Splitter der Zeit - Andreas Brandhorst - E-Book
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Splitter der Zeit E-Book

Andreas Brandhorst

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Beschreibung

Brillante Space Opera um einen großen Krieg der Menschheit gegen eine außerirdische Spezies Seit Jahrhunderten muss sich die Menschheit gegen die fremdartigen Honta verteidigen, ohne zu wissen, warum sie immer wieder angreifen. Im Jahr 3233 überfällt der Feind Harkonia, einen über 8000 Lichtjahre von der Erde entfernten Kolonialplaneten. Zu den wenigen Überlebenden zählt der siebenjährige Cameron, der durch den Angriff seine Mutter verliert. Adoptiert von einem Kommandanten der Vereinten Streitkräfte, tritt er eine Laufbahn beim Militär an. Entschlossen, sich an den Honta zu rächen, sammelt er im Kampf immer mehr Erkenntnisse über den verhassten Feind. Doch die Honta scheinen den Menschen stets einen Schritt voraus zu sein. Verfügen sie über eine Technologie, die die Menschheit nicht versteht? Um die Antwort zu ergründen, muss Cameron eine ungewöhnliche Mission antreten: eine Reise ans Ende der Zeit.

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Seitenzahl: 607

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Andreas Brandhorst

Splitter der Zeit

 

 

Über dieses Buch

 

 

Der ewige Krieg ...

 

Seit Jahrhunderten muss sich die Menschheit gegen die fremdartigen Honta verteidigen, ohne zu wissen, warum sie immer wieder angreifen. Im Jahr 3233 überfällt der Feind Harkonia, einen über 8000 Lichtjahre von der Erde entfernten Kolonialplaneten. Zu den wenigen Überlebenden zählt der siebenjährige Cameron, der durch den Angriff seine Mutter verliert. Adoptiert von einem Kommandanten der Vereinten Streitkräfte, tritt er eine Laufbahn beim Militär an. Entschlossen, sich an den Honta zu rächen, sammelt er im Kampf immer mehr Erkenntnisse über den verhassten Feind. Doch die Honta scheinen den Menschen stets einen Schritt voraus zu sein. Verfügen sie über eine Technologie, die die Menschheit nicht versteht? Um die Antwort zu ergründen, muss Cameron eine ungewöhnliche Mission antreten: eine Reise ans Ende der Zeit.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Andreas Brandhorst, geboren 1956 im norddeutschen Sielhorst, zählt mit Thrillern wie »Das Erwachen« und »Das Bitcoin-Komplott« und Science-Fiction-Romanen wie »Das Schiff« und »Omni« zu den erfolgreichsten Autoren unserer Zeit. Spektakuläre Zukunftsvisionen sind sein Markenzeichen. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Literaturpreise. Andreas Brandhorst hat dreißig Jahre in Italien gelebt und ist inzwischen in seine alte Heimat in Norddeutschland zurückgekehrt.

»Wir dürfen das Weltall nicht einengen, um es den Grenzen unseres Vorstellungsvermögens anzupassen, wie der Mensch es bisher zu tun pflegte. Wir müssen vielmehr unser Wissen ausdehnen, so dass es das Bild des Weltalls zu fassen vermag.«

Francis Bacon (1561–1626), 1. Viscount St. Albans, Baron von Verulam, englischer Philosoph, Jurist und Staatsmann, gilt als Wegbereiter des Empirismus und entwarf eine Methodologie der Wissenschaften.

Prolog

Das hässliche Gesicht des Krieges

Cameron: 7, 12. Februar 3233 TerrastandardHarkonia im Amka-System, 8714 Lichtjahre von der Erde entfernt

Die Welt brannte, der Himmel stand in Flammen, das Wasser des nahen Flusses war verdampft.

Cameron hielt eine Hand. Er wollte sie nicht loslassen, obwohl sie heiß war und halb verkohlt. Es war die Hand seiner Mutter. Sie versengte ihm die Finger, aber er ließ nicht los.

Der Junge, gerade sieben geworden, saß umgeben von Asche bei den Resten der großen Statue, die an die Besiedlung von Harkonia vor fünfhundert Jahren erinnerte. Hinter ihm versanken die Häuser der Stadt in funkenstiebender Glut.

»Mutter?« Cameron blinzelte im zischenden, fauchenden Wind. »Warum sprichst du nicht? Warum bist du so still?«

Er wagte es nicht, sie anzusehen, aus Furcht vor dem Entsetzen in ihrem Gesicht. Also blickte er zum Himmel und sah die Schiffe, Harkonias Verteidiger. Sie kamen ihm vor wie große dunkle Vögel, die gelernt hatten, Feuer zu spucken. Eins von ihnen fiel und zog dabei einen lodernden Schweif hinter sich her. Weit entfernt am Horizont verwandelte es sich erst in einen grellen Blitz und dann in eine gleißende Kugel.

Cameron kniff geblendet die Augen zu.

Als er sie wieder öffnete, sah er zwei Gestalten. Eine stand reglos, ein Soldat der Streitkräfte, wie es schien, sein Einsatzanzug voller Risse und Löcher, das Gesicht unter dem Visier seines Helms verborgen.

Die zweite Gestalt stapfte durch Rauchschwaden auf Cameron zu, gehüllt in einen rußgeschwärzten Kampfanzug. Sie blieb dicht vor ihm stehen und klappte das Visier ihres Helms hoch. Das verschwitzte und narbige Gesicht eines Mannes kam darunter zum Vorschein.

»Du kannst sie loslassen«, sagte er rau.

»Was?«

Das Donnern der gewaltigen Explosion am Horizont erreichte die zerstörte Stadt. Der Boden bebte. Ein weiteres Stück löste sich aus den Resten der Gedenksäule und fiel dicht neben Cameron zu Boden.

»Die Hand«, brummte der Mann. Er blickte sich schnell um, in der Rechten einen großen Variator, der nach einem Ziel suchte. Der zweiten Gestalt, dem anderen Soldaten, der in einigen Metern Entfernung stand, schenkte er keine Beachtung. »Du kannst sie loslassen. Es nützt nichts, wenn du sie festhältst.«

»Meine Mutter …«

»Sie lebt nicht mehr, Junge. Es gibt sie nicht mehr.«

Cameron senkte den Blick. Die verbrannte Hand war nicht mehr ganz so heiß, sie schien ihre Hitze schnell zu verlieren. Und mehr war nicht da. Kein Körper, kein entsetzt blickendes Gesicht, keine Leiche. Nur die Hand.

