Spinnentraumgespinste - Rainar Nitzsche - E-Book

Spinnentraumgespinste E-Book

Rainar Nitzsche

0,0

Beschreibung

Träumt ein Mensch von Spinnen, Grillen zirpen, Mücken fliegen durch die Nacht. Doch die Netze warten. In einem Stechmückenkörper durch die Nacht zu fliegen - auf der Suche nach Menschenblut, was für ein Traum, dem jähes Erwachen folgt: Unsichtbares hält dich auf. Und dann kommt sie und wickelt dich ein. Doch auch Spinnen leben nicht ewig ... Wir hören von einem Brautgeschenk der besonderen Art, erfahren vom Spinnenabenteuer Manfred des Magiers, bekannt aus den PFAD-Romanen, und begegnen einer Spinnenhochkultur in ferner Zukunft, in der Menschen nur noch Legende sind und Arachnoidenmänner natürlich nichts zu sagen haben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 228

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Autor

Dr. Rainar Nitzsche, geboren 1955 in Berlin, Schulzeit im Saarland, wohnt mit seinen Vogelspinnen in Kaiserslautern, wo er Biologie studierte und seine Diplom- und Doktorarbeit über das Paarungsverhalten der bei uns heimischen Brautgeschenkspinne Pisaura mirabilis verfasste. Er schreibt seit 1975 Gedichte, Kurzprosa, fantastische Romane sowie Sachbücher über Spinnen und hielt Vorträge über Spinnen. Als »Spiderman« besuchte er mit Vogelspinne und Exuvien im Gepäck Grundschulen und Hauptschulen. Sein Unterricht begann stets mit der Frage aller Fragen: »Wer hat Angst vor Spinnen?« Und Erstaunliches geschah: Fast so viele Jungs wie Mädchen meldeten sich. Und wie erwartet war die Angst sehr unterschiedlich ausgeprägt, meist gar nicht so groß.

Zum Buch

Träumt ein Mensch von Spinnen, Grillen zirpen, Mücken fliegen durch die Nacht. Doch die Netze warten.

In einem Stechmückenkörper durch die Nacht zu fliegen - auf der Suche nach Menschenblut, was für ein Traum, dem jähes Erwachen folgt: Unsichtbares hält dich auf. Und dann kommt sie und wickelt dich ein. Doch auch Spinnen leben nicht ewig ... Wir hören von einem Brautgeschenk der besonderen Art, erfahren vom Spinnenabenteuer Manfred des Magiers, bekannt aus den PFAD-Romanen, und begegnen einer Spinnenhochkultur in ferner Zukunft, in der Menschen nur noch Legende sind: »Und welch Wunder, diese eine Menschenfrau war mit ihrer Webkunst ... Athene ebenbürtig, obwohl sie keine Spinndrüsen, sondern nur ein Gerät namens Webstuhl und die Finger ihrer beiden Hände zur Verfügung hatte … Und so wurde sie zur Belohnung für ihr meisterliches Werk von der jungfräulichen, dem Kopf des seltsamerweise männlichen Obergottes Zeus entsprungenen Göttin ... in eine Spinne verwandelt. Und der Name dieser ersten Spinne lautet für alle Zeiten »Arachne«. Sie war die erste. Sie ist es, von der alle Spinnen auf allen Welten - Mütter und Frauen und Kinder und sogar Männer - abstammen. Und nach ihr wurde unsere Welt Arachnia genannt.«

Spinnenträume, Spinnenbegegnungen und Metamorphosen

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

noch immer wissen wir nicht, wie unsere Mitmenschen die Welt wahrnehmen, mit ihren Sinnen erfassen und erfühlen, geschweige denn, wie es Tiere und Pflanzen tun. Immerhin gelang es jüngst zu zeigen, wie ein Mensch im Hauptauge einer Springspinne erscheint. Wie diese ihn aber mit ihrem Gehirn wahrnimmt, wo auch die Informationen aller anderen Sinne eingehen, wissen wir nach wie vor nicht. Eines Tages jedoch in nicht allzu ferner Zukunft werden wir mehr wissen - und doch niemals die letzten Geheimnisse ergründet haben, wie es heute immer wieder so schön in den Medien heißt.

