuzeitliche Klima-Optimum« der letzten hundertfünfzig Jahre – haben wir dafür genutzt, unseren Planeten mit Feuer und Maschinen umzubauen.

Der Niederländer Paul Crutzen, Nobelpreisträger der Chemie, sprach als Erster vom »Anthropozän«, einem von Menschen gemachten Erdzeitalter. Immer mehr Geologen und Stratigrafen finden Belege für seine These. Kongresse und Veröffentlichungen widmen sich dem Streit.1 Ein Ausschuss der International Commission on Stratigraphy (ICS)2 prüft nun, wann diese neue Epoche denn genau begonnen haben kann – mit der Industrialisierung? Und ob die Hinterlassenschaften unserer Zeit – abgebrannte Regenwälder, ausgeblutete Ackerböden, versandete Stauseen, ausgebleichte Korallenriffe – so erheblich sind, dass sie auch in Jahrmillionen noch im Erdboden erkannt werden. So was verlangen Stratigrafen, bevor sie bereit sind, ein neues Erdzeitalter anzuerkennen.

Mögen sie weiter um Begrifflichkeiten streiten, tatsächlich geht es um Handgreiflicheres als um wissenschaftliche Nomenklatur. So gewaltige Umbrüche haben die Welt noch jedes Mal in Sieger und Verlierer geteilt. Große Industrien und Mächte haben längst begonnen, sich darauf einzustellen. Was heißt das für unsere dicht vernetzten, hoch gezüchteten und gerüsteten Industriegesellschaften? Wo wird der Klimawandel Konflikte eskalieren? Wo wird er den nötigen Druck für eine friedliche Lösung lange vernachlässigter Krisen liefern? Welche Rolle kann Deutschland, kann Europa, da spielen? Es soll sich keiner einbilden, dass uns das Geschehen gleichgültig sein kann, bloß weil uns auf unserem wohltemperierten, geologisch ruhigen europäischen Kontinent die Probleme noch fern erscheinen. Was da geschieht, presst die Dynamik einer Erdepoche in zwei-, dreihundert Jahre. Das ist das Werk der Moderne – eine Revolution, die ihre Schöpfer fressen kann, wenn sie Menschen und Staaten überfordert.

»Wir handeln ohnehin wie Götter«, schrieb Stewart Brand, einer der verlachten Visionäre von 1968, in seinem legendären »Whole Earth Catalog«.3 »Wir sollten versuchen, wenigstens gut darin zu werden.« Wahrscheinlich bleibt uns kaum etwas anderes übrig. Es wird schwer, eine Weltbevölkerung, die nach Einschätzung der Vereinten Nationen bis Ende des 21. Jahrhunderts auf zehn Milliarden anwachsen wird, bei ständig steigenden Ansprüchen ohne massive weitere Eingriffe in die Natur auch nur zu ernähren und zu kleiden. Es wird auf das Wie ankommen.

Nach Gesprächen in Berliner Ministerien, im Pentagon in Washington, bei den Vereinten Nationen, im Austausch mit Thinktanks in China, Indien und Peru weiß ich, dass Militärs, politische Strategen, Städteplaner und Rohstoffexperten die rasanten Veränderungen des Planeten längst in ihr Kalkül einbeziehen. Auch wenn sie oft nur ungern darüber reden: Wir wollten erfahren, was da läuft.

Wir fragten an in Asien, Russland, Südamerika und Afrika. Selbst wenn wir nicht mit der Tür ins Haus fielen und von einer Bedrohung für den Weltfrieden redeten, waren viele nicht gerade wild darauf, uns für solch ein Projekt Rede und Antwort zu stehen. Dabei ist der Themenkomplex »Klimawandel und nationale Sicherheit« schon längst keine exotisch-akademische Angelegenheit mehr. Da geht es um akute Gefahren.

Wir trafen auf unseren Reisen Menschen, die sich unserer Arbeit in den Weg stellten, und solche, die aus Furcht vor Repressalien nicht mit uns sprechen wollten. Aber eben auch andere: Bauern in Äthiopien, chinesische Klimaforscher in Shanghai, Indianer in den Slums von Lima in Peru, den US-Generalstabschef und den Generalsekretär der Vereinten Nationen. Ihnen waren wir willkommen, weil wir Bewusstsein wecken wollen für ein Thema, das ihnen den Schlaf raubt.

Aus unseren Recherchen entstand zunächst eine große ZDF-Dokumentation und dann – den Bogen naturgemäß viel weiter spannend – dieses Buch. Es entstand auf einer Reise, die mich manches Mal zurückführte zu den Gefühlen des Dreizehnjährigen angesichts der leuchtend blauen Kugel im Weltall. Wenn wir den Begriff »Anthropozän« ernst nehmen, dann bedeutet er Verantwortung für unseren Planeten. Russell Schweickart, einer der NASA-Astronauten, deren Kollege ich als kleiner Junge werden wollte, hat seine Gefühle nach der Rückkehr vom Mond so eindringlich zusammengefasst, wie es wohl nur in großer Entfernung gelingt:

»Die Erde wird so klein und zerbrechlich und ein so kostbarer kleiner Punkt in diesem Universum. Du erkennst, dass auf diesem kleinen, blau-weißen Ding alles liegt, was für dich von Bedeutung ist. Die ganze Geschichte und die Musik und die Poesie und die Kunst und der Krieg und der Tod und die Geburt und die Liebe und die Tränen und die Freude und die Spiele – alles findet sich auf diesem Punkt da draußen, der so klein ist, dass dein Daumen ihn verdecken kann. Und dir wird klar, dass dieser Anblick dich verändert hat.«4

Wir können nicht alle so weit da rausfliegen, damit wir den gleichen Weitblick bekommen wie die Crews der Apollo-Raumschiffe. Wir müssen es auch so schaffen, die Folgen unserer eigenen Taten unter Kontrolle zu bekommen – gemeinsam und in Frieden. Das wird schwierig und wird nicht überall gelingen, weil die alten Mechanismen schon wieder greifen, das Recht des Stärkeren und die Aufteilung der Welt in Sieger und Verlierer. Wenn das so weitergeht, werden am Ende alle verlieren, weil wir im endlosen Schwarz eben nur diesen einen kleinen Ball haben, der uns (er)trägt.

Ich bin kein Astronaut geworden, nicht mal Pilot. Einen Blick aus dem All kann ich nicht bieten. Aber ich bin Reporter und bekam die Chance, über einen Zeitraum von fast zwei Jahren an viele Schauplätze einer Entwicklung zu reisen, die niemanden kalt lassen kann. Dieses Buch erzählt davon. Es soll helfen, den Blick dafür zu schärfen, wo die Konfliktlinien aufbrechen, wo von allen Aufmerksamkeit gefordert ist, und vielleicht auch die Bereitschaft wecken, eigene Ansprüche und Sichtweisen infrage zu stellen. Dafür wurde es geschrieben.

Seit vielen Jahren ist Angela Andersen – eine deutsche Journalistin, die in den USA lebt – meine Partnerin und Co-Autorin bei den meisten Filmprojekten. So auch bei der großen, zweiteiligen ZDF-Dokumentation Machtfaktor Erde, die sich 2011 ähnlichen Fragen widmete wie dieses Buch. Angelas Beiträge waren hier wie da unschätzbar wertvoll. An den verschiedensten Orten der Welt begegnete uns bei Recherchen und Drehreisen, zunächst als Name in Gesprächen und dann auch persönlich, die angesehene kanadische Strategie-Expertin Cleo Paskal. Sie hat 2010 mit ihrem bahnbrechenden Buch Global Warring den Blick darauf gelenkt, »wie«, so der englische Untertitel, »Krisen in Umwelt, Wirtschaft und Politik die Weltkarte neu zeichnen werden«.5 Ihre internationalen Verbindungen und Kenntnisse sind eine unverzichtbare Säule dieses Buchs. Sie hat den Inhalt ihres Werks für unsere gemeinsame Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. Sollte das Buch in Ihren Händen Fehler enthalten, sind sie jedoch meine allein.

