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»Aber es ist unmöglich, Papa — du mußt es mir glauben! In meiner Schatulle liegen kaum noch fünfhundert Francs, und auch diese haben schon ihre Bestimmung. Ich fürchte ohnedies, daß Guy über die Größe meiner Ausgaben erstaunt ist.« Der stattliche, alte Herr, an den diese Worte gerichtet waren, warf mit einer Bewegung, die ebensowohl Bestürzung als Unwillen ausdrücken konnte, den Kopf zurück und zupfte nervös an den Enden seines schneeweißen Kinnbartes. »Ach, zeigt sich Herr de Versigny neuerdings auch von dieser Seite? Er hat dich also zu größerer Sparsamkeit ermahnt?«
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Seitenzahl: 279
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Spinnennetze.
Reinhold Ortmann.
»Aber es ist unmöglich, Papa — du mußt es mir glauben! In meiner Schatulle liegen kaum noch fünfhundert Francs, und auch diese haben schon ihre Bestimmung. Ich fürchte ohnedies, daß Guy über die Größe meiner Ausgaben erstaunt ist.«
Der stattliche, alte Herr, an den diese Worte gerichtet waren, warf mit einer Bewegung, die ebensowohl Bestürzung als Unwillen ausdrücken konnte, den Kopf zurück und zupfte nervös an den Enden seines schneeweißen Kinnbartes.
»Ach, zeigt sich Herr de Versigny neuerdings auch von dieser Seite? Er hat dich also zu größerer Sparsamkeit ermahnt?«
»O nein! Es ist zwischen uns von Geldangelegenheiten überhaupt noch niemals die Rede gewesen. Aber gerade, weil ich gewiß bin, daß Guy es nicht aussprechen würde, ist mir der Gedanke unerträglich, von ihm für eine Verschwenderin gehalten zu werden.«
Graf Bourmont atmete erleichtert auf. Aber sein Lächeln schien doch noch etwas gezwungen, da er erwiderte:
»Eine sehr überflüssige Besorgnis, meine liebe Gabrielle, falls es sich dabei wirklich nur um die armseligen paartausend Francs handelt, die du mir im Laufe der letzten Monate gegeben. Was bedeutet eine solche Bagatelle für die Gattin eines Millionärs! Man sagt, daß de Versignys Vermögen sich mit jedem Jahre um Hunderttausende vergrößert. Du hättest also ein gutes Recht, von ihm zu verlangen, daß er auch dein Nadelgeld1 entsprechend erhöhe.«
Mit jenem müden, fast schwermütigen Ernst, der den unveränderlichen Grundzug ihres Wesens zu bilden schien, schüttelte die blasse, junge Frau den Kopf.
»Du weißt, Papa, wie ich darüber denke. Weshalb sollen wir immer wieder von Dingen sprechen, die für uns beide in gleichem Maße peinigend sein müssen!«
Der Graf verließ seinen Platz hinter dem kleinen, steiflehnigen Empiresofa, auf dessen Polster seine Tochter in lässiger Haltung ruhte, und machte ein paar Schritte über den Teppich des mit auserlesenem Luxus eingerichteten Salons. Er war groß und breitschultrig, und trotz seiner tadellos eleganten bürgerlichen Kleidung hatte er ganz das Aussehen eines alten Soldaten von jenem Typus, den man unter den Marschällen des zweiten Kaiserreichs2 so häufig vertreten fand.
»Weshalb wir davon sprechen sollen? Ja, mein Kind, wenn ich im Überfluß lebte wie ihr, wäre das allerdings nicht nötig. Aber es ist doch ein geradezu lächerlicher Zustand, daß ich als der Schwiegervater des Herrn Guy de Versigny in Gefahr sein soll, aus meinem Klub ausgeschlossen zu werden, weil ich nicht im stande bin, eine armselige Spielschuld von zweitausend Francs zu bezahlen.«
»Dazu also brauchst du das Geld?« fragte Gabrielle, und wie ein sanfter, aber tief schmerzlicher Vorwurf klang es aus ihrer Stimme. »Du hast wieder verloren, was du nicht besaßest!«
»Pah, es ist nicht der Rede wert. Fürst Nikofor Rasumin hatte gestern einen ausnehmend glücklichen Abend; aber ich bin sicher, daß ich die Kleinigkeit noch heute doppelt und dreifach wieder hereinbringe. Zunächst natürlich muß die alte Verpflichtung geregelt werden. Man nimmt es damit im Klub sehr genau. Und wenn du mir die kleine Gefälligkeit nicht erweisen kannst, so werde ich mich eben an meinen Herrn Schwiegersohn wenden müssen.«
Mit einer lebhaften Bewegung hatte sich die junge Frau bei seinen letzten Worten erhoben.
»Nein, Papa — nur das nicht! Du darfst ihn unter keinen Umständen darum bitten. Gedulde dich hier einen Augenblick — ich werde dir helfen.«
Sie verließ das Gemach, und als sie nach Verlauf von etwa zwei Minuten zurückkehrte, hatte sie ein Etui von rotem Maroquinleder in der Hand, das sie ihrem Vater reichte.
»Nimm — es ist meine Rubinbrosche. Wenn du sie verpfändest, wird man dir ohne weiteres die zweitausend Francs geben, die du brauchst. Später kannst du sie ja wieder einlösen. Und die Hergabe bedeutet für mich kein Opfer; denn ich werde sie ohnehin nicht mehr tragen.«
Aber mit einer fast pathetischen Gebärde wehrte Graf Bourmont ab.
