Spieler unter sich - Cornelia Jönsson - E-Book

Spieler unter sich E-Book

Cornelia Jönsson

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Beschreibung

Franzi lebt glücklich und dominant mit Marius und Katharina. Doch als Letztere beide verlässt, stößt sie einen komplizierten Reigen an. Franzi widmet sich einer neuen Freundin und beginnt, statt Gefängnistheater erotisches Theater zu machen. Sie sehnt sich nach mehr Sex mit Marius, der sich gerade mit Kelly tröstet. Das geht so lange gut, bis Kelly Franzi eröffnet, dass sie nicht vorhabe, Marius auf ewig mit ihr zu teilen. Pauline wurde von ihrer großen Liebe, einer dominanten Professorin, verlassen und weiß nicht, was sie mit sich anfangen soll. Sie beobachtet, was um sie herum geschieht, ohne selbst teilzunehmen, und genießt dabei die Dominanz ihrer Mitbewohnerin Franzi, bis sie erneut in aufwühlenden Kontakt zu einer Frau gerät.

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Seitenzahl: 340

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Cornelia Jönsson

SPIELER UNTER SICH

Roman

DIE SPIELER-TRILOGIE VON CORNELIA JÖNSSON

BAND 1

Spieler wie wir

BAND 2

Spieler unter sich

BAND 3

Spieler für immer

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Für Daiwa

Anspiel (Ouvertüre)

1

Ihre Haare sind braune Algen, Schlammalgen. Ihre Augen hingegen sind grüne Edelsteine, wie sie sich auf den Nachttischen junger Meerjungfrauen finden. Sie dreht sich im Wasser. Eiskalt. Blau und eiskalt. Sie selbst ist weiß und steif vor Kälte. Ihre Haut glänzt – perlmuttern, auch wenn es zu schön klingt, um ihr glaubhaft zu sein. Sie taucht tief. Sie gräbt ihre Hände in den Grund. Das Wasser ist klar. Sie sieht ihre hellen Finger im hellen Sand, ihre hellen Arme im blauen Wasser. Ihre Haut ist Perlmutt, unleugbar. Das Salz tut ihr nicht weh in den Augen. Ihre Lippen sind Quallen. Feste, fleischige Quallen. Rotrosig und weich – Verlockung der Tiefe. Sie teilt das Wasser mit starken Armen, sie bahnt sich ihren Weg.

Und will es nicht.

Sie dreht sich im Kreis, sie überschlägt sich gemächlich. Ihre Glieder sind Äste, sperrig, stöckig, störrisch. Der Ozean hat weder Ende noch Boden – ungeahnte Möglichkeiten und kein Interesse an keiner.

Pauline stellt sich vor, dieses Meer, in dem sie gerade schwimmt, wäre ein Aquarium, das Ann in ihren Armen hielte. Pauline schwämme darin mit all dem anderen Wassergetier – ruhig, entfernt, friedlich, so glitschig glatt, dass es durch alle Hände flutscht, die es halten wollen.

Pauline mit ihrer glänzenden Oberfläche glitte durch dieses blaue Aquarium, das Ann in den Armen hielte. Das Swimmingpoolblau von Anns Augen ginge in das Blau des Meeres über, beobachtete sie Pauline. Pauline schwämme in ihrem Wasser in Anns Armen.

2

Es ist dunkel, kalt und regnerisch, als Pauline sich auf den Weg zu Marius macht. Es ist der 6. April, Franzis Geburtstag. Schön, ins Warme zu kommen, zum Kerzenschein, zum Essensduft. Zu Franzi.

Franzi ist Paulines Mitbewohnerin und Marius’ Freundin.

Franzi trägt Rot. Sie strahlt über das ganze Gesicht, als sie auf Pauline zukommt. Sie sagt, Pauline sei braun geworden oder habe zumindest mehr Sommersprossen. Sie schließt die Arme um Pauline. Sie fährt ihr durch das Haar, das, so glaubt sie, heller ist jetzt. Sie nimmt Paulines kleines Gesicht in beide Hände.

Franzis Knochen sind stark. Das hat ihre Mutter früher gesagt, als Franzi in dem Alter war, in dem Mädchen dazu neigen, ihre Tage auf der Waage zuzubringen. Franzis Mutter muss es wissen, sie ist Physiotherapeutin.

Paulines Knochen hingegen sind bessere Gräten.

Hinter der Umarmung der jungen Frauen tragen Marius und Katharina Schüsseln auf. Es gibt Tomatensuppe und Salat, danach Lachslasagne und dann Vanilleeis mit heißen Beeren. Marius hatte die Befehlsgewalt in der Küche.

»Du kochst immer so gut«, sagt Pauline, als sie langsam ihre Suppe löffelt.

»Und man sieht es dir an!«, ergänzt Franzi.

Tatsächlich ist Marius’ Gesicht mit den braunen Teddybäraugen und den braunen Wuschelhaaren nicht unbedingt schlanker geworden in den letzten Monaten, ebenso wenig sein ohnehin eher stämmiger Körper. Er sieht gemütlich aus. Er geht nicht mehr zum Sport – die Kanzlei anzukurbeln kostet so viel Zeit und dann die beiden Frauen.

Katharina, in einem weißen Kleid mit Puffärmeln, das ein bisschen lächerlich und deshalb besonders entzückend wirkt, ist seit fast einem Dreivierteljahr Marius’ Spielpartnerin und seit Franzi im Winter ihre eigene Dominanz entdeckte, auch die ihre. Katharina ist so, wie Franzi nicht ist. Katharina hat langes, blondes Haar, große, graue Augen, kleine, weiche Brüste, lange, dünne Beine. Sie ist tatsächlich so groß wie Franzi, aber nur halb so breit wahrscheinlich.

Marius beugt sich am Schreibtisch über seinen Laptop und Bob Dylan löst die Doors ab.

»Du hast deine Suppe nicht aufgegessen!«, konstatiert Franzi mit Blick in Paulines Schale. »Na los, iss das auf!«

Pauline löffelt ein bisschen weiter, während Marius wieder am Esstisch Weißbrot in Salat, Suppe und Weißwein stippt, während Katharina sich die Mundwinkel tupft, während Franzi den Finger in ihre Schale tunkt und dann in Katharinas Mund.

Katharina trägt die Lasagne auf. Franzi ist ganz albern stolz auf sie, auf ihre Dienerin.

