Spiele um Segen und Verdammnis - Jana Ulmer - E-Book

Spiele um Segen und Verdammnis E-Book

Jana Ulmer

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Beschreibung

Einst war sie die fähigste Assassinin der Boten des Lichts. Nun ist sie die Geheimwaffe eines Lords. Ein grausamer Verdacht führt Aveny Macall in das Königreich Presien. Ist die Organisation aus Assassinen, der sie angehörte, wirklich wiederauferstanden? Getarnt als erwählte Wächterin, nimmt sie an den Ehrenspielen teil und sucht im Arenakomplex nach Hinweisen. Dabei begegnet sie Kaelan Walsh aus dem Dorf ihrer Kindheit. Niemals darf er von ihrer Vergangenheit erfahren, erst recht nicht, dass sie zu einer Tristi herangezüchtet wurde. Doch auch er ist wegen eines Geheimnisses auf der Suche nach Antworten. Und plötzlich verfolgen Aveny und Kaelan dasselbe Ziel ...

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Für Mama.

Danke für deinen Glauben an mich und deinen Ansporn.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

In der Hafenstadt Edokian war es selbst am späten Abend belebt.

Fischer fuhren über Nacht auf das Meer hinaus, aus Tavernen und Gasthäusern drang Musik gepaart mit dem Gesang Betrunkener, und die milden Temperaturen wurden für Spaziergänge genutzt. Bei der herrschenden Hitze wagte sich tagsüber kaum jemand raus.

Am Horizont, wo das Meer und der Himmel aufeinandertrafen, war die Sonne nur noch als winziger rotglühender Halbkreis inmitten eines dünnen Lichtstreifens auszumachen.

Der sternenlose Himmel, das Meer und die Stadt selbst waren in ein tiefes Blau getaucht, unterbrochen von dem Leuchtturm und den Öllaternen in den Straßen.

Aveny Macall saß auf dem Dach eines Wirtshauses und verschmolz in der schwarzen, eng anliegenden Kleidung mit der Dunkelheit. Das Treiben unter ihr interessierte sie nicht. Ihre Aufmerksamkeit galt allein dem größten Schiff im Hafen.

Am Nachmittag war es vom Südkontinent hierher nach Gawa zurückgekehrt. Zusammen mit etlichen Reisenden, den Schiffsarbeitern und ihrem Kapitän. Dieser war kein Geringerer als Benkei Kasuke.

Er war nicht nur Kapitän des schnellsten Schiffes in Gawa, sondern auch Besitzer der größten Reederei der Welt. Wer immer die Boten des Lichts mit seiner Tötung beauftragt hatte, musste sich viel davon versprochen haben.

Aveny war es eine große Ehre, dass der Meister sie für diesen Auftrag auserwählt hatte. Denn für sie war es nicht irgendein weiterer Mord. Nein, nur noch dieser eine, damit sie aufstieg – als Allererste.

Das Pulsieren ihrer Adern, das sie aufgrund der regelmäßigen Dosis Kraft fähig war zu hören, stieg an. Wann kam er endlich heraus? Alle anderen Passagiere hatten das Schiff längst verlassen. Ihre Fingernägel kratzten über die rauen Dachschindeln. Am liebsten wäre sie in das Schiff eingebrochen, aber hier gab es zu viele Zeugen, was ihr sonst egal gewesen wäre. Nur nicht heute. Heute würden weitere potentielle Opfer nur stören.

Aveny mahnte sich gerade zur Geduld, als jemand heraustrat und die Planke zum Pier entlangschritt. Das war Benkei Kasuke. Sie erkannte ihn von dem Gedankenbild, das ihr in den Kopf gepflanzt worden war, wieder.

Aveny zog sich die Kapuze ihres Umhangs über den Kopf und folgte ihm, sprang von Dach zu Dach, von Gemäuer zu Gemäuer. Ein lautloser Schatten.

Als er in eine menschenleere Seitengasse bog, nahm sie Anlauf und sprang direkt vor seine Füße. Noch während er die dunklen Augen vor Schreck aufriss, zog sie ihren Dolch und schlitzte ihm die Kehle auf.

Aveny sah zu, wie Benkei Kasuke röchelnd und sich an den blutüberströmten Hals fassend auf die Knie fiel. Eine unausgesprochene Frage stand in seinem Gesicht geschrieben, die sie nur allzu oft in denen ihrer Opfer sah: Wieso?

Wie immer gab sie keine Antwort, den Grund kannte sie ohnehin nicht.

Ein letztes langgezogenes Röcheln, dann kippte er um. Bevor er auf dem harten Pflaster aufkam, trat sie ihn nach hinten. Jemand würde seine Leiche in Kürze finden und dann sollte er auf dem Rücken liegen.

Aveny beugte sich über ihn und fuhr sanft mit dem Finger seine Stirn entlang. Das Bildnis eines Flügelpaares brannte sich an der Stelle ein und färbte das rosige Fleisch kohlrabenschwarz.

Sie blieb sitzen und wartete ab.

Dann, endlich, überkam Aveny eine Art Kribbeln in der Magengegend. Anfangs war es so leicht, dass sie erst glaubte, es sich einzubilden. Es stieg an, breitete sich in ihren Organen und Knochen aus, ging über auf ihr Fleisch. Aveny stieß den Kopf nach hinten, als es sich über ihre Haut zog und sie vollkommen einnahm.

Während ihr Zittern allmählich abebbte, tauchten drei Gestalten vor ihr aus dem Nichts auf. Die eine in der Mitte war ein Mensch; jedenfalls nahm Aveny das an. Die Kinder der Organisation hatten sein Gesicht nie gesehen, denn es wurde stets von der Kapuze seines Umhangs vermummt.

Langsam erhob sie sich.

»Du hast es geschafft«, drang die raue Stimme ihres Meisters emotionslos aus der Kapuze hervor. »Ich bin stolz auf dich. Mit gerade mal vierzehn Jahren bist du die Erste, die vollkommen wurde.«

»Es ist mir eine Ehre, Meister«, erwiderte Aveny schnurrend. Ihr immerwährendes Lächeln wurde eine Spur breiter.

Ihr Meister war hochgewachsen, doch er reichte seinen Begleitern zu beiden Seiten gerade mal bis unter das Kinn. Aveny stockte der Atem.

Zwei muskulöse Männer, deren Rücken Flügel zierten, wie die Miniatur auf der Stirn der Leiche zu ihren Füßen. Man hätte meinen können, es seien Federflügel. Erst bei näherer Betrachtung fiel auf, dass sie aus dünnen Eisenschuppen bestanden, schimmernd in der Dunkelheit wie etliche Obsidiane. Die Ohren der Männer liefen spitz zu und ihre roten Augen glühten in der Halbfinsternis.

Tristi – die finsteren Gottesdiener. Es war das erste Mal, dass sie welche zu Gesicht bekam.

»Zeig dich uns in deiner Vollkommenheit, Aveny Macall«, forderte der eine zur Rechten ihres Meisters sie auf.

Aveny befreite sich von ihrem Umhang und schloss die Augen. Ein heftiges Ziehen schoss durch ihren Körper, so schmerzhaft, dass sie einen Schrei unterdrückte.

Sie wusste, dass ihre Augen rot glühten, als sie diese wieder öffnete und die Tristi zufrieden dreinblickten. Und spürte, dass ihre Eckzähne lang waren, als sie mit der Zungenspitze dagegen stieß.

Aveny blickte über die Schulter zu dem Flügelpaar, das aus ihrem Rücken herausgeschossen war. Exakt an der Stelle ihrer Tunika, an der Schlitze eingearbeitet worden waren. Die Flügel wogen schwer, doch sie hielt dem Gewicht stand.

»Schon bald könnt ihr sie in eure Dienste einweisen«, sprach ihr Meister zu den Gottesdienern. »Es liegt nur noch eine Aufgabe vor ihr.«

Die Zähne der Tristi blitzten auf, als sich ihre wohlgeformten Lippen zu einem Lächeln verzogen. Avenys eigenes Lächeln wurde erneut eine Spur breiter.

Endlich, sie war vollkommen.

Name: Benkei Kasuke

Alter: 34 Jahre

Auftraggeber: unbekannt

Hinterlassene Familie: Ehefr au, drei Söhne, eine Tochter, vier Brüder, zwei

Schwestern, Mutter und Vater

Tötungsart: Ich habe seine Kehle aufgeschlitzt.

Avenys Opfer begleiteten sie bis in ihre Träume hinein. Sie hatte die Hoffnung aufgegeben, dass es jemals aufhören würde, und mittlerweile gelernt, damit zu leben.

Anfangs war sie zitternd und schweißgebadet erwacht, hatte sich in der Dunkelheit beobachtet gefühlt. Als verfolgten sie Aveny aus dem Jenseits; eine Art Rache für das, was sie ihnen angetan hatte. Nur mit brennender Laterne neben dem Bett hatte sie schlafen können. Das hatte sie irgendwann auf die Idee mit den Steckbriefen gebracht.

Nach jedem dieser Träume nahm Aveny ein Blatt Pergament und eine Schreibfeder zur Hand, schrieb den Namen des Opfers auf und alles, was sie über sein Leben wusste.

Das waren mal mehr, mal weniger Zeilen. Doch die erste für den Namen sowie die letzte für die Art der Tötung war auf den Blättern immer zu finden, denn an beides erinnerte sie sich jedes Mal genau. Obwohl es unzählige Opfer waren und obwohl all das etwa fünf Jahre zurücklag.

Dann riss sie das beschriftete Stück ab und warf es in das Laternenfeuer. Aveny wusste nicht, wieso, aber es half ihr, im Anschluss ruhigen Schlaf zu finden.