»Wie heißt du, Junge?«, fragte der Mann

»Cameron.« Er fühlte sich plötzlich schuldig. Vielleicht hatte er die Hand zu fest ergriffen, so fest, dass sie sich vom Rest des Körpers gelöst hatte. Er blickte zur Stadt, aber dort war alles verbrannt.

Die andere Gestalt war noch immer zu sehen, eine Silhouette in den Rauchschwaden. »Wer ist das dort?«

Der Mann im Kampfanzug wandte kurz den Kopf, der große Variator noch immer schussbereit. »Wir sind allein, Junge. Hier lebt niemand mehr. Ich bin Kommandant Grindel. Du bist jetzt mein Sohn.«

 

Grindel hatte insgesamt neunundfünfzig Söhne und Töchter, so viele Kinder hatte man retten können. Die meisten waren verletzt, einige so schwer, dass sie in einem Lazarettkreuzer hoch über Harkonia behandelt werden mussten. Die anderen, unter ihnen Cameron, fanden zusammen mit einigen Soldaten Platz an Bord eines Kanonenboots, das zur Fregatte Himalga flog, zwei Astronomische Einheiten oberhalb der Ekliptik des Amka-Systems.

Als es den Kreuzer verließ, blitzte es unten auf der verbrannten Welt. Ein zweites großes Feuer schien dort zu entstehen, vielleicht noch größer und heißer als das erste.

Cameron saß eingezwängt in einer Ecke, neben einem Mädchen jünger als er, das lautlos weinte und ins Leere starrte, und einem zwei oder drei Jahre älteren Jungen, im Gesicht mehrere blutige Kratzer wie von Honta-Krallen. Er saß mit geballten Fäusten, die Lippen aufeinandergepresst, und zitterte gelegentlich.

Grindel ging langsam durch den kleinen, engen Raum, in dem es nach Blut, Asche und Schweiß roch. Den Soldaten legte er kurz die Hand auf die Schulter und nickte ihnen zu. Vor den Kindern ging er in die Hocke und sagte zu jedem Einzelnen von ihnen: »Hab keine Angst, bei uns bist du in Sicherheit.«

Zum ersten Mal sah Cameron das Gesicht des Mannes ganz deutlich, denn er trug keinen Helm mehr. Es war durchzogen von einem Geflecht aus Narben, als hätten sich die Fäden eines Spinnennetzes tief in Stirn, Wangen und Kinn gegraben. Die Nase schien ein wenig zu groß, wie ein krummer Haken, der Mund wirkte zu klein, und die Augen waren grau wie die Asche auf Harkonia.

Es war ein hässliches Gesicht, fand Cameron, und plötzlich erinnerte er sich an einen Abend vor wenigen Wochen. Zusammen mit seiner Mutter hatte er auf der Aussichtsplattform ihres zweihundert Meter hohen Wohnturms gestanden und die Sterne an einem wolkenlosen Nachthimmel betrachtet.

»Dort draußen findet ein schrecklicher Krieg statt«, hatte seine Mutter gesagt, »seit mehr als hundert Jahren.« Sie hatte leise gesprochen, wie zu sich selbst.

»Kommt er hierher?«, hatte Cameron gefragt. »Wird er uns besuchen?«

Plötzlich schien ihr klarzuwerden, dass er ihre Worte gehört hatte. »Nein«, antwortete sie rasch. »Er wird nicht herkommen. Er wird uns verschonen. Hier sind wir sicher.«

»Woran erkennt man ihn, den Krieg?«

»An seinem hässlichen Gesicht«, antwortete Camerons Mutter nach kurzem Nachdenken. »Daran erkennt man ihn. Der Krieg hat ein hässliches Gesicht.«

Cameron glaubte noch, ein fernes Echo ihrer Stimme zu hören, als Grindel, der Mann mit dem hässlichen Gesicht, auch vor ihm in die Hocke ging und sprach: »Hab keine Angst, bei uns bist du in Sicherheit.«

Die anderen Kinder hatten geschwiegen, aber Cameron fragte: »Bist du der Krieg?«

»Der Krieg hat mich zu dir geschickt«, erwiderte Grindel und legte ihm die Hand auf die Schulter, wie einem Soldaten.

 

Zwei Tage später, nachdem sie die Himalga über dem Amka-System erreicht hatten, versammelten sie sich in einem Hangar der Fregatte: einunddreißig der neunundfünfzig von Harkonia geretteten Jungen und Mädchen, fünfzehn Soldaten in Paradeuniformen als Ehrenwache und Grindel in einem sauberen neuen Kampfanzug.

Es galt, der Toten zu gedenken.

Das große Tor des Hangars war geöffnet. Ein Atmosphärenschild verhinderte, dass die Luft ins All entwich.

Dicht hinter dem Kraftfeld des Schilds, von einem kleinen Gravitationsanker in Position gehalten, schwebte eine rechteckige Steinplatte aus dunkelgrauem Granit, vier Meter lang und einen Meter breit, mit Tausenden von Namen in Mikroschrift.

Kommandant Grindel stand in der Mitte des Hangars, neben einem Pult mit einer großen Sensorfläche.

»Es ist Zeit, Abschied zu nehmen«, sagte er laut und deutlich. »Von euren Familien und von eurem früheren Leben. Hier und jetzt beginnt ein neues Leben für euch. Ihr seid meine Kinder.«

Eine zaghafte Hand kam in die Höhe.

»Bist du unser neuer Vater?«, fragte das Mädchen, das im Kanonenboot stumm geweint hatte. Cameron erinnerte sich an ihren Namen, sie hieß Kora.

Grindel holte tief Luft. »Das bin ich von jetzt an, euer Vater. Und der Krieg wird euer Lehrmeister sein, streng und unerbittlich.« Er wartete einige Sekunden, und als sich niemand meldete, um eine weitere Frage zu stellen, fuhr er fort: »Der Gedenkstein dort draußen enthält die Namen aller Toten von Harkonia, die wir identifizieren konnten. Er wird, wenn wir ihn endgültig dem All überlassen, für immer durch den interstellaren Raum reisen, auf einem Kurs, der ihn schließlich hinausbringt in die Weite zwischen den Galaxien. Noch in vielen Millionen Jahren wird man die Namen lesen können.«

Wenn es dann noch Menschen gibt, dachte Cameron. Es war ein seltsamer Gedanke für einen siebenjährigen Jungen.