1http://www.atmosphere.mpg.de/enid/68acece8e68fce8eec5ea3c31b6ec2fe,0/personal_Crutzen/antropocene_ey.html

http://www.anthropocene.info/en/anthropocene

2http://www.atmosphere.mpg.de/enid/68acece8e68fce8eec5ea3c31b6ec2fe,0/personal_Crutzen/antropocene_ey.html

3http://www.wholeearth.com/issue/1340/article/189/we.are.as.gods:

»We are as gods and might as well get good at it.«

4http://settlement.arc.nasa.gov/CoEvolutionBook/SPACE.HTML

5Cleo Paskal: Global Warring – How Environmental, Economic and Political Crises Will Redraw the World Map, New York: Palgrave Macmillan 2010.

KAPITEL 1

Klima macht Geschichte

Im Hotelzimmer ist das Klima genau so, wie es der kleine weiße Reglerkasten an der Wand vorschreibt: warm und trocken. Draußen, nur eine dünne Scheibe bruchsicheres Glas entfernt, herrscht der Monsun. Normalerweise kann man von diesem Fenster aus den anmutigen, glitzernden Bogen des Marine Drive sehen, den eleganten Strandboulevard, den die Bewohner von Mumbai aufsuchen, um sich daran zu erinnern, warum sie ihre wuchernde, verrückte und völlig überbevölkerte Stadt lieben. Heute zeigen die Fenster nur eine gräulich-schwarze Wand aus Nässe.

Der Monsun tobt durch Mumbai wie ein betrunkener Mob, drückt Ladenscheiben ein, reißt Straßen auf, schlägt und peitscht auf alle nieder, die das Pech haben, hinaus zu müssen, oder zu arm sind, um sich ein Dach über dem Kopf leisten zu können. Der Monsun ist furchtbar, und er ist lebensnotwendig. Mumbai und ganz Indien wurden um die zyklische Wiederkehr dieser so ungezügelten wie brachialen Regenmassen herum geschaffen.

Dieses Land braucht den Monsun. Für die modernen indischen Städte mögen die Sturzfluten eine Heimsuchung sein, aber draußen auf dem Land füllen sich die Wasserspeicher und Staubecken der Kraftwerke wieder, kehrt das Grün in die zundertrockenen Wälder zurück, leiten Bewässerungskanäle das Wasser auf versengtes, rissiges Ackerland, das wieder feucht und fruchtbar wird. Es gab einen Monsun, bevor es ein Indien gab. Das Land wurde groß und geformt durch das periodische Bombardement des Leben spendenden und Leben nehmenden Regens. Der Monsun war ein zuverlässiges Klimametronom, das den Takt der Jahre schlug und den Menschen sagte, zu welcher Jahreszeit sie die Saat ausbringen, zu welcher Jahreszeit sie ernten und zu welcher Jahreszeit sie heiraten sollten. Selbst heute noch werden in diesem mehr und mehr durch Hightech geprägten Land der erwartete Beginn und das Ende des Monsuns in Zeitungen vermeldet. Prognosen bezüglich »guter« oder »schlechter« Niederschlagsperioden und -mengen können die Börse in helle Aufregung versetzen. Tief im Inneren dieser riesigen, verschlungenen und diversifizierten Volkswirtschaft liegt das Wissen, dass der Monsun immer noch eine Rolle spielt – eine große Rolle.

Doch in letzter Zeit verhält sich der Monsun – und das Klima im Allgemeinen – eigenartig. Sie sind weniger vorhersagbar, fast schon unberechenbar geworden, Niederschlagsverteilung und Temperaturen sind aus dem Lot geraten. Es regnet, wenn es schneien sollte, ist heiß, wenn es kalt sein sollte, es gibt Überschwemmungen in der Wüste und Trockenheit in den Feuchtgebieten. Insgesamt sind in Indien die Regenmengen seit den 1950er-Jahren um fünf bis acht Prozent zurückgegangen, andererseits werden ganze Regionen von Sturzfluten unter Wasser gesetzt.6

In Mumbai versucht man, die Natur auf rigoros moderne Weise zu unterwerfen, mit einer Stadtplanung und Gebäuden, die dem neuesten Stand der Technik entsprechen. Auf dem Land hingegen bemüht man sich, mit der Natur zu arbeiten, hauptsächlich in Form traditioneller Bewässerungstechniken. Beide Ansätze scheitern. Etwas hat sich verändert. Oder, genauer gesagt, etwas verändert sich schneller als jemals zuvor.

Um zu verstehen, was sich da verändert, lohnt es, einen genaueren Blick auf das Wetter zu werfen. Als System ist der Monsun komplex und elegant – die melodische Verschmelzung verschiedener klimatischer Noten zu einer zusammenhängenden Symphonie. Da sind das aggressive, hartnäckige Piccolo des aufziehenden Regens auf knochentrockenem Boden, das Rauschen der niemals nachlassenden Winde, die Bassschläge des Donners, das metallische Krachen der Blitze. Presst man die Hand gegen das kalte Fenster, kann man die Vibrationen spüren, den Lärm, die Gewalt.

Der Monsun ist aber auch überraschend sensibel. Wie bei einer großen Komposition muss sich auch bei einem Monsun eine Vielzahl von Elementen perfekt ineinanderfügen. Windverhältnisse, Atmosphärendruck, Wassertemperaturen, Luftqualität, Meeresströmungen und Tausende weiterer Faktoren, hier auf dem Subkontinent wie in anderen Teilen der Welt, müssen zusammenwirken, bevor sich auch nur ein einziger Regentropfen bilden und zur Erde fallen kann. Ein starker El Niño im Pazifik kann die Bauern im Punjab-Gebiet um ihre Ernte bringen. Aber die Bauern, die im Punjab sitzen und auf den Regen warten, können kaum wissen, ob dies nur ein schlechtes Jahr in vielen guten Jahren wird oder ob es mit den guten Jahren auf lange, lange Zeit vorbei ist. Genau das ist der Unterschied zwischen Wetter und Klima.

Wetter ist etwas, das heute passiert, morgen und vielleicht nächste Woche. Klima dagegen passiert im Zeitraum von Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten und Jahrtausenden. Wenn es in Manhattan beim Feuerwerk zum 4. Juli regnet, dann geht es um Wetter – also um etwas, was dummerweise niemand einen Monat im Voraus vorhersagen kann. Aber der Umstand, dass der amerikanische Unabhängigkeitstag ins Wasser fällt und nicht etwa unter einer Schneedecke versinkt, ist Klima – weil die Temperaturen im Nordosten der USA im Juli gewöhnlich über dem Gefrierpunkt liegen. Ein sonniger Tag ist Wetter, ein Sommer ist Klima. Diesen Unterschied zu verstehen erlaubt uns eher abzuschätzen, was als Nächstes kommen könnte und was wir deswegen unternehmen sollten.

Leider wird das Vorhersagen immer schwieriger. Es ist beileibe nicht nur der Monsun, der mal hier- und mal dorthin weht. Zu Beginn eines jeden Jahres veröffentlicht die Weltorganisation für Meteorologie (World Meteorological Organization, WMO) der Vereinten Nationen eine Zusammenfassung der Klimabedingungen des Vorjahrs. In dem im Frühjahr 2012 erschienenen Bericht der WMO zum globalen Klima7 steht unter anderem:

Die globale Durchschnittstemperatur lag 2011 um 0,4 °C über dem langjährigen Jahresmittel (1961–1990) von 14 °C. Zur Zeit seines jährlichen Maximums erreichte das Ausmaß des arktischen Eises den zweitniedrigsten Stand (nach 2006) seit Beginn der Messungen (1979), und während der sommerlichen Schmelze war nur die Eisbedeckung im Jahr 2007 geringer (und die wurde dann im August 2012 unterschritten). Die mittleren Temperaturen erreichten 2011 nicht den Rekordwert von 2010, doch sie waren die höchsten, die je in einem La-Niña-Jahr gemessen wurden.Sintflutartige Regenfälle suchten etliche chinesische Provinzen, darunter Sichuan, Shaanxi und Henan, heim – für Sichuan waren es die folgenschwersten seit 1847.Bei dem aus humanitärer Sicht schlimmsten Zyklon des Jahres starben auf der philippinischen Insel Mindanao fast 1260 Menschen, mehr als 300 000 wurden obdachlos.Die mittleren globalen Niederschlagsmengen waren 2011 die zweithöchsten seit Beginn der Aufzeichnungen: Es fielen 46 Millimeter mehr Regen als im Jahresmittel für 1961–1990; höher waren sie nur im Jahr 2010 (+ 52 Millimeter).Extreme Niederschläge führten zur Überschwemmung von Mekong- und Chao-Praya-Becken. In der Folge waren in Thailand zwischen Oktober und Anfang Dezember große Teile von Bangkok und Umgebung überflutet, was zu bedeutenden wirtschaftlichen Schäden führte. Im zweiten Jahr in Folge litt Pakistan stark unter den Monsunfluten. 2011 konzentrierten sich die extremen Regenfälle auf die Südprovinz Sindh, wo die Niederschlagsmengen zwischen Juli und September zweieinhalbmal so groß wie die Durchschnittswerte waren.Große Teile Westeuropas erlebten den trockensten Frühling seit Beginn der Aufzeichnungen. In der Nähe von Rostock kam es zu einem Sandsturm, der auf der Autobahn Richtung Berlin eine Massenkarambolage mit 82 Fahrzeugen auslöste. Acht Menschen starben. Die extreme Dürre, die sich Ende 2010 in Teilen Ostafrikas entwickelte, hielt über einen Großteil des Jahres 2011 an. Am schlimmsten betroffen waren die halbtrockenen Gebiete im östlichen und nördlichen Kenia sowie der Westen von Somalia. Die Vereinten Nationen schätzten, dass 13 Millionen Menschen Hilfe benötigten.8In den USA registrierte Oklahoma zwischen Juni und August eine Durchschnittstemperatur von 30,5 °C – vier Grad über dem langjährigen Mittel und der höchste Wert, der je für einen amerikanischen Bundesstaat gemessen wurde. Auch in Texas wurde der Hitzerekord gebrochen.

Haben wir es hier einfach mit ungewöhnlichen Wetterphänomenen zu tun? Oder verändert sich das Klima in dramatischer Weise? Die Antwort ist so wichtig für unser Überleben, dass die Menschen sich diese Frage in den unterschiedlichsten Formen stellen, seit ihnen erstmals bewusst geworden ist, dass auf den Winter der Frühling folgt. Die Klima- und Wettervorhersage ist nicht nur eine der schwierigsten, wichtigsten und am intensivsten betriebenen Wissenschaften, sondern auch eine der ersten, der sich die Menschen widmeten.

Die allzu menschliche Geschichte der Klima- und Wettervorhersage

Die wissenschaftliche Wettervorhersage stößt seit ihren Anfängen auf viel Kritik, und auch die modernen Klimamodellierer stehen fast pausenlos unter Beschuss. Zu oft schon haben zu viele Leute in den Freitagabendnachrichten die Wettervorhersage gesehen und sich auf einen sonnigen Samstag am Strand gefreut, um sich dann am nächsten Morgen vom Regen einen Strich durch die Rechnung machen lassen zu müssen. Solche Dinge bleiben im Gedächtnis haften – und beeinflussen auch, wie viele von uns über den Klimawandel denken. »Wenn die nicht einmal das Wetter von morgen hinbekommen«, so die Überlegung, »wie wollen die dann vorhersagen, was in 20 Jahren passieren wird?« Dabei sind Wetter- und Klimaforschung weit gekommen.

Eines der Kennzeichen des modernen Lebens ist die scheinbare Immunität gegenüber der Natur. Das gilt jedenfalls für Deutschland und andere Industrieländer, in denen die meisten Menschen arbeiten, essen oder ihre freie Zeit genießen – fast unabhängig davon, wie das Wetter ist. Das ist ein recht neues Phänomen. Den Großteil der Menschheitsgeschichte hindurch war das Wetter tagtäglich von lebenswichtiger Bedeutung – an vielen Orten rund um die Welt ist es das auch heute noch.

Die frühen Jäger und Sammler folgten den Pflanzen und Tieren, die ihrerseits den klimatischen Zyklen folgten. Ein ungewöhnlich kalter Sommer konnte die Vegetation verkümmern lassen, von denen sich die Bisons ernährten, die wiederum Nahrung für die Menschen waren – also starben Menschen. Das war langfristig keine vielversprechende Strategie. So versuchten wir, unsere Nahrungsmittelversorgung unter Kontrolle zu bekommen, indem wir selbst Pflanzen zogen und Tiere züchteten. Nachdem wir sesshafte Bauern geworden waren, wurde es für uns noch wichtiger, das Wetter und das Klima zu verstehen. Wir steckten alles, was wir hatten, in die kleinen statischen Flecken Land, die wir beackerten, und sahen voller Verzweiflung zu, wie sie von Frost, Hagel, Überschwemmungen und Dürren verheert wurden. Denker der griechischen Antike beschäftigten sich mit so praktischen Dingen wie Bewässerungsmethoden, um uns vor den Launen des Wetters zu schützen – wie Archimedes mit seiner »Wasserspirale«. Andere weise Männer des Altertums widmeten sich astronomischen Studien und erstellten Kalender, legten Jahreszeiten fest und vermittelten ein gewisses Verständnis für das Klima im Allgemeinen.

Trotzdem passierte weiter Unerwartetes: Der Regen blieb aus, die Ernte vertrocknete, Wasserspeicher fielen trocken, und wieder starben Menschen. Mit immer neuen Mitteln, von Gebeten bis hin zu Menschenopfern, wurde versucht, das Wetter zu beschwören. Die meisten frühen Kulturen hatten einen Wettergott, die Theologie ist voll von ihnen, vom babylonisch-assyrischen Sturmgott Adad bis zum Blitze schleudernden Zeus der Griechen. Die Wikinger verehrten Thor mit seinem Donner, die Polynesier beten zu Apu-Hau, dass er ihnen keine Stürme schicken möge, und die Hindus haben Indra, der auf einem Albino-Elefanten reitet und vom Wetter, aber auch vom Krieg kündet – eine weitsichtige Verquickung der beiden Themen. Viele das Wetter vorhersagende Bauernregeln und Redensarten wie »Abendrot, Schönwetterbot’ – Morgenrot, schlecht Wetter droht« entstanden und gaben den Menschen zumindest ein wenig Vertrauen, wenn sie Vegetationszeiten bestimmen oder einen günstigen Tag festlegen wollten, um in See zu stechen.

Im Allgemeinen war die Vorhersage des Wetters jedoch eine derart wichtige und mysteriöse Angelegenheit, dass sie lange im Bereich des Religiösen angesiedelt blieb. Konnten die Götter uns nicht vor schlechtem Wetter bewahren, suchte man Schuldige unter den Menschen. So erließ 1484, auf dem Höhepunkt der Ernten vernichtenden »Kleinen Eiszeit« in Europa, Papst Innozenz VIII. die sogenannte Hexenbulle, in der er den Klerus zur Jagd auf die Hexen aufrief, die man für das schlechte Wetter verantwortlich machte. In der Folge wurden viele tausend Menschen systematisch gefoltert. Von Schmerzen gebrochen, gestanden viele Frauen, Männer und Kinder Unmögliches – sei es, Hagel auf die Erde geschickt, sei es, Regenstürme heraufbeschworen zu haben.9 Noch 1653, als Dörfer in den französischen Alpen vom Vorrücken der Gletscher bedroht wurden, schickte man Priester zu einem Exorzismus aus, bei dem sie Weihwasser auf die Eisströme sprenkelten. Geholfen hat es nicht.10

Derweil trieben die frühen Wetterbeobachter ihre stark nachgefragten, wenn auch nicht wirklich wissenschaftlichen Forschungen weiter. Im England des 18. Jahrhunderts hatte der Handel die Abhängigkeit von der heimischen Landwirtschaft so weit reduziert, dass das Wetter nicht mehr ganz so entscheidend für das Überleben der Menschen war. Von allergrößter Bedeutung hingegen blieb die Wetterbeobachtung und -vorhersage auf See. Mit dem Aufstieg von Britannia zur Herrscherin der Meere musste man wissen, aus welchen Richtungen die Winde bliesen, wie hoch die Wellen gingen und wo Schiffe versenkende Stürme drohten. Was die imperiale Inselmacht Großbritannien anging, waren Handel und Militär nicht nur eng miteinander verbunden, sondern auch in hohem Maße vom Wetter abhängig – und die Beschäftigung mit dem Wetter war fast schon so etwas wie eine patriotische Pflicht. Dieses verbreitete Interesse an der Wettervorhersage ließ eine ausgedehnte und von niemandem regulierte Wetterprognoseindustrie entstehen, mit der das religiöse Establishment kaum Schritt halten konnte. Besonders beliebt waren Astrologen, die mithilfe von Himmelskonstellationen Wetterhoroskope für bis zu einem Jahr im Voraus erstellten. Allein von Vox Stellarum, einem dieser Almanache, wurden 1768 um die 107000 Exemplare verkauft.11