Franzi erzählt vom Gefängnistheater, von Thorsten und Sven. Franzi muss ihnen alles hinterhertragen, sie denken an nichts von allein. Sie halten sich für große Künstler, der Autor und der Regisseur, und große Künstler können sich nicht mit Banalitäten wie Steuererklärungen, Rechnungen, Textkopien oder muffeligen Vollzugsbeamten befassen. Dafür haben sie die gut organisierte, stets dynamische und immer kommunikative Produktionsleiterin. Frauen sind besser in solchen Dingen, finden sie. Der Mann lebt in der Sphäre der Genialität, die Frau im Reich der Organisation. Franzi ist natürlich wütend auf sie. Franzi würde am liebsten die beiden postpubertären Kerle im Regen stehen lassen und sich ein weibliches Team suchen, schließlich arbeiten sie in einem Frauenknast mit inhaftierten Frauen. Aber die inhaftierten Frauen, und das ist wirklich ungerecht, schwärmen nun mal für die beiden Kerle. Es gibt nicht allzu viel Grund dafür, wirklich nicht, aber es sind eben Männer und die Frauen auf Testosteronentzug.

Doch Franzi hat einen neuen Liebling im Gefängnis, der sich nicht von der banal zur Schau getragenen Männlichkeit blenden lässt. Maria, klein und schwarz, die wegen Raub sitzt, wegen Beschaffungskriminalität. Sie wechselt bald in den offenen Vollzug, da wird sie eine Therapie machen und sie wird weiter zu den Proben kommen. Sie ist pfiffig und feinfühlig, obwohl von diversen Schlägereien gestählt. Sie lernt fleißig ihren Text und greift ein, wenn die Mitspielerinnen sich streiten. Sie ist diplomatisch trotz des einen oder anderen gebrochenen Knochens, für den sie verantwortlich zeichnet.

»Sie wurde als Kind misshandelt und missbraucht«, erklärt Franzi.

»Welche deiner Darstellerinnen wurde das nicht«, erwidert Pauline und darauf gibt es nichts zu sagen.

Franzi nimmt Paulines Hand, die Brotrinde über Lasagneresten zerbröselt: »Wie schön, dich wieder hier zu haben!«

*

Pauline war nicht lange weg, eine Woche ungefähr. In der Nähe von Malaga, beziehungsweise in einem weißen Haus in der Nähe von fünf weiteren weißen Häusern in der Nähe von Malaga. Bei der Tante, mit der Mutter.

Dass sie verlassen wurde von der Frau ihres Lebens, hatte sie der Mutter gesagt und die hatte geseufzt. Die Tante wollte mehr wissen.

»Sie ist älter. Ich liebe sie. Ich habe mich ihr unterworfen.«

Die Tante hatte auch geseufzt. »Komm mit deiner Mutter zu mir. Das Meer wirkt Wunder.«

Das Meer wirkte wirklich Wunder. Pauline saß am Strand – in Jeans und Sweatshirt meistens, es war nicht so warm – und blickte auf das ruhige, blaue Wogen des Mittelmeers hinaus. Rhythmisches Rauschen, grenzenloses Glitzern. Bis zu der Himmelskante, an der das Meer abbrach – dahinter war Afrika und eine andere Welt. Im eiskalten Wasser, in dem sie mit klammen Gliedern schwamm, war auch eine andere Welt. Fische, Muscheln, Meerjungfrauen vielleicht, wer kann das schon wissen, mit Seesternen in den Haaren, in Kutschen, von Seepferdchen gezogen. Bei den Seepferdchen werden die Männchen schwanger. Es ist alles möglich. Und tief unten in dem blauen Wogen erstrecken sich endlose Welten. Leben, wo wir sterben würden, dachte Pauline. Wieder am Strand zerrt sie über ihre taub gefrorene Haut salzharte Jeans und Socken voll Sand, Sweatshirt, Schal. Blaulippig sieht sie dahin, wo sie gerade war.

Das Meer hört nicht auf. Paulines Horizont ist begrenzter als das Meer und so hört das Meer nicht auf. Es kann abknicken, wo die Erde sich wölbt, und trotzdem noch sein, ohne auszulaufen. Pauline aber konnte nicht um den Knick herumschauen. Und sie konnte mit ihrem kleinen Landkörperchen nicht so tief hinabtauchen, dass sie weit draußen im Meer den Boden fände. Oder auch nur die Kälte, die Angriffe der Tiere, den Druck des Wassers überstände. Pauline sah mit vor Kälte tauber Haut respektvoll auf das Meer hinaus und dachte Ann.

Ann Ann Ann.

Das gleichmäßige Wogen des latent aufgewühlten Meeres gab selbst diesem chaotisch strudelnden Strom von Ann-Gedanken einen beruhigenden Rhythmus. Manchmal allerdings stand Pauline im Garten vor mannshohen Kakteen und verspürte ein zwanghaftes Bedürfnis danach, sich in die Stachelbäume fallen zu lassen. Sich von den unzähligen Nadeln hundertfach die Haut aufstechen, sich den Leib zerlöchern zu lassen, damit rotes Blut und vor allen Dingen Leben hinausflösse. Über den Kaktus und den Berg hinunter, zur Küste, ins Meer.

Ein oder zweimal fuhr Pauline mit der Tante und der Mutter in kleine weiße Fischerdörfer, aß sauer marinierte Muscheln, trank kühlen Weißwein in der Mittagssonne, flirtete mit Kellnern und fand das Leben punktuell gar nicht so übel.

Schneide diesen Augenblick aus. Schneide ihn heraus aus der gewaltigen Masse deines Lebens. Vergiss, was du bist. Du lebst, was dich umgibt. Schneide diesen Augenblick aus. Er glänzt. Er ist voller Licht. Er ist Glück.

Als sie begann, Augenblicke auszuschneiden, stellte Pauline fest, dass sie viele schöne Schnipsel besaß. Sie könnte die ausgeschnittenen Zeitfetzen nebeneinanderlegen, und das wäre ein Lichtwasser, durch das sie schwimmen könnte.

Abends das warme Haus, die klassische Gitarrenmusik aus den Boxen, das viele Essen, die Mutter erstaunlich lebhaft hier in Spanien, die Tante unterstützend. »Ein halbes Jahr warst du mit ihr zusammen. Im Dezember hat sie dich verlassen. Das ist jetzt drei Monate her. Die Trauer dauert halb so lang wie die Beziehung selbst, das ist die Regel«, sagte die Tante. Schrieb auch Franzi per Mail. Aber die Tante fügte hinzu: »Manchmal dauert die Trauer allerdings ein Leben lang.«

Das tat Pauline gut. Dann war das eben so, dann war das eben ihr Schicksal. Lieber ein Leben lang weinen um Ann, als ein Leben lang ohne sie sein.