So auch jetzt. Sie sah dabei zu, wie das Pergament in der brennenden Laterne sich schwärzte, sich zusammenzog und zu Asche zerfiel.

Aveny löschte das Feuer, drehte sich auf die andere Seite und schloss die Augen – nur um sie kurz darauf wieder zu öffnen. Jetzt fiel es ihr auf. Sie wohnte nicht seit etwa fünf Jahren in Cantia, der Hauptstadt des ersten Seenlandes. Sondern auf den Tag genau.

Lange hatte es gedauert, ein eigenständig denkendes Mädchen aus ihr zu machen. Damals war sie zwar weit von einer normalen Vierzehnjährigen entfernt, aber zumindest ein klarer Verstand war vorhanden gewesen; statt der ständigen Mordlust. Bei der Erinnerung daran zog sich Aveny tiefer in die Decke zurück.

Die Zeiten bei den Boten des Lichts waren vorbei, die Organisation existierte nicht einmal mehr. Aveny führte ein normales Leben als Küchengehilfin, weil Lord Thain an das Gute in ihr glaubte.

Bis heute war sie ihm dankbar. Jeden Tag.

»Nicht schlafen, Avy!«, holte die schrille Stimme der Küchenchefin Marcy sie aus ihren Gedanken. »Bis heute Abend muss alles vorbereitet sein, deshalb gib jetzt alles. Verstanden?« Sie wartete, die Hände in die Hüften gestemmt, Avenys Antwort ab. Strähnen ihrer hochgesteckten strohblonden Locken fielen über das vom Dampf gerötete Gesicht.

»Verstanden, Marcy.« Aveny war anzuhören, dass sie nicht ganz anwesend war.

Marcy nahm eine Kartoffel aus dem Korb und legte sie auf ein Schneidebrett. »Dösen können wir uns nicht leisten, und dazu bist du heute nur für wenige Stunden eingeteilt. Obwohl wir dich, wissen die Götter, den ganzen Tag über gebrauchen könnten. Seis drum, Lord Thain hat darauf bestanden, dass du nachher trainierst, so wie jeden Tag. Deshalb streng dich an. Dafür bekommst du gegen Feierabend einen besonders großen Schokotrüffel.«

Der Gedanke an Marcys Schokotrüffel ließ Aveny tatsächlich ein wenig munterer werden. »Du weißt, wie man mich motiviert.«

Marcy zwickte sie in die Wange und huschte in Richtung Kessel, in dem die Hühnersuppe zur Vorspeise für das Bankett heute Abend köchelte.

In der Burgküche roch es nach dem Suppenhuhn, gekochten Möhren und Dill. Wenn sie bald die anderen Gerichte zubereiteten, würde sie voll von köstlichen Gerüchen sein. Braten mit Kartoffelbrei zur Hauptspeise und zum Nachtisch gab es verschiedene Kuchen.

Obwohl Aveny vor nicht einmal einer Stunde zu Mittag gegessen hatte, knurrte ihr Magen bei der Vorstellung. Schade, dass sie bei dem Bankett selbst nicht anwesend sein würde. Aber vielleicht schaffte sie es später, etwas zu stibitzen.

In Sekundenschnelle schälte sie die Kartoffel und warf sie in den Kessel. Sie nahm die zweite zur Hand. Oft hatte sie sich vorgenommen, damit aufzuhören, die Zeit zu zählen, wenn sie etwas schnippelte oder schälte. Vergeblich, es war längst zur Gewohnheit geworden.

Eins – zwei – drei – vier – fünf – sechs, und ab in den Kessel.

»Sag mal, Avy«, setzte Finn neben ihr an, während er das Fleisch würzte, »hat Kad in den letzten Tagen irgendwie … nervös auf dich gewirkt?«

»Meinst du, weil er zu den Favoriten gehört?«, fragte Aveny, ohne von der nächsten Kartoffel aufzuschauen, die sie schälte. Sie überlegte, ob Kad sich in letzter Zeit anders als sonst verhalten hatte und zuckte mit den Schultern. »Nein, mir ist nichts aufgefallen.«

»Alim und Giuliana sieht man die Aufregung an, aber bei ihm …« Finn schürzte die Lippen und schüttelte langsam den Kopf. »Ich dachte, vielleicht verhält er sich seiner besten Freundin gegenüber offener.«

»Tut er auch normalerweise.« Das stimmte. Kad war ein offener Mensch, nicht nur Aveny gegenüber.

»Vielleicht ist er ganz einfach nicht aufgeregt«, überlegte Rhona an Avenys anderer Seite. »Kann es sein, dass er … na ja … ein ziemlich großes Selbstvertrauen hat?«

Aveny zog die Brauen hoch. »Er hat genug Selbstvertrauen für zwei von seiner Sorte.«

Sie gaben alle drei ein kurzes, aber lautes Lachen von sich.

»Konzentration, heute muss es schnell gehen!«, rief Marcy vom Suppenkessel her, woraufhin sie auf der Stelle verstummten.

Marcy hatte nicht zugelassen, dass Aveny persönlich die Kartoffeln mit Milch mischte und zu Brei stampfte, obwohl sie am besten darin war. Aveny erinnerte sie ausdrücklich daran, an die Prise Muskatnuss zu denken. Wirklich nur eine Prise. Nicht mehr, aber auf keinen Fall zu wenig. Verdammt, wieso konnte sie das nicht selbst machen?

Nein, Marcy hatte ihr einen Schokotrüffel in die Hand gedrückt, sie aus der Küche geschoben und daran erinnert, dass ihr Training bald stattfand.

»Richte Kad viel Glück von mir aus!«, hatte sie ihr nachgerufen.

Nun schritt Aveny Schokotrüffel kauend die Gänge zu ihrer Kammer entlang. An allen Ecken waren Wächter aufgestellt, jeder von ihnen mit einer Waffe aus seinem Herkunftsland ausgestattet. Sie waren in himmelblaue Uniformen gekleidet, an deren Rücken Flügel aus silbernem Garn eingenäht waren.

Einige erwiderten Avenys Gruß freundlich oder weniger freundlich, andere sahen nur finster drein. Aveny straffte die Schultern, als sie an einem von der zweiten Sorte vorbeizog.

Sie verübelte es ihnen nicht. An ihrer Stelle hätte sie wohl zu denjenigen gehört, die nur darauf warteten, dass die Botin des Lichts in ihr sich wieder zeigte.

Sie verbannte diese Gedanken, während sie ihre Kammer betrat und die Tür hinter sich schloss. Ein Einzelbett, eine winzige Kleiderkommode, ein Nachttisch und ein Standspiegel auf engstem Raum. Ein Badezimmer, in dem knapp drei Personen von ihrer athletischen Statur reinpassten, gehörte zur Kammer dazu. Aber Aveny reichte das. Es war ihre eigene kleine Welt.

Aus dem Fenster hatte sie einen prächtigen Ausblick auf den Regnes. Dem größten See aller zehn, die es in den fünf Seenlanden gab, und gleichzeitig der größte des Nordkontinents. An seinem Ufer erstreckte sich die Stadt Cantia. Zu der Burg, die auf einer Felseninsel erbaut worden war, führte eine lange Steinbrücke.

So sehr Aveny die Küche und das Kampftraining liebte, genoss sie dazwischen die Ruhe hier. Oder bei einem Spaziergang im Garten der Burg.

Aber jetzt blieb keine Zeit, um sich auszuruhen. Kleid und Schürze tauschte sie gegen eine hautenge schwarze Tunika mit passender Stoffhose. Ihre bernsteinblonden Wellen befreite sie von der Haube und band sie nach hinten. In den Waffengürtel, den sie sich um die Hüfte schnallte, befestigte sie einen Dolch, Sai-Gabeln und Jo-Stab.

Dann begab sie sich auf den Weg zu ihrem Training mit Kad. Das vorerst letzte, wenn er heute Abend als Vertreter des ersten Seenlandes für die Ehrenspiele auserwählt werden würde.

Aveny nahm den Jo-Stab in die Hand, bevor sie die Tür hinaus zum Trainingsplatz erreichte. Ihre Finger streichelten zärtlich das pechschwarze Kurozai-Holz, aus dem er gearbeitet war. Nur mit einem speziellen Metall – Kinzoru genannt – war es möglich, die Kurozai-Bäume zu fällen und die Dinge, die aus ihrem Holz gearbeitet waren, zu zerstören. Doch es war selten und damit äußerst teuer. Es fand sich nur in einem kleinen Teil des Nioshi-Gebirges im Lande Gawa.

Weiterhin ihren Stab wie einen Hund streichelnd, schlich Aveny zur Tür. Sie stand einen Spaltbreit offen. Es war ein Leichtes, hinauszuschauen, ohne dahinter erkannt zu werden.

Wie so oft war Kad vor ihr hier und hatte alleine mit dem Training begonnen. Er drehte die Streitaxt über dem aschblonden Kopf. Bei ihm sah es so leicht aus. Als wäre kein schweres Eisen an dem langen Stab befestigt. Kad warf die Axt in Richtung einer Zielscheibe, wo sie exakt in der Mitte einschlug.

Jetzt gleich würde er zufrieden das Kinn heben und einige Schritte rückwärtsgehen. Aha, da war es. Aveny hielt ein Lachen zurück. Die Flügel seiner Uniform bewegten sich mit, während er die Schultern straffte. Als könne er tatsächlich mit ihnen davonfliegen.