Schon heute tragen viele von uns künstliche Teile in sich, sei es aus gesundheitlichen Gründen (z. B. künstliche Herzklappen, Metallschienen) oder aus Schönheitsidealen (Silikonimplantate). Irgendwann werden wir oder unsere Nachfahren andere Körper tragen, Körper wechseln können, ganz nach Belieben, so wie wir es heute mit unserer Kleidung tun. Und vielleicht wird der eine oder andere von vielen Milliarden zeitweise in den Körper einer Spinne schlüpfen wollen, um wie sie zu fühlen. Oder aber er wird sich einen spinnenartigen Körper anfertigen lassen. Und wer weiß, welchen arachnoiden Wesen wir im Kosmos begegnen und in welche Richtung sich unsere irdischen Spinnen in den nächsten Jahrmillionen entwickeln werden.

In dieser Neuauflage der Spinnentraumgespinste habe ich alle Texte leicht überarbeitet und die Namen für Unterkapitel ergänzt. Hierbei möchte ich noch auf einige absichtliche Abweichungen von der Dudenrechtschreibung hinweisen: »Mondin« steht für »Mond« und »Sonn« für »Sonne«. Manfred ist die Hauptperson in meinen PFAD-Romanen: Manfred der Magier. Ach ja, dieses herabwürdigende und verniedlichende »Männchen« und »Weibchen« verwende ich hier nicht bei Insekten und Spinnen. Also rede ich von Spinnenmännern und Spinnenfrauen. Und wie jeder Tierfreund weiß, essen Tiere, wohingegen manche Menschen eher fressen. Nun aber wünsche ich Ihnen eine angenehme Lektüre.

Ihr Dr. Rainar Nitzsche,

Kaiserslautern,

März 2008 und

Februar 2019

Und Gute Nacht!

Wie soll ich denn das genießen?, fragst du dich - und mich?

Nichts einfacher als das. Setz dir deine Vogelspinne auf die rechte Schulter.

Ja, dich kratzen ihre Krallen ein wenig durchs Hemd hindurch. Doch für sie ist es warm. Also bleibt sie sitzen.

Es sollte dunkel sein und Nacht. Dreh die Lampe zur Seite, so dass das Buch beleuchtet ist, das Licht aber nicht deine Spinnenfreundin trifft. Setz dich gemütlich in den Sessel, öffne das Buch und beginne zu lesen!

Und irgendwann, wenn du müde bist, füge ein Lesezeichen ein, lege dich in dein Bett, schlafe ein und ... träume von Spinnen und Menschen und ...

Allen Spinnen und den »Spinnern« unter den Menschen in dieser und allen anderen Welten insbesondere Brigitte Hayen der eifrigen Spinnendokusammlerin die nicht mehr unter uns Lebenden weilt

Inhalt

Vorwort

Und Gute Nacht!

Traum

Du

Die Mückenfrau

Alle Fliegen fliegen hoch

Ein Zirpen in der Sommernacht

Menschenmann träumt Spinnenträume

Auf der Flucht

Besucher und Besuche

Fremder und Freund

Bruder

Ziegenmelker

Arachnologentreffen

Die Rache

Springen grüne Krabbenspinnen?

Uni-Spinnen-Abenteuer

Verratene Forschungsresultate

Die Spinne unter der Decke

Vergessene Spinnen

Die Spinne vom Prof.

Das Grüne Heupferd

Die gefundene Kamera

Leben am seidenen Faden

Aufgespießt

Wasserbewohner

Kiemenatmer

Die Spitzmaus

Der Kellerbach

Ein Zwergspinnenmann beim Zahnarzt

Vogelspinnen

»Aha«

Altbau

Am Dachfenster

Auf der Börse

Bisse

Die Hand

Flüchtlinge

Ameisen

Verreisen

Discountergespräch

Intelligentes Leben?

Kampf und Tod

Eine zur anderen

Die Kleine

Die Leiche

Schweigendes Lachen

Zerfall

Wasser

Eine Scheune für Hollywood

Sie

Spinnensprung

Das Terrarium

Die Vogelspinnenbuchbestellung

Das zerbrochene Terrarium

Spinnenmütter und ihre Kinder

Fadenflug

Mein Leben, mein Tod

Träumen Spinnen - wovon?

Von fantastischen Düften und Vibrationen

Bewegungslos

Er bereitet sich vor

Metamorphosen

Ruf der Nacht

Albtraum

Atypus

Das Brautgeschenk

Dieser Embolus muss ab

Exuvienzombie

Die Garagenspinne

Das Haus in den Bergen

Die Kammspinne

Keine Springspinne

Riesenschaben?