Pauline hat die Tante schon immer geliebt. Sie trägt ihr volles dunkles Haar nicht lang und strähnig wie die Mutter, sondern modisch geschnitten, mal rot, mal lila, inzwischen voll silberner Fäden. Sie hat das bisschen geerbtes Geld in Immobilien angelegt (die Mutter hatte es in die eheliche Kinderarztpraxis gesteckt), sie hat wohl Glück gehabt oder sich geschickt angestellt. Jetzt besitzt sie ein paar Wohnungen in Deutschland, die ausreichend Geld auf ihr Konto spülen, und dieses weiße Haus in Spanien. Die Bilder, die sie malt, stehen im sonnigen Garten statt auf staubigen Böden und in finsteren Kellern wie die der Mutter.

Seit Pauline denken kann, gab es keinen Mann im Leben der Tante.

Vielleicht ist sie ja, dachte oder hoffte Pauline in der Zeit, in der das wichtig für sie wurde, vielleicht ist, vielleicht begehrt sie ja wie ich und vielleicht gibt es dann einen Ort für mich. Doch die Tante hatte einfach nur genug von den Schmerzen der Liebe.

»Es ist wundervoll, gemeinsam glücklich zu sein«, sagt sie, »aber die meiste Zeit ist das Zweisamsein anstrengend oder tut weh. Wenn du in der Lage bist, dein Leben allein zu meistern, dir deine Bedürfnisse selbst zu erfüllen, mit dir zufrieden zu sein, dann lohnt sich die Liebe nicht.«

Die Tante hat aber Verständnis für Paulines unbedingte Gier nach Zuneigung. Und wenn es der Mutter leid tut um den jungen Schwiegersohn, der nie kommen wird, dann schüttelt sie den Kopf.

*

Katharina und Pauline haben ihre Geigen geholt. Sie einigen sich auf Vivaldis Frühling.

Pauline spielt angezogen.

Franzi sitzt auf Marius’ Schoß, sein Glas Wein in der Hand. Vor ihr schmilzt Vanilleeis in heißen Beeren.

Als das Glas leer ist und das Eis flüssig, steht Franzi auf und geht zu Katharina. Sie hat Herzklopfen. Sie ist ziemlich oft schon auf Katharina zugegangen mit gewalttätigen Gedanken und immer noch schlägt ihr das Herz gegen den Busen, dass Katharina ihn wogen sehen müsste. Sie will in Katharina hineingreifen, um sie leuchten zu lassen. Katharina leuchtet ziemlich oft. Doch kurz bevor es so weit ist, erscheint es Franzi ganz unmöglich, dieses Licht erzwingen zu können. Völlig abwegig. Franzi nimmt Katharina die Geige aus der Hand und legt sie auf den Boden. Katharina sieht ihr nervös zu. Franzi mag es, grob mit Katharinas Geige umzugehen und zu sehen, wie sie das besorgt. Katharina ist sich nicht sicher, ob sie das mag. Aber sie mag, wie Franzi sie küsst und streichelt, sie mag den Griff um ihren Hals und den Kniff in ihre Brust. Sie kniet vor Franzi, die jetzt auf dem Sofa hingestreckt ist, sie steckt den Kopf zwischen ihre Beine und bewegt ihn da, dass Franzi seufzt.

Marius betrachtet die beiden Frauen und kann sich nicht entscheiden, welche er schöner findet. Das Gute daran ist: Er braucht sich nicht zu entscheiden. Marius öffnet seine Hose und umfasst sich selbst. Er umfasst sich selbst, den Blick auf Franzis großen Busen gerichtet. Zwei Frauen, eine blond, eine dunkelhaarig, eine schmal, eine kurvig, beide ineinander versunken und für Marius verfügbar. Er könnte da jetzt hingehen, er könnte sie anfassen und alles Mögliche mit ihnen tun. Er muss das aber nicht. Er kann auch hier sitzen bleiben und schauen. Und schauend besitzen. Pornobabes, denkt er. Es zuckt mit dem Wort in seinem Kopf auch sein Schwanz. Und es ist ihm etwas flau im Magen dabei. Frauen als Sextoys zu denken, Frauen als besitzbare Objekte, empfindsame Leiber, wenig mehr, Frauen als Verlängerung seines eigenen Verlangens, Frauen also ausschließlich passiv, reaktiv, Frauen so zu denken in einem Wort, einem Bild, sorgt für Aktivität in seinem Unterleib seit jeher. Und macht ihm ein schlechtes Gewissen.

Eine farblose Mischung aus Protestantismus und Feminismus prägte das Lehrerehepaar-Haus in der Nähe von Münster, dem er entstammt. Nachsichtige Verachtung für Sinnenfreuden und rabiatere für die Domestizierung der Frau in ihrer Rolle als Sexualobjekt. Im Grunde genommen auch leichte Verachtung für Mann und Männlichkeit. Oder Aggressivität oder beides.

Marius’ Vater genoss die Stärke seiner Frau und die damit verbundene Erlaubnis, selbst schwach zu sein. Marius’ Vater zog einen Teil seines intellektuellen Selbstbewusstseins aus der Tatsache, dass er nicht auf pralle Titten, rote Lippen, schwarze Strapse und dergleichen ansprang wie die vielen Männer, die dem Tier in sich näher waren als ihrer Menschlichkeit. Marius’ große Schwester verlangte Bewunderung, Respekt, Aufmerksamkeit, Anerkennung, Schutz und Sicherheit von dem Mann, der an ihrer Seite gehen durfte, ohne ihm allzu viel dafür geben zu wollen. Sie behauptet etwas anderes, aber Marius ist sich sicher, sie hat das Jurastudium mit dem klaren Ziel begonnen, sich einen erfolgreichen Juristen zu angeln. Jetzt ist es doch bloß ein Lehrer geworden, so ist das Leben, es ist kein Geld da für ein Au-pair-Mädchen oder eine Haushaltshilfe und die Prinzessin ist schneller zur Magd geworden, als sie jemals befürchtet hätte.

Zerbombte Träume, denkt Marius, säumen den Weg, auf dem wir ins Ungewisse gehen. Ob schnell oder langsam, spielt keine Rolle, denn die Geschosse sind unberechenbar. Manchmal allerdings, und das fällt ihm jetzt ein, wo er Franzi in Katharina versunken sieht, manchmal findet sich in den Ruinen der ausgebombten Träume ein Wunder, das ohne die Explosion niemals ans Tageslicht gelangt wäre.

Marius’ kleine Schwester beißt sich ohne erkennbares Privatleben als Frau durch die männlich geprägte chemische Forschung. Marius vermutet, dass sie lesbisch ist und es nicht sagen möchte, weil sich dann zwangsläufig die ganze Familie vorstellen würde, wie sie es mit einer Frau, wie sie es also überhaupt treibt. Franzi hingegen hält die kleine Schwester für enorm heterosexuell, aber zu sehr um ihre Stärke bangend, als dass sie sich einem Mann hingeben könnte.