Kaum dass Kad das Breitschwert aus seinem Gürtel zog, erwachte eine der fünf lebensgroßen Trainingspuppen aus Holz. Auch sie zog ihr hölzernes Schwert und hielt auf ihn zu.

Jetzt! Aveny schlich hinaus auf den Platz. Zwar war sie, selbst auf dem grobsandigen Boden, leise wie eine Katze, doch Kad brauchte sich nur einmal umzudrehen, um sie zu bemerken. Dazu war er aber zu konzentriert auf das Drecksding, wie Aveny die von ihr verhassten Puppen bezeichnete.

Sie zog ihren Dolch und warf. Er zischte an Kad vorbei, an der Trainingspuppe und nahm den Platz der Streitaxt ein, die zu Boden fiel.

Kad wirbelte herum. »Das wolltest du nie wieder tun!«

»Falsch!« Aveny näherte sich ihm, die Hände unschuldig hinter dem Rücken verschränkt. »Beim letzten Mal hast du gesagt, ich soll dich nicht immer so erschrecken, aber ich habe nicht darauf geantwortet. Das ist gleichbedeutend mit: Ich werde es wieder tun.«

Er lachte. »Du bist unglaublich, Avy.«

»Und du siehst aus wie ein verängstigtes Häschen, wenn du dich erschreckst.« Sie drehte den Stab einmal zwischen den Fingern. Dann nickte sie zur Puppe. »Geh wieder zu den anderen!«

Sie setzte sich mit steifem Gang in Bewegung, bei dem Aveny jedes Mal erschauderte. »Ich bekomme immer wieder Albträume von denen.«

»Sehe es ihnen nach. Ihre Träume von dir werden auch nicht rosig sein.«

Aveny stieß zu, was Kad elegant parierte. Mit der nächsten Bewegung hätte er einem herkömmlichen Kämpfer den Stab aus den Händen gerissen und im folgenden Zug die Klingenspitze seines Schwertes an die Brust gehalten. Doch das hatte er bei ihr nie geschafft.

Noch während sie tat, als würde ihr die Waffe entgleiten, wich sie der Klinge mit einer gekonnten Drehung aus und wirbelte den Stab in rasantem Tempo, womit sie Kad das Schwert entriss.

Aveny hielt die Stabspitze auffordernd gegen seine Brust. »Was hast du jetzt vor?«

Kad rieb sich den Nacken.

»Kad?«

»Können wir … eine Pause einlegen? Oder das Training ausfallen lassen? Ich bin sowieso nicht bei der Sache.« Da war es, das Anzeichen von Aufregung, nach dem Finn gefragt hatte. Kad nahm an der Ecke der Außenfassade Platz, die sie immer zum Reden benutzten.

»Hey, was ist mit dir?« Aveny ließ den Stab fallen und setzte sich zu ihm. »Es ist wegen heute Abend, oder?«

Er schaute gen Himmel, die saphirblauen Augen aufgrund der prallen Sonne zusammengekniffen. »Die ganze Zeit über war ich nicht aufgeregt. Ich war mir die letzten Wochen über so sicher gewesen, dass ich für die Spiele erwählt werde. Ich bin nicht mal auf die Idee gekommen, dass es anders sein könnte.«

»Das wirst du! Wer sonst, wenn nicht du und dein riesiges Ego?« Aveny kniff ihm in die Seite, was ihn zumindest zum Schmunzeln brachte.

»Mir ist bewusst geworden, dass ich nicht der Einzige bin. Alim, Giuliana … Warum sollten sie es nicht werden? Außerdem wurden schon Wächter erwählt, die nicht zu den Favoriten gehört haben. Zehn Jahre sind seit den letzten Spielen vergangen, in der Zeit sind ausgezeichnete Wächter hier aufgenommen worden. Und selbst wenn ich es werde, heißt es noch lange nicht, dass ich gewinne. Ich bete zu den Göttern, aber die anderen werden dasselbe tun. Und wenn mir das einfällt, bete ich nur, dass der Sieger kein Idiot ist, der das Gold verprasst, anstatt es zu teilen.«

Kad würde den kompletten Gewinn seiner Familie in Leros zukommen lassen. Das hatte er Aveny verraten.

»Hab Vertrauen in die Luxeri. Die Spiele werden zu ihren Ehren veranstaltet. Sie sorgen dafür, dass jemand mit reinem Herzen gewinnt.«

Kad schnaubte.

Man wurde Wächter zu Ehren der Luxeri. Sie beschützten die Sterblichen, im Gegenzug waren die Wächter so etwas wie ihre Helfer, damit den Oberhäuptern dieser Welt ein zusätzlicher Schutz zuteilwurde. Die Wahrheit sah jedoch anders aus. Die meisten Bewerber stammten, wie Kad, aus ärmlichen Verhältnissen. Der einzige Grund für sie war das Geld.

»Du weißt, was ich von dem Glauben halte. Die Luxeri beschützen uns genauso wenig, wie es deine verhassten Trainingspuppen tun.«

»Sag das nicht zu laut.« Das meinte Aveny ernst. Wenn seine Aussage die falschen Ohren erreichte, würde er mächtig Ärger bekommen. Sogar sein Titel könnte ihm entzogen werden.

»Aber es ist wahr.« Wenigstens war er jetzt eine Spur leiser. »Du hast mir erzählt, dass du einmal zwei Tristi begegnet bist.«

»Pscht!« Das hatte sie ihm im Vertrauen erzählt; außer ihm und Lord Thain wusste niemand von den Tristi innerhalb der Boten des Lichts. Ihr Kopf fuhr zu allen Seiten herum.

»Verrate mir nur eines«, sprach er unbeeindruckt weiter. »Haben sie göttlich auf dich gewirkt?«

»Du kannst die Luxeri nicht mit den Tristi vergleichen!«, zischte Aveny empört.

»Beantworte mir nur diese eine Frage.«

»Nichts! An den Tristi ist absolut gar nichts göttlich, bis auf die Tatsache, dass sie eine Aufgabe von Tenebrios zugeteilt bekommen haben.« Die Bosheit – oder das Dunkle – aus den Seelen Verstorbener zu saugen, bevor diese im ewigen Licht aufgenommen wurden. Denn davon ernährten die Tristi sich.

Die Erinnerung flammte, wie so oft, auf, hineingebrannt in ihre Gedanken. Die dunkle Gasse, die Flügel, die sie ausgebreitet hatte. Die Wesen ihr gegenüber, zu denen sie selbst von da an gehörte.

»Aber sie verlassen ihre Heimat, genau wie die Luxeri das nördliche Jenseits der Kontinente.«

Erst verzögert kamen Kads Worte bei ihr an. All das hatte sie Lord Thain und ihm erzählt, bis auf ihre tatsächliche Begegnung mit den Tristi, die sie einzig Kad anvertraut hatte. Nur die wahre Kraft, die in ihr schlummerte. Das, was sie selbst seit über fünf Jahren war. Darüber schwieg sie bis heute.

Kad war es gewohnt, dass Aveny abschweifte. Er gab ihr die Zeit, die sie brauchte.

»Weil das die Aufgabe der Luxeri ist, von der Göttin Lumenia erteilt«, erwiderte sie schließlich. »Sie beschützen uns im Leben und führen die Seelen frommer Sterblicher auf direktem Wege ins Jenseits. Die Tristi haben nur eine Aufgabe, und wenn sie auf unsere Kontinente kommen, werden sie bestraft.«

»Wann wurde jemals ein Tristi dafür bestraft?«

»Das bekommen wir Sterblichen nicht mit, aber sie erhalten ihre gerechte Strafe.«

Kad schüttelte den Kopf. »Wie auch immer, kommen wir zurück zu den Luxeri. Überleg mal: Was haben sie jemals für unsere Heimatdörfer getan oder andere Gegenden, in denen Armut herrscht? Wo waren sie, als die Tristi Königssee angegriffen haben, wo waren sie, als du und so viele andere Kinder zu den Boten des Li…«

»Hör auf!« Die Forderung kam leise aus Avenys Mund, aber es reichte, damit Kad innehielt.

Er schluckte schwer. »Ich weiß, ich soll sie nicht erwähnen.«

Aveny scharrte mit dem Stiefel über den grobsandigen Boden. »Die Boten des Lichts, ja. Die Tristi kannst du jetzt auch noch dazuzählen.«

»Das werde ich.« Kad stand auf und half ihr hoch.

»Es ist egal, was es mit den Luxeri auf sich hat.« Aveny berührte seine Schulter. »Du hast es verdient, zu gewinnen. Du, Arkady Orlov, wirst das erste Seenland bei den Ehrenspielen vertreten; und du wirst siegen!«

Kad öffnete den Mund, wurde jedoch von einem Bediensteten unterbrochen, der auf sie zukam.

»Sir Arkady? Lord Thain lässt Euch unverzüglich in sein Arbeitszimmer rufen. Es gibt Dinge von äußerster Dringlichkeit zu besprechen.«

»Verstanden!« Kad warf ihr einen flüchtigen Blick zu. »Bis dann, Avy!«

Aveny fiel ein, dass sie ihn erst bei der Wahl wiedersehen würde, wo es ihnen nicht möglich war, miteinander zu sprechen. Sie hatte ihm noch nicht viel Glück gewünscht. Doch da hatte er schon seine Waffen eingesammelt und die Burg betreten.

Für einen Moment schloss sie die Augen. Nein, keiner außerhalb der Boten des Lichts hatte gewusst, dass man die Mitglieder mittels Drogen zu Tristi hatte heranzüchten wollen – außer Lord Thain und Kad, denen Aveny davon berichtet hatte. Aveny war die Einzige gewesen, bei der man es geschafft hatte, bevor die Organisation ausgelöscht worden war. Davon würde sie niemandem erzählen. Und erst recht würde sie ihre Gestalt nie wieder verwandeln. Wahrscheinlich hatte sie das ohnehin endgültig verlernt.