Das Wetter erlangte eine so überragende Bedeutung für die britische Seemacht – und damit auch das ökonomische und militärische Wohlergehen des Empire –, dass das britische Board of Trade 1851 die Wettervorhersage den Händen der Kirche und der Scharlatane entzog und den nationalen Meteorologischen Dienst gründete. Sein erster Leiter, Robert FitzRoy (einst Kapitän der »Beagle«,auf der Charles Darwin seine berühmte Forschungsreise unternahm), erfand günstige Barometer, errichtete Wetterstationen und bediente sich vor allem der neuen Technik der Telegrafie, um auch aus entlegenen Gebieten hochaktuelle Wetterinformationen zu beschaffen. Diese technologischen Innovationen verbreiteten sich schnell im ganzen Empire. Britische Kolonialbehörden in verschiedenen Teilen der Welt tauschten Informationen aus. Klimaentwicklungen begannen, sich in dechiffrierbaren Mustern zu zeigen. Zu dieser Zeit wurde zum Beispiel das heute unter dem Namen »El Niño«bekannte Klimaphänomen entdeckt – Erwärmung des Oberflächenwassers im tropischen Pazifik, die immer wieder um Weihnachten herum auftritt (daher »Niño« – Sohn – nach dem Jesuskind). Diese ersten systematischen Forschungen sind der Grund dafür, dass die meisten modernen Klimaaufzeichnungen bis in die 1860er-Jahre zurückreichen.12 Die wissenschaftlichen Methoden wurden immer besser, und ab 1861 wagte FitzRoy die ersten täglichen Wettervorhersagen, die in der Times abgedruckt wurden.13 Langsam wuchs das Vertrauen in das Büro für Wetterstatistik und seine Prophezeiungen.14

Heute gehört das von der britischen Regierung betriebene Meteorological Office zu den angesehensten und wissenschaftlich fortschrittlichsten Zentren für Wetter- und Klimaforschung weltweit. Seine Daten und Analysen beeinflussen Regierungen, Aktienmärkte, Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) rund um die Welt. Das, wie es kurz heißt, Met Office mit seinen rund 1000 Wissenschaftlern residiert in Exeter im Südwesten Englands. Der Bau, ein modernes, hoch aufragendes und nüchternes Glasgebäude, ist eine Kathedrale der Wissenschaft. Dilbert-Comics im Kopierraum und Einstein-Poster an den Wänden zeigen: Hier ist ein Spielplatz für Computerfreaks. Das Wetter und das Klima aber nehmen sie sehr, sehr ernst. Um das Gebäude herum wurde ein halbes Dutzend Hochwasserschutzmaßnahmen installiert, darunter ein Feuchtgebiet im Miniaturformat, ein Schutzwall und ein komplexes Entwässerungssystem. Sie wissen, was auf uns zurollt.

Was die Wettervorhersage angeht, ist das Met Office bereits ziemlich gut. Nun arbeitet man daran, auch die Qualität der Klimaprognosen zu verbessern. Es steht ständig unter Feuer von Menschen und Gruppen, die den Klimawandel an sich abstreiten. Da kann jeder Fehler für die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit tödlich sein. Entsprechend sorgfältig wird dort an den Prognosen gearbeitet. Die britische Regierung hatte es bis 2011 dem Verteidigungsministerium unterstellt – ein weiterer Hinweis auf die strategische Bedeutung von Wetter und Klima, die anderswo offenbar klarer gesehen wird als in Deutschland. Eine Abteilung – das Hadley Centre – befasst sich ausschließlich mit Klimaprognosen.15 Mehr als 120 Wissenschaftler arbeiten mit zwei Supercomputern und Kollegen rund um die Welt an der Erstellung zuverlässiger Klimaszenarien für die Zukunft. Sie spielen nicht nur Klimamodelle durch, sie spielen Modelle von Modellen durch und gleichen verschiedene Szenarien miteinander ab; so erhalten sie nicht nur eine Vorstellung von den verschiedenen Ergebnissen dieser Szenarien, sondern auch von deren Wahrscheinlichkeit. Um ihre Vorhersageprogramme zu testen, führen sie sogenannte Hindcast-Simulationen durch – die Computer werden mit historischen Wetterdaten gefüttert, dann errechnen die Programme das Klima von heute. Die Ergebnisse werden mit der Realität verglichen – da zeigt sich, was die Programme für die Zukunft taugen.

Solche Forschung befasst sich ausschließlich mit der physischen Welt, mit dem Abschmelzen der Gletscher, dem Anstieg des Meeresspiegels, den Veränderungen der Niederschlagsmuster. Dafür, was Menschen dann tun oder anrichten, wurden noch keine Computerprogramme geschrieben.

Gleichwohl sind wir in vielen Ländern interessanten Menschen begegnet, die warnen, dass solche grundlegenden Veränderungen Verteilungskämpfe auslösen können, Kriege, Flüchtlingsströme, Hungersnöte. Schon die wirtschaftlichen Folgen des Klimawandels allein können dramatisch sein.

Um solche geopolitischen Konsequenzen des Klimawandels zu bewerten, braucht es eine zuverlässige Basis. Die gewaltigen Datenmengen und Analysen des Hadley Centre sind dafür ein guter Start. Die Vereinten Nationen haben das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) geschaffen, einen mit rund 2000 Wissenschaftlern aus 100 Ländern besetzten Ausschuss der Vereinten Nationen, der 2007 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Der im Deutschen auch als Weltklimarat bezeichnete zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaänderungen begutachtet und verwertet die vielen tausend wissenschaftlichen Studien zum Klimawandel, die inzwischen rund um die Welt entstehen. So soll sich ein globaler wissenschaftlicher Konsens entwickeln.16 Das gelingt immer besser, aber auch der Weltklimarat ist nicht über Zweifel erhaben. 2007 veröffentlichte der IPCC einen umfassenden Bericht zum Stand des Klimawandels, in dem auf sehr schwacher Grundlage behauptet wurde, dass die Gletscher des Himalaya bis zum Jahr 2035 verschwunden sein würden. Dieses Datum erwies sich als unhaltbar und wurde zur Zielscheibe für Hohn und Spott der sogenannten Klimaskeptiker.17 Trotzdem sind die Berichte des IPCC so etwas wie die Klassiker der Klimawissenschaft: umfangreich, solide und etwas schwerfällig, aber meist zuverlässig. Sie verzichten auf unglaubwürdig präzise Vorhersagen und definieren »Korridore« von Wahrscheinlichkeiten.

Dieses Buch hält sich im Zweifel an gemäßigtere Szenarien. Statt »Sturmflut spült Manhattan weg« denken wir an die weitaus wahrscheinlichere langsame, aber unaufhaltsame Erosion der Küsten. Auf dieser Basis versuchen wir, realistisch zu bleiben bei der Einschätzung möglicher Folgen. So gehen wir – auf der Grundlage neuer Messungen18 – davon aus, dass die Himalaya-Gletscher schmelzen, aber in den nächsten zwanzig Jahren nicht restlos verschwinden werden. Die politischen Folgen dieses Prozesses sind schon im Gange. Und alarmierend genug.