So oder so herrschte der Ausnahmezustand in dem Lehrerehepaar-Haus in der Nähe von Münster, als sich im Zimmer des präpubertären Sohnes ein Playboy fand. Entsetzen, Sorge, Indoktrination. Und Verachtung, als er im Sommer am Meer ab und zu einen Steifen hatte, wenn er sich mit seinen Schwestern balgte.

Jede Steife erschlafft, denkt er daran, also konzentriert sich Marius auf Franzis Brüste, jetzt und hier.

Franzi sieht in den Raum und lacht lautlos. Es dreht sich alles um ihre Klitoris gerade. Katharina tut, was sie soll, mit der geilsten Zunge der Welt. Marius schießt sich auf Franzis Busen ein. Paulines vertrauter Blick ruht auf Franzis Gesicht. Franzi lacht lautlos. Hier dreht sich alles um ihre Klitoris gerade. Franzi blickt in den Raum, bis er vor ihren Augen verschwimmt. Es gibt Explosionen, die kein Mensch sieht.

Pauline blickt gedankenverloren auf Franzis Busen, der auf und ab wogt wie das Meer.

Ob das Meer auch in Bewegung gesetzt wird durch eine magische Zunge, die es an seinem Grund stimuliert, fragt sich Pauline, die mit ihrem Finger das flüssige Vanilleeis in stilvollen Linien durch die roten Beeren zieht. Gibt es einen Lustantrieb, gibt es eine Stimulation, die das Meer in Bewegung setzt? Es wird doch alles durch irgendetwas bewegt, traut man Aristoteles, außer dem selbst unbewegten Beweger. Wenn man nun nicht mehr an Gott glauben muss wie die Philosophen vergangener Zeiten, dann kann man doch annehmen, dass der unbewegte Beweger ein Verlangen ist, welches alles anschiebt, anheizt, auf die Beine und in Gang bringt. Ein großes, massiges Urverlangen, das allem zugrunde liegt. Es stößt mit seiner unendlich langen Zunge die Erdkugeln an, stößt sie auf ihre Bahnen in ihre Milchstraßen, lässt sie über seine Zungenspitze rollen, dass sie sich für die Ewigkeit drehen, taucht sein Zünglein in die Wasser, dass sie aufgewühlt werden für alle Zeiten, leckt über die Erdoberfläche, dass es wächst und gedeiht.

Und natürlich schafft es Chaos.

Natürlich schafft Verlangen Chaos und Gier und Egoismus.

Marius versenkt sich in Katharina, deren Kopf jetzt auf Franzis Brust ruht, die ihr das Haar zerwühlt und die feuchte Stirn küsst. Hab mich lieb, denkt Franzi auf Katharinas Kopf zu, sei mir nicht böse, sei mir dankbar stattdessen und hab mich lieb.

Ob das große Verlangen manche Orte nicht sorgfältig genug abgeleckt hat, fragt sich Pauline, Rote-Beeren-Kreise in die Vanillesauce ziehend. Ob das Verlangen beispielsweise zu sparsam umgegangen ist mit dem kleinen Örtchen, dem sie entstammt. Es ist sicher nicht leicht, dieses winzige Fleckchen Welt abzulecken, umgeben von Bergen und Wäldern.

Pauline zieht es nicht sehr oft dorthin. Pauline zieht es generell eher ins Zentrum des Verlangens als an seine Ränder. Aber kürzlich, im Januar, ist sie doch da gewesen. Weil sie nicht wusste, wohin sonst, ohne Ann, weil alles egal war, ohne Ann. Dass ihre Tochter Weihnachten in Berlin bei ihren Freunden bleiben wollte, das hatten die Eltern akzeptiert, aber danach wollten sie sie doch gern sehen.

Also ist Pauline durch die Berge, durch den Wald, durch das ganze Land gereist, in ihr altes Heim.

In den Schnee, in das Schweigen.

Sie trug Tränen fiebrig heiß auf ihrer Haut, wenn es draußen fror. Die Augen der Mutter waren trüb wie je. Sie legte den Kopf schief, sie sagte, es käme eine andere, eine Liebe geht, eine andere kommt. Pauline sagte, diese nicht, nein, und du verstehst nicht. Die Mutter seufzte, die Mutter sagte, Pauline sei wertvoll, es käme eine andere, es ginge vorbei, und Pauline kann diese Worte natürlich nicht glauben aus dem Mund der Mutter, für die gar nichts vorbeigeht.

Ihre Mutter hatte sie zwei Jahre lang gestillt, ganze zwei Jahre, und das war eine gute Zeit, sagt ihr Vater. Der Keller ist voll von Bildern, die damals entstanden, auch bei Freunden hängen welche und in der Praxis. Sie hat den ganz kranken Kindern sogar Farben geschenkt und das Malen gezeigt. Sie waren in Urlaub, immer wieder, obwohl die Praxis gerade erst eröffnet und kein Geld da war. Die Mutter trug Pauline mit sich herum, legte sie an die Brust und war ganz geöffnet für alles.

Irgendwann muss aber jede aufhören mit dem Stillen und dann wurde es, wie es vorher war oder schlimmer. Manchmal war die Mutter eine großartige Mutter, die Masken für Fastnacht bastelte oder Kastanientiere, Weihnachtskrippen, Blumenschmuck. Die ganze Welten auf ausgeblasene Eier malte und eifrig die Osterkörbchen suchte, die sie selbst versteckt hatte. Die das Shampoo, das sie kaufte, in der Drogerie in Geschenkpapier einwickelte, um es zu Hause mit Freuden auspacken zu können. Öfter allerdings war die Mutter reglos. Die Mutter hat viel geschlafen, wirklich viel. Sie sollte sich ein bisschen zu ihr legen, hatte der Vater zu Pauline gesagt, der arbeiten musste in der Praxis für zwei, sie sollte ihr das Essen ans Bett bringen, sie sollte sie bitten, zu essen, und sie sollte sich ein bisschen zu ihr legen. Das täte ihr gut, der Mutter, wenn jemand da sei, bei ihr. Doch Pauline hatte nicht den Eindruck, als spürte die Mutter ihre Anwesenheit. Sie selbst war nämlich abwesend. Pauline hatte versucht, sie zu erreichen, wenigstens einen Fetzen von ihr zu erwischen, doch es gelang ihr nicht. Sie schmiegte ihren Kopf an die Brust der Mutter, die auf dem Rücken lag und nicht da war. Sie drückte ihr Gesicht an die Schulter der Mutter, die auf dem Bauch lag und nicht da war. Sie schlang ihre Arme um die Mutter, die auf der Seite lag, abgewandt.