Nur dass die Mitglieder übermenschliche körperliche Kräfte besaßen, wussten alle. Kräfte, die Aveny jetzt, da sie mit ihren Erinnerungen alleine war, einsetzen würde.

Langsam wanderte ihr Blick zur gegenüberliegenden Mauer, an der alle fünf der Drecksdinger in Reih und Glied aufgestellt waren wie hölzerne Soldaten. Eine der Puppen bemerkte das und visierte sie an.

Aveny winkte sie mit dem Finger heran, während sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht ausbreitete. »Na, komm her.«

Die Puppe setzte sich in Bewegung, der Gang steif trotz der künstlichen Gelenke.

Unheimlich, dachte Aveny, einfach nur unheimlich. Sie nickte zu den restlichen Puppen hin. »Wer hat gesagt, dass ich nur einen von euch brauche?«

Der Aufforderung folgend, schlossen sie sich der ersten Puppe an. Aveny zog den Zopf fest und die Sai-Gabeln aus ihrem Waffengürtel.

Vollkommen egal, dass die Klingen ihrer Waffen für das Training stumpfgeschliffen waren. Wenn Aveny sich nicht zurückhielt, wie sie es bei Kad tat, konnten diese dennoch tödlich sein.

Die Puppensoldaten waren zu langsam. Ungeduldig stieß Aveny den Kopf nach hinten und rannte dann auf eine von ihnen zu. Man musste den Drecksdingern lassen, dass sie, so steif ihr Gang war, ihre Waffen geschmeidig wie ausgebildete Krieger bewegten. Sie erkannten, ob ihr Gegenüber ein Anfänger oder professioneller Kämpfer war, und passten sich seinen Kenntnissen an.

Bei Aveny zeigte die Puppe keine Vorwarnung, als sie ihr hölzernes Schwert hob. Aveny wehrte es mit einer Gabel ab, die andere stieß sie der Puppe in den porösen Bauch. Sie ging zu Boden.

Aveny wehrte den Hieb eines Schwertes auf ihren Schädel ab, indem sie die Gabeln über Kreuz hielt. Sie stieß es weg und schlitzte der Puppe die Kehle auf, bevor sie der nächsten die blanke Faust in den Bauch rammte. Mitten hindurch. Wäre sie kein Stück Holz, sondern ein Mensch gewesen, hätten jetzt überall Gedärme vermischt mit Blut verteilt auf dem Boden gelegen.

Aveny ließ die Gabeln fallen und griff auch die beiden restlichen alleine mit ihrem Körper an – ihrer stärksten Waffe. Bis sie alle in einem Haufen aus hölzernen Gliedmaßen auf dem Boden lagen.

Verschwitzt und leicht außer Atem betrachtete Aveny ihr Werk, während sie die Waffen zurück in den Gürtel steckte. Zum Glück fügten die Puppen sich von selbst wieder zusammen.

Sie klatschte den Staub von den Händen und verließ zufrieden den Trainingsplatz. Die Drecksdinger würden ein passabler Ersatz während Kads Abwesenheit sein. Zumindest hatten sie dabei geholfen, ihre Gedanken zu befreien.

Im Anschluss suchte Aveny Entspannung im burgeigenen Garten.

Wie immer um diese Jahreszeit trug der Rosenbogen in seiner Mitte die schönsten rotleuchtenden Blüten. Nur eine Knospe war bisher nicht aufgeblüht, wie Aveny vor einigen Wochen bemerkt hatte.

Seitdem sah sie fast jeden Tag nach ihr, redete ihr sogar zu, dass sie genauso schön war wie die anderen und es schaffen konnte, diese Schönheit herauszulassen. Kad lachte sie dafür aus. Und die Knospe hatte sich in der Zeit kein bisschen geöffnet.

Aveny legte einen Finger unter die fest verschlossenen Blüten, als könne sie auf diese Weise nach dem Grund suchen. Sie fand keinen. Und es half nichts, die Knospe länger anzustarren, ihr gar zuzureden.

Mit einem Seufzen ließ sie sich auf einer Granitbank nieder und streckte das Gesicht der angenehm warmen Sonne entgegen, während sie der Fontäne eines Teiches lauschte. Armlange Kois schwammen darin; Zierkarpfen aus Gawa.

Normalerweise half ihr dieser Ort, zur Ruhe zu kommen und ihre Sorgen eine Zeitlang zu verbannen. Nur heute nicht. Das flaue Gefühl in ihrer Magengegend, wenn sie an Kads sehr wahrscheinliche siebenwöchige Abwesenheit dachte, blieb bestehen.

Er hatte recht mit dem, was er vorhin gesagt hatte. Vielleicht wurde Giuliana oder Alim gewählt. Oder jemand, der nicht zu den Favoriten zählte. Die Chancen, dass Kad es werden würde, standen dennoch gut. Aber was, wenn …

Aveny schüttelte den Kopf. Sie sollte Kad unterstützen. Ihm gegenüber keine Reden halten und insgeheim hoffen, dass er nicht gewählt wurde. Zu den Magenschmerzen gesellten sich Gewissensbisse.

Wunderbar …

Aveny gab es auf, heute Entspannung zu finden. Sie erhob sich, schenkte der Knospe noch einmal einen flüchtigen Blick und verließ den Garten.

Wieder in der Kammer wusch sie Schweiß und Sand von Körper und Haar. Sie dachte an Kads Worte über die Luxeri zurück. Zwar hatte er ihr vor langer Zeit verraten, was er von dem hielt, was über die hellen Gottesdiener geglaubt wurde, doch sie hatten nie viel darüber gesprochen.

Als Kind hatte Aveny davon geträumt, eine Wächterin zu werden. Auch für sie hatte das Geld eine Rolle gespielt. In einer solchen Position hätte sie genug verdient, um ihrer Familie durch die allsommerlichen Dürreperioden zu helfen, die das Berggebiet des dritten Seenlandes jedes Jahr ereilten. Sogar dem kompletten Dorf hätte sie Fässer voll Wasser zukommen lassen können – anstatt dem einen Fass pro Familie, das die Gesandten des regierenden Lords, Berkant Dempster, ihnen pro Woche lieferten.

Doch seit Aveny für Lord Thain arbeitete, glaubte sie fest an die Hilfe der Luxeri. Das hieß nicht, dass sie dazu fähig waren, Armut oder Kriege zu beenden, gar zu verhindern. Aber sie halfen jenen, die zu den sieben Göttern beteten.

So wie Aveny, als sie eine Gefangene in Burg Cantias Verlies gewesen war. Der letzte Auftrag, bevor man sie den Tristi der Organisation übergeben hätte. Was das bedeutete, wusste sie bis heute nicht. Vermutlich hätte sie unter den finsteren Gottesdienern weiter gemordet.

Dank König Toichi von Gawa war es nie dazu gekommen. Dieser hatte einen Spitzel in die Organisation geschleust, so von deren Plan, Cantia zu attackieren, erfahren und Lord Thain rechtzeitig Warnung gesandt. Aufgrund eines mächtigen Spiegelungszaubers, der drei Tage von fünf Magiekundigen vorbereitet wurde, war der Anschlag gescheitert.

Den Mitgliedern hatte es das Leben gekostet. Nur Aveny nicht. Ihr hatte es das Bewusstsein geraubt, und sie war im Verlies erwacht. Und nachdem die Droge, Kraft genannt, und damit die Gehirnwäsche ihren Körper endgültig verlassen hatte, hatte sie zu den Göttern und Luxeri um Vergebung gebetet; unter bitteren Tränen, bei Tag sowie bei Nacht. Sie hatte nicht damit gerechnet, einer Hinrichtung zu entgehen, die sie in ihren Augen mehr als verdient hatte. Doch auf keinen Fall wollte sie nach ihrem Tod zu den Tristi gebracht werden. Die Götter sollten wissen, dass sie ihre Taten bereute.

Bis heute war Aveny der Überzeugung, dass die Luxeri sie erhört hatten. Sie hatten diesen einen Wärter dazu gebracht, Lord Thain von ihren Gebeten zu berichten. Und den Lord im Anschluss dazu, ihr ein Angebot zu unterbreiten: Wenn sie wollte, würde er es auf der Stelle veranlassen, sie von ihrer Schuld zu befreien. Ohne Zuschauer, ohne Schmerzen. Oder aber, sie arbeitete fortan für ihn als Haushaltshilfe. Doch dabei dürfte sie ihre Fähigkeiten im Kampf nicht vernachlässigen, denn zur Not würde er sie als seine Geheimwaffe einsetzen.

Die Götter hatten ihr eine zweite Chance gewährt, und das sogar in diesem Leben. Die Buße würde sein, dass sie sich an ihre Taten zurückerinnerte und ewig mit der Schuld leben musste.

Lord Thain selbst war ein gläubiger Mann. Sollte er mitbekommen, dass Wächter wie Kad schlecht über die Luxeri sprachen, bedeutete das im besten Fall eine Abmahnung. Im schlimmsten das Ende der Karriere.

Aveny zog sich Kleidung über und ließ sich rücklings auf das Bett fallen. Auf die Zimmerdecke starrend, überlegte sie, was sie bis zur Wahl tun sollte. Ein Spaziergang mit Kad war nicht möglich, alleine hatte sie keine Lust. Vielleicht gab es in der Küche noch Arbeit. Mit Sicherheit waren Marcy und die anderen in diesem Augenblick dabei, das Essen in Wärmebehälter zu füllen und diese im Anschluss in den Festsaal zu tragen.