»Ich rufe euch jetzt nacheinander auf, damit ihr euch verabschieden könnt.«

Die Soldaten hoben ihre Waffen zum Salut. Grindel nannte den ersten Namen.

Ein blasses Mädchen trat vor, kaum fünf Jahre, schätzte Cameron, und näherte sich dem Pult. Es war klein, Grindel hob es hoch, damit es die Hand auf die Sensorfläche legen konnte.

Draußen im All, wenige Meter hinter dem Atmosphärenschild, leuchtete eine kleine Stelle des Gedenksteins auf.

»Dort steht der Name deiner Familie, hast du gesehen, Tjuscha?« Grindel setzte das Mädchen wieder auf den Boden.

Es nickte und kehrte zu den anderen Kindern zurück.

Kora kam als Zweite an die Reihe, nur etwas größer als das erste Mädchen. Grindel hob sie ebenfalls hoch, damit sie die Hand auf die Sensorfläche legen konnte, und wieder leuchtete eine bestimmte Stelle des Gedenksteins auf.

Eins nach dem anderen traten die Kinder zum Pult und nahmen Abschied. Cameron beobachtete, wie Melkom, der Junge mit den Kratzern im Gesicht, die Faust ballte, nachdem er den Sensor berührt hatte.

Grindel ergriff sie und schloss die Hand darum. »Möchtest du etwas sagen, Melkom?«

Der Junge hob den Kopf. »Sie dürfen nicht umsonst gestorben sein«, sagte er mit dem Ernst eines Erwachsenen. »Vergeltung!«

Grindel nickte. »Die Faust der Liga wird zurückschlagen.«

Schließlich stand Cameron vor dem Pult, legte die Hand auf den Sensor und sah, wie einer der vielen Namen am Gedenkstein aufleuchtete. Er zog die Hand nicht sofort zurück, weil er wollte, dass der Name seiner Mutter auf dem dunkelgrauen Stein etwas länger strahlte.

Schließlich sah er zu Grindel auf.

»Möchtest du etwas sagen, Cameron?«, fragte der Kommandant mit knarrender Stimme.

»Wir werden sie besiegen«, sagte Cameron und versuchte, so ernst zu klingen wie vor ihm Melkom. »Was es auch kostet und wo auch immer sie sich verstecken, wir werden sie finden und besiegen.«

Grindel legte ihm die Hand auf die Schulter und lächelte grimmig.

»Das werden wir«, bestätigte er. »Und du wirst dabei sein. Merke dir: Wir schützen Menschen überall dort, wo wir sie schützen können. Und wir kämpfen überall dort, wo wir kämpfen müssen.«

 

Einige Stunden später, im Schlafsaal der Himalga, die mit einer Geschwindigkeit von mehreren Lichtjahren pro Tag durchs Fluidal glitt, sah Cameron zur Zimmerdecke hoch. Er hörte sie atmen, die anderen Kinder. Einige von ihnen wälzten sich hin und her, vielleicht von Albträumen geplagt, und aus der dunklen Ecke kam ein leises Wimmern.

Er ballte die rechte Hand zur Faust wie Melkom am Pult mit der Sensorfläche und fühlte dabei einen kurzen Schmerz von der versengten Haut unter der hauchdünnen Synth-Schicht. Wenn er die Augen schloss, hörte er das Knistern der Glut und das Fauchen der Flammen. Aber er sah auch die Sterne am wolkenlosen Nachthimmel über dem Wohnturm am Rand der Stadt und vernahm die Stimme seiner Mutter.

Sie hatte geglaubt, dass Harkonia verschont bleiben würde, dass sie dort in Frieden leben konnten. Doch sie hatte sich geirrt und war zu Asche verbrannt.

Cameron starrte an die Decke, um nicht ihre Hand in der seinen zu sehen, halb verkohlt und ohne Körper.

Er dachte an Grindel, den neuen Vater, und flüsterte: »Ich habe das hässliche Gesicht des Krieges gesehen, Mutter, und es hat für mich gelächelt.«

Erster TeilAls es noch Menschen gab

Wo ist die Königin?

Cameron: 11 ½, 7. Oktober 3237 TerrastandardUxor im Ploita-System, 2991 Lichtjahre von der Erde entfernt

1

Der Tod tat weh, jedes Mal ein wenig mehr. Cameron biss die Zähne zusammen, als er zurückkehrte, in den zitternden Körper des elfjährigen Jungen auf dem Interfacesitz. Er wollte nicht schreien, nicht einmal wimmern, aber die Schmerzen waren kaum zu ertragen und ließen nur langsam, ganz langsam nach.

Er könnte ein leises Stöhnen nicht zurückhalten.

Eine Hand berührte ihn, hart und weich zugleich.

»Das dritte Mal«, ertönte Grindels knarrende Stimme. »Möchtest du hierbleiben und dich erholen?«

Die Sensoren an Camerons Leib schienen zu brennen, das dünne Hemd und die kurze Hose waren feucht von Schweiß. Er sah an sich herab, wie um sich zu vergewissern, dass er noch lebte. Ein Blick zur Seite zeigte ihm die anderen: Oberon, Melkom, Kora, Tjuscha, Ganto, Qurek und der spindeldürre Palmi, mit nicht einmal acht Jahren der Jüngste von ihnen allen. Sie waren blass von den zurückliegenden Toden. Stirnindikatoren wiesen auf die Anzahl hin – bei der neunjährigen Tjuscha zeigte er eine besorgniserregende 4. Ihre Hände am Ende der Armlehnen zitterten. Ein Sanitäter stand neben ihrem Sitz und kontrollierte die medizinischen Anzeigen. Es hieß, dass der Tod endgültig sein konnte, wenn man zu oft starb.

»Nein«, krächzte Cameron. »Ich will zurück!«

Grindel nickte anerkennend. »Findet die Königin und vernichtet sie«, wiederholte er den Einsatzbefehl.

Cameron schnappte noch einmal nach Luft …

… und befand sich nicht mehr an Bord des Ausbildungsschiffs, sondern auf Uxor, einem Planeten am Rand der Schale, fast dreitausend Lichtjahre von der Erde entfernt. Als er die Arme hob, waren es die Arme eines Simulacrums, das sich besser anfühlte als der eigene Körper, stärker, unempfindlicher, zuverlässiger.