Einmal, als es ihr gut ging, fragte die Mutter Pauline, ob sie sich für einen Jungen interessiere. Pauline erklärte, sie sei lesbisch. Die Mutter schlug vor: Bring doch deine Freundin einmal mit. Pauline erwiderte, sie habe keine. Die Mutter sagte: Wie schade.

Es gab wirklich keine Frau damals. Es gab zwei Jungen, mit denen Pauline zusammen war, jeweils ein paar Monate. Lesbische Frauen fand Pauline nicht. Es gab allerdings die Lateinlehrerin in der fünften Klasse. Grauschwarze Locken, weiche Stimme, blaue Augen, blasse Haut, Ruhe und Intelligenz. Pauline war sehr gut in Latein, ihre Eltern freuten sich, es war wohl richtig gewesen, sie auf ein humanistisches Gymnasium zu schicken.

Nach zwei Jahren bekam sie eine neue Lateinlehrerin und ihre Leistungen rutschten ins Ausreichende ab.

Pauline kam sich fehl am Platz vor in diesem Januar in diesem kleinen Örtchen, das ihr heimatlich, zumindest bekannt scheinen müsste. Der Vater arbeitete viel – sie war einmal mit in der Praxis, es war schön dort, sehr bunt und gemütlich –, die Mutter saß in ihrem Sessel, lag in ihrem Bett, las und sprach selten. Sie sah manchmal Pauline an und sagte: Du bist unglücklich, Pauline, wenn ich bloß etwas für dich tun könnte.

In der Stadt lag Schneematsch, die Menschen trugen Kleider in Pastellfarben und sprachen auf diese seltsame Weise. Die Kassiererinnen in den Geschäften plauderten mit ihren Kundinnen, Pauline grüßten sie nicht.

Pauline grüßte allerdings auch nicht.

Man konnte Blockbuster im Kino sehen, die Pauline nicht kannte, oder schwere, alkoholgetränkte Torten in den Cafés essen. Die Schaufenster waren so mit Skiern und Snowboards überfüllt, dass es Pauline schauderte. Die Stadt war ruhig und überschaubar.

*

Franzi und Marius lungern auf dem Sofa herum, die nackte Katharina wärmend zwischen sich. Pauline fängt an, leise den Tisch abzuräumen. Ziemlich bald läuft Franzi ihr nach, in Marius’ Hemd gehüllt, mit Gläsern in der Hand. Pauline, vor der Geschirrspülmaschine, nimmt sie ihr ab.

»Du kannst Katharina auch anfassen, wenn du willst«, sagt Franzi. »Immer.«

»Ja«, sagt Pauline. »Danke.«

Sie weiß nicht, wie sie eine anfassen soll, die sie kaum kennt, und warum.

»Du brauchst mir nicht zu helfen. Ich räume alles auf«, sagt Pauline.

Franzi lächelt. »Das musst du nicht.«

»Ich möchte das«, erwidert Pauline von der anderen Seite der Geschirrspülmaschine aus.

Franzi lächelt noch etwas mehr.

»Na gut«, sagt sie. Sie streckt die Hand aus, legt sie auf Paulines Wange. Sie beugt sich vor und küsst ihren Mund. »Danke.« Franzi lächelt und geht. Was habe ich da getan, schießt es ihr blitzgleich durch den Kopf, während sie nach Luft schnappt, aber es war doch gut. Pauline fasst sich mit dem Zeigefinger an die geküssten Lippen, dann verstaut sie die Gläser in der Spülmaschine.

*

Franzis Eltern hatten ebenfalls Sehnsucht nach ihr, nachdem sie Weihnachten gefehlt hatte. Im Februar war Franzi, unterstützt von Pauline, in den Kölner Reihenhausvorort gefahren, dem sie entstammt. Die beiden Schwestern hatten die Eltern ebenfalls einbestellt, damit die Familie wenigstens jetzt einmal komplett zusammenkäme, es sei doch so wichtig, dass man ab und an beieinander sei, dass auch die Schwestern sich sähen, es sei doch so wichtig, sich nah zu bleiben, als Familie.

»Wenn ich muss, komme ich mit«, hatte Marius gesagt, und Franzi hatte abgewinkt. Einzeln mochte Marius Franzis Familienmitglieder. Aber alle zusammen waren ihm etwas zu anstrengend. Und ihn beängstigte die Überzahl von Frauen in Franzis Familie ebenso wie in seiner eigenen.

Franzi hielt es sowieso für sinnvoller, Pauline mitzunehmen. Pauline musste in Bewegung gebracht, abgelenkt, aufgeheitert und in neue Kontexte gesetzt werden. Pauline sollte unter keinen Umständen ein ganzes Wochenende allein in der Kreuzberger Wohnung verbringen. Pauline musste von zu viel Alkohol fern- und vom Kopf-gegen-die-Wand-Schlagen abgehalten, außerdem zum Aufstehen und zum Essen gedrängt werden.

Den Reihenhausvorort zu besichtigen verbot Franzi Pauline. Der Reihenhausvorort wecke Mordimpulse, sagte sie, und das schon immer, wie man an dem Sprung im Fenster ihres Kinderzimmers sehen könne.

Pauline fand Köln nett. Kein einziger Ort, an dem sie mit Ann gewesen war, keine Straße, keine U-Bahn, kein Bus, die zu ihr hinführten, keine Studenten, die womöglich die ihren waren, keine Frau, die zu ihrem Mann Z. gehören könnte, keine Ecke, um die sie in dieser Sekunde biegen, kein Auto, dem sie entsteigen könnte – Köln als annfreie Zone und also Mekka der Entspannung.

Franzi hingegen schimpfte lautstark auf ihre Heimat. Spießig, klein, provinziell und nennt sich Großstadt. Klar, dass Franzi nicht positiv auffiel bei ihren alten Freunden.

Ihre Familie fand Franzi nicht weniger furchtbar. Die Mutter hatte ihre Praxis aufgegeben, weil sie nach weit über dreißig Jahren keine Lust mehr hatte, die Rückenschmerzen von Menschen zu lindern, die ja doch nichts an den Umständen änderten, die sie krank machten. Jetzt ging sie vor Langeweile ein. Der Vater zog es vor, möglichst spät erst das Büro zu verlassen, was ihre Laune aber in keinster Weise besserte. Am Wochenende wurde abgerechnet. Die Eltern stritten von morgens bis spätnachmittags und vertrugen sich abends beim dritten Glas Wein.