Ein seltsamer Schnellkäfer

Spinnenfamilie und Spinnenesser

Spinnenkampf

Tentakelspinnen

Verschwunden und verwandelt?

Wie Olaf starb

Zombiespinne

Der Tänzer

Spinnengöttinnen und Spinnen»götter«

Feuerüberfall

Hinter Glas

Im Radnetz

Keine Vogelscheuche

Manfreds Spinnenabenteuer

Paarung

Schöne Scheiße

Die Springspinne im Labor

Tod eines kleinen Spinnengottes

Vater sein ist schwer

Traumerwachen

Was ist geschehen?

Sceliphron

2100 A. D.*

Arachnoiden

Träumen Spinnen von Menschen?

Die Stadt in den Bäumen

Die Prophetin von Arachnia

Der Ritt auf der Arachnoide

Die wahre Geschichte von Arachne?

Unten und oben und überall

Da lacht doch wer

Spinne

Wer bin ich eigentlich?

Tierakteure

TraumSchlafe und träume ich? Träumte ich, bin nun erwacht? Schlafe ich noch immer und träumte nur zu erwachen?

Und wer bin ich? Und wer träumt mich? Träumt auch dich - uns alle?

Du

Ja, du, lieber Leser, liebe Leserin, du glaubst, außerhalb zu stehen, ein Buch in den Händen zu halten, dann und wann darin zu blättern und auch zu lesen, alles von dort aus zu sehen, zu erleben?

Da aber irrst du dich gewaltig.

Denn du bist mittendrin, bist der Mann mit dem Glas roten Wein und der Mann mit dem Bier.

Denn du bist das zirpende Heimchen dort unter dem Metallrost in der Stadt.

Denn du bist die Mücke in der Nacht.

Denn du bist die Spinne im Netz, die voller Sehnsucht auf den Spinnenmann wartet.

Und doch ...

Komm, tritt ein und staune!

Die Mückenfrau

Alle Fliegen fliegen hoch

Fliegen fliegen - Bienen und Wespen, Wanzen und Käfer, Tagfalter und Schwärmer - sie alle fliegen.

Vögel fliegen.

Flughunde und Fledermäuse flattern durch Tag und Nacht.

Doch Menschen fliegen noch immer nicht aus eigener Kraft, laufen noch immer flügellos dort unten auf zwei Beinen über Wege und Straßen, die sie sich durch die »Wildnis« bahnten. Gräser und Sträucher und Bäume mähten sie nieder, Steine schlugen sie sich aus Felsen, drückten sie in die Erde und gossen Bitumen und Beton für ihre rollenden Räder darüber. Flugmaschinen erfanden sie sich, die Lärm erzeugen, die Luft verpesten und gemeinsam mit ihren Schiffen, Autos und ihrer Industrie das Globale Klima verändern.

Stimmt ja, auch Fallschirme und Gleitschirme haben die Menschen nun, die aber segeln aus Flugzeugen, von Felsklippen und Wolkenkratzern hinab. Wie jämmerlich und wie ausgesetzt dem Wind sie doch sind: ihre gondelbehangenen Ballons und gasgefüllten Zeppeline. Ach, Menschen von gestern und Menschen von heute ...

Was denke ich da nur für Menschendinge!

Bin ich denn ein Mensch?

Ich bin ich!

Zwei Flügel auf meinem Rücken tragen mich summend durch die Weite. Grenzenlos ist der Raum, die Freiheit in dieser Nacht der Nächte. Zu Riesen wurden Bäume, Büsche und die Menschen dort unten! Ach, auch ihre Autos und Häuser sind ja so groß.

Und das bedeutet?

Wenn nicht alles plötzlich gewachsen ist, dann bin ich es, die schrumpfte.

Ja, so muss es gewesen sein.

Wie aber konnte es geschehen?

Schlüpfte nur mein Geist, meine Seele in diesen kleinen Körper, der sich hungrig so sehr nach Wirbeltierblut sehnt?

Warm ist diese Sommernacht. Jetzt und für immer - in alle Ewigkeit.

So fliege ich nun auf der Suche nach meinem Opfer dahin, nach dem einen von so vielen möglichen, dem Opfer, das so gut riecht und schlafen mag oder aber vertieft in andere Dinge – die Klänge der Welt - meinen Stich nicht spüren wird.