Es klopfte an der Tür. »Miss Macall, seid Ihr da?«, ertönte eine jung klingende weibliche Stimme dahinter.

Aveny setzte sich auf. »Nur herein!«

Eine Dienstmagd betrat die Kammer, der Aveny das ein oder andere Mal begegnet war. In den Armen trug sie zusammengefaltete himmelblaue Kleidung. Eine Uniform der Wächter, wie Aveny annahm.

»Ich komme auf Anweisung Lord Thains. Er richtet aus, dass Ihr in einer halben Stunde mit den Wächtern vor der Bühne stehen sollt. Als Sir Arkadys Begleitung.«

»Als Begleitung?«, sagte Aveny verwundert. Normalerweise wurden Begleiter aus den Reihen der Wächter gewählt, die zu alt für die Teilnahme waren.

Die Dienstmagd nickte und hielt Aveny die Uniform hin. »Sir Arkady hat auf Euch bestanden. Lord Thain hat es gestattet, aber Ihr sollt dennoch nicht als Außenstehende auffallen. Zieht Euch das über, bevor Ihr geht, die Größe sollte Euch passen.«

»Danke …« In Aveny kam ein merkwürdiges Gefühl auf, als sie Hemd und Hose entgegennahm. Als wäre sie ihrer nicht würdig.

Obwohl die Dienstmagd längst die Kammer verlassen hatte, stand Aveny weiterhin nur da und starrte die Kleidung in ihren Armen an. Ihre Finger fuhren zaghaft den seidigen Stoff entlang, unter dem sie die eingearbeitete Lederrüstung spürte, waren fast bei den Luxeriflügeln aus silbernem Garn angelangt. Kurz davor zog Aveny sie so schnell zurück, als könne sie sich daran verbrennen.

Nein, das war nicht richtig, ob zur Täuschung oder nicht. Andererseits hatte Lord Thain es gestattet. Weil Kad auf sie als Begleitung bestand. Und so etwas wurde ihr eine halbe Stunde vor der Wahl verkündet …

»Vielen Dank auch«, murmelte sie niemand Bestimmtem zu.

Aveny schob ihre Bedenken beiseite und zog sich um. Verdammt, fühlte die Uniform sich befremdlich an … Sie zog Wildlederstiefel über die Füße und band ihr Haar nach hinten. Nachdem sie den Waffengürtel umgeschnallt hatte, entschloss sie sich, nur den Dolch mitzunehmen. Die anderen Waffen stammten aus Gawa – und Aveny nicht. Jedenfalls nicht ursprünglich.

Heiße, stehende Luft schlug ihr entgegen, als auf ihr Auftauchen hin das Eingangstor von den Wachtposten zu beiden Seiten kommentarlos geöffnet wurde.

Aveny erinnerte sich nicht mehr, wann sie das letzte Mal die Stadt betreten hatte. Besorgungen gehörten nicht zu ihren Aufgaben, und sie hatte nie das Bedürfnis danach verspürt, die Burg zu verlassen.

Der Ausblick auf Cantia am glitzernden Wasser war überwältigend. Hunderte zogen durch die von dunkelgrauen Steinhäusern gesäumten Straßen. Darunter befanden sich nicht nur Cantias Einwohner, wie Aveny von Kad wusste. Menschen aus dem gesamten ersten Seenland waren angereist, um der Wahl beizuwohnen. Sie alle waren auf dem Weg in Richtung Bühne, die kurz vor der Brücke zur Burg aufgebaut worden war.

Aveny erkannte die Wächter, wie sie um die Bühne herumgingen, und beeilte sich, die leere Brücke zu überqueren. Sie entdeckte Kad und stellte sich hinter ihn in die zweite Reihe der Wächter. Nur ein Zucken seiner Mundwinkel zeigte er in ihre Richtung, bevor er wieder nach vorne schaute. Alim und Giuliana standen zu beiden Seiten neben ihm und zu Alims anderer Seite die restlichen Anwärter.

Aveny war eindeutig jünger als die Wächter mittleren Alters in ihrer Reihe. Sie fragte sich, ob das Publikum das bemerkte. Bis auf die Einwohner der Burg wussten die Zuschauer ohnehin nicht, wer Aveny war. Auch kannten sie weder Gesichter noch Namen der Wächter, welche die Burg nie verließen. Außer es kam zu einem Einsatz außerhalb.

Aveny hielt den Blick geradeaus. Ihre Mimik war starr, die Finger am Rücken ineinander verschränkt und die Schultern gestrafft wie bei den anderen.

Am liebsten hätte sie Kad einen Klaps auf den Hinterkopf gegeben, dafür, dass sie im allerletzten Moment von der Ehre erfahren hatte, seine Begleitung zu sein. Stattdessen registrierte sie die Zuschauer zu beiden Seiten des Weges, den der oder die Erwählte nach der Verkündung in Richtung Bühne nehmen würde. Sie erkannte weder Marcy noch einen anderen ihr bekannten Burgbewohner unter ihnen.

Hätte der König Gawas damals nicht von dem Plan der Boten erfahren und Lord Thain rechtzeitig Warnung gesandt, wären viele dieser Leute tot. Und das Bild Cantias wäre nicht mehr dasselbe. Aveny mahnte sich, den Kopf nicht sinken zu lassen.

Abermals ertönte Applaus, als ein hochgewachsener Mann die Bühne betrat. Ein breites Lächeln zierte das von einem haselnussbraunen Vollbart bedeckte Gesicht Lord Thains, der in ein moosgrünes Brokatwams mit passender Hose gekleidet war. Die Stickereien an Kragen und Ärmel waren so gold wie die daran eingenähten Knöpfe. Es war selten, dass Aveny ihren Lord in etwas anderem als einfacher Baumwollkleidung sah. Nur zu offiziellen Anlässen wie diesem hier.

Er breitete die Arme aus. »Willkommen, Volk des ersten Seenlandes, zur Wahl unseres Vertreters für die diesjährigen Ehrenspiele!«

Wieder wurde applaudiert. Kads Atemzüge wurden schwerer, und Aveny überkam das Bedürfnis, seine Hand zu halten.

»Wie sicher jedem bekannt ist«, fuhr Lord Thain fort, »finden die Spiele alle zehn Jahre zu Ehren der sieben Götter und Lumenias hellen Dienern, der Luxeri, statt. Ein Ereignis, an dem die Blicke der gesamten Welt auf den Arenakomplex in Presien gerichtet sind. Frieden kehrt in dieser Zeit ein, alle Konflikte ruhen. Jeweils ein Wächter im Alter von achtzehn bis achtundzwanzig Jahren vertritt das Land, dem er dient, in sechs unterschiedlichen Arenen. Ruhm und Reichtum sind dem Sieger sicher, und seinem Dienstland wird in den darauf folgenden zehn Jahren ein besonderer Segen zuteil.« Er legte eine kurze Pause ein, während der er den Blick über die Wächter schweifen ließ. »Nun ist es an der Zeit, unseren Vertreter zu verkünden.«

Kein Applaus, nicht einmal ein Hüsteln oder Räuspern erklang mehr aus der Menge.

»Zuerst möchte ich jedoch erwähnen, dass ihr alle hervorragende Arbeit leistet. Trotz unseres Konfliktes mit Presien ist in den letzten Jahren glücklicherweise nichts passiert, das euren Einsatz erfordert hätte. Dennoch habt ihr oft genug euren Mut bewiesen, eure Entschlossenheit und eure Stärke. Ihr alle hättet es verdient, erwählt zu werden. Doch es kann nur einen geben.«

Aveny hielt den Atem an.

»Das erste Seenland vertritt …«

Bitte Kad, bettelte Aveny in Gedanken. Bitte Kad, bitte Kad!

»… Lady Aveny Macall!«

Ihr Name war gefallen. Nein, unmöglich, sie musste sich verhört haben. Dazu auch noch mit der Anrede Lady.

Die Menge jubelte, Lord Thain strahlte in ihre Richtung, Giuliana nahm sie sogar in den Arm, nach ihr Alim. Das alles war unwirklich, ein Traum, nichts weiter.

Der Nächste, der Aveny an sich drückte, war Kad. »Mach keinen Aufstand«, murmelte er in ihr Ohr. »Geh dort hoch und freu dich!«

Nachdem sie sich voneinander gelöst hatten, blieb Aveny zunächst stehen. Sie hob schwerlich ein Bein, dann das andere, denn beide fühlten sich an, als wären sie mit Blei gefüllt. Nur mit Mühe stieg sie die drei Stufen hinauf an Lord Thains Seite.

Freuen sollte sie sich, hatte Kad gesagt. Ja, das war es, was von einem soeben erwählten Vertreter erwartet wurde. Aveny schaffte es, Lord Thains Strahlen zu erwidern, der sie am Handgelenk griff und ihren Arm in die Höhe stieß.

»Lady Aveny Macall! Ihre Kampfkünste sind unvergleichbar. Mit ihr in den Ehrenspielen hat unser Land hervorragende Chancen auf den Sieg.« Er ließ ihren Arm los. »Gibt es etwas, das Ihr uns sagen möchtet?«

Avenys Blick schweifte über die erwartungsvoll zu ihr hochschauende Menge. »Erwählt worden zu sein, ehrt mich. Für das erste Seenland werde ich mein Bestes geben.« Woher die Worte und deren sichere Aussprache kamen, konnte sie sich nicht erklären.