Franzi vermittelt zwischen ihren Eltern, seit sie sich erinnern kann. In den letzten Jahren war sie zur dringenden Empfehlung einer Scheidung übergegangen. Sie mag beide, sie glaubt auch, dass die Mutter den Vater und der Vater die Mutter liebt, aber Liebe allein reicht eben in der Regel nicht aus für eine harmonische Beziehung, die über die erste Zeit der kopflosen Verliebtheit hinausgehen soll. Die Kombination aus Liebe und Kindern kann Grund zum Aushalten sowie Ausrede vor sich und der Welt sein, aber im Rentenalter, so findet Franzi, ist es höchste Zeit, sämtliche Besser-als-Nichtse zu entsorgen und noch einmal Glück als machbar zu denken.

Vor allen Dingen aber ging Franzi ihre große Schwester Sonja auf die Nerven.

Früher hatte Franzi die sieben Jahre Ältere angebetet. Ganz früher hatte Sonja große Freundinnen gehabt, die entzückt von der kleinen Franzi gewesen waren. Sie spielten Vater-Mutter-Kind mit Franzi als Kind. Sie spielten auch Hexen mit Franzi als Opfer. Und Piraten mit Franzi als Schatz. Manchmal reichte es Sonja, sie sprach ein Machtwort, schnappte sich Franzi und kehrte den anderen den Rücken. Denn Franzi war ihre kleine Schwester und es war eine große Gnade ihrerseits, die anderen mit ihr spielen zu lassen. Mit Gnade sollte man allerdings nicht um sich werfen, sonst schwindet die Dankbarkeit der Beschenkten und ehe man es sich versieht, nehmen sie einen gnadenlos aus.

Doch hauptsächlich kann sich Franzi an Sonja als junges Mädchen erinnern, während sie selbst noch Kind war. Ihre Freundinnen fanden Franzi immer noch süß und zudem umgab sich Sonja jetzt auch mit Jungen, groß, stark und schön, die Franzi hochhoben und durch die Luft wirbelten.

Franzi nutzte jede Gelegenheit, um in Sonjas Zimmer zu gelangen. In die Zentrale der Mädchenwelt. Der weiten, bunten, lichten, geheimnisvollen, glänzenden, begehrten, angenehm beängstigenden Mädchenwelt. Es gab hier nichts Schmutziges. Es gab nichts Schlichtes. Es roch süß und blumig. Wie Bonbons essen in verwilderten Gärten. Alles war in den Farben Rosa, Weiß, Lila und Beige gehalten. Auf den Regalen standen bunte, glitzernde Flakons mit kostbaren Flüssigkeiten darin. Sonja besaß Röcke in gewagten Schnitten und glatte, glänzende, durchsichtige Strümpfe. Sie hatte Unterwäsche mit Blumen und Spitzen. Manchmal stellte sie blaue Wasserflaschen mit rosafarbenen Schriftzügen irgendwo ab. Auf dem Boden lagen oft achtlos abgestreifte Prinzessinnenschuhe mit filigranen Absätzen. An den Wänden hingen Spiegel in verschnörkelten Rahmen, die den Raum seltsam weiteten, und die Bilder schöner, erwachsener Männer und Frauen. Sonja hörte von morgens bis abends lebendige Musik in einer fremden Sprache. In kleinen Schatullen verwahrte sie Perlen, Edelsteine, Silber und Gold. In die unterste Schublade ihres Schreibtisches schloss sie ein geheimnisvolles Buch ein, in das sie mit türkisfarbener Tinte Vertrauliches schrieb.

Dass sie nicht Teil dieser Welt ist, bereute Franzi damals noch – jetzt ist sie heilfroh darüber. Außer in wenigen Ausnahmesituationen, an den ersten Tagen ihrer Periode beispielsweise, nach einer langen Schicht im Café oder nach zu viel Zeit ohne Sex. Dann wünscht sie sich sich selbst geschmeidiger, niedlicher, sanfter. Mehr wie Zuckerwatte oder Sahne-Frucht-Cocktails. Sie redet sich dann ein, irgendetwas würde dadurch einfacher, obwohl sie weiß, es wäre nicht so.

Franzi tat alles für ihre große Schwester. Sie färbte ihr Haar. Sie half nachts Sonja aus dem Fenster hinaus oder Jungen durch das Fenster hinein. Sie erbettelte von der Mutter Geld für Bücher, angeblich, das sie dann ihrer Schwester gab. Sie klaute sogar teure Lippenstifte und Cremes für sie, damit sie weiterhin so schön bliebe und immer schöner werde, so lange, bis sie erwischt und von einem dicken Mann in einem grauen Raum gefangen gehalten wurde, bis die Mutter sie endlich abholte. Die Eltern waren sehr ernst und gingen ihr am Abend stundenlang mit Vorträgen auf die Nerven über Eigentum (die Mutter hielt sehr viel weniger von diesem Wort als der Vater), Gesetze (dem Vater erschienen diese sinnvoller als der Mutter), Strafen (die der Vater für notwendig, die Mutter für faschistoid erachtete), Markwirtschaft (die die Mutter ebenso wenig verstand wie Franzi).

Jetzt allerdings war Sonja vierunddreißig und immer noch das Mädchen aus Franzis Kindheit, was, wie Franzi fand, auf ein erschreckendes Manko an Entwicklung schließen ließ. Sonja trug ihr braunes Haar immer noch blond (ließ es sich allerdings inzwischen vom Friseur statt von ihrer kleinen Schwester färben), hatte immer noch diese niedlichen Perlenstecker in den Ohren und die zierlichen Ringchen an den Fingern und trug immer noch plüschige rosa Pullover. Sonja arbeitet als Redakteurin für den WDR (worauf sie sich laut Franzi viel zu viel einbildet, wenn man bedenkt, dass sie über Trends, Fashion, Starlets berichtet). Ihr Mann (in blauem Hemd zu beigefarbenen Hosen) ist ihr Chef und die beiden hatten vor kurzem ein entzückendes Wunschkind bekommen, das jetzt in einem sportlichen Kinderwagen der Familie vorgeführt wurde. Es war wirklich süß und es hatte zum Bedauern von Mama und Oma sein erstes Weihnachten ohne Tante Franzi feiern müssen.

»Wie kann man bloß so ein spießiges, dummes Leben führen?!«, fragte Franzi in die rauchgeschwängerte Luft, als sie nachts mit Pauline zusammen eine letzte Flasche Wein in ihrem alten Kinderzimmer zwischen bunten von der Decke baumelnden Tüchern und Postern von den Ärzten, Campino und Brad Pitt leerte.

»Lass sie doch sein, wie sie will«, erwiderte Pauline.