Auch wenn bezüglich der Ursachen Uneinigkeit herrschen mag, so stimmen doch so gut wie alle, auch fast alle Skeptiker, darin überein, dass das Klima sich verändert; die Skeptiker sind größtenteils nur hinsichtlich der Ursachen unterschiedlicher Meinung. Ja, in manchen Gebieten mag es kälter werden und in manchen Jahren die globale Durchschnittstemperatur sogar unter den »Normalwert« fallen. Trotzdem haben wir es insgesamt mit einer deutlichen planetaren Erwärmung zu tun. Wir haben einen Punkt erreicht, an dem ein gewisses Maß klimatischer Veränderungen feststeht.19

Wir werden das zu spüren bekommen. Unsere Verkehrssysteme, Städte, Verteidigungsfähigkeiten, Landwirtschaft, Energieerzeugung, Wasserversorgung und vieles mehr sind ausgelegt für die Welt, wie wir sie kennen. Unerwartete Veränderungen – wie Verschiebungen der Niederschlagsmuster – haben deshalb fast immer negative Auswirkungen. Unsere Zivilisationen sind dafür nicht gemacht. Es ist, als würden wir am Strand, etwas oberhalb der Hochwasserlinie, eine scheinbar sichere Sandburg bauen, und plötzlich steigt die Flut höher als je zuvor.

Jedes Land ist auf seine eigene Weise von einer stabilen Umwelt abhängig – so wie Indien vom Monsun. So ist es nicht überraschend, dass Veränderungen der Umwelt und des Klimas Missernten, Überschwemmungen, Dürren und Infrastrukturschäden hervorrufen und diese dann ökonomische, gesellschaftliche und sicherheitspolitische Probleme schaffen. Es reicht nicht mehr, sich über die Ursachen des Klimawandels zu streiten. Wir müssen uns dringend auch mit seinen Auswirkungen befassen, wenn wir seinen geopolitischen, ökonomischen und strategischen Fallout so gering wie möglich halten wollen. Darum geht es in diesem Buch.

Militärs wissen seit jeher um die Bedeutung von Wetter und Klima. Schon der chinesische General Sun Tzu schrieb in seinem klassischen Text Die Kunst des Krieges davon, dass es vor Ergreifen jeglicher militärischer Aktion fünf Faktoren zu beachten gilt: Wetter, Terrain, Disziplin (einschließlich der Nachschublinien), politische Verhältnisse und Qualität der Führung.20 Klimawandel kann unvorhersagbare extreme und zerstörerische Wetterereignisse mit sich bringen, die Ausrüstungen und Lager zerstören. Langfristige Klimaveränderungen können das Terrain massiv verändern und damit Nachschublinien beeinträchtigen. Beispielsweise könnten Straßen auf Permafrostböden tauen und sich in Schlammpisten verwandeln, Flüsse ihren Verlauf verändern und Überschwemmungen verursachen und Erosionseffekte bislang passierbare Gebiete unpassierbar machen. Diese Störungen können die Disziplin untergraben, und das beschränkt sich nicht auf Schlachtfelder – Polizei und Militär haben in New Orleans nach dem Hurrikan »Katrina« diese Erfahrung gemacht. Und sind gescheitert.

In der Geschichte finden sich zahllose Beispiele für den Einfluss von Umweltfaktoren auf Kriege und Politik. Cleo Paskal berichtet, dass ihr das klar geworden sei beim Tee mit Professor William M. S. Russell, seines Zeichens Verfasser von Man, Nature and History, einer klassischen Studie zum Thema Mensch und Umweltveränderungen.21 Sie saßen bei ihm zu Hause in Reading, England. Der Frühling hatte gerade erst begonnen, es war schon ungewöhnlich warm, und die Sommerblumen draußen vor dem Fenster blühten bereits. Professor Russell kam auf das 12. Jahrhundert zu sprechen, als das Klima in England warm genug war, um Wein anzubauen. »Unsere Vorfahren produzierten damals einen recht guten Wein. Doch dann kam die Kleine Eiszeit, und die Rebstöcke erfroren. Zum Glück aber war das kalte Wetter besonders dazu angetan, die beste Waffe der damaligen Zeit stärker zu machen: den Eibenholzbogen. Mit dieser Überlegenheit eroberten wir eine Weinbauregion in Frankreich.« Man kann den Zusammenhang zwischen Klimawandel und Machtpolitik kaum amüsanter darstellen. Heute ist es in Großbritannien so warm geworden, dass dort wieder Wein wächst.22 Die Frage ist: Wer wird die Eibenholzbögen der Zukunft entwickeln?

Die Auswirkungen von Wetter und Klima auf die Geopolitik können dramatische Formen annehmen. Nicht nur einmal haben in der Vergangenheit die Launen des Wetters und ungenügende Vorhersagefähigkeiten den Gang der Geschichte verändert. Stürme etwa haben bei mehreren historischen Wendepunkten eine ausschlaggebende Rolle gespielt. Ende des 13. Jahrhunderts entsandte Kublai Khan eine Invasionsflotte gegen Japan. Ein Taifun versenkte über 200 der 700 mongolischen Schiffe, rund 13000 der insgesamt 28000 Soldaten ertranken. Der Rest zog sich zurück. Die Japaner sprachen vom Götterwind, dem Kamikaze.23 1588 fügten heftige Stürme den Resten der zur Eroberung Großbritanniens ausgeschickten spanischen Armada schwere Verluste zu, und zum Dank dafür prägten die Engländer einen berühmten Orden mit der Aufschrift »God blew with His winds and they were scattered«.24 Weniger gnädig gesonnen war Gottes Wetter den Briten während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, als widrige Winde ihre Schiffe bei der Schlacht von Long Island vom Landen abhielten. Andernfalls hätten sie gute Aussichten gehabt, George Washington und seine Truppen zu umzingeln.25 Glück hatten die USA 1991 während des Golfkrieges, als stürmische Winde Saddam Hussein daran hinderten, seine Scud-Raketen abzufeuern.26 Im März 2003 dagegen wurde die amerikanische Invasion im Irak wegen heftiger Sandstürme drei Tage lang aufgehalten.27 Mit anderen Worten: Wetter und Klima sind strategische Faktoren.

Militärplaner sind sich der Gefahr bewusst. Während des Zweiten Weltkrieges profitierte die Wetterkunde von den technologischen Innovationen, die von den Meteorologen des United States Army Air Corps entwickelt wurden. Und als während des Kalten Krieges strategische Langstreckenbomber eine zusehends wichtigere Säule der Abschreckung wurden, war es von entscheidender Bedeutung, selbst das Wetter auf fernen Kontinenten vorhersagen zu können. So weist eine 1996 erstellte Studie der U.S. Army darauf hin, dass die nordkoreanische Führung Wetterdaten als »strategische Waffe« einstuft und Befehl erteilt hat, jeden in Gefangenschaft geratenen südkoreanischen Meteorologen standrechtlich hinzurichten. »Angesichts einer derart extremen Haltung«, so der Bericht weiter, »werden die nordkoreanischen Militärplaner sehr geneigt sein, ihr Wissen um die lokalen Wettermuster einzusetzen […]. Sie könnten zum Beispiel einen schweren Taifun als Deckung für ihren anfänglichen Vorstoß nach Südkorea nutzen. Inmitten von Stürmen, schweren Regenfällen, Morast und Überschwemmungen wird Chaos regieren, und für ihre Strategie gilt: Je mehr Chaos, umso besser.«28

Hier bewerteten die amerikanischen Strategen ein einzelnes extremes Wetterereignis wie eine »dritte Armee« auf dem Schlachtfeld. Weitaus komplexer wird die Sache, addiert man die Effekte des Klimawandels zu den Gefahren einer ohnehin schon explosiven Region. 2007 veröffentliche eine mit elf pensionierten US-Generälen und -Admirälen besetzte Gruppe einen wegweisenden Report mit dem Titel National Security and the Threat of Climate Change, in dem sie unter anderem erklärten, dass »der Klimawandel in einigen der labilsten Regionen der Welt als Bedrohungsvervielfacher wirkt«.29 Die Offiziere warnen davor, dass ökologische Stressfaktoren schwelende Krisen zu offenen Konflikten machen können. Das würden nach ihrer Überzeugung auch die Vereinigten Staaten zu spüren bekommen. »Klimawandel«, so ihre Schlussfolgerung, »stellt eine schwerwiegende Bedrohung der amerikanischen nationalen Sicherheit dar.«30

Der Klimawandel platzt in interessante Zeiten – im Sinne des berüchtigten chinesischen Fluches, der Feinden interessante Zeiten an den Hals wünscht. Das Ende des Kalten Krieges war eben doch nicht das »Ende der Geschichte«. Neue Bruchlinien zeichnen das Gesicht der Erde. Der asiatische Kontinent steht immer stärker im Zeichen des Konkurrenzkampfes zwischen Indien und China. Die USA orientieren ihre militärische Macht Richtung Asien – und lassen ein Europa hinter sich, das seine eigene Rolle noch nicht gefunden hat. Russland, die Ressourcen-Supermacht, kämpft sich mit allen Mitteln zu alter Größe empor. Afrika und Südamerika verlangen zentrale Rollen im globalen Spiel. Überall entstehen Reibungsflächen, zwischen die der Klimawandel zusätzlichen Zündstoff wirft.