»Willkommen zurück«, sagte Melkom und reichte ihm die Hand. Mit vierzehn war er der Bekkta der Gruppe, der befehlshabende Soldat. Sein Gesicht aus Synth-Haut zeigte die vertrauten Züge, doch darunter steckten Stahlkeramik, Komposit und zweckgebundene Kollektive aus Nanomaschinen.

Cameron stand auf, die Beine voller Kraft. Die Löcher in seinem Kampfanzug hatten sich bereits wieder geschlossen, und es gab keine verbrannten Stellen mehr. Ein Dutzend Meter entfernt lagen die Reste der Honta-Drohne im Staub, von Variator-Sprengprojektilen zerrissen und zerfetzt. Sie hatte täuschend echt gewirkt, erinnerte sich Cameron. Selbst die energetischen Signaturen waren identisch mit der einer realen Drohne gewesen.

Aber die Waffen natürlich nicht. Wenn die Drohne mit Impulsern geschossen hätte, wäre von Camerons Simulacrum für die Selbstreparaturfunktion nicht genug übrig geblieben. In einem echten Gefecht, ermahnte er sich, hätte es für ihn keine Möglichkeit gegeben, ins Leben zurückzukehren.

»Ganto hat es ebenfalls erwischt«, sagte Melkom. »Und Tjuscha, zum vierten Mal.«

Er half ihr hoch. Ganto kam von allein auf die Beine und schüttelte sich.

»Es ist seine Schuld!« Qurek, nur ein Jahr jünger als Melkom und fast ebenso groß, hatte die Führung der Gruppe für sich erhofft. Er nutzte fast jede Gelegenheit, seinen Ärger an jemandem auszulassen, womit er bewies, dass ihr Vater und Kommandant Grindel mit dem ruhigen, bedächtigen Melkom die richtige Wahl getroffen hatte.

Cameron blinzelte im Schein der roten Sonne. Die Schmerzen hatten ihn noch nicht ganz verlassen, und nach dem letzten Tod musste er sich neu orientieren. Mit Kwix wäre alles einfacher gewesen, aber die Droge und ihre Aromen standen allein Soldaten zur Verfügung. Rekruten mussten aus gutem Grund auf sie verzichten; sie sollten zunächst lernen und eigene Kompetenz entwickeln.

Rechts erstreckte sich der Höhenzug, Teil eines Gebirges mit steilen Hängen und hohen Graten, bis in dreitausend Meter Höhe von Langdornbüschen, Dolchginster und Giftmoos bewachsen. Die Spur, der sie folgten, führte dort hinauf und war auch ohne Angriffe von Honta-Drohnen gefährlich genug.

Links, im Westen, erstreckte sich eine weite Tiefebene mit den Ruinen einer uralten Stadt, halb überwuchert von violettem Stechgras. Auf Uxor, erinnerte sich Cameron, hatte es vor vielen tausend Jahren eine Zivilisation gegeben, die an sich selbst gescheitert war, an einem Großen Filter, der die betreffende Spezies daran gehindert hatte, andere Welten zu besiedeln und den Sprung auf die interstellare Entwicklungsebene zu schaffen. In den Einsatzspezifikationen war von einer ökologischen Krise die Rede, von einem Toxin, das die lokale Umwelt vergiftet hatte.

Cameron bedauerte plötzlich, nicht mehr über Uxor und die einstigen Bewohner erfahren zu haben. Wie hatten sie ausgesehen, wie gelebt?

»Cameron?«

Er blinzelte erneut. »Was?«

Melkom stand vor ihm. »Geht es dir gut?«

»Ja«, sagte er. »Ja, es geht mir gut.«

»Es ist seine Schuld!«, rief Qurek und zeigte auf ihn. »Er hat nicht aufgepasst, obwohl er unser Späher sein sollte. Er hat die Drohne zu spät gesehen.«

Melkom hob die Hand. »Wie heißt einer unserer Grundsätze?« Er sah in die Runde.

»Wir halten zusammen«, sagte Palmi. Als Simulacrum wirkte der Jüngste von ihnen nicht ganz so dürr. »Immer. Unter allen Umständen. Soldaten streiten nicht.«

»Ich verzeihe ihm«, verkündete Tjuscha, die gerade zum vierten Mal gestorben war. »Ein solcher Fehler hätte jedem von uns unterlaufen können. Es war eine schlaue Drohne. Man konnte sie erst im letzten Moment entdecken.«

»Die Drohne war schlau, aber er war es nicht!« Qurek zeigte noch immer auf ihn.

Melkom warf ihm einen warnenden Blick zu.

»Geht es wieder?«, wandte er sich dann an Tjuscha und Ganto. »Können wir weiter?« Er sah auch die anderen fragend an.

»Wir haben es falsch gemacht«, sagte Cameron. Die Erkenntnis war ganz plötzlich da, über jeden Zweifel erhaben. »Wir sind den Spuren gefolgt, aber sie wurden absichtlich gelegt und haben uns in eine Falle gelockt. Wir müssen anders vorgehen.«

»Was schlägst du vor?«, fragte Melkom.

Cameron sah zur Tiefebene und den Ruinen, die aus einem Meer aus violettem Stechgras ragten.

»Wir haben die Königin in den Bergen vermutet«, sagte er. »Aber dort ist sie nicht. Sie verbirgt sich in der alten Stadt.«

Qurek verzog das schmutzige Gesicht. »Ach, und woher weißt du das?«

»Ich weiß es«, erwiderte Cameron, ohne dass er hätte sagen können, woher er diese Gewissheit nahm. »Sie hat uns auf eine falsche Fährte gelockt.«

Melkom blickte nachdenklich zur Stadt. Er wirkte fast wie ein Erwachsener, fand Cameron, fast wie ein Soldat. »Wie sollen wir sie finden?«

Auch darauf wusste Cameron eine Antwort, vielleicht hatte ihm der letzte Tod geholfen. »Synchronisation und Triangulation. Ein Trick. Wir bieten der Königin ein Ziel, damit sie ihre Drohnen für den Angriff auf uns synchronisiert. Wenn wir die Signale orten und triangulieren …«

»Das ist Unsinn!«, warf Qurek ein. »Als Versteck kommen nur die Berge in Frage, die Spuren beweisen es. Von dort oben hat man den besten Überblick. Es gibt keinen Ort, der strategisch besser geeignet wäre.«

Strategie, dachte Cameron. Strategien konnten einfach sein, auf bekannten militärischen Parametern beruhend, oder auch verzwickt, voller Tricks und Lügen, um den Gegner zu verwirren und sich dadurch einen Vorteil zu verschaffen.