»Wie könnte ich! Sie hat nichts als Geld und Karriere im Kopf. Das Kind ist doch auch nur da, weil Frauen wie Sonja Anfang dreißig besser aussehen, wenn sie samstags einen Kinderwagen durch die Fußgängerzone schieben!«

»Deine Schwester ist nett und friedlich«, wandte Pauline ein, Franzi verdrehte die Augen. »Sie lebt ihr Leben und lässt dich deines leben. Du hingegen bist aggressiv und spielst dich als Missionarin auf.«

»Natürlich lässt sie mich mein Leben leben!« Franzi griff nach Paulines Zigarettenpäckchen, Pauline entriss es ihr, Franzi zündete sich ihren letzten Zigarillo an. »Sie weiß ja auch, dass mein Leben richtiger ist als ihres!«

»Warum urteilst du über andere Menschen? Warum arbeitest du nicht an deinem eigenen Leben, anstatt das der anderen zu kritisieren?«

»Weil die Welt, in der ich lebe, mein Leben prägt. Diese Welt wiederum wird auch durch das Leben der anderen, zum Beispiel durch das meiner Schwester, beeinflusst. Weshalb ich an meinem Leben arbeite, indem ich ihres kritisiere. Und seit wann bist du so gleichgültig?«

»Ich habe Sehnsucht nach Ann«, seufzte Pauline. »Wer mir nicht den Kopf verdreht, mich monatelang verprügelt, um mich anschließend telefonisch zu entsorgen, der ist mir sympathisch.«

An ihrem letzten Abend in Köln weihte Franzi ihre Familie spontan in die Beschaffenheit ihrer Lust ein, weil ihr die ewige Heimlichtuerei schon lange auf die Nerven ging. Und weil, wie sie findet, an der eigenen Diskriminierung mitarbeitet, wer nicht zu sich steht.

Der Vater grinste immerzu und schenkte sich nach. Die Mutter wollte alle Gefahren ausschließen. Ob es nicht etwa so sei, dass Marius Franzi mit Katharina betrüge, und um besser damit zurechtzukommen, mische sie mit? Ob sie sich ärztlich behandeln ließen, wenn sie ernsthaft verletzt seien? Ob sie denn überhaupt jemals ernsthaft verletzt seien? Was sie unter »ein bisschen verletzt« verstünden? Ob Franzi Katharina Schaden zufüge? Ob man gegen diese Ann rechtlich vorgehen könne? Ob das etwas mit Franzis Kindheit zu tun habe? Ob sie selbst etwas falsch gemacht habe?

Katja, die kleine Schwester, fragte nur: »Macht dich das glücklich?«, und als Franzi bejahte, umarmte sie sie.

Franzis Liebe zu Katja ist in den letzten Jahren nicht schwächer geworden. Katja und Franzi hatten sich früher, in der ersten Wohnung der Familie, ein Zimmer geteilt. Als sie in dem neuen Haus jeder ein eigenes hatten, schliefen sie trotzdem noch jahrelang gemeinsam in einem Bett. Entweder Franzi las ihrer Schwester nachts Geschichten vor, las ihr die letzte Geschichte neben ihr liegend, ihr heißes Gesichtchen auf der Brust spürend, vor und stand nicht mehr auf, oder Katja schlich zu später Stunde zu Franzi und kroch vorsichtig unter ihre Bettdecke, bemüht, sie nicht zu wecken, und gleichzeitig ihre feste Umarmung erwartend. Unzählige Regensonntage lag Franzi hinter Katja im Bett, ihren Körper an den der Schwester geschmiegt, das irrsinnig weiche Haar auf den Wangen, mit den Fingern darin wühlend, den warmen, weichen Nacken vor sich, ihr Atem an dem warmen, weichen Nacken, kleine Härchen, die sich aufstellten, den schmalen Körper fest im Arm, im Griff, das kleine Herzchen unter der eigenen Haut pochen hörend – so lag Franzi hinter Katja im Bett und erzählte ihr Märchen über Prinzessin Franzi und Prinzessin Katja. Wie sie in herrschaftlichen Kutschen durch den Wald fuhren, wie allerlei Schurken, menschlich und fantastisch, sie angriffen und Prinzessin Franzi die kleine Schwester sowie den Kutscher und die Leibwächter verteidigte, wie sie des Abends entgegen aller Erwartungen doch noch lebendig und halbwegs unversehrt ihr Schloss erreichten, wo ihnen in den weiten Hallen Prinzessin Sonja schluchzend vor Sorge entgegenlief. Wie Prinzessin Sonja dann in der Nacht weinend am Bett von Prinzessin Franzi erschien, um ihr zu melden, dass die böse Zauberin Prinzessin Katja gestohlen habe. Wie Prinzessin Franzi postwendend einen Trupp aus tapferen Rittern zusammenstellte und mit wilden Pferden in die Nacht hinausstürmte, ihre Schwester zu retten.

Katja war sehr kränklich als Kind gewesen, war es immer noch. Franzi hatte Zaubertees aus Hexenkräutern für sie gebraut und seltene Früchte aus fernen Ländern von verwegenen Abenteurern bringen lassen. Sie war außerdem nicht zuletzt deswegen halbwegs gut in der Schule gewesen, weil sie davon ausging, alles Gelernte früher oder später der kleinen Schwester beibringen zu müssen, die oft den Unterricht verpasste.

Jetzt hatte Katja das Jurastudium, das sie nach ein paar Semestern Literaturwissenschaft begonnen hatte, abgebrochen, um eine Lehre zur Tischlerin zu beginnen. Eltern und Schwestern waren vereint in ihrer Sorge um Katjas berufliche Zukunft. Was, wenn sie niemals etwas fertig bekäme, wenn sie gar nichts machte, und kann man von der Tischlerei überhaupt leben. Pauline wiederum hielt Katja für äußerst gewissenhaft.

Sonja zischte später im Bad, während die vier Mädchen sich gemeinsam die Zähne putzten, Franzi zu: »Es ist verantwortungslos, den Eltern so etwas zu erzählen. Wenn du dein Leben mit Höher-weiter-schneller-Sexspielen verschwenden willst und unbedingt alles ausprobieren möchtest, dann ist das deine Sache. Aber du musst die Eltern nicht beunruhigen!«

Franzi gab Unflätiges zur Antwort.

Als Katja, Pauline und Franzi in dem vernebelten Kinderzimmer eine letzte Flasche Wein entkorkten, flüsterte Katja: »Wisst ihr, ich glaube, sie ist auch so wie ihr. Als ich einmal bei ihr übernachtet habe, habe ich Handschellen in ihrem Schlafzimmer gesehen mit rosa Plüschbezug und auch Klammern mit Strasssteinchen.«

Die Mädchen kugelten sich, Campino stierte dem Feind im bürgerlich-nüchternen Lager aggressiv entgegen und es wehten sanft die indischen Tücher.