»Was denkst du von mir, mein Kind! Ein Bourmont bei einem Pfandleiher! Welche Vorstellung! Und diese Brosche — war sie nicht das erste Weihnachtsgeschenk deines Gatten?«
»Ja,« sagte Gabrielle leise und mit niedergeschlagenen Augen. »Aber es ist nicht zu besorgen, daß er ihr Fehlen bemerken werde. Er weiß ja, daß ich mich nie wieder mit Juwelen schmücke.«
»Du verstehst mich falsch. Es ist nicht das, was ich fürchte. Denn wenn ich die Brosche wirklich annähme, so würde es sich natürlich nur um eine ganz kurze Zeit bis zu ihrer Rückgabe handeln. Aber daß du dich überhaupt entschließen kannst, ein so teures Kleinod nur für einen Tag aus deinen Händen zu lassen — das, meine liebe Gabrielle, ist es, was mir wehe tut. Ihr seid da, wie mir scheint, in eurer Ehe nachgerade bis zu einem Punkte gelangt, über den hinaus es unmöglich in derselben Weise weitergehen kann. Man liest dir’s ja vom Gesicht, daß du in Gefahr bist, dich dabei aufzureiben. Es ist fürwahr hohe Zeit, ein Ende zu machen — so oder so.«
Gabrielle erhob den Kopf, und ein Ausdruck hochgradiger Spannung war in ihren eben noch beinahe apathischen Zügen.
»Ein Ende zu machen? Was verstehst du darunter, Papa?«
»Ich verstehe darunter, daß du entweder diese unnatürliche Zurückhaltung aufgibst und deinem Manne bedingungslos verzeihst —«
»Niemals!« fiel sie ihm in plötzlich aufflammender, leidenschaftlicher Erregung ins Wort. »Es ist unmöglich — undenkbar! Und niemand sollte besser wissen als du, weshalb es unmöglich ist.«
»Hum — Nun ja! — Du kannst die Erinnerung an jenen unglückseligen Maitag noch immer nicht los werden. Und ich bin gewiß weit davon entfernt, deine kindlichen Gefühle zu tadeln. Aber schließlich, wenn man es unbefangen betrachtet — und nachdem doch jetzt zwei volle Jahre seitdem vergangen sind — —«
»Und wenn es fünfzig wären, ich würde das Entsetzliche noch immer mit derselben furchtbaren Deutlichkeit vor mir sehen. Nie — niemals werde ich es vergessen! Nie werde ich meines Mannes Gesicht sehen, nie seine Stimme hören können, ohne es noch einmal zu durchleben. Bei der bloßen Berührung seiner Hand durchschauert es mich wie bei einer Berührung mit dem Tode.«
Eine heiße, fliegende Röte war auf ihren eben noch beinahe farblosen Wangen erschienen, um ihre Mundwinkel zuckte es, und ihre großen dunklen Augen standen voll Tränen. Mit einer Zärtlichkeit, die nicht ganz frei war von dem Anschein theatralischen Gebarens, streichelte Graf Bourmont das schmale, erregte Gesichtchen seiner Tochter.
»Wie nervös du bist, meine arme Kleine! Sagte ich’s nicht, daß du dich dabei aufreibst? Es zerreißt mir das Herz, dich in solchem Zustande zu sehen. Wäre es da nicht wirklich besser, einen mutigen Entschluß zu fassen und dich von einem Manne zu trennen, dessen bloßer Anblick dir so unerträgliche Qualen bereitet?«
»Eine Scheidung? Nein! Du weißt, Papa, daß auch mir dies zuerst als der einzige Ausweg erschien; aber ich sagte dir schon damals, daß ich mit Guy übereingekommen bin, darauf zu verzichten.«
Die buschigen weißen Brauen des Grafen zogen sich unmutig zusammen.
»Vielleicht würde er heute anders darüber denken. Diese Art des ehelichen Verkehrs muß ihm doch auf die Dauer ebenso peinlich geworden sein wie dir!«
»Sobald er einen Wunsch äußert, sich von mir zu trennen, werde ich natürlich ohne weiteres einwilligen. Bis dahin aber halte ich mich an das einmal gegebene Versprechen gebunden.«
Ihre Sprache hatte schon wieder den früheren, traurig-müden Klang, und gerade dadurch erhielten ihre Worte eine Bestimmtheit, die dem Grafen offenbar wenig gefiel. Er wollte etwas erwidern, aber er hatte noch nicht mehr als das erste Wort über die Lippen gebracht, als ein Diener die Tür des Salons öffnete, um zu melden:
»Herr Andersson bittet um die Ehre, von der gnädigen Frau empfangen zu werden.«
»Ah, schon wieder dieser unvermeidliche Maler!« murmelte Graf Bourmont verdrießlich, indem er zugleich mit einer raschen Bewegung das Maroquin-Etui vom Tische nahm und in seiner Tasche verschwinden ließ. »Man kann ja überhaupt kaum noch hierherkommen, ohne ihn bei dir zu finden.«
Gabrielle antwortete nicht. Sie hatte dem Diener durch ein Zeichen bedeutet, den Besucher einzuführen.
Und wie der Schatten eines Lächelns huschte es über ihr längst wieder marmorbleich gewordenes Gesicht, als er wenige Sekunden später auf der Schwelle erschien, mit einem raschen Blick seiner klaren grauen Augen das Gemach überfliegend.