»Das sollen wir glauben«, sagte er. »Die Königin will, dass wir in den Bergen nach ihr suchen. Es gibt ihr Zeit, uns so oft zu töten, dass die Schmerzen unerträglich werden. Es wäre das Ende unserer Mission, wir wären gescheitert.«

Alle hörten ihm aufmerksam zu, auch Qurek.

»Welches Ziel willst du der Königin bieten, damit sie sich mit einer Synchronisation verrät?«, fragte Kora. Sie war Melkoms Freundin, die beiden saßen oft zusammen und sprachen miteinander.

Es musste ein lohnendes Ziel sein, eins, dem die Königin nicht widerstehen konnte.

»Ich gehe«, bot er an. »Allein.« Er zeigte zur Stadt. »Dorthin. Ihr folgt mir im Tarnmodus und versucht, die Synchronisierungssignale zu orten. Ich bin der Köder für die Falle.«

Qurek öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Ganto und der dürre Palmi nickten anerkennend. Der stille und schweigsame Oberon sagte: »Gut.«

»Du bist schon dreimal gestorben«, gab Tjuscha zu bedenken, die gerade den vierten Tod hinter sich hatte. Selbst mit ihrem Simulacrum-Gesicht wirkte sie geschwächt. »Das vierte Mal wird richtig schlimm, glaub mir. Fast wäre ich nicht zurückgekehrt.«

»Ich brauche euch.« Vor Camerons geistigem Auge war der Plan klar. »Ich verlasse mich auf euch. Wenn die Königin ihre Synchronisierungssignale sendet, wenn ihr sie geortet habt … Dann müsst ihr verhindern, dass mich die Drohnen erschießen. Ihr wisst, dass sie kommen, und ihr wisst auch, wo sie angreifen werden, ihr kennt meinen Standort.«

»Wir halten zusammen«, sagte Melkom laut und nickte Palmi zu, der die Worte zuvor gesprochen hatte. »Immer.«

»Also gut. Dann mache ich mich jetzt auf den Weg.« Mehr gab es nicht zu sagen. Cameron ging los, den Hang hinab.

»Ich komme mit.«

Erstaunt blieb er stehen und sah sich um. Kora trat zu ihm.

»Ich helfe dir.« Sie lächelte kurz. »Zwei Ziele sind für die Königin lohnender als eins.«

Seite an Seite traten sie den Hang hinunter, vorbei an den Resten der Drohne.

2

Königin – so nannte man ein Honta-Individuum, das sowohl Eier legen konnte als auch imstande war, zahlreiche Honta mit Synchronisierungssignalen zu einem Schwarm mit kollektiver Intelligenz zusammenzufassen. Was die einzelnen Honta noch gefährlicher machte, als sie es ohnehin schon waren.

Als sie im hohen Stechgras der Tiefebene eine Orientierungspause einlegten, blickte Kora auf ihr Chronometer.

»Nur noch zwei Stunden bis zum Ende des Einsatzes«, sagte sie. »Wenn du dich geirrt hast, bleibt uns nicht genug Zeit, in die Berge zurückzukehren und dort nach der Königin zu suchen.«

»Ich habe mich nicht geirrt.« Sie hatten den Sepia-Effekt ihrer Simulacrum-Kampfanzüge aktiviert. Tausende von Chromatophoren passten ihre Farbe ständig der Umgebung an, mit dem Ergebnis, dass Cameron ohne Sichtverstärkung nur Koras unbedecktes Gesicht sah. Es war blass von ihrem letzten Tod. Sommersprossen zeigten sich auf Nase und Wangen. Die Farbe der großen Augen ähnelte dem Violett des Stechgrases.

»Du bist ganz sicher, ja?« Sie hantierte mit einem Ortungsgerät. Den Variator im Halfter hatte sie bisher nicht angerührt.

Cameron hielt seinen in der rechten Hand und spähte über das Stechgras hinweg. Er achtete darauf, den Halmen und ihren Stacheln nicht zu nahe zu kommen, obwohl der Kampfanzug genug Schutz bot.

»Bin ich, ja. Wo sind die anderen?«

»Die Tarnkappen verschlucken ihre Signale, aber ich glaube, sie sind etwa fünfhundert Meter hinter uns.«

Das war ein ziemlich großer Abstand. Sie mussten auf zweihundert Meter herankommen, um bei einem Drohnenangriff wirkungsvoll eingreifen zu können. Cameron fragte sich, ob er etwas länger warten sollte, um Melkoms Gruppe dadurch Gelegenheit zu geben, den Abstand zu verringern. Er entschied sich dagegen, setzte sich wieder in Bewegung und schlich weiter durchs Gras. Kora folgte ihm dichtauf.

Die Verwendung der Tarnkappen bedeutete vollständige Tarnung, nicht nur scheinbare Unsichtbarkeit wie beim Sepia-Effekt. Allerdings waren Orientierung und Ortung bei voller Tarnung eingeschränkt. Cameron hatte in dieser Hinsicht schon bittere Erfahrung gemacht – als Späher war er ungetarnt gewesen und von einer Drohne entdeckt worden.

Wind strich durchs hohe Gras und ließ es rauschen wie ein Meer.

»Wann soll es losgehen?«, fragte Kora leise. »Wann willst du den Köder auspacken?«

»Am Stadtrand.«

Cameron blickte immer wieder zum Himmel hoch, sah aber nur langsam dahinziehende Wolken und keine dunklen Punkte, die auf Drohnen oder Patrouillenboote des Feindes hindeuteten.

Schließlich wich das stachelige Gras zurück, und sie erreichten die ersten Ruinen. Der Wind wirbelte Staub zwischen ihnen auf.