Und wenn ich es finde …

»So steht es geschrieben«, flüstert eine Stimme in mir. »So soll es sein.«

Den Sinn der Worte, die die Stimme spricht, verstehe ich nicht. Ich muss es auch nicht, denn ich weiß, dass ich Menschenblut trinken werde. Und Blut brauche ich für die Reifung meiner Eier. Als Schiffchen zusammengeklebt werde ich sie aufs Wasser legen. Dann werden meine Kinder schlüpfen, im Wasser leben und zugleich die Luft an der Oberfläche atmen. Zwischen zwei Welten werden sie als Larven schwimmen, filtrierend sich ernähren, sich häuten und wachsen. Schließlich werden an der Oberfläche aus den Puppen die erwachsenen Mücken schlüpfen, Frauen wie ich und Männer wie dieser eine von so vielen, den ich gerade hier oben traf. Ich werde Kinder haben. Denn seine fein gefiederten Antennen hörten und orteten mich. Er flog mich an, welch starker Mann, wir paarten uns sekundenlang im Flug. Er gab mir sein Paket, das löste sich auf. Nun trage ich sein Sperma in mir.

Während ich weiter durch die Nacht fliege, die dunkel ist, doch niemals schwarz, sehe ich Bilder von Verwandten. Schnaken sehe ich tagsüber Hinterleib an Hinterleib minutenlang kopulieren und wundere mich darüber. Was in aller Welt machen denn deren Männer nur so anders als die unsrigen? Warum ist bei uns der Sex Sekundensache, bei ihnen aber nicht?

Noch sind meine Eier nicht reif. Ihnen fehlt das eine, und das ist Blut. Von welchem Wirbeltier es sei, ist einerlei. Doch ein Mensch wird es sein. Ich weiß es. Viele gibt’s hier. Zu Menschen zieht es mich.

Weil auch ich einmal einer von ihnen war und meinesgleichen zerquetschte?

Wurde er etwa als Mücke wiedergeboren? Dann ist er nun ich. Und ich verstehe nicht, womit er diesen Aufstieg, diese Belohnung bei all seinen Schandtaten unserer Art gegenüber verdient haben soll. Doch wie es auch gewesen sein mag und wer auch immer ich vorher war, jetzt jedenfalls gehöre ich zu den Herrscherinnen der Welt.

»Arthropoden«, flüstert die Stimme ein Menschenwort.

Ja, wir sind die Gepanzerten, Gegliederten, denen alle anderen untertan sind.

Neu sehe ich jetzt die Welt, wie sie schwingt und singt, so wunderbar nahm ich sie damals niemals wahr, als ich noch eine Menschenfrau war, ja, solch eine muss ich gewesen sein.

Menschen wissen nichts von diesen Dingen.

Mücken wissen nichts von Menschensinnen.

So ist es, so sollte es sein, in meinem Fall jedoch...

Das ist doch mal was, wie auch immer es geschah, jetzt und hier in mir leben Menschengeist und Mückenverstand zusammen in einem, meinem Mückenkörper.

Oder gibt es irgendwo da draußen fern in einem Zimmer gar einen alten Menschen, der dort ruht und schläft und träumend lächelt, während in meinem kleinen Körper all diese Gedanken und Gefühle brausen? Liegt dort fern ein Mensch - wartet gar sehnsüchtig auf die Rückkehr seiner ausgesandten Seele, die in mir weilt?

Welch fantastischer Körper- und Geschlechtertausch vom unbeholfenen zweibeinigen Affen zum sechsbeinigen zweiflügeligen Insekt! Und sollte es gar noch ein Menschenmann gewesen sein … Nein, dieser Aufstieg in der Hierarchie, in Geist und Gefühl, vom Mann zur Frau, das wäre einfach zu viel.

Vom Menschen zur Mücke, das ist Evolution der besonderen Art im Zeitraffertempo. So macht das Leben Spaß.

Irgendwann einmal mag das auch all den anderen Menschen möglich sein, wenn alles denn so bei mir geschah.

Erinnerungen verblassen.

Jetzt ist jetzt, die Gegenwart hat mich wieder.

Und gleich dahinter, noch Zukunft, aber nicht mehr verborgen, liegt das eine Ziel, das nur einen Namen trägt, der da lautet »Blut«.

So fliege ich weiter durch die Nacht. Wie regelmäßig meine beiden Flügel auf dem Rücken doch schlagen. Und unten auf beiden Seiten schwingen die Kölbchen, rotieren die Halteren, die vor Jahrmillionen auch einmal Flügel waren - daran erinnert sich bewusst wahrlich nur ein Menschengeist, wenn er es denn irgendwann mal irgendwo lernte -, sie melden mir jeden Richtungswechsel, stabilisieren mich und lassen mich wendig sein, wenn auch zugegeben nicht so irre schnell wie meine Fliegenverwandten.