»Ich hoffe, nicht zu stören, gnädige Frau! Da ich versprochen hatte, Ihnen heute die ›Wahlverwandtschaften‹ zu überbringen —«
»Ja — diesen Roman mit dem unaussprechlichen Titel,« sagte sie freundlich, indem sie ihm die schmale Hand reichte. »Ich danke Ihnen, lieber Herr Andersson! Aber ich rechne bei der Lektüre auf Ihre Hilfe, denn ich bin leider nichts weniger als eine Meisterin in der deutschen Sprache.«
Der Maler, der ihre Finger leicht mit den Lippen berührt hatte, verbeugte sich wie zum Zeichen seiner Bereitwilligkeit, und wandte sich dann gegen den Grafen, um ihn mit gemessener Höflichkeit zu begrüßen. Er war an Wuchs vielleicht um ein Geringes kleiner als der hünenhaft gebaute Vater Gabriellens, aber das vollkommene Ebenmaß seiner Gestalt ließ ihn trotzdem groß und voll männlicher Kraft erscheinen. Das von einem kurzen, spitz geschnittenen Vollbart umrahmte Gesicht des etwa Zweiunddreißigjährigen war klug und angenehm, ohne indessen Anspruch auf besondere Schönheit machen zu dürfen. Und weder in seinem Anzuge, der fast etwas Spießbürgerliches hatte neben der geckenhaften Eleganz des Grafen, noch in seinem schlichten und natürlichen Auftreten offenbarte sich auch nur das geringste Bemühen, den genialischen Künstler hervorzukehren.
»Ich wünsche Ihnen Glück zu Ihrem neuesten Erfolge, Herr Andersson,« sagte Graf Bourmont mit einer Liebenswürdigkeit, die nichts mehr von seiner eben gezeigten Verstimmung erkennen ließ. »überall, wohin ich komme, empfängt man mich mit Äußerungen des Entzückens über Ihr Porträt meiner Tochter.«
»Ich aber bin nicht anmaßend genug, Herr Graf, um mehr als höchstens die Hälfte dieses Entzückens auf die Rechnung meiner Kunst zu setzen.«
»Ah, Sie machen Fortschritte, mein Lieber! Noch vor wenig Tagen sagte mir die schöne Frau du Jary, Sie wären der einzige, von dem sie noch nie eine Schmeichelei gehört hätte.«
»Ich weiß nicht, ob das eine Anerkennung oder ein Tadel sein soll. Aber es war jedenfalls auch in diesem Augenblick nicht meine Absicht, Frau de Versigny zu schmeicheln.«
»Ich glaube es Ihnen, lieber Freund,« mischte sich Gabrielle ein, »und ich sollte deshalb eigentlich sehr stolz sein, daß Sie meiner unbedeutenden Person einen Anteil an Ihrem Erfolge zuschreiben. Wie schade, daß ich nicht mehr eitel genug bin, um — —«
Sie konnte die begonnene Rede nicht vollenden, denn die Tür, die aus dem großen, gemeinsamen Salon in die Gemächer ihres Gatten führte, hatte sich geöffnet, und in Begleitung eines jungen Offiziers von mehr zierlicher und eleganter als martialischer Erscheinung trat der Herr des Hauses, der trotz seiner dreißig Jahren schon so viel genannte Guy de Versigny, ein. Auch er war von mittelgroßer, aber elastischer und geschmeidiger Gestalt. Und sein schönes, durchgeistigtes Gesicht mit der wundervollen Stirn und den tiefen, dunklen Augen hatte bei seinem ersten Auftreten in der Öffentlichkeit gewiß nicht wenig dazu beigetragen, ihm namentlich die Gunst des zarten Geschlechts im Fluge zu gewinnen. Er war nicht von aristokratischer Herkunft, sondern seine Vorfahren waren reiche Großindustrielle gewesen, deren einer von dem dritten Napoleon für gewisse wertvolle Dienste mit dem Adel belohnt worden war. Guy war noch heute Mitbesitzer der in Südfrankreich gelegenen und von seinem älteren Bruder Etienne geleiteten industriellen Etablissements. Und es mochte kaum eine Übertreibung gewesen sein, wenn Graf Bourmont vorhin seine Jahreseinkünfte auf Hunderttausende geschätzt hatte. An Vornehmheit der Erscheinung und weltmännischer Sicherheit des Auftretens stand Guy de Versigny jedenfalls hinter keinem Abkömmling irgend eines alten, ritterlichen Geschlechts zurück, und das Opfer, das vor drei Jahren der verarmte Graf Bourmont durch seine Einwilligung in diese Heirat seinem Ahnenstolz gebracht, konnte deshalb kaum ein allzu schweres und schmerzliches gewesen sein.
Obwohl er noch vor wenig Minuten seiner Tochter eine Scheidung von ihrem Gatten als fast unvermeidliche Notwendigkeit bezeichnet hatte, gab der alte Herr beim Anblick seines Schwiegersohnes seinem Gesicht sogleich den verbindlichsten Ausdruck, und sein Lächeln war von überzeugender Herzlichkeit. Guy begrüßte ihn durch einen raschen Händedruck, verbeugte sich leicht gegen den Maler und wandte sich dann an seine Gattin:
»Ich bringe dir eine große Überraschung, liebe Gabrielle! Wahrscheinlich wirst du ebensoviel Mühe haben wie ich, in diesem braun gebrannten Burschen denselben Pierre de Sabran zu erkennen, den noch vor drei Jahren alle jungen Damen wegen seines Milch- und Blut-Gesichts beneideten. Er kommt geradewegs aus Algier. Aber er geht erfreulicherweise nicht wieder dahin zurück; denn er ist zur Dienstleistung beim Generalstab kommandiert.«
Er hatte rasch und lebhaft gesprochen. Es war kein Zweifel, daß seine Freude über dies unerwartete Wiedersehen wirklich eine ganz aufrichtige war. Auf Gabriellens Antlitz aber erschien nun wieder für einen Moment das müde, flüchtige Lächeln, mit dem sie vorhin den Maler begrüßt hatte. »Seien Sie mir willkommen, Herr de Sabran! Aber Guy hat recht; Sie haben sich in der Tat sehr verändert.«
Der Hauptmann hatte ritterlich die dargebotene Hand geküßt, und als er der jungen Frau nun ins Gesicht sah, war er in Versuchung, ihr in einer Regung des Erstaunens oder richtiger Bestürzung ihre letzten Worte zurückzugeben.