Cameron wies nach vorn. »Siehst du das?«

»Was?«

»Den Staub. Tarnung nützt dort nichts, der Staub verrät uns.« Nach kurzem Nachdenken fügte er jedoch hinzu: »Wäre gar nicht so schlecht.«

Kora verstand. »Weil es so aussieht, als würden wir einen Fehler machen.«

Cameron nickte bestätigend. »Fünfzig Meter Abstand«, entschied er, als die letzten Halme hinter ihnen zurückblieben. »Oder besser siebzig. Die Königin soll nicht nur eine Drohne schicken, sondern mehrere.«

»Wenn sie sich wirklich hier versteckt.«

»Du wirst sehen«, sagte er. »Pass gut auf dich auf, Kora.«

Sie schenkte ihm erneut ein schnelles Lächeln. »Und du auf dich, Cam.«

Er ging schneller, um den Abstand zu vergrößern, kletterte über die Reste von umgestürzten Mauern und wich den Staubwolken nicht aus. Sie nahmen ihn auf, was den Sepia-Effekt zunichtemachte, weil seine Gestalt Lücken im Staub schuf, deutlich sichtbar für die visuellen Sensoren des Feindes.

Eine halbe Minute lang folgte er dem Verlauf einer Schneise, die vielleicht einmal eine Straße gewesen war, bis er den Abstand zu Kora groß genug glaubte. Dann blieb er in einem offenen Bereich stehen, aktivierte das Kommunikationssystem und sendete: »Späher an Einsatzgruppe. Ich bin in der Stadt und suche nach Spuren.«

Fast sofort empfing er ein fremdes Signal, das vielleicht von der Königin stammte. Er versuchte, den Ursprung zu orten, bekam aber keine präzisen Koordinaten. Melkom und die anderen hatten hoffentlich mehr Erfolg.

Er blieb auf dem kleinen Platz stehen, umgeben von jahrtausendealten Ruinen, drehte sich langsam um die eigene Achse und bemerkte Koras Gesicht – nur ihr Gesicht – neben dem verwitterten Gestein eines eingestürzten Gebäudes.

Cameron deaktivierte seine Chromatophoren. Ein deutlicheres Ziel konnte er nicht präsentieren.

Etwa zwanzig Sekunden verstrichen, ohne dass etwas geschah. Dann hörte er ein Brummen, das schnell lauter wurde und die zischende Stimme des Winds übertönte. Mehrere Drohnen erschienen am Himmel über der Ruinenstadt, wie große schwarze Käfer mit zahlreichen Beinen und gewölbtem Rückenpanzer.

Cameron reagierte sofort, lief los und entging den Energieblitzen eines Impulsers. Am Rand des Platzes warf er sich zwischen die Trümmer, krabbelte unter die Reste einer Brüstung und hörte, wie hinter ihm das Gestein zerbarst. Ein Splitter durchschlug die Panzerung des Kampfanzugs und bohrte sich in den Rücken des Simulacrums, das ihm einen heftigen stechenden Schmerz vermittelte. Er hatte seine Telemetrie nicht abgeschaltet. Die anderen erfuhren, was geschah, wenn sie ihn empfingen.

»Kora?«, fragte er mit plötzlicher Sorge.

»Ich bin gleich bei dir«, tönte es aus seinem Kommunikator.

Es krachte über der Brüstung, die ihm ein wenig Deckung gab. Cameron kroch weiter, durch Schutt und Staub, und sah aus dem Augenwinkel, wie die Drohne zerplatzte, die ihn angegriffen hatte. Er drehte sich auf den Rücken, hielt den Variator in beiden Händen und schoss auf die zweite Drohne. Sie hatte sich in ein türkisfarbenes Schirmfeld gehüllt, in dem die Sprengprojektile einfach verdampften.

Er rollte zur Seite, wich dadurch mehreren Impulser-Blitzen aus, veränderte die Einstellung seiner Waffe und schoss erneut. Ein hochenergetischer Strahl fauchte, durchschlug den Honta-Schild und verbrannte eins der Waffenbeine der Drohne. Zwei andere richteten sich auf ihn, und ein drittes visierte Kora an, deren Gesicht zwischen den Ruinen auf der linken Seite erschien.

Cameron schoss erneut und dann noch einmal, aber die Drohne veränderte Struktur und Frequenz des Schirmfelds. Ihre Beine und die Waffen darin blieben unversehrt.

Wo waren Melkom und die anderen?

Cameron versuchte, auf die Beine zu kommen, doch eine plötzliche Druckwelle warf ihn zur Seite und gegen eine Mauer. War die Drohne mit einem Deformator ausgestattet? Aus dem Unterricht wusste Cameron, wie solche Waffen funktionierten und was sie bewirken konnten. Sie veränderten das lokale Raum-Zeit-Gefüge und erzeugten superstarke fluktuierende Gravitationsfelder, die das Ziel deformierten und zerrissen. Bei einem Deformatorentreffer gab es keine leichten oder schweren Verletzungen. Man wurde zerfetzt. Es bedeutete den sicheren Tod.

»Kora, Deformator!«, rief er in den Staub und in seinen Kommunikator. »In Deckung bleiben, volle Tarnung!«

Er wollte seine Tarnkappe einschalten, aber das System reagierte nicht. Er blieb sichtbar, für Augen und Sensoren.

Auf allen vieren kroch er so schnell er konnte an den Mauerresten vorbei und schlüpfte in die Lücke zwischen zwei großen, rissigen Steinblöcken. Der Schmerz im Rücken erinnerte ihn an den Splitter, der ihn getroffen hatte. Vielleicht war dabei die Tarnvorrichtung beschädigt worden.

Hinter ihm donnerte und krachte es. Cameron richtete den Variator nach oben und feuerte mehrere Mikroraketen ab, die im Schirmfeld der nächsten Drohne explodierten. Einige weitere näherten sich, dunkle Käfer in Staub und Rauch.

Wo blieben Melkom und seine Gruppe?

Vielleicht, dachte Cameron, war ein weiteres Ablenkungsmanöver nötig.

In Bewegung bleiben, erinnerte er sich an Grindels Worte. Schnell sein. Nie lange an einem Ort verharren, dem Feind kein stationäres Ziel bieten. Cameron achtete nicht auf das Stechen im Rücken, nahm seine ganze Kraft zusammen, sprang hinter den beiden Steinblöcken hervor und schoss erneut. Er wartete nicht ab, um zu sehen, was die Variator-Projektile und Energiestrahlen bei der ersten Drohne ausrichteten, lief geduckt zwischen den Trümmern und änderte immer wieder die Richtung. Gleichzeitig sendete er Statussignale mit Telemetrie und Kommunikator. Damit war er wie ein feuriges Fanal in der Finsternis, für niemanden zu übersehen.