Schneller steige ich auf und sehe die Welt so scharf wie zuvor.

»Denn deine Facettenaugen, dein Gehirn, dein Geist lösen die Bilder sechsmal besser als Menschenaugen auf«, erzählt mir die Stimme.

Ich fliege noch immer unbeschwert durch diese warme Sommernacht, diese Nacht der Nächte. Könnte ich weinen, ich weinte vor Glück und Trauer zugleich.

Kein Mensch weiß, wie es ist. Kein Mensch kennt dieses Gefühl.

Wenige Menschen nur blicken auf, schauen mir und meinesgleichen zu und träumen vielleicht vom Fliegen.

Die anderen schreien und schlagen und sprühen uns tot.

Der Flug ist zu Ende, denn ich habe mein Opfer gefunden. Diesen Atem und lockenden Schweiß riecht man ja meilenweit.

Ich lande, ertaste die beste Stelle, senke meine langen Mundwerkzeuge hinab, bohre sie durch die Haut, steche das Blutgefäß an, sauge den roten Strom auf, bis mein Hinterleib - wie weit er sich doch dehnen kann! - am Platzen ist.

»Du Vampir«, flüstert die Stimme in mir.

Gottlob nein, keine Fledermaus und kein Riese von Menschenmann kommen da an. Ich verstehe, stand wohl eben auf dem Schlauch, obwohl da alles bestens durch den Rüssel fließt, ich bin ja jetzt und hier der Vampir.

So sauge ich das Menschenblut, ja am Hals eines Menschenmannes, der - gepriesen sei ALLAH / GOTT / JAHWE - einfach nicht zu merken scheint, was da an seinem nackten Hals geschieht.

Wen wundert’s, denn dieser Menschenmann hat Kopfhörer an. Kabel führen hinab zum Handy in seiner Hosentasche. So konnte er nicht das Summen der nahenden Mücke vernehmen und keinen Stich spüren, so weggetreten wie er war und noch immer ist, mit seinem Glas Rotwein vor sich und dem Wein in sich hier draußen im Biergarten seiner Kneipe in der Stadt mit Namen Kaiserslautern.

Doch aufgepasst, jetzt tut sich was.

Er zieht die Stöpsel aus dem Ohr.

Sind ihm etwa die Songs ausgegangen?

Träumte er gar von stechenden Mücken?

Hört er nun die Mücken fliegen?

Spürte er doch ihren Stich an seinem nackten Hals?

Da kommt ein Schatten in Zeitlupengeschwindigkeit auf mich zu.

Lächerlich. Das schockt doch keine Mücke. Dem weiche ich mit Leichtigkeit aus, steige auf und fliege davon, nicht sonderlich schnell, doch flink genug.

Ewigkeiten dauert es, bis es dort in der Ferne hinter mir gewaltig donnert.

»Haha, zu langsam«, kichert mein Menschenmückenego irgendwo in mir, flüstert etwas von einer auf den eigenen Hals aufprallenden Hand und fügt noch hinzu: »Erst verlor er sein Blut, jetzt hat er sich auch noch selbst geschlagen. Was für Idioten Menschenmänner doch sind! «

Mein Mückenfrauenlachen aber ist ein feines Summen in Menschenohren. So singt in mir das Leben voller Glück. Jetzt habe ich alles, damit meine Eier in mir reifen können. Wie wunderbar ein Mückenleben doch ist!

Weiter fliege ich summend durch die warme Nacht.

Es wird dunkel, sagen dir deine Augen. Viel mehr könnten sie dir auch nicht zeigen.

So beginnst du aus deinem Tagesschlaf zu erwachen.

Nacht, die Nacht!

Du fühlst hinaus: Da ist ein leichter Luftzug an deinen Beinen. Du hörst dich um. Du lauschst den Liedern, die dich rufen.

Dann verlässt du dein Versteck aus Blättern und Seide. Denn du hast Hunger!

Die Erde dröhnt, die Luft vibriert.

Ameisen rasen dort unten auf ihren duftenden Straßen hin und her und her und hin.

Dich aber beachten sie nicht.

Seltsam, müssten sie mich nicht attackieren, müsste ich nicht vor ihnen fliehen?

Irgendwas hat sich hier und jetzt verändert, irgendetwas, denkst du.