Die Verbindung zwischen Militär und Klimaforschung hat in den USA eine lange, streckenweise dunkle Geschichte. Der radioaktive Staub der Atombombentests der 1940er- bis 1960er-Jahre wurde durch die gewaltige Energie dieser Explosionen bis in hohe Schichten der Atmosphäre geschleudert und in der Folge als Fallout auf dem Erdball verteilt. Im »Nahbereich« von 1000 Meilen war die Strahlung des Bikini Snow noch so groß, dass viele der Menschen an Schilddrüsenkrebs erkrankten. Ich habe 1993 auf den Marshall Islands Opfer dieser »Tests« kennengelernt. Sie lebten, im Stich gelassen, immer noch auf Inseln, auf die sie nach den Tests, angeblich »vorübergehend«, zwangsweise umgesiedelt wurden. Es war ein Schock, zu sehen, wie leichtfertig Höllenwaffen gezündet worden waren, deren Wirkung niemand überblickte. Der Kalte Krieg diente den Verantwortlichen zur Rechtfertigung unverantwortlicher Experimente.

Überrascht stellten Waffenentwickler und Atmosphärenforscher damals fest, dass die Vorgänge im Inneren der kompakten Atombomben und in der Weite der Erdatmosphäre denselben Gesetzen der Strömungsphysik gehorchen. Deshalb stammen manche Computermodelle zur Berechnung der Folgen des Klimawandels aus Labors, die zur Entwicklung der Nuklearsprengköpfe gegründet wurden. Unter ein und demselben Dach bildeten sich damals auch schon Lager der »Klimaforscher« und der »Klimaskeptiker«, die sich bis heute streiten.31

Dieses Buch berichtet von unseren Reisen zu den Brennpunkten dieser Entwicklung und schildert Begegnungen mit Menschen, die darüber schon länger und härter nachdenken mussten als wir. Die Gefahren, von denen hier die Rede sein wird, kennen keine Grenzen. Der Planet Erde mag schon ganz andere Veränderungen des Klimas erlebt haben als das, was nun beginnt. Aber nicht die Menschen. Die Menschen der Altsteinzeit waren weniger zahlreich als die Einwohner einer einzigen mittleren Großstadt heute. Und sie waren es gewohnt, ihre wenigen Habseligkeiten zu packen und weiterzuziehen, wenn Wetter oder die Wanderungen der Beutetiere es verlangten.32 So leicht ist das heute nicht mehr. Für uns Menschen des 21. Jahrhunderts beginnt eine Herausforderung, auf die wir nicht vorbereitet sind.

6»Monsoon gloom strikes South Asia«, in: New Scientist, 24. Mai 2006.

7http://www.wmo.int/pages/prog/wcp/wcdmp/documents/1085_en.pdf

8WMO (World Meteorological Organization) Statement 2011, S. 13/14.

9»Little Ice Age: Big Chill«, History Channel, 26. November 2005.

10Ebenda.

11Katharine Anderson: »The weather prophets: science and reputation in Victorian meteorology«, in: History of Science 37, 1999, S. 179–216.

12Ross Couper-Johnston: El Niño; the weather phenomenon that changed the world, London: Coronet Books, 2000.

13Anderson, »The weather prophets«.

14Mehr zur Geschichte des Met Office findet man unter www.metoffice.gov.uk/

15Siehe www.metoffice.gov.uk/climatechange/science/hadleycentre/

16Zwischenstaatlicher Ausschuss für Klimaänderungen (Intergovernmental Panel of Climate Change), www.ipcc.ch

17Stefan Schmitt: »Eiskalt geirrt«, in: Die Zeit, 28. Januar 2010, http://www.zeit.de/2010/05/U-IPCC

Chronik der Missverständnisse in http://www.zeit.de/2010/05/U-IPCC-Kasten und http://www.zeit.de/wissen/umwelt/2010-01/gletscherprognose-kritik/seite-1

18Government of India, Ministry of Environment and Forests: »Melting of Himalayan Glaciers«, 8. August 2011, http://pib.nic.in/newsite/PrintRelease.aspx?relid=74091

19»Billions face climate change risk«, BBC News, 6. April 2007.

20Sun Tzu und Shang Yang: The Art of War/The book of Lord Shang. London, Wordsworth Editions, 1998, S. 63.

21William Moy S. Russell: Man, Nature and History: Controlling the Environment, London: Aldus Books, 1967.

22Jay Chapman: »England’s wine renaissance«, in: Geotimes, August 2004.

23Privater Briefwechsel mit Prof. W. M. S. Russell, Juni 2006.

24Ebenda.

25National Security and the Threat of Climate Change, CNA Corporation, 2007, http://securityandclimate.cna.org/

26Ebenda.

27Ebenda.

28John Neander: El Niño – its far-reaching environmental effects on Army tactical decision aids, U.S. Army Topographic Engineering Center, Alexandria, Virginia, 1996.

29»National Security and the Threat of Climate Change«, http://www.npr.org/documents/2007/apr/security_climate.pdf

30Ebenda. Privater Briefwechsel Cleo Paskal.

31Paul N. Edwards: »Entangled histories: Climate science and nuclear weapons research«, in: Bulletin of the Atomic Scientists, Juli/August 2012, Nr. 68, S. 28–40.

32Center for Strategic and International Studies (CSIS): The Age of Consequences, Washington 2007, S. 23.

KAPITEL 2

Im Klimastress

Vorahnungen in New York

Es waren nicht nur die sechs Stunden Zeitunterschied, die mich nicht schlafen ließen. Irgendetwas stimmte nicht mit der vertrauten Geräuschkulisse von New York. Es fehlte das Rollen der Reifen über nassen Asphalt. Hupen und Polizeisirenen drangen nur von Weitem durch die Häuserschlucht, nichts davon kam offenbar aus unserer Straße. Es wäre unnatürlich ruhig gewesen, hätte es nicht immer wieder diesen gewaltigen, nassen Schlag gegeben. Es klang, als versuche ein gigantischer Albatros, sich beim Start von der Wasseroberfläche zu lösen. Ich machte mir im Halbschlaf Gedanken, wie das zu erklären sein könnte. Dann stürzte offenbar aus großer Höhe ein schweres Stück Metall auf die Straße. Nun reichte es mir. Ich ging zum Fenster meines Hotelzimmers an der 49. Straße und zog die Jalousien nach oben. Es war eine stürmische Nacht. Der Wind hatte eine gewaltige Plane vom Baugerüst am Haus gegenüber heruntergerissen. Die riesige Plastikplane zerrte wie ein Segel an dem Gestänge und schlug immer wieder heftig dagegen, als wollte sie sich befreien.

Das also war mein Albatros, 14 Stockwerke hoch. Er hatte genügend Kraft, um weitere Verbindungen zu zerreißen und Teile des Gestänges aus den Verankerungen zu lösen. Mit jedem Bruch vergrößerten sich die Fläche und die Kraft des Segels. Eine äußerst heikle Lage. Jeden Moment konnte das ganze Gerüst zusammenstürzen. Das New York City Police Department hatte die gesamte Straße gesperrt, nun hielten sich die Beamten in sicherer Entfernung. Mit ungewöhnlicher Diskretion hatten sie ihre Sirenen ausgeschaltet. Nur die Signalbalken auf den Dächern ihrer Wagen schickten blaue Blitze durch die Regennacht. Mit der schläfrigen Gleichgültigkeit, die zu einer Jetlag-Nacht gehört, trollte ich mich zurück ins Bett für ein paar weitere unruhige Stunden.