War es denn möglich, daß dies dieselbe Gabrielle war, von der er sich vor drei Jahren verabschiedet hatte? Er hatte ihre Erscheinung im Gedächtnis bewahrt, so wie er sie an ihrem Hochzeitstage gesehen, rosig und blühend, ein Bild der Gesundheit und der Lebensfreude, heiter wie ein sonniger Maienmorgen und glückstrahlend wie ein Kind, dem der sehnlichste Herzenswunsch in Erfüllung gegangen ist. Und nun? Die da vor ihm stand, war wohl noch immer ein Wesen von ungewöhnlicher Schönheit und Lieblichkeit; aber ihre Schönheit war von jener Art, die vielmehr wehmütig als freudig stimmt. Es war die Schönheit einer welkenden Blume, die Lieblichkeit eines im Hinscheiden begriffenen Sommertages. Die Augen, die sehr groß und traurig aus dem schmaler gewordenen, blassen Gesichtchen blickten, schienen ihm heute von einer ganz anderen Farbe wie damals, und der Klang ihrer Stimme schnitt ihm ins Herz. Er mußte sich energisch zusammennehmen, um weder Gabrielle noch den Freund etwas von dem schmerzlichen Eindruck merken zu lassen, den er von dieser unerwarteten Wandlung empfangen.
»Ich hoffe Ihnen zu beweisen, meine Gnädigste, daß die afrikanische Sonne mir nur die Haut, nicht auch das Herz verbrannt hat,« sagte er in dem Bemühen, einen unbefangen heiteren Ton anzuschlagen. »Ich bringe es ganz in dem alten Zustande zurück, voll der freundschaftlichsten Gefühle und voll seliger Erinnerungen an verflossene, fröhliche Stunden. Ach, ich kann Ihnen nicht sagen, wie oft ich mich nach einem Platz an Ihrem Kamin und nach einem traulichen Plauderstündchen mit Ihnen und Guy gesehnt habe.«
»Das ist sehr freundlich, Herr de Sabran! Aber ich fürchte fast, Sie haben sich da mehr von uns versprochen, als wir Ihnen bieten können. Ohne Zweifel werden Sie sehr bald alle anderen Salons in Paris amüsanter finden als den meinigen.«
»Nun, Sie gestatten mir hoffentlich, mich durch eigene Erfahrung davon zu überzeugen. Es könnte doch sein, daß ich mit dem Amüsement vollkommen zufrieden wäre.«
»Sie sind natürlich immer willkommen,« sagte sie, aber es klang nicht wie eine warme, herzliche Aufforderung, sondern gleichgültig und beinahe kalt. Es war ihr jedenfalls sehr erwünscht, daß sie durch die Begrüßung zwischen dem Hauptmann und ihrem Vater und die Vorstellung Anderssons vorläufig einer Fortsetzung des Gespräches überhoben wurde. Die Unterhaltung war jetzt eine allgemeine geworden, ohne sich gerade sehr lebhaft zu gestalten, und nach einer kleinen Weile schon sagte Guy de Versigny etwas befangen:
»Ich bitte die Herrschaften, sich nicht stören zu lassen, wenn ich mich empfehle. Man erwartet mich zu einer Komiteesitzung, und ich habe mein Erscheinen bestimmt zugesagt.«
»So gestattest du wohl, daß ich dich begleite,« bemerkte Pierre de Sabran, indem er gleichzeitig Miene machte, sich von der Dame des Hauses zu verabschieden.
»Auch ich habe noch vor dem Diner einige Besuche zu machen.«
»Sie werden also wiederkommen, nicht wahr? Vielleicht leisten Sie mir zuweilen Gesellschaft bei meinen Studien in der deutschen Literatur, die ich von nun an unter Herrn Anderssons Leitung betreiben will.«
»Ach, Sie sind ein Deutscher, mein Herr?« fragte der Offizier. »Nach dem Klange Ihres Namens hielt ich Sie für einen Skandinavier.«
»Meine Familie ist von schwedischer Abstammung, aber schon meine Eltern waren gute Deutsche. Von Skandinavien habe ich nichts mehr als den Namen.«
»Der Ihnen aber hier in Paris jedenfalls trefflich zu statten kommt,« warf Graf Bourmont mit einem kleinen Anflug von Bosheit ein. »Wer weiß, ob unsere Zeitungen mit gleicher Begeisterung Ihren Ruhm verkündet hätten, wenn Sie von den Herren Kritikern als ›Prussien‹ erkannt worden wären.«3
Auch de Versigny hatte sich seiner Frau genähert, um Abschied von ihr zu nehmen. Wie in stummer, sehnsüchtiger Frage war sein Blick auf sie gerichtet. Gabrielle aber sah diesen Blick nicht, denn sie hatte die Augen niedergeschlagen, und mit einer ruckartigen, heftigen Bewegung, wie wenn es gälte, etwas Widerwärtiges rasch abzutun, reichte sie dem Gatten die Hand. Er fühlte das Erschauern, das bei jeder Berührung seiner Lippen durch ihren Körper ging, und er trat rasch wieder zurück, als wolle er ihre Pein nicht ohne Not verlängern. Eine Minute später hatte er mit dem Hauptmann den Salon verlassen.