Bin ich denn noch immer eine Spinne?

Ja, und ob, ich bin’s.

Also baue ich meine Falle auf. Und das geht so: Ein en Faden ziehe ich zunächst als Brücke, bilde dann ein Dreieck, und schließlich ziehe ich die Spiralfäden - von innen nach außen und schließlich die klebrige Fangspirale von außen nach innen. Geht alles wie von selbst, wenn auch so viel ertastet, gemessen, korrigiert und angepasst werden muss. Denn kein Radnetz ist wie das andere.

Jetzt heißt’s nur noch auf Beute warten.

Oh, ich weiß, sie wird kommen.

Und tut sie es nicht, so werde ich eben mein Netz essen und mich mit dem zufrieden geben müssen, was daran hängen blieb. Ich werde hungern und es wieder versuchen, wenn nicht hier, dann an einem anderen Ort.

»So wird es sein«, flüstert mir irgendwer ein.

Was ist das? Etwas hält mich auf. Irgendwo bin ich aufgeprallt. Etwas fing mich im Flug, gibt jetzt nach, folgt meiner Bewegung noch ein wenig, reißt mich zurück, wieder vor, wieder zurück, vor und zurück.

Ich fiel nicht, ich falle nicht hinab, sondern hänge einfach so in der Luft, klebe an irgendetwas, höre / schaue / rieche mich mit allen Sinnen um.

Und jetzt in der Not öffnen sich die Tore wieder. Menschenverstand erwacht. Erinnere mich an eine ferne Zeit, als ich als Biologe noch viel von Tieren zu wissen glaubte. Ja, über Fliegen und Mücken hatte ich so einiges erlernt und auch erlebt. Das scheint noch immer irgendwo abgespeichert zu sein. Wie seltsam. Vielleicht gibt es ja doch irgendwo einen Menschenkörper, der noch immer mit mir verbunden ist.

Versuche mich zu befreien - verwickle mich immer mehr. Bin jetzt völlig festgeklebt, zapple nicht mehr, schreckerstarrt.

Jetzt weiß ich, wo ich bin.

Einmal nicht aufgepasst und schon hat’s Frau erwischt.

Und aus ist’s mit all meinen Zukunftsträumen von Töchtern und auch Söhnen generationenweit jenseits der Zeit, in der es Menschen gibt.

Es gibt keine Hoffnung mehr.

Ein Zirpen in der Sommernacht

Da sitze ich nun also hier im efeugeschmückten Innenhof dieser einen Kneipe von so vielen inmitten dieser kleinen, großen Stadt mit Namen Kaiserslautern. Vor mir steht ein Glas gefüllt mit rotem Wein. An meinem Tisch bin ich allein.

Nacht ist’s geworden, doch sommerwarm noch immer. Irgendwo, für Menschenohren schwer zu orten, zirpen Heimchenmänner, locken Heimchenfrauen an, die nicht jeden erhören, sondern nur die besten unter den Sängern ihrer Art. Diese Jungs zirpen ihre Konkurrenten nieder, verdrängen sie von den Plätzen, von denen aus Frau sie am besten vernimmt. Und wo es warm ist, singt es sich am lautesten. Der am schönsten singt, der Fitteste gewinnt und pflanzt sich fort, so lautet die Theorie der Menschenbiologen. So wird es wohl sein, nun ja, nicht immer, aber immer öfter.

Beschwingt vom Wein singt auch meine Seele. Und hängt der Körper doch krumm im Stuhl, so will sie raus, mit allem verwachsen, eins werden, eins sein mit allen Wesen und Dingen.

Heimchen hier und am Herd, dieser und anderer Art, Grillen und zirpende Heupferde andernorts. Heuschrecken überall, denke ich und - finde mich auch schon inmitten einer Wiese wieder. Träume ich oder bin ich wirklich hier?

Grün ist das Gras, grün sind die Blätter der Kräuter. Weiße, gelbe und rosa Blüten überall. Darin suchen meine Hände, geben schließlich das Tasten auf, weil meine Augen längst fündig wurden. Denn dort ist Seide um Kräuter gelegt. Ich gehe hin, bücke mich und schaue sie an.

Ja, da sitzt sie, so groß und dicht vor mir. Sie ist es, »meine« Brautgeschenkspinne, die den wissenschaftlichen Namen Pisaura mirabilis trägt, der andere Biologen andere deutsche Namen gaben und deren wahren Spinnennamen, wenn sie denn einen hat, kein Mensch kennt. 2002 wurde sie sogar von Spinnenforschern unter dem deutschen Namen Listspinne zur »Spinne des Jahres« erkoren.