Auch nicht, woher der Einfall kam, die rechte Faust gegen die linke Brusthälfte und anschließend in die Luft zu stoßen – der Erkennungsgruß der Wächter, welcher von ebendiesen erwidert wurde.

»Komm in zehn Minuten in mein Arbeitszimmer«, flüsterte ihr Lord, was sie dank ihres scharfen Gehörs durch den Jubel hindurch verstand. »Wir haben unsere Vertreterin gefunden!«, rief er wieder in Richtung Menge. »Lasst uns feiern!«

Aveny hoffte auf eine Erklärung, als sie wenig später Lord Thains Arbeitszimmer betrat. Der Lord selbst saß auf einem Polstersessel hinter einem ausladenden Mahagoni-Schreibtisch. Auch Kad war anwesend, der auf einem der beiden Stühle vor dem Tisch Platz genommen hatte und sich zu ihr herumdrehte.

An der Wand hinter Lord Thain stand eine Frau, der Aveny nie zuvor begegnet war. Das flammenrote Haar umrahmte ihr Gesicht mit ausgeprägten Wangenknochen sowie vollen Lippen, und die weiblichen Kurven wurden durch das hautenge schwarze Kleid betont. Avenys Aufmerksamkeit erregten vor allem die giftgrünen Augen, welche im Halbschatten leuchteten wie die einer Katze. Giftgrüne, leuchtende Augen: das unverkennbare Merkmal von Magiekundigen. Sie war eine Hexe.

»Bitte, setz dich.« Lord Thain wies auf den Stuhl neben Kad.

Schweigend kam sie der Aufforderung nach.

»Ich kann mir vorstellen«, fuhr Lord Thain fort, »dass du durcheinander bist.«

Durcheinander? Das alles kam Aveny vor wie ein schlechter Scherz! Eine dumpfe Wut breitete sich in ihr aus. Gleichzeitig schämte sie sich, obwohl sie für all das nicht verantwortlich war.

»Wieso bin ich es geworden? Ich bin keine Wächterin, ich habe diese Ehre nicht verdient. Stattdessen wurde sie denen genommen, die hart dafür gearbeitet haben. Es ist, als hätte man ihnen ins Gesicht gespuckt.«

»Avy …«, begann Kad, aber Lord Thain hob die Hand.

»Ich kläre das, Sir Arkady.« Er beugte sich zu Aveny vor. »Deshalb haben wir dich vorher nicht eingeweiht. Weil wir wussten, dass du niemals zugestimmt hättest. Du wärest gar nicht erst zur Wahl erschienen.«

Aveny öffnete den Mund, doch Lord Thain hob abermals die Hand.

»Diesen Entschluss haben mein Rat und ich nicht getroffen, weil wir uns mit dir eine höhere Chance auf den Sieg ausgerechnet haben. Ich weiß, dieses Gefühl hast du.«

Aveny presste die Zähne zusammen.

»Die Entscheidung ist uns mehr als schwergefallen, aber angesichts der Umstände haben wir es für notwendig befunden. Wir brauchen deine Fähigkeiten, Aveny, und dein Wissen. Du weißt, unsere Beziehung zu Presien ist angespannt.«

Aufgrund des Regnes, wegen dessen König Berthold von Presien schon vor der Spaltung des einst vereinten Seenlandes einen Konflikt provoziert hatte, den sein Sohn und Nachfolger Gontard fortführte. Der Meinung des Königshauses von Presien nach stand dem Reich eine größere Fläche des fischreichen und viel von Schiffen befahrenen Gewässers zu. Doch die Seenlande weigerten sich, einen Teil abzugeben. Ein Wunder, dass es nie zu einem Krieg, einzelnen Schlachten oder Scharmützeln zwischen den Grenzen gekommen war.

»Der Konflikt ist während der Spiele stillgelegt«, entgegnete Aveny. »Außerdem sind die Wächter genau für solche Dinge ausgebildet.«

»Auf die Einhaltung des Friedens seitens Presien können wir uns nicht länger verlassen. Wenn während der Spiele das eintritt, was wir befürchten, geht das weit über die Fähigkeiten der Wächter hinaus.« Er wandte sich an die Hexe. »Wenn ich bitten darf, Odilla.«

»Natürlich, Mylord.« Odillas Stimme war hell und ein wenig rauchig.

Sie hob den Arm, woraufhin ein Bild in der Luft entstand. Es war, als würde man durch die Augen eines Fremden sehen. Eine Graslandschaft, darüber ein wolkenloser Himmel, dazwischen eine Steinmauer mit einem schmiedeeisernen Tor.

»Das hier sind die Erinnerungen unseres Zeugen, der vor einigen Tagen auf der Durchreise in Richtung fünftes Seenland war«, erklärte Lord Thain. »Er ist umgehend nach Cantia zurück, um Bericht zu erstatten.«

»Wieso können wir seine Erinnerung sehen?« Fasziniert starrte Aveny auf das Bild vor sich. »Ich dachte, Gedankenbilder können nur von einem in den anderen Kopf übertragen werden.«

»Ich habe die Erinnerung mit seiner Erlaubnis dupliziert und bin dazu fähig, sie für alle sichtbar werden zu lassen«, antwortete Odilla ohne den Blick von dem Gedankenbild zu nehmen.

Das Grenztor, wovor normalerweise an jeder Seite ein Posten stehen sollte, war verlassen. Dafür erkannte Aveny an den Stellen etwas im Gras liegen. Zwei Körper. Sie wurden deutlicher, je näher der Zeuge der Mauer kam.

Die leeren Augen der Frau und des Mannes waren gen Himmel gerichtet, die Gesichter mit den leicht geöffneten Mündern starr und bleich.

Der Blick des Zeugen wanderte nach unten. Nun erkannte man, dass beiden auf Brusthöhe ein Schnitt zugefügt worden war. Das ausgetretene Blut verschmolz beinahe mit dem Karmesinrot der Uniformen, auf deren Brust das Wappen aller fünf Seenlande prangte: eine Seenlandschaft und ein hoch aufragender Berg am Horizont.

Aveny erstarrte, als der Zeuge sich über das Gesicht der Frau beugte und ihr Strähnen aus der Stirn strich. Ein Bildnis kam zum Vorschein, schwarz in das Fleisch eingebrannt.

»Schwarze Flügel, wie die der Tristi«, sagte Lord Thain.

»Als Spott auf die Luxeriflügel der Wächter, nehme ich an«, bemerkte Odilla.

»Erkennst du dieses Zeichen wieder, Aveny?«

Aveny brauchte einen Moment, um Lord Thain zu antworten. »Die Boten des Lichts. Aber die Organisation existiert nicht mehr.«

»Das kann man nicht mit Sicherheit sagen«, entgegnete Kad. »Vielleicht haben sie sich all die Jahre verborgen gehalten, neue Mitglieder rekrutiert und dergleichen.«

»Es könnten aber auch Nachahmer sein«, überlegte Aveny beinahe flüsternd.

»Selbst wenn, ändert es nichts daran, dass sie es offensichtlich auf das erste Seenland abgesehen haben«, sagte Odilla und ließ das Gedankenbild verschwinden.

»Wenn nicht auf alle fünf Seenlande«, fügte Lord Thain hinzu.

»Etwa wie der König von Presien?« In Avenys Kopf spann sich ein schrecklicher Gedanke zusammen.

»Mein Rat hat den Verdacht, dass König Gontard die Boten engagiert hat, die nicht ausgelöscht wurden, sondern sich nur bis zum richtigen Zeitpunkt zurückgezogen haben«, sprach Lord Thain ihn laut aus. »Nachahmer halte ich für ausgeschlossen.« Er fixierte Aveny eingehend. »Genau deshalb brauchen wir dich. Du warst eine von ihnen.«

»Glaubt Ihr, König Gontard würde die Organisation während der Spiele einsetzen?«

»Ich halte es für möglich. Und selbst wenn das nicht der Fall ist, lassen sich im Arenakomplex vielleicht Anhaltspunkte finden. Personen, die den König begleiten und die du wiedererkennen könntest.«

»Wir Wächter wurden vor der Wahl eingeweiht und haben alle Verständnis«, versicherte Kad.

Aveny fiel der Diener ein, der ihr gemeinsames Training heute Vormittag aufgrund einer wichtigen Angelegenheit unterbrochen hatte.

»Die ermordeten Grenzposten waren eine Warnung, die wir nicht ignorieren können. Wir haben ein Auge auf das Land und sind in höchster Alarmbereitschaft.« Kad berührte Avenys Arm. »Aber du wirst im Arenakomplex gebraucht.«

»Du hast das Recht, abzulehnen, diese Entscheidung werde ich dir nicht nehmen«, sagte Lord Thain. »Ich kann dich nur bitten: Nimm an den Spielen teil, finde heraus, ob unser Verdacht wahr ist.«

Aveny blickte von Lord Thain zu Kad und wieder zurück. Nach wie vor hatte sie ein mulmiges Gefühl dabei, Kad oder einem anderen Wächter den verdienten Platz als Vertreter zu nehmen. Aber sie hatte vor fünf Jahren zugestimmt, des Lords Geheimwaffe zu sein. Und genau das wäre nun ihre Aufgabe.

»Gut, ich tue es …«

»Danke, Aveny!«, stieß Lord Thain erleichtert aus. »Du wirst nicht alleine gelassen. Odilla wird die restlichen Lords der Seenlande umgehend über die Lage informieren. Ich bin mir sicher, auch sie werden ihren Ernst erkennen und dir ihre erwählten Wächter als Unterstützung zur Seite stellen.«

»Sie werden alle über meine Vergangenheit erfahren?« Der Gedanke behagte Aveny noch weniger, als der, an den Spielen teilzunehmen.