Als die beiden Freunde in die Rue Marbeuf hinaustraten, an der Guy de Versignys Wohnung lag, schlug ihnen die angenehm linde Luft eines ungewöhnlich warmen Mai-Nachmittags entgegen. Sie hatten seit ihrer Verabschiedung von Gabrielle kein Wort miteinander gesprochen. Nun aber sagte der Schriftsteller:
»Wollen wir an der Avenue de Champs-Elysées einen Wagen nehmen? Mein Ziel ist der Quai Voltaire. Und ich vermute, daß auch dein Weg über die Seine führt.«
»Ich habe überhaupt nichts Bestimmtes vor,« gestand Pierre. »Es war mir lediglich darum zu tun, noch ein wenig mit dir zu plaudern. Und wenn du es nicht gerade sehr eilig hast, machen wir den kleinen Weg vielleicht lieber zu Fuß.«
Guy erklärte sich damit einverstanden, und sie gingen ein paar Dutzend Schritte schweigend nebeneinander her, bis der Hauptmann plötzlich geradeheraus fragte:
»Sage mir, Guy — deine Gattin ist doch nicht leidend?«
»Nein. Doktor Barrillot, der seit ihrer letzten schweren Krankheit unser Hausarzt ist, versichert mir wenigstens immer wieder, sie sei völlig gesund.«
»So sind es vielleicht noch die Spuren jener letzten Krankheit, die sich auf ihrem Antlitz bemerkbar machen. Sie ist erst vor kurzem genesen?«
»Nicht gerade vor kurzem. Ihr Leiden war eine unmittelbare Folge der Aufregung und Todesangst, die sie bei dem Brande in der Rue Jean-Goujon ausgestanden. Wir fürchteten anfangs das Schlimmste. Aber schon nach einer Woche war jede Gefahr für ihr Leben beseitigt. Und seit zweiundzwanzig Monaten ist Gabrielle nicht eine Stunde lang körperlich krank gewesen.«
»Es war ein schlimmer Tag für dich, armer Guy! Du selbst hast mir zwar nichts davon geschrieben; aber ich erfuhr durch die Zeitungen, daß die Gräfin Bourmont unter den Opfern jener gräßlichen Katastrophe gewesen sei.«
»Ja,« sagte de Versigny, und über seiner Nasenwurzel war plötzlich eine scharfe, tief eingeschnittene Falte. »Meine unglückliche Schwiegermutter fand ihren Tod in den Flammen. Und damit hast du auch die Erklärung für das vergrämte und leidende Aussehen meiner Frau.«
Pierre machte ein etwas ungläubiges Gesicht, und dem mißtrauischen Blick des Freundes war sein Mienenspiel nicht entgangen.
»Du zweifelst daran?« fuhr er fort. »Eine kindliche Trauer, die sich noch nach Verlauf von zwei Jahren so augenfällig äußert, dünkt dich wenig wahrscheinlich? Nun, vielleicht ist es auch nicht so sehr die Trauer als etwas anderes. Hat man dir wirklich noch nirgends erzählt, wie es in meinem Hause aussieht, und wie es um das Glück meiner Ehe bestellt ist?«
Der Hauptmann schüttelte den Kopf.
»Ich habe bisher mit niemand davon gesprochen. Aber deine Frage macht mich bestürzt, Guy! Schon jetzt, kaum drei Jahre nach der Hochzeit, solltet ihr aufgehört haben, glücklich zu sein, — ihr, das verliebteste und seligste junge Paar, das ich je gesehen?«
»Ach, das sind vergessene Zeiten, lieber Freund — Zeiten, die nie wiederkehren werden, und in die mich nur zuweilen ein grausamer Traum zurückversetzt. Wenn du ein guter Beobachter bist, mußt du es ja während der letzten Viertelstunde deutlich bemerkt haben, daß meine Frau mich verabscheut.«
»Nicht doch, Guy — das ist nicht dein Ernst?«
»Vollkommen. Einem anderen würde ich’s vielleicht nicht so unumwunden zugestehen, obwohl es ja längst ein öffentliches Geheimnis ist. Dir aber will ich rückhaltlos alles sagen, da es mir immer noch lieber ist, du erfährst es aus meinem Munde, als aus dem irgend eines boshaften Schwätzers. Ja, Gabrielle verabscheut mich. Und das ist nur natürlich, denn in ihren Augen bin ich nicht mehr und nicht weniger als ein Mörder.«
»Aber das wird ja immer abenteuerlicher. Nein, alter Junge, solche Späße solltest du nicht mit mir treiben.«
»Höre mich an, und du wirst bald erkennen, daß dies für mich kein Gegenstand zum Spaßen ist. Der 4. Mai 1897, der sie ihrer Mutter beraubte, hat mich für immer um die Liebe meines Weibes gebracht. Bis zu jenem Tage waren wir wirklich gewesen, als was du uns eben bezeichnet: das verliebteste und seligste junge Menschenpaar unter der Sonne. Und ohne den unglücklichen Eigensinn der Gräfin Bourmont wären wir es vielleicht noch heute. Ich hatte mit Gabrielle verabredet, daß wir den Wohltätigkeitsbazar erst am 5. Mai besuchen würden, weil ich eben im Begriffe war, den dritten Akt eines neuen Schauspiels zu beenden. Liebenswürdig wie immer hatte sie eingewilligt, und wir saßen in heiterster Laune beim Dejeuner, als ihre Mutter erschien, um uns, wie sie sagte, zur Fahrt nach dem Bazar abzuholen. Von einem Aufschub bis zum nächsten Tage wollte sie durchaus nichts wissen, da sich die ganze vornehme Welt von Paris gerade heute dort zusammenfände. Gabrielle berief sich zwar auf das Versprechen, das sie mir gegeben; da ich aber bemerkte, daß sie schwankend geworden war und ihrer so abgöttisch geliebten Mutter gerne zu Willen gewesen wäre, machte ich selbst sie in unverantwortlicher Schwäche ihres Wortes ledig und erklärte mich bereit, sie zu begleiten.«