Noch lebt sie häufig in unseren Wiesen. Die Jungen bauen kleine Gespinste mit einem Unterschlupf. Die Männer fangen nicht nur Beutetiere zur eigenen Ernährung, sondern stellen aus ihnen durch Umspinnen Brautgeschenke her. Die Spinnenfrauen dieser Art und ihrer Verwandten tragen ihre Kokons - das sind die dicht umsponnenen Eier - mit sich, sonnen sie bisweilen, sitzen aber ansonsten versteckt in einer durch Zusammenspinnen von Grashalmen erzeugten unten offenen Glocke.

Ja, diese hier ist kein Jungtier und kein Mann, sondern eine Pisaura-Frau mit dem schon stark aufgeweiteten Kokon in den Chelizeren, dem ersten Gliedmaßenpaar mit den Giftklauen am Ende.

So sollte es sein.

So ist es.

Und doch, was ist denn das?

Welch Wunder! Zugleich hält sie mit ihnen schwarze Beutereste fest.

Eine Sensation, denke ich begeistert.

Zitternd öffne ich das Fangglas - ziehe den Plastikdeckel ab und dirigiere sie vorsichtig hinein. Doch die Beutereste gehen dabei verloren. Wie ärgerlich, jetzt habe ich keinen Beweis für meine Entdeckung, denke ich noch und - wache auf.

Ich schaue mich um - hier im Innenhof dieses einen Restaurants. Also war alles nur ein Traum. Wie sollte ich auch so mir nichts dir nichts in einer Wiese landen und ausgerechnet auch noch die Spinne entdecken, über die ich meine Diplom- und Doktorarbeit schrieb. Hier ringsrum gibt es nur Pflanzen in Blumenkästen, Steine über Steine, abgestellte Autos und viele Menschen. Also auch auf meinem Tisch kann keine Brautgeschenkspinne aufgetaucht sein, die zwar ein Kulturfolger ist und jetzt im Sommer auch ihren Kokon behütet, doch im hohen Gras von »Ödland« und Wiesen und nicht in Kneipenecken.

Einst fing ich junge Exemplare auf Wiesen ein und hielt sie an der Uni und fütterte sie mit Fliegen verschiedener Art, die Jungen mit Fruchtfliegen, die großen Stadien und die Erwachsenen mit Gold- und Schmeißfliegen. Ja, auch Grillen hätte ich nehmen können. Heuschrecken kommen in der Krautschicht von Wiesen vor und werden von ihnen gefangen. So war das. Daran erinnere ich mich.

Durst.

Ich hebe das Glas und trinke es leer, bestelle ein weiteres Viertel vom Dornfelder aus der P(f)alz.

»Danke«, sage ich zu der jungen Kellnerin mit dem kurzärmeligen, dicht anliegenden Deutschland-T-Shirt, dem freiliegenden, gepiercten Bauchnabel und den blauen Jeans. Warum nicht, es ist ja warm und Sommer - Fußball-WM in Deutschland. Wir schreiben das Jahr 2006 A.D. mit vielen deutschen Fahnen und dem Deutschlandmotto »Die Welt zu Gast bei Freunden«.

Sicherlich eine Schülerin oder eine Studentin, die sich hier etwas dazu verdient, denke ich noch, schaue ihr hinterher und blicke zugleich zurück: Ach ja, die Liebe, die einmal war, wie lang ist’s her, seit mich Frauenlippen küssten? Das Strahlen deiner Augen, Isabelle, so nah, zur Schulzeit einst. Dann die ersten Küsse, ein Streicheln über Brüste und schließlich das Erste Mal und weiteren Sex mit einer einzigen Frau – Brigitte. Danach seit über zwei Jahrzehnten passierte gar nichts mehr.

Träumend versunken in alten Jugendzeiten, die niemals wiederkehren - weine ich? - schließe ich meine Augen.

Ich öffne meine Augen und sehe sie so nah vor mir.

Nein, nein, weder eine noch alle Frauen in meinem Leben. Doch weiblich sind sie im Deutschen auch. Man(n) steckt was rein, es kommt wieder raus, es bleibt nicht drin. Lange Rede, kurzer Sinn. Es sind die Boxen, um die es hier geht.