Cameron verlor keine Zeit damit, einen Blick über die Schulter zu werfen. Er lief und lief, im Zickzack, mit dem Stechen im Rücken und einem Brennen in den Beinen – bis ihm schließlich eine Mauer den Weg versperrte, drei Meter hoch und ohne eine Lücke. Rechts und links türmten sich Schuttberge.

Er drehte sich um.

Vier Drohnen näherten sich ihm, in Schirmfeldblasen gehüllt und mit gestreckten Waffenbeinen. Cameron begriff sofort, dass er nicht die geringste Chance hatte. Der Variator in seiner rechten Hand wirkte plötzlich wie ein nutzloses Spielzeug. Selbst an den Geschützkontrollen einer Plasmakanone wäre er dem Gegner hoffnungslos unterlegen gewesen.

Plötzlich war jemand da, ein menschlicher Wirbelwind wie aus dem Nichts, nur zwei oder drei Meter entfernt. Kora. Sie schoss mit dem Variator, veränderte die Einstellungen ihrer Waffe und schoss erneut. Cameron feuerte ebenfalls und ertappte sich dabei, dass er wieder Hoffnung schöpfte. Doch die war trügerisch, wie er sich sogleich ermahnte, selbst zu zweit konnten sie gegen eine solche Übermacht nicht bestehen.

Es flackerte in den türkisfarbenen Schirmfeldern, als Projektile und Mikroraketen verglühten und verdampften, ohne Schaden anzurichten.

Ein Impulser-Blitz schlug dicht vor Kora ein und wirbelte geschmolzene Gesteinssplitter auf. Sie blieb neben Cameron stehen, wich nicht einen Schritt zurück.

Waffenbeine streckten sich nach vorn.

Ein neuer Tod, dachte Cameron. Zusammen mit Kora. Wenigstens würde es schnell gehen. Aber es wartete ein sehr unangenehmes Erwachen an Bord des Ausbildungsschiffs über Uxor auf sie.

Und dann waren sie plötzlich nicht mehr allein.

Fünfzig Meter hinter den Drohnen eröffneten Melkom, Oberon, Tjuscha, Ganto, Palmi und Qurek das Feuer auf die Honta-Drohnen, die ihre Schirmfelder vorn verstärkt hatten, was sie hinten angreifbar machte.

Zwei fielen brennend vom Himmel und zerschellten auf den Trümmern der Stadt. Die dritte platzte über den Ruinen auseinander, und es regnete glühende Trümmer. Die vierte verstärkte ihren Schild und wandte sich den Angreifern zu.

Cameron und Kora schossen und zielten auf die flackernden Stellen des Schirmfelds. Einige Mikroraketen und Sprengprojektile durchschlugen den Schild, explodierten zwischen den Waffenbeinen und zerrissen sie.

Eine Stichflamme loderte gen Himmel.

Zwanzig Sekunden später, als die letzten Trümmerstücke gefallen waren, herrschte sonderbare Stille. Cameron merkte, wie weich seine Knie geworden waren. Es fiel ihm schwer, sich auf den Beinen zu halten.

»Du bist verletzt.« Kora inspizierte seinen Rücken. »Der Splitter sitzt noch drin. Ich ziehe ihn bei drei heraus. Eins … zwei …«

Jäher Schmerz durchzuckte Cameron, so heftig, dass er für einen Moment befürchtete, das Bewusstsein zu verlieren. Kora stützte ihn.

»Du hast nicht bis drei gezählt«, ächzte er.

Sie zeigte ihm wieder ihr schnelles kleines Lächeln. »Kleiner Trick.«

Melkom und die anderen kamen zu ihnen und bejubelten den Sieg mit erhobenen Fäusten.

»Ihr habt euch ziemlich viel Zeit gelassen.« Kora wischte sich Schweiß und Staub aus dem Gesicht. »Ein paar Sekunden mehr, und es wäre um uns geschehen gewesen.«

Melkom grinste. »Der perfekte Zeitpunkt. Nicht zu früh, nicht zu spät.« Er wurde ernst und nickte ihnen beiden zu. »Gut gemacht.«

»Es war reines Glück«, murmelte Qurek weiter hinten.

Cameron achtete nicht auf ihn. »Habt ihr die Königin orten können?«

»Wir wissen, wo sie sich befindet«, antwortete Melkom. »Es sind nur zwei Kilometer von hier.« Er deutete in die entsprechende Richtung.

»Dann bringen wir es hinter uns.« Cameron stapfte los.

3

Sie fanden die Königin in einem halb verschütteten Keller, unter den Mauern eines Gebäudes, das einst besonders groß gewesen sein musste und vielleicht alle anderen überragt hatte. Drohnen hatten einen Teil des Kellers freigelegt, um genug Platz zu schaffen für ein sieben Meter langes Wesen, das aussah wie eine Libelle, mit langen Flügeln und aufgeblähtem halb transparentem Leib, in dem sich auf der einen Seite zahlreiche elfenbeinfarbene Eier zeigten.

Cameron betrachtete das Geschöpf fasziniert, während sich die anderen getarnt in Position brachten. Die Königin wirkte wie ein ins Monströse gewachsenes Insekt, doch aus dem Unterricht wusste er, dass die Honta nicht als Insektoiden galten. Man hatte sie keiner der existierenden Lebensformkategorien hinzugefügt. Die Honta waren die Honta, der Feind, und das genügte, um sie alle zu identifizieren und zu klassifizieren.

Eine Königin konnte Eier legen, aus denen genetisch fast identische Honta schlüpften, jeder von ihnen ein eigenständiges, unabhängiges Individuum mit eigener Intelligenz. Doch wie die Einzelteile eines größeren Ganzen ließen sie sich zusammenfügen zu einer größeren Intelligenz, deren Fähigkeiten fast an die eines Denkers der Streitkräfte heranreichten. Synchronisierte Honta waren extrem gefährlich, das hatte Grindel immer wieder betont.

Cameron fragte sich plötzlich, ob man mit einer Königin sprechen konnte. War das jemals versucht worden? Wenn es tatsächlich möglich wäre, mit einem solchen Geschöpf zu reden, das bei den Honta eine zentrale Rolle spielte … Cameron stellte sich vor, es zu fragen, warum die Honta Menschenwelten angriffen, warum sie Krieg führten.

Im tiefen Kellerloch vor und unter ihm zitterten die Fühler am großen Kopf mit den dunklen Augenringen. Mehrere von ihnen wandten sich in seine Richtung.

Plötzlich fühlte er sie wieder, die Hand seiner Mutter, heiß in der seinen.