»Ich hoffe, Guy, du wirst dir nicht heute einen Vorwurf daraus machen, daß du dich damals wie ein galanter Ehemann benommen hast.«
»Nur dies eine Mal hätte ich es nicht tun sollen. Aber es war freilich nicht das schlimmste meiner Verbrechen. Wir fanden, als wir kurz vor vier Uhr in der Rue Jean-Goujon anlangten, das leichte Bauwerk, das man für den Bazar errichtet hatte, von einer dichtgedrängten Menschenmenge gefüllt. Monsignore Clari, der päpstliche Nuntius, war eben mit seinen Sekretären erschienen, um den Segen des heiligen Vaters für das Werk der Menschenliebe zu überbringen. Ich sehe ihn noch immer im Gespräch mit der Herzogin Sophie von Alençon, an deren Verkaufsstand er sich besonders lange aufhielt, und sehe noch immer das gütige, etwas schwermütige Lächeln auf dem Antlitz dieser unglücklichen Fürstin. Dann, als sich der geistliche Würdenträger entfernt hatte, kam eine plötzliche Bewegung in die bis dahin ziemlich fest zusammengedrängte Masse, und es geschah auf die natürlichste Weise von der Welt, daß ich von meinen Damen getrennt wurde. Eben hatte mir die Marquise de Tormèds eine Gardenie in das Knopfloch meines Rockes gesteckt und die Bezahlung in Gestalt eines Louis d’ors entgegengenommen, als ich aus der Richtung her, wo in einem besonderen Raume der Kinematograph aufgestellt war, eine schrille Frauenstimme den Entsetzensruf ›Feuer‹ ausstoßen hörte. Ich wandte meine Augen dahin und sah das Aufzüngeln der Flammen an den leichten Stoffdraperien, mit denen der ganze Bazar überspannt war. Tausend andere aber hatten es gleich mir gesehen, und innerhalb einer einzigen Sekunde war die Panik da — die sinnlose Raserei von so und so viel hundert plötzlich wahnsinnig gewordenen Menschen, von denen jeder mit der Wut eines Tigers um sein Leben kämpfte. Nur wer dies Grauenhafte mit eigenen Augen gesehen hat, vermag sich eine Vorstellung davon zu machen. Alles suchte natürlich den Ausgang nach der Straße zu gewinnen, den einzigen, von dessen Vorhandensein die Besucher wußten; aber in der Mitte des Raumes schon ballte sich die ungestüm drängende Menschenmasse zu einem Knäuel zusammen, in welchem niemand mehr von der Stelle kam, mochte er sich auch mit Fäusten und Ellenbogen noch so rücksichtslos Raum zu erkämpfen suchen.«
»Entsetzlich!« murmelte Pierre. »Und du warst von deinem Weibe getrennt?«
»Ja. Ich befand mich dem Ausgange noch ziemlich nahe, und es wäre mir ein Leichtes gewesen, gleich nach der Entdeckung des Brandes ins Freie zu gelangen. Aber ich hatte natürlich keinen anderen Gedanken als den an Gabrielle, die sich in der Mitte oder im Hintergrunde des Saales befinden mußte. Mit dem Aufgebot meiner ganzen Kraft arbeitete ich mich durch den Menschenstrom, der mir entgegendrängte und mich immer wieder um einen Schritt zurückriß, wenn ich mich mit unsäglicher Mühe um zwei vorwärts gekämpft hatte. Unaufhörlich rief ich ihren Namen, aber in dem schauerlichen, hundertstimmigen Wehgeschrei, das den brennenden Raum erfüllte, ging meine Stimme unter wie das schwache Lallen eines Kindes. Da — ich weiß nicht, wie lange dies verzweifelte Ringen schon gewährt hatte — sah ich plötzlich in dem Gedränge vor mir für einen Moment die Bandschleifen und die Reiherfedern ihres Hütchens auftauchen, und es war mir, als hätte ich sie mit herzzerreißender Stimme nach mir rufen hören. In diesem Augenblick verließ auch mich die letzte klare Ueberlegung, und ich verlor gleich allen anderen den Verstand. Die weißen Reiherfedern waren wieder in dem Gewühl verschwunden; aber ich mußte zu ihnen gelangen, es mochte kosten, was es wolle. Da klammerten sich von hinten her zwei Arme um meinen Hals, ohne Zweifel die Arme einer Frau, und wie eine Zentnerlast hing es, mich rückwärts ziehend, an meinen Schultern. Ich konnte nicht mehr weiter und fühlte mich unwiderstehlich in der Richtung nach dem Ausgange hin fortgerissen, während die umschlingenden Arme, die gerade auf meinen Kehlkopf drückten, mich zu ersticken drohten. Mehr instinktiv als mit vollem Bewußtsein dessen, was ich tat, machte ich eine verzweifelte Anstrengung, mich von ihnen zu befreien. Ich weiß nicht, auf welche Weise es mir gelang, weiß nicht, ob das unglückliche