Ich stehe außen und schaue hinein. Ich stehe vor den Regalen. Rings um die kleine Box aus durchsichtigem Plastik mit einer aufgedruckten hellbraunen Grille, die mich aus ihrem goldigen Gesicht mit menschlichen Kulleraugen und einem breiten Mund mit heraushängender Zunge auf ihre rechte Hand gestützt anlächelt, sind zahlreiche weitere Boxen aufeinandergestapelt. Ach ja, rechts oben auf jeder Grillenbox gibt es noch einen schwarz-weiß-gestreiften Scancode mit Ziffern darunter, und unter der Grillenzeichnung finden sich die Worte: »Heimchen groß (Acheta domesticus)«. Zwei gegenüberliegende Seitenwände der Box sind mit Reihen winziger Löcher zum Luftaustausch versehen.

Dies also ist die Welt, in der sie leben, die Welt, die vertrocknet.

Schaue hinaus, meine Fühler tasten auf und ab, laufe und springe - nicht. Bin durstig, habe seit Tagen keinen Tropfen getrunken. Doch da sind weder Pfütze noch Bach noch Tau am Morgen und in der Nacht.

Große Augen sehen mich an.

Und ich weiß, wem sie gehören. Wie seltsam es doch ist, dass ich das andere dort draußen ein wenig kenne.

Niemals wird es verstehen, fühlen, was ich fühle, es sei denn, es wäre wie ich, es wäre ich selbst.

»Nicht es, er ist ein großer Menschenmann«, flüstert mir eine Stimme in meiner Sprache zu.

Ich weiß, wer ich bin: eine kleine Hausgrille. Viele von meiner Art leben hier in dieser und den anderen kleinen Welten. Schwarze Verwandte (Feldgrillen) singen neben uns ihre eigenen, uns so fremd klingenden Lieder.

Laufen und essen und suchen ist angesagt.

Kein Wasser - nirgendwo.

So viele von uns sind tot, die niemals mehr singen noch laufen noch springen.

Ich aber lebe noch.

»Die letzte Grille in der Box«, spricht die Stimme.

Habe ich alles kommen sehen?

Weiß nicht mehr, wie es war, ertastete, wie es geschah.

Ich habe überlebt, weil ich die Säfte meiner Geschwister trank. Ich bin stark. Ich werde ewig sein.

Viel weiß die kleine Grille von ihrer Welt. Nichts weiß sie davon, weshalb sie andere Menschen aufzogen und verpackten, was eine Zoohandlung ist, in die sie sie schickten, wo sie nun langsam verdurstet. Woher sollte sie diese Dinge auch wissen, denn der Menschengeist, der sich für kurze Zeit in sie verirrte, hat sie ja längst wieder verlassen. Oder etwa nicht?

Und während ich hier auf mein Ende warte, schließe ich meine Augen – nicht. Oh je, welch blödsinnige Idee, womit denn, sie sind doch immer offen. Ich halluziniere wohl schon.

Dann ist wieder alles klar. Erinnerungen steigen auf: Bilder, Laute, Düfte, Vibrationen von den anderen, unseren Nachbarn, die schon vor langer Zeit von hier verschwanden. Ich sollte mich wundern, woher ich all dies weiß. Denn sie wurden ja fortgenommen, und wir blieben hier. Also kann ich mich gar nicht an ihr Schicksal erinnern, nicht wissen, was ich doch weiß und nun in mir wahrnehme:

Sie hatten es besser, denn einer von diesen großen, so seltsam ungrillich Riechenden nahm sie mit sich fort - mitsamt ihrer Welt, in der sie lebten, balzten, sich liebten und aßen. Und ich sehe in mir, wie sie jetzt ein Schälchen mit Wasser und feuchter Watte in ihr Heim bekommen. Durstig stürzen sie sich alle darauf. Sie ahnen nichts. Sie wittern nichts.

Ach, was gäbe ich jetzt für einen Tropfen.

Oh nein, jetzt weiß ich, weshalb er sie mit sich nahm. Da kommt etwas auf sie zu, das nur auf einer Seite offen ist. Erst eins, dann noch eins, dann ein drittes und viertes. In diese Dinger - »Gläschen mit Schnappdeckelverschlüssen aus Kunststoff«, murmelt diese fremde Stimme - jagt der Große meine Schwestern und Brüder, schließt sie zu, nimmt sie mit sich und schüttelt sie andernorts heraus. Ach, keinesfalls behutsam, sie fallen durch die Luft und prallen auf.