Nach dem Frühstück musste ich das Hotel durch den Hintereingang zur 48. Straße verlassen. Als ich am späten Nachmittag von meinen Terminen zurückkam, um das Gepäck für den Rückflug nach Deutschland zu holen, war die 49. Straße weiter gesperrt. Der Wind war deutlich abgeflaut, aber der Polizei war es immer noch zu gefährlich, sich dem schwankenden Gerüst zu nähern. Das konnte ich gut verstehen, aber ich war nicht sehr beeindruckt von den Fähigkeiten der New Yorker Polizei, auf einen Zwischenfall zu reagieren, der in den Häuserschluchten von Manhattan ja nicht so ungewöhnlich sein konnte.

An dieses kleine Erlebnis musste ich denken, als ich im August 2011 aus sicherer Entfernung verfolgte, wie New York sich auf Hurrikan »Irene« vorbereitete. Der Wirbelsturm rollte gerade mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 150 Stundenkilometern auf die Küste von North Carolina zu. Die Vorhersagen des National Hurricane Center besagten, dass er dann auf nördlichen Kurs drehen werde, zielbewusst, als hätte er Manhattan im Visier. Bürgermeister Michael Bloomberg wusste den Bürgern seiner Stadt nichts Besseres zu empfehlen als die Flucht. Für 370000 Menschen in New York wurde Evakuierung angeordnet. »Warten Sie nicht bis zum letzten Augenblick«, drängte er, umringt von den Chefs von Polizei, Feuerwehr, Katastrophenschutz und Metropolitan Transit Authority. »Samstag, wenn der Sturm hier erwartet wird, kann es zu spät sein.« Er wusste schon, dass er dann zumindest in den tief liegenden Bezirken von Süd-Manhattan sämtliche Verkehrssysteme stilllegen musste. Das vom Sturm in die Bucht gedrückte Wasser des Hudson River würde in die U-Bahn-Schächte stürzen. Die Verantwortlichen mussten damit rechnen, dass die Glasfassaden vieler Wolkenkratzer dem Winddruck nicht standhalten und als tödlicher Scherbenregen in die Häuserschluchten stürzen könnten. Manhattan ist für diese Art von Wetter buchstäblich nicht gebaut. Warum auch? In den letzten 200 Jahren wurde New York City nur wenige Male von so gewalttätigen Stürmen heimgesucht.33 1821 überflutete ein Hurrikan das südliche Drittel von Manhattan, 1938 stand Midtown – wo Times Square, Empire State Building und die meisten Broadway-Theater liegen – hüfttief unter Wasser.

Dank der üblichen Aufgeregtheit der Medien nahm ganz Amerika Anteil an dem heranrasenden Wirbelsturm. Sämtliche Fernsehprogramme hyperventilierten mit beinahe minütlichen Statusberichten. Reporter stellten sich, wo immer es ging, in den Sturm und absolvierten ihre stand-ups in Ölzeug und Gummistiefeln. Entlang der vorhergesagten Zugroute galt es als Bürgerpflicht, Wasserkanister und Batterien zu kaufen – und Sperrholz, mit dem man Fenster und Türen verbarrikadieren konnte.

Natürlich rief die Mobilisierung auch Kritiker auf den Plan. Patrick Michaels, Klimaforscher am Cato Institute, einem Sprachrohr des erzkonservativen Lagers, schlug vor, »Irene« in »Hurrikan Medienrummel« umzutaufen.34 Er glaube nicht, dass dieser Sturm mehr als acht Tote »aushusten« werde.

Der zynische Kommentar lag nicht nur im Ton daneben. »Irene« forderte in den USA 48 Tote und richtete einen wirtschaftlichen Schaden von 15,8 Milliarden Dollar an. Besonders die Gebiete nördlich von New York City waren betroffen. Auf der Liste der folgenreichsten Wirbelstürme in der Geschichte der USA steht »Irene« auf Rang sieben.35 New Yorker werden »Irene« vor allem deshalb in dankbarer Erinnerung behalten, weil wenigstens in ihrer Stadt die schlimmsten Befürchtungen nicht wahr wurden. Die Glasfassaden stürzten nicht in die Häuserschluchten, weite Teile der Stadt behielten ihre Stromversorgung, die Wasserleitungen platzten nicht unter dem Überdruck, Hudson und East River traten nur geringfügig und kurz über die Ufer. »Irene« hatte in letzter Minute ihren Kurs geändert und der Stadt einen Schlag mit voller Wucht erspart. Auch ich atmete auf. Es wäre furchtbar gewesen, nach nur sechs Jahren zum zweiten Mal über den Untergang einer großartigen Stadt berichten zu müssen.

Falls, wie erwartet, »Jahrhundertstürme« in Zukunft alle vier Jahre passieren36, wird es auch für New York nicht auf Dauer so gut ausgehen. Wir wissen ja längst, wie die Kraft der Natur eine moderne Stadt zusammenschlagen kann.

Katrina – eine Stadt geht unter

Im Sommer 2005 erlebte ich in der Redaktion – so wie Millionen Menschen rund um die Welt auf ihren Fernsehschirmen –, wie sich New Orleans, eine Stadt voller Leben, Musik und Geschichte und eine der schönsten der Welt, in ein stinkendes Katastrophengebiet verwandelte. Die meisten folgten dem Drama mit dem Wunsch im Herzen, irgendwie helfen zu können. Behörden und Sicherheitsorganisationen weltweit nahmen die Katastrophe mit kühlerem Blick unter die Lupe – weil sie Schwächen im System offenbarte, aus denen man überall lernen sollte.

Um eines gleich klarzustellen: »Katrina« wurde nicht vom Klimawandel ausgelöst. Einzelereignisse sind immer Wetter, nicht Klima. Der Klimawandel führt aber wahrscheinlich dazu, dass solche Einzelereignisse häufiger werden. Da ist entscheidend, was »Katrina« verrät über die Belastbarkeit einer modernen, technologisch fortgeschrittenen Nation, wenn sie von der Natur so auf die Probe gestellt wird.

Im Sommer 2005 war die Bühne für die Katastrophe schon bereit, lange bevor der aufziehende Sturm die ersten Blätter aufwirbelte. Für einige der Probleme war nicht Klimawandel verantwortlich, sondern eine weitaus direktere Spielart der vom Menschen bewirkten Umweltveränderung. »Das Hauptproblem von New Orleans ist«, erklärte Dr. Virginia Burkett vom U.S. Geological Survey, »dass ein großer Teil des Stadtgebiets unter dem Meeresniveau liegt und nur durch Dämme vor dem Wasser geschützt wird. Zu Zeiten der Indianer befand sich das Land noch auf oder knapp über Meereshöhe. Nicht einmal 1718, als New Orleans gegründet wurde, lag das Stadtgebiet unterhalb des Meeresspiegels. Doch als dann Dämme gebaut, das Grundwasser abgepumpt und der Boden trockengelegt wurden, hat sich die ganze organische Materie im Boden zersetzt. Das beschleunigte die Absenkung der Stadt. Deshalb liegt New Orleans heute unter dem Meeresspiegel.«37

Mit ihren Eingriffen nahmen die Menschen also das Absinken einer Stadt in Kauf, die mitten in einem Hurrikangürtel liegt. Städte in Hurrikanzonen werden von Hurrikanen heimgesucht, Städte, die absinken, werden überflutet – so einfach ist das. Was also in New Orleans passierte, hätte keine Überraschung sein dürfen. Und doch traf der Sturm Behörden und Regierungen in der Stadt, im Bundesstaat und in Washington unvorbereitet.