Weib, das von mir gerettet sein wollte, mich freiwillig losließ, oder ob ich es durch irgend eine Brutalität dazu zwang — ich weiß nur, daß ich mit einemmal wieder frei atmen konnte, und daß in dem grausigen Chaos von Rauch und Flammen und angstverzerrten Menschengesichtern noch einmal die mattblauen Bandschleifen und die weißen Reiherfedern vor meinen Augen auftauchten. Alles zurückstoßend und niederschlagend, was sich mir noch in den Weg stellen wollte, stürzte ich darauf zu, riß die eben von einer anderen Männerfaust zu Boden gedrückte Frauengestalt empor und begann nun, sie mit meinem linken Arm fest an mich pressend, aufs neue den gräßlichen Kampf durch die wimmernde, heulende Menge, die noch vor einer Viertelstunde die vornehmste Gesellschaft von Paris gewesen war und sich nun in eine entmenschte Rotte von Tobsüchtigen verwandelt hatte.«
Sie waren die Avenue d’Antin hinabgeschritten, und ein frischerer Luftzug wehte ihnen von der Seine her entgegen. Tief aufatmend blieb Guy de Versigny stehen. Bei der Erinnerung an jene Erlebnisse schien es sich noch jetzt schwer und erstickend auf seine Brust zu legen.
»Frage mich nicht, wie ich mit meiner teuren Bürde ins Freie gelangte,« fuhr er mit leiser Stimme fort. »Ich weiß nicht, wie es geschah, und ich glaube, es ist gut, daß ich’s nicht weiß. Denn in meinen Träumen erschrecken mich ohnedies oft genug allerlei dunkle Vorstellungen von zuckenden, halb zertretenen Mädchenleibern, über die ich hinwegschreiten muß, von zarten, weißen Armen, die sich umsonst in verzweifeltem Flehen nach mir ausstreckten, von grausig entstellten Gesichtern und brechenden Augen. Es sind nur Phantasien — gewiß! Denn wenn es wirkliche Erinnerungen wären — ich glaube, Pierre, ich könnte noch heute verrückt darüber werden.«
»Das ist in der Tat grauenhaft,« sagte der Offizier, den die Erzählung des Freundes tief erschüttert hatte. »Und die arme Gabrielle! Sie mußte das alles miterleben.«
»Das — und Schlimmeres, Pierre! Höre mich zu Ende! Halb erstickt, blutend und mit zerfetzten Kleidern hatte ich das Freie gewonnen. Aber ich hatte das Weib an meiner Brust gut beschützt. Sie, die ohne mich verloren gewesen wäre, stand lebendig und unversehrt vor mir. Ihre leuchtenden Augen blickten voll heißer Dankbarkeit zu mir auf — aber es waren nicht die geliebten Augen Gabriellens. Ich hatte eine andere, eine mir völlig Unbekannte, aus der flammenden Hölle gerettet, nur weil sie blaue Bandschleifen und weiße Reiherfedern auf ihrem Hute trug wie meine Frau.«
»Ach, welch grausame Ironie des Zufalls! Was mußt du in jenem Moment empfunden haben, armer Bursche!«
»Du wirst nicht verlangen, daß ich dir’s schildere. Ich versuchte, wieder in den Bazar einzudringen; aber man riß mich zurück. Und bei der Ausdehnung, die das Feuer inzwischen genommen hatte, wäre es ja auch in der Tat nichts anderes gewesen als ein freiwilliger und völlig zweckloser Opfertod. Meine Freunde haben mir später erzählt, daß ich mich während der nächsten Stunde ganz und gar wie ein Wahnsinniger gebärdet hätte. Dann brachte mir irgend jemand die Nachricht, unter den Personen, die durch einen Seitenausgang auf den Bauplatz und von dort in eines der Nebenhäuser gelangt seien, habe sich auch meine Gattin befunden. Er sprach die Wahrheit, und wenige Minuten später kniete ich lachend und weinend an dem Lager meines geretteten Weibes. Sie war noch ohne Bewußtsein; unter meinen leidenschaftlichen Küssen aber schlug sie die Augen auf. Ein Lächeln ging über ihr blasses Gesicht, und sie erhob die Arme, als ob sie sie wie sonst um meinen Nacken schlingen wolle. Plötzlich aber vollzog sich eine erschütternde Wandlung in ihren Zügen. Grenzenloses Entsetzen spiegelte sich in ihren Augen, und mit einer Gebärde des Grauens stieß sie mich zurück, um gleich darauf von einem schrecklichen Weinkrampf geschüttelt zu werden. Man riet mir, mich zurückzuziehen, da mein Anblick offenbar sehr aufregend auf sie wirkte. Und ich gehorchte, noch ohne zu ahnen, daß der Liebesblick Gabriellens, der mich bei ihrem Erwachen getroffen, für alle Zeiten der letzte gewesen sein sollte.«
Ein gut gekleideter Mann von auffallend beleibter Gestalt und rosigem, von einem wohlgepflegten grauen Vollbart umrahmten Gesicht streifte in diesem Moment, aus einer der in den Quai d’Orsay einmündenden Straßen kommend, hart an ihnen vorüber und zog, als er den Hauptmann erkannte, überaus höflich, ja beinahe ehrerbietig den Hut. Pierre de Sabran aber erwiderte den Gruß nicht, sondern wandte mit einer Gebärde unzweideutiger Geringschätzung den Kopf.