*

Pauline räumt wirklich die ganze Küche auf. Sie schaltet die Spülmaschine an, packt die übrig gebliebene Lasagne in den Kühlschrank, macht die Auflaufform sauber. Dann schnappt sie sich eine Flasche Grappa und geht zurück ins Wohnzimmer. Dort sitzt die nackte Katharina auf dem Schoß der nackten Franzi, auf dem roten Sofa vor den dunklen Fenstern. Die Frauen bewegen ihre Becken in einem Rhythmus, der aus ihrem Innersten kommt, sie verbeißen sich ineinander, sie halten sich aneinander fest. Franzi kann nie genug bekommen von den weichen weichen Lippen Katharinas. Marius’ Lippen wirken dagegen auffallend hart, und auch das ist interessant.

Franzi greift mit ihren großen Händen in Katharinas weiches, feines, langes Haar, sie zieht ihr den Kopf zurück, in den Nacken, so dass sie in ihren Hals beißen kann. Und in ihre kleinen, hellen Brustwarzen auf den kleinen, weißen, erstaunlich weißen Brüsten. Sie beißt in Katharinas Brustwarzen, die ihr Schambein heftig gegen das ihre stößt. Sie wirft Katharina von ihrem Schoß, zu Boden. Sie steht breitbeinig über der Hingestreckten, den weichen Körper zwischen den Beinen, die offenen Lippen, die spitzen Brustwarzen und ihr ist schwindelig. Konzentriere dich, denkt sie, aber vergiss nicht, dass du glücklich bist. Sie spuckt auf Katharina herab. Sie sieht Katharina die Augen schließen, die schwarzen Wimpern auf die weiß-violette Haut legen, die Nasenflügel blähen. Sie kniet sich hin, drückt ihre Knie in die Seiten der Liegenden, leckt den eigenen Speichel von ihrer Wange. Reißt ihr die Beine hoch, auseinander. Beißt in das flüssige Fleisch dazwischen. Beißt in Katharinas flüssiges Fleisch, dass die sich aufbäumt, dass sie den Hintern emporstreckt und sich weiter verflüssigt. Franzi legt die fremden Beine zu Boden und verschwindet mit ihren Fingern im Nass. Sie saugt sich an Katharinas weichem Mund fest, während ihre Brüste Katharinas Brüste treffen und ihre Finger zum Kern ihres Vergnügens vorstoßen.

Franzi lebt.

Pauline lehnt in der Tür, nippt am Grappa und mustert die beiden schönen Frauenkörper, die sich gegenseitig in Brand setzen. Sie kennt Franzi schon so lange und in letzter Zeit sieht sie ihr immer öfter beim Sex zu. Es ist seltsam. Manchmal dreht Franzi sich in der Küche zu Pauline um, während sie gerade Tomaten wäscht beispielsweise oder Basilikum hackt, und ihr Blick macht Pauline ganz kribbelig im Bauch. Manchmal sagt Franzi etwas in ihrem energischen Tonfall, der in letzter Zeit genussvoller wirkt, und Pauline sieht ihre eigenen Armhärchen sich aufstellen. Aber Franzi nackt, Franzi in erotischer Aktion – das berührt Pauline nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil spürt sie, wie sie unberührbarer wird, je intensiver sich Franzi und ihre Gespielen ihrer Lust widmen.

Die Musik ist aus. Pauline genießt die dunklen Laute der beiden Frauen. Sie hätte gern, dass Franzi Katharina schlüge, dass eine Frau einer anderen wehtäte, und fürchtet sich gleichzeitig davor, denn es würde sie sehnsüchtig machen. Ann blitzt auf und wird in Grappa ertränkt. Ann steckt den Kopf aus dem Grappa-Teich und Pauline gießt nach. Bekanntlich kommen Ertrinkende dreimal an die Oberfläche, bevor es mit ihnen vorbei ist.

Marius betrachtet das alles vom großen Esstisch aus. Ein Glas Wein in der Linken, einen Zigarillo in der Rechten. Marius und Franzi haben an Silvester tatsächlich mit dem Rauchen aufgehört. Seitdem rauchen sie Zigarillos, fünf bis zehn Stück am Tag. Wer wollte den ersten Stein werfen.

*

Pauline hätte sich Silvester gern in einem Wodka-See ertränkt und anschließend im Landwehrkanal, aber Franzi ließ das nicht zu.

Franzi, Pauline und Katharina erschienen bei Marius zum feudalen Abendessen. Krabben, Austern, später Perlhuhn in einer Essig-Weißwein-Sauce. Dazu Champagner von Aldi. Das hatte sie allesamt in den vorläufigen Ruin gestürzt, obwohl sich ihre finanzielle Lage durch die weihnachtliche Unterstützung der Eltern eigentlich gebessert hatte.

Serviert wurde von Katharina. Nachdem sie das Hauptgericht aufgetragen hatte, sagte Marius: »Zieh dich doch bitte aus, Liebste.« Etwas in ihrem Gesicht verrutschte, als sie Marius’ Worte vernahm. Ihre Gesichtszüge verließen ihren angestammten Platz, ohne zu wissen, wohin sie wollten. Es schienen sich Worte in ihrem Hals bereit zu machen, verlautbar zu werden, doch sie fanden den Ausgang nicht. Es bewegte sich etwas in ihrem Körper, tief drin, was sich nicht in Gesten fortsetzte. Das dauerte ein paar Sekunden höchstens. Die anderen warteten in aller Ruhe, wobei es bis zur Unerträglichkeit still geworden war, so dass es einem kaum gelang, die Luft einzuatmen, die fester geworden war und heißer in diesen Augenblicken. Auch die Gesichtszüge der anderen schienen unruhig zu werden, bereit für Wanderungen in unbekanntes Gebiet, aber es galt, die Gier zurückzuhalten, um kalter Miene die Beute zu betrachten. Katharina zog sich ihr blaues Kleidchen über den Kopf, schlüpfte aus schwarzem Slip und schwarzen Strümpfen, setzte sich wieder. Es wurde in aller Ruhe weiter geschmaust.

Beim Dessert kommandierte Franzi Katharina auf den Boden, zwischen ihre Beine, während sie mit Pauline über Knast und Theater sprach. Klar, dass sie auf diese Weise nicht kam. Zum Kaffee legte sie Katharina über den Tisch und fickte sie mit der Verhaltenheit, der angestrengten Ruhe, der konzentrierten Kälte, die sie alle eingeübt hatten in der letzten halben Stunde. Ihre Wirkung, die Tatsache, dass sie ganz kühl war und dabei enorme Wirkung zeigte, die gewaltige Vergrößerung, die ihre knappen Bewegungen im exaltierten Stöhnen, Zucken, Sich-Aufbäumen Katharinas fanden, all das verdrehte ihr den Kopf. Es gab eine Explosion, die die ihre war, aber nicht in ihr stattfand. Das Schlachtfeld war Katharina.