»Ich belüge die Lords nicht. Womöglich werden sie zu Anfang nicht begeistert sein, aber wenn ich ihnen alles erkläre, werden auch sie Einsicht zeigen.«

»Ich verstehe, Mylord.« Doch das mulmige Gefühl blieb.

Man hörte die Leute draußen in Cantia bis zur Burg feiern. Eine ganze Weile starrte Aveny bereits aus dem Fenster ihrer Kammer und verfolgte das ferne Treiben.

Die Leute feierten sie als Vertreterin … Die Boten des Lichts waren allem Anschein nach wiederauferstanden … Nach wie vor schwirrte die Frage in ihrem Kopf, ob das alles entweder ein Traum oder aber ein schlechter Scherz war.

Die Organisation war doch zerstört worden, die Mitglieder samt der Obersten; Magiekundige wie Odilla hatten sie mit vereinten Kräften ausgelöscht.

Doch immerhin hatte Aveny überlebt, wieso dann nicht auch andere? Zwar hatte sie sich die Frage früher oft gestellt, aber mit den Jahren war sie zu dem Entschluss gekommen, dass sie wohl alle tot waren. Niemals hätten sie sich so lange versteckt.

Die Boten des Lichts lechzten nach Blut, die Mitglieder kamen mit jedem Mord der ersehnten Vollkommenheit näher. Wieso sollten sie fünf Jahre lang warten, bis König Gontard von Presien sie irgendwo fand und beauftragte?

Oder hatte er die ganze Zeit über Kontakt zu ihnen gehalten? Vielleicht gehörte er sogar zu den Obersten der Organisation. Immerhin kannten die Mitglieder deren Gesichter nicht.

Bei dem Gedanken zog Aveny die Knie enger an die Brust. Gerade als es an der Zimmertür klopfte.

»Herein«, gewährte sie so leise, dass sie sich fragte, ob die Person hinter der Tür es gehört hatte.

Dieselbe Dienstmagd, die ihr vorher die Uniform gebracht hatte, öffnete. In ihren Armen trug sie sorgfältig zusammengefaltete Bündel.

»Eine Auswahl an Kleidern für das Bankett. Lord Thain sagte, Ihr würdet keine eigenen besitzen, deshalb sollt Ihr die hier anprobieren und Euch entscheiden.« Sie schloss die Tür hinter sich.

»Ihr werdet mir dabei zusehen?«, fragte Aveny mit gerunzelter Stirn.

»Ihr braucht Euch nicht zu genieren, selbstverständlich werde ich wegsehen.« Eine leichte Belustigung war aus der monotonen Stimme herauszuhören. »Ich bleibe nur, um die restlichen Kleider mitzunehmen.«

»Ich geniere mich nicht.« Nie hätte Aveny gedacht, dass sie jemals das Wort genieren benutzen würde. Sie beschloss, ihre Sorgen hinunterzuschlucken, um nicht abwesend zu wirken. Nicht nur vor der Dienstmagd, auch während des Banketts. »Nur bin ich normalerweise kein Publikum gewohnt.« Damit zog sie das Hemd über den Kopf und warf es auf das Bett.

Die Magd schaute schnell weg.

»Wohler würde ich mich aber fühlen, wenn wir das Förmliche weglassen. Also, ich bin Aveny, wie du sowieso spätestens seit heute weißt.« Aveny befreite ihre Füße von den Stiefeln. »Und wie ist dein Name?«

Nur ein wenig drehte die Magd sich wieder in ihre Richtung. Die Haube verdeckte von der Seite betrachtet ihren Kopf gänzlich, nur die Nasenspitze war zu erkennen. »Violet, aber nenn mich Vio.«

»Moment, bist du Marcys Tochter?« Aveny zog sich die Hose von den Beinen.

»Das ist richtig. Meine Mutter hat mir von deinem Kochtalent erzählt. Und von deinem losen Mundwerk.« Ein Lachen schwang im letzten Satz mit.

Aveny gelang ein Schmunzeln, während sie zu einem Kleid aus schimmerndem geschmeidigen Stoff griff, den sie nicht benennen konnte. Keine Knöpfe am Rücken, bei denen sie Hilfe benötigen würde. Nur eine einfache Schnürung.

»Glaub mir, ich gehöre noch zu den nettesten im Küchenpersonal.« Sie zog es über, schnürte es geschickt zu und kämmte im Anschluss ihr Haar mit den Fingern durch. »Du kannst wieder hingucken, Vio.«

Vio betrachtete Aveny von oben bis unten. Unweigerlich fragte Aveny sich, wie es kam, dass ihr die Ähnlichkeit zu Marcy vorher nie aufgefallen war. Vio war zwar schlanker als ihre Mutter und das Gesicht dadurch schmaler und kantiger, aber dennoch war die Verwandtschaft nicht zu leugnen. Dasselbe Gesicht, das Aveny über die Jahre ins Herz geschlossen hatte und das sie zwei Monate lang nicht sehen würde. Am liebsten hätte sie Vio auf der Stelle umarmt.

Stattdessen ließ sie die Arme zur Seite fliegen. »Wie sehe ich aus?«

»Du hast das perfekte Kleid für dich ausgesucht. Die Farbe schmeichelt dir.« Vio zeigte auf den Standspiegel an der Wand. »Sieh selbst.«

Aveny trat davor und hätte fast aufgelacht. Nicht, weil sie sich nicht gefiel. Nur hatte sie nie zuvor ein Kleid wie dieses hier getragen.

Der goldbraune Stoff legte sich von den Schultern bis zur Taille wie eine zweite Haut um ihren Körper, der Ausschnitt saß tief und der schmale Rock reichte bis knapp über ihre Füße. Als wäre es speziell auf sie zugeschnitten worden.

Vio hatte recht, die Farbe schmeichelte ihr. Sie betonte den hellen Bernsteinton ihres Haares, den etwas dunkleren ihrer Augen sowie die cremefarbene Haut, die durch die Sonne einen leichten Bronzeschimmer angenommen hatte.

»Ehrlich gesagt habe ich sogar gehofft, dass du dir dieses Kleid raussuchst«, gestand Vio, der Aveny sich wieder zuwandte. »Deshalb habe ich es ganz nach oben auf den Stapel gelegt. Als Lord Thain mich beauftragt hatte, dir eine Auswahl meiner Kleider zu bringen, ist mir dieses direkt in den Sinn gekommen.«

»Deine Kleider?«

»Sie gehören nicht mir.« Ihr entwischte ein weiteres unsicheres Lachen. »Aber ich habe sie genäht.«

»Was, wirklich?« Aveny fuhr mit der Hand über einen Ärmel. »Du hast Talent, Vio.«

Vio strich eine lose strohblonde Locke hinter das Ohr. »Danke, aber das ist nichts weiter als jahrelange Übung. Ich meine, schau dich an. Du bist nicht nur eine begabte Köchin, sondern vor allem eine hervorragende Kämpferin. Sogar bis zu den Ehrenspielen hast du es gebracht.« Kaum hatte sie das gesagt, fiel ihre heitere Miene in sich zusammen. »Es tut mir leid. Immerhin weiß ich, wie du zu dieser Kämpferin geworden bist.«

»Schon gut, das ist Vergangenheit.« Aveny brachte ein mattes Lächeln zustande. »Ich habe selbst entschieden, weiter zu trainieren.«

Vio sah sie an, als hätte sie eine Frage. Aveny konnte sich denken, wie sie lautete. Alle aus dem Personal hatten mitbekommen, dass sie anstatt eines Wächters erwählt worden war. Sie hatte Lord Thain versprochen, keinen Außenstehenden über die Gründe dafür einzuweihen. Das war Vio sicher bewusst.

»Ich verstehe«, sagte diese stattdessen nur, bevor sie die restlichen Kleider an sich nahm. »Hat mich gefreut, Aveny. Ich wünsche dir viel Glück bei den Spielen, falls wir uns vor deiner Abreise nicht mehr sehen.«

»Es hat mich auch gefreut.« Aveny hielt ihr die Tür auf. »Vielleicht treffen wir uns nach den Spielen öfter und nicht nur auf Anweisung Lord Thains. Ich meine, selbst wenn ich verliere: Er gehört zu den Herrschenden, die ihre Verlierer behalten.«

Das war bei einigen anders. Wenn ein Vertreter in den Spielen ausschied, hatten sie die Wahl, denjenigen zu entlassen – ein Grund, wieso Aveny nicht verstand, dass es der Traum eines jeden Wächters war, erwählt zu werden.

Ihrem Strahlen nach zu urteilen, schien der Vorschlag Vio zu gefallen. »Sehr gerne. Wir sehen uns dann, ja?« Sie hob die Hand zum Abschied und trat endgültig aus der Kammer.

Da Aveny zu dem Kleid keine passenden Schuhe besaß, hatte sie sich für die Halbschuhe entschieden, die sie in ihrer Anfangszeit hier getragen hatte. Damals war sie selbst eine Dienstmagd gewesen, so wie Vio; einen Monat lang. Für die Hausarbeit war sie nicht geschaffen, dafür aber zum Kochen geboren.

Hätte Kad Aveny beim Eintritt in den Festsaal nicht ermahnt, zuerst die Glückwünsche entgegenzunehmen, hätte es sie als Erstes zu dem Büfett gezogen. Sie musste wissen, ob Marcy den Kartoffelbrei hinbekommen hatte, außerdem knurrte ihr der Magen. Wobei sie sich wunderte, dass sie überhaupt Appetit verspürte.