»Wer war das?« fragte de Versigny. »Es ist mir, als hätte ich das Gesicht schon früher gesehen.«
»Das möchte ich bezweifeln. Denn zu den Bedauernswerten, die aus dem einen oder dem anderen Grunde die Bekanntschaft des Herrn Ambroise Salazat zu suchen pflegen, hast du ja glücklicherweise nie gehört. Unter den vielen Geschäften, die dieser ehrenwerte Herr betreibt, ist das eines rücksichtslosen Wucherers jedenfalls das umfangreichste und einträglichste. Als blutjunger Leutnant habe ich auch einmal das Vergnügen gehabt, ihn in dieser Eigenschaft kennen zu lernen. Und Herr Salazat verfügt, wie es scheint, über ein ausgezeichnetes Gedächtnis.«
»Ein Wucherer!« wiederholte Guy nachdenklich. Aber er fügte nichts weiteres hinzu, denn er konnte dem Freunde doch unmöglich sagen, daß er sich jetzt sehr genau erinnere, diesen dicken Menschen mit der markanten Physiognomie unlängst in anscheinend sehr erregtem Gespräch mit seinem Schwiegervater, dem Grafen Bourmont, gesehen zu haben. Pierre wartete noch eine kleine Weile, dann nahm er durch eine Frage den abgerissenen Faden ihres vorigen Gesprächs wieder auf.
Und de Versigny kam hastig mit seinem Bericht zu Ende:
»Als eine Schwerkranke war Gabrielle in unser Haus zurückgebracht worden. Und ein paar Tage lang schwebte sie zwischen Leben und Tod. Wenn sie nicht stumm und apathisch dalag, wurde sie von den gräßlichsten Halluzinationen gequält, und es war immer wieder die grauenhafte Viertelstunde im Bazar, die sie in ihren Phantasien von neuem durchleben mußte. Solange dieser kritische Zustand währte, ließ Doktor Barrillot niemanden zu ihr, auch mich nicht, und nur, wenn sie unter dem Einfluß wohltätiger Betäubungsmittel ein wenig schlummerte, durfte ich durch die halbgeöffnete Tür einen Blick auf sie werfen. Darüber, daß meine Schwiegermutter unter jenen Opfern sei, die bis zur Unkenntlichkeit verkohlt auf der Trümmerstätte in der Rue Jean Goujon lagen, hatten Graf Bourmont und ich schon am Abend des 4. Mai volle Gewißheit erhalten, und voll tödlicher Angst sah ich dem Augenblick entgegen, da wir es Gabrielle nicht länger würden verbergen können. Aber es war eine überflüssige Sorge. Als ihr Vater mit Erlaubnis des Arztes zum erstenmal bei ihr gewesen war, nahm er mich bei Seite und sagte: ›Eine schlimme Geschichte, mein Lieber! Gabrielle weiß, daß ihre Mutter tot ist. Und sie beschuldigt Sie, sie umgebracht zu haben. Ich glaube, Sie werden vorläufig nicht daran denken dürfen, ihr vor die Augen zu kommen.‹ Natürlich war ich in der nächsten Minute an dem Lager meiner Frau, denn ich konnte es ja unmöglich geschehen lassen, daß sich eine so fürchterliche Einbildung in ihrem Geiste festsetzte. Als ich sie eine kleine Weile später verließ, wußte ich, daß es aller Wahrscheinlichkeit nach keine Einbildung gewesen war, und daß sie ein Recht hatte, mich anzuklagen. Gabrielle und ihre Mutter waren hinter mir oder fast an meiner Seite gewesen, als ich sie noch immer in dem unentwirrbaren Menschenknäuel vor mir vermutet hatte. Und das Weib, das sich vor dem Zertretenwerden zu retten versucht hatte, indem es mich mit seinen Armen umschlang, es war nach der glaubwürdigen Versicherung meines Weibes keine andere gewesen als die Gräfin Bourmont.«
»Unglücklicher!« rief in warm aufwallendem Mitgefühl der Hauptmann, der nun plötzlich alles verstand. »Und du hattest diese Frau vor den Augen ihrer Tochter in das Verderben zurückgestoßen?«
Guy de Versigny nickte.
»Gabrielle behauptet, daß ich sie durch einen Faustschlag niedergestreckt hätte. Ich weiß nicht, ob sie damit recht gesehen hat. Ich bezweifle es, aber ich bin des Gegenteils nicht so gewiß, daß ich es beschwören könnte. Immerhin ist es sicher, daß ich sie auf irgend eine Weise von mir abgeschüttelt habe, und neben dieser nicht wegzuleugnenden Tatsache fällt die größere oder geringere Brutalität des angewandten Mittels kaum sonderlich ins Gewicht. Natürlich ist Gabrielle überzeugt, daß es mir nur um die Rettung des eigenen teuren Lebens zu tun gewesen sei, als ich so mit ihrer Mutter verfuhr. Und ein Mann, der es dem Opfermut und der Geistesgegenwart eines fremden Menschen überläßt, sein Weib der Gefahr zu entreißen, verdient selbstverständlich keinen Glauben mehr, wenn er sich gegen solchen Verdacht verteidigt.«