»Katrina« war noch nicht einmal ein besonders kraftvoller Hurrikan. Als der Wirbelsturm New Orleans erreichte, hatte er sich auf Kategorie 3 (von fünf möglichen) abgeschwächt.38 Die Schäden hielten sich zunächst in Grenzen. Doch dann – die Wucht des Windes ließ schon nach – brachen die Dämme. Damit begann die Sintflut. Wasser strömte in die Stadt, ganze Wohnviertel versanken, Befehlsstationen soffen ab, und Fluchtrouten wurden unpassierbar. Die Evakuierungsmaßnahmen wurden chaotisch und mangelhaft koordiniert. Die Notrufzentrale von New Orleans gehörte zu den ersten Einrichtungen, die überflutet und evakuiert wurden. Eigentlich sah der Notfallplan vor, die Anrufe über die städtische Feuerwehrzentrale abzuwickeln, doch die war ebenfalls evakuiert worden. Entscheidende Stunden vergingen, bis die Anrufe bei der darauf völlig unvorbereiteten Notrufzentrale im 120 Kilometer entfernten Baton Rouge eingingen, Tage, bis das Notrufsystem halbwegs wiederhergestellt werden konnte, und in einigen Fällen über ein Monat, bis die letzten Notrufe abgearbeitet waren.39

Die Behörden waren insgesamt mit der Situation überfordert. Zu Beginn kam es vielfach zu unkoordinierten Einzelmaßnahmen, von denen manche einander neutralisierten oder die Probleme sogar noch weiter verschärften. Die Lage hatte sich so zugespitzt, dass, wie Thomas Redmann vom NOPD (New Orleans Police Department) berichtete, »wir nicht mehr wussten, wohin die Befehlszentrale der Polizei verlegt worden war, geschweige denn, wie wir mit ihr kommunizieren konnten. […] Zu Hunderten gingen die Leute mitten am Tag die Canal Street hinunter, rissen die Sicherheitsgitter vor den Geschäften weg und schlugen die Scheiben ein. Sie klauten die Stadt regelrecht leer«.40 Die Plünderer zu verhaften brachte meist nichts, da in den Gefängnissen gleichfalls Chaos herrschte. Zwei Berichten zufolge wurden etliche Häftlinge, darunter auch Minderjährige, mit ein wenig Wasser und Essen zurückgelassen und standen zum Teil bis zur Brust in der stinkenden Brühe.41 Viele Polizisten leisteten inmitten des Chaos vorbildliche Arbeit, aber viele eben auch nicht. Am dritten Tag nach »Katrina« blieb ein Drittel der Polizisten des NOPD unentschuldigt dem Dienst fern.42

Als am Tag vier die Nationalgarde die Stadt erreichte, stattete Gouverneurin Kathleen Blanco sie mit der Vollmacht aus, notfalls »tödlichen Gebrauch von der Schusswaffe« zu machen: »Die Nationalgardisten tragen M16-Gewehre, und die sind geladen und entsichert. Diese Truppen wissen, wie man schießt und wie man tötet, und ich gehe davon aus, dass sie das zur Not auch tun werden«, erklärte Blanco.43 In den folgenden Tagen kam es in New Orleans zu etlichen fragwürdigen und zum Teil tragischen Todesfällen durch Schusswaffengebrauch – nach den Drohungen der Regierungschefin des Staates war das kaum verwunderlich.44

New Orleans verwandelte sich in eine No-go-Area, in der bewaffnete Truppen versuchten, mit kriminellen Banden fertigzuwerden. Privaten Sicherheitsunternehmen wie der aus dem Irak-Krieg berüchtigten Söldnerfirma Blackwater wurden quasi hoheitliche Befugnisse eingeräumt. Ihre Truppen wurdennoch vor dem Roten Kreuz nach New Orleans hineingelassen.45 Dass Einwohner der Stadt – vor allem Schwarze – damit als potenzielle Kriminelle und nicht als Opfer betrachtet wurden, war für 100000 betroffene Bürger eine Beleidigung in einer Lage, in der sie solidarische Hilfe dringend gebraucht hätten. Die Söldner von Blackwater kümmerten sich allem Anschein nach weniger um Rettungs- und Hilfsarbeiten als um den Schutz teurer privater Immobilien vor Plünderern.46

Der Absturz einer großartigen Stadt in die Anarchie brauchte nicht mehr als vier Tage. Die Behörden waren auf mehreren Ebenen gelähmt, die Kommunikationslinien zusammengebrochen, Polizei und Militär überfordert. Dass man die Anwendung roher Gewalt als Lösung betrachtete, deutet ebenfalls darauf hin, dass New Orleans unvorbereitet war auf eine Katastrophe, die nur eine Frage der Zeit war.

Auch später, bei den Bemühungen, die Folgen von »Katrina« in den Griff zu bekommen, traten Probleme auf. Rund 800000 Menschen wurden aus der Region geschafft, Familien auseinandergerissen und Hunderttausende in eilig eingerichteten Trailer Camps von Atlanta bis San Antonio untergebracht. Die amerikanische Bundesbehörde für Katastrophenhilfe (Federal Emergency Management Agency, kurz FEMA) verteilte zwar Milliarden US-Dollar, doch das System versagte in vielen Bereichen. So wurden laut Schätzungen des US-Rechnungshofes Auszahlungen für betrügerische Ansprüche in Höhe von 600 Millionen bis 1,4 Milliarden US-Dollar geleistet.47

Gleichzeitig erhielten Hunderttausende der »Katrina«-Flüchtlinge aus Louisiana zu wenig Unterstützung und Hilfen, was dazu führte, dass die Konflikte auch auf zuvor nicht betroffene Gebiete übersprangen. Besonders deutlich zu spüren bekam das Houston, das rund 150000 »Katrina«-Flüchtlinge aufnahm. Da hatte sich die texanische Stadt zu viel zugemutet. Innerhalb weniger Wochen kam es beispielsweise an Schulen in Houston zu Kämpfen zwischen den ortsansässigen und den aus New Orleans umgesiedelten Jugendlichen.48 Mit einem Anstieg der Morddelikte um fast 20 Prozent erreichte die Verbrechensrate in Houston ein Jahr nach »Katrina« einen Rekordstand, an rund jedem fünften Mordfall war als Opfer oder Verdächtiger ein Flüchtling aus den evakuierten Gebieten beteiligt.49 In den völlig überlasteten Notaufnahmen der Krankenhäuser drängten sich »Katrina«-Opfer ohne Krankenversicherungsschutz, die Häufigkeit sexuell übertragbarer Infektionen stieg an, und überproportional viele der Flüchtlinge brauchten teure Antidepressiva. Der Stadt Houston ging das Geld aus. Für Bürgermeister Bill White war ein Jahr nach »Katrina« klar, dass »der Notstand noch immer andauert«.50 Das nächste Mal, wenn US-Städte aufgefordert werden, Flüchtlinge aus dem eigenen Land aufzunehmen, könnten sie deutlich zurückhaltender reagieren.

Auch in New Orleans selbst hielten die Probleme an. Im Juni 2006 forderte die Gouverneurin wegen der sich weiter verschärfenden Kriminalität erneut Soldaten an, um in der Stadt für Sicherheit zu sorgen.51 Noch ein Jahr nach »Katrina« lag die Einwohnerzahl bei nur der Hälfte des früheren Stands. Die Selbstmordrate hatte sich nahezu verdreifacht, Teile der Stadt waren immer noch verseucht.52 Die gesellschaftlichen Auswirkungen von »Katrina« waren noch lange nicht überstanden.

Das Ausmaß der materiellen Zerstörung war gigantisch. Insgesamt wurden die durch den Hurrikan angerichteten Schäden auf über 100 Milliarden US-Dollar geschätzt53 – mehr als die Kosten für den amerikanischen Einsatz im Irakkrieg im selben Jahr.54 »Katrina« zeichnete die Küstenlinie am Golf neu. Allein Louisiana verlor durch den Hurrikan geschätzte 56000 Hektar Land. Auch viele der durch die Trockenlegung von Feuchtgebieten und die Kanalisierung des Mississippi sowieso schon in ihrer Schutzfunktion geschwächten Inseln wurden massiv getroffen. Die wichtigen Chandeleur-Inseln etwa, die in Richtung New Orleans ziehende Stürme wie eine Art Bremsschwelle verlangsamen, verloren durch »Katrina« rund 85 Prozent ihrer Fläche.55

»Katrina« und der nur einen Monat später folgende Hurrikan »Rita« zerstörten 113 Förderplattformen, schalteten nahezu ein Fünftel der amerikanischen Raffineriekapazitäten aus und beschädigten Hunderte von Pipelines.56 Die Öl- und Gasförderung im Golf von Mexiko brach ein und ließ weltweit die Ölpreise in die Höhe schnellen.57