Seit Aveny von der vermeintlichen Wiederauferstehung der Boten erfahren hatte, war ihre Brust wie von einer inneren Naht zusammengezogen. Dennoch versuchte sie, den Gedanken an die Organisation zu verdrängen. Ansonsten hätte sie es nicht aus ihrer Kammer geschafft.

Nun stand sie inmitten des Saales und schüttelte der Reihe nach die Hände irgendwelcher Adliger. Verwalter der Ländereien, Schatzmeister und wie sie sich sonst alle bezeichneten. Lady wurde sie genannt. Merkwürdig, mit diesem Titel angesprochen zu werden.

Bei nicht wenigen Männern glitt der Blick von Avenys Augen nach unten auf ihren großzügigen Ausschnitt. Sie beherrschte sich, ihnen nicht wehzutun und ihr Lächeln beizubehalten. Nur bei einem drückte sie die Hand ein wenig zu fest. Er gab einen kaum hörbaren erstickten Schmerzenslaut von sich.

»Stimmt was nicht?«, fragte sie mit gespielter Sorge.

»Alles bestens«, antwortete er ein wenig unsicher.

Die Mitglieder der Lordfamilie waren die nächsten und gleichzeitig letzten Gratulanten.

»Noch einmal herzlichen Glückwunsch, Aveny«, gratulierte Lord Thain ihr.

Nach ihm war seine Gemahlin, Lady Medea Thain, an der Reihe. Ihr gegenüber bewahrte Aveny eine freundliche Miene, auch wenn ihr Lächeln schwächer wurde.

Für ihre Güte war die Prinzessin aus Epir überall bekannt und beliebt. Doch der Blick in ihren Augen, wenn sie Aveny begegnete, war so eisig wie das Blau darin. Die Lady tolerierte sie hier auf der Burg. Aber sie wusste, dass das Mädchen einmal gefährlich gewesen war.

Sie reichten sich locker die Hände. »Meinen Glückwunsch und viel Erfolg bei den Spielen.«

»Danke, Lady Thain.«

Und dann kam einer der Gründe für ihr Misstrauen angerannt, der Aveny das Herz nach Lady Thains Eiseskälte immer wieder erwärmte.

»Du wurdest erwählt, Avy!« Die sechsjährige Caroline Thain sprang Aveny derart heftig an, dass sie lachend zurückwankte.

Aveny kniete sich zu ihr herunter. »Das wurde ich. Und ich werde dort alles geben!«

»Mit dir können wir nur gewinnen, die anderen Vertreter haben keine Chance!«

Aveny schmunzelte weniger über Carolines Worte, als über die Entschlossenheit, mit der sie diese aussprach. Dabei streichelte sie über den dunklen Lockenschopf, den Caroline von ihrer Mutter geerbt hatte. So wie die Augen und das schöne Gesicht.

»Caroline, Cyril möchte ihr auch gratulieren«, hörte Aveny Lady Thains strenge Stimme von hinten.

»Ja, Mutter.« Damit huschte sie davon.

Cyril war Carolines älterer Bruder. Sogar deutlich mit seinen einundzwanzig Jahren. Er besaß das kastanienbraune glatte Haar seines Vaters, doch ansonsten kam auch er nach seiner Mutter.

Er reichte Aveny die Hand, um ihr aufzuhelfen. Ein kurzes Zögern, dann ließ sie sich von ihm hochziehen.

»Herzlichen Glückwunsch!«

»Danke«, erwiderte sie laut, bevor sie flüsterte: »Wie förmlich du doch sein kannst, wenn deine Eltern in der Nähe sind.«

»Werde jetzt nicht frech«, entgegnete er. »Ach, übrigens: schönes Kleid«, fügte er mit einem Zwinkern hinzu, bevor er an ihr vorbeizog.

Lady Thain nahm die enge Beziehung zwischen ihrer Tochter und Aveny zähneknirschend hin. Wenn sie wüsste, was Aveny mit ihrem Sohn noch vor wenigen Monaten regelmäßig getrieben hatte, würde sie ihr den Hals umdrehen und ihren leblosen Körper hochkant in den Regnes werfen.

Cyril war der Letzte in der Schlange gewesen. Innerlich atmete Aveny auf. Nur ein paar Minuten länger und alle hier im Saal hätten ihren Magen knurren gehört.

Entgegen ihrem Appetit auf Kartoffelbrei wählte sie zuerst die Vorspeise. Damit setzte sie sich an einen kreisrunden Tisch zu Kad, Giuliana und Alim.

»Du hast es überstanden.« Kad klopfte ihr auf die Schulter.

Aveny schob einen Löffel Hühnersuppe in den Mund, wobei sie die Blicke von Giuliana und Alim bemerkte. Beide hatten heitere Mienen aufgesetzt. Die kaufte sie ihnen ebenso wenig ab, wie ihre Umarmungen und Glückwünsche vorhin. Mit einem Mal nahm ihr Appetit ab.

»Es tut mir leid …«

»Was tut dir leid?«, fragte Giuliana gespielt ahnungslos.

»Dass ich es geworden bin. Das ist nicht gerecht, und ich fühle mich mies.«

»Das musst du nicht«, entgegnete Alim. »Es ist ein Befehl Lord Thains. Er weiß, wieso er dich anstatt einen von uns auserwählt hat.«

»Exakt«, stimmte Giuliana ihm zu. »Ich kann nicht sagen, ich wäre nicht enttäuscht. Denn ich bin sogar noch viel enttäuschter, als wenn es ein anderer Wächter geworden wäre. Aber du kannst nichts dafür, und Lord Thain hat gute Gründe.« Sie klapperte weiter mit dem Löffel in der Suppenschüssel, während Alim geistesabwesend die Fingerkuppen gegeneinanderstieß.

Ja, gute Gründe … Avenys Aufmerksamkeit wanderte von der schmollenden Giuliana quer durch den Saal. Andere Wächter waren ebenso anwesend, wenn auch nicht alle. Nur diejenigen von achtzehn bis achtundzwanzig Jahren, die zur Wahl gestanden hatten und nun mehr oder weniger enttäuscht dreinsahen. Im Gegensatz zu den Adligen, die ausgelassen miteinander redeten und lachten.

Bis auf Lord Thains Berater kannte keiner von ihnen die über zweihundert Wächter des ersten Seenlandes, weshalb sie sich über Avenys Ernennung nicht wunderten. Auf der ganzen Welt genossen nur wenige Wächter Berühmtheit, die meisten davon waren lange tot; entweder aufgrund ihrer Heldentaten oder eines hohen Alters.

Von den toten Grenzposten hatte man sie bis jetzt nicht unterrichtet, um keine Panik auszulösen. Aveny fragte sich, wie lange das gutgehen mochte.

Aufgrund der raren Gesprächsthemen an ihrem eigenen Tisch war sie schnell mit Vorspeise, Hauptgang und Nachtisch fertig. Der Kartoffelbrei schmeckte so vorzüglich wie der Braten, und der Schokoladenkuchen im Anschluss war ein Traum.

Im Laufe des Abends fiel es Aveny immer schwerer, ihr Lächeln beizubehalten. Selbst wenn wieder einmal auf sie getrunken wurde. Wie oft das während des Banketts der Fall war, hatte sie aufgegeben zu zählen. Es wurde nicht getanzt oder sich auf andere Weise amüsiert. Alle saßen nur an ihren Tischen, aßen und tranken.

Irgendwann stieg Aveny von Wasser zu Wein um, damit sie den Abend besser überstand. Beinahe hätte sie erleichtert aufgestöhnt, als Lord Thain ihn für beendet erklärte.

Nach und nach verließen die Gäste den Saal. Aveny hatte zu warten, bis sie alle gegangen waren, Giuliana und Alim waren bereits fort. Nur Kad war bei ihr geblieben, auf dessen Schulter Aveny die Stirn sinken ließ.

»Bewahre wenigstens so lange Haltung, bis alle aus dem Saal sind«, flüsterte er.

»Was die Adeligen über meine Haltung denken, geht mir sonst wo vorbei«, sprach Aveny in normaler Lautstärke zu Kads Oberarm. Alle redeten durcheinander, es verstand sie ohnehin niemand.

Kad schnaubte. »Geht es dir auch sonst wo vorbei, was die Adeligen denken, wenn du dich an meine Schulter schmiegst?«

»Sie werden sich mit ihrer Neugier an Lord Thain oder Cyril wenden. Vor allem letzterer kann dann bestätigen, dass zwischen uns unmöglich etwas sein kann, da ich absolut nicht dein Typ bin.«

Sie prusteten los. Beide in Gedanken an Cyrils Blick, als er vor einem Jahr herausgefunden hatte, dass sich sein Kumpel Blake mit Kad traf. Kad war in seiner Zeit hier auf der Burg mit zwei weiteren Männern zusammen gewesen, aber bei Blake – der davor als reiner Frauenheld bekannt war, ähnlich wie Cyril – war es eine Überraschung. Auch die beiden hatten diese Treffen vor kurzem beendet.

»Apropos Cyril«, setzte Kad noch leicht lachend an. »Habt ihr miteinander gesprochen, abgesehen von der Beglückwünschung heute?«

»Seit das mit uns vorbei ist?« Aveny zuckte mit den Schultern. »Nein, wozu auch?«

»Ich meine keine langen Gespräche. Der eine fragt ›Wie geht es dir?‹, der andere antwortet, ›Gut!‹.«

»Mehr als ein Hallo gab es nicht …«

»Schade. Auch wenn keine tiefen Gefühle im Spiel waren, kannst du nicht bestreiten, dass ihr euch in den zwei Jahren wichtig geworden seid.«