Der Wunsch nach Rache stieg in ihm auf und durchströmte ihn wie ein Elixier, das Kraft gab, wenn er sie brauchte. Der Schmerz im Rücken löste sich auf, die Schwäche verschwand aus den Knien, die Hand mit dem wiederaufgeladenen Variator kam nach oben.

Kora hockte neben ihm, das Gesicht ernst wie das eines Soldaten. Auch sie hielt ihre Waffe bereit und wartete auf das Signal.

»Jetzt«, sendete Melkom.

Sie gaben ihre Tarnung auf, erhoben sich und schossen.

Die Königin blieb still, was Cameron seltsam fand. Er hatte mit einem lauten Kreischen gerechnet, wie bei den Simulationen, mit einem zornigen Stampfen der Beine und heftigem Schlagen der Flügel. Aber diese Königin duckte sich nur ein wenig, ihre Fühler auf Cameron gerichtet. Projektile bohrten sich in ihren aufgeblähten Leib, Mikroraketen zerfetzten die Eier, Energiestrahlen verbrannten Haut und Organe.

Die langen Fühler zitterten ein letztes Mal, bevor sie zu Asche zerfielen.

Der dürre Palmi juchzte. Der schweigsame Oberon knurrte. Ganto schwang triumphierend die Faust.

Tjuscha, die schon viermal gestorben war, seufzte erleichtert. »Endlich, wir haben es geschafft.«

Kora sah Cameron an. »Gut gemacht«, sagte sie. »Gut gemacht.«

Melkom hob den Arm. »Der Einsatz ist erfolgreich beendet. Wir kehren zurück.«

 

»Ihr seid nicht schnell gewesen«, sagte Grindel und ging langsam an ihrer Reihe entlang. Sie hatten im Ausbildungsraum Aufstellung bezogen, in Fleisch und Blut, nicht als Simulacren in Kampfanzügen, sondern als lebendige Rekruten in schlichten Uniformen. Durch das große Panoramafenster hinter Grindel, ihrem Kommandanten und Vater, konnte man den Planeten Uxor sehen, einst Heimat eines intelligenten Volkes, das kaum etwas vom Universum gewusst und sich selbst ausgelöscht hatte. »Ihr habt keinen Rekord gebrochen. Einige von euch sind mehrmals gestorben.«

Sein Blick traf Cameron, der ihm nicht auswich. Ein knappes Nicken, dann ging Grindel weiter.

»Aber ihr habt den Einsatz zu einem erfolgreichen Ende gebracht, innerhalb des vorgesehenen Zeitrahmens«, ertönte erneut seine knarrende Stimme. »Und ihr seid vollständig geblieben.«

Er erreichte das Ende der Reihe, drehte sich um und stapfte erneut langsam an ihnen vorbei. Vor dem großen Melkom blieb er stehen und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Es war deine Gruppe, es war deine Verantwortung. Hiermit ernenne ich dich zum Junior-Kommandanten.«

Er wich zwei Schritte zurück. »Ihr habt einen Tag frei, Rekruten. Übermorgen beginnt die nächste Phase eurer Ausbildung. Wegtreten.«

 

Sie trafen sich auf dem kleinen Freizeitdeck des Ausbildungsschiffs im hohen Orbit über Uxor. Die anderen sprachen über den Simulacrum-Einsatz, über die Suche nach der Königin, den Kampf gegen die Drohnen und das schmerzliche Trauma der erlebten Tode. Cameron blieb lieber allein. Er wollte nicht sprechen, sondern nachdenken, obwohl er nicht genau wusste worüber. Er hatte mit einer unruhigen Wanderung durch den großen Raum begonnen, die ihn schließlich zu einer Holo-Leinwand führte. Dort blieb er stehen, den Kopf voller ungeordneter Gedanken, streckte die Hände nach vorn und beobachtete, wie bunte Linien entstanden.

»Cameron?«

Er ließ die Hände sinken und sah zur Seite. Melkom stand neben ihm, größer und drei Jahre älter, ein Junior-Kommandant.

Cameron nahm Haltung an.

»Lass das«, sagte Melkom. »Es ist nicht nötig. Wir sind wir.« Er zögerte. »Auf Uxor hast du dich geopfert, für unseren Erfolg.«

»Ich bin nicht gestorben.«

»Aber du hättest sterben können, und du wärst es fast. Du hattest recht mit der Königin. Ohne dich hätten wir es nicht geschafft.«

»Kora hat mir geholfen«, sagte Cameron. Er hatte sie gesehen, an einem der Tische, zusammen mit Tjuscha und Palmi.

Melkom hob die Faust. »Ich bin befördert worden, aber es ist vor allem dein Verdienst. Freunde für immer, was auch geschieht.«

Cameron drückte seine Faust gegen die von Melkom. »Freunde für immer«, wiederholte er. Es waren angenehme Worte, sie fühlten sich gut an.

Melkom deutete in die Holo-Leinwand. »Was malst du?«

»Meine Gedanken.«

Der neue Junior-Kommandant betrachtete die wenigen Linien. »Mal sie gut. Mal sie so, dass du sie verstehst.«

Er ging und ließ Cameron allein.

Der blickte in die holographische Leinwand und fragte sich, was die Linien bedeuteten. Sie waren der Anfang von etwas, glaubte er. Erneut streckte er die Hände und ließ sie ihr eigenes Leben führen. Er beobachtete, wie sie den ersten Linien weitere hinzufügten und ein großes, wirres Knäuel schufen.

»Interessant«, kommentierte eine Stimme.

Kora stand an seiner Seite, das Gesicht glatt und sauber, mit Sommersprossen auf Nase und Wangen.

»Sie ist deutlich zu erkennen«, sagte Kora.

»Was?«, fragte Cameron. »Wer?«

Kora zeigte auf das Bild. »Die Königin. Da sind die Flügel, dort die Beine. Und vorn sieht man die Fühler.«

Cameron blinzelte verwundert und inspizierte das Werk seiner Hände. Wenn man den Blickwinkel ein wenig veränderte … dann bildeten die vielen Linien tatsächlich die abstrakte Darstellung einer Honta-Königin, mit langen Fühlern, die sich dem Betrachter entgegenstreckten.

»Du warst sehr mutig auf Uxor«, meinte Kora.

»Du auch.«

Er sah sie an und bemerkte in ihren türkisblauen Augen etwas, das er dort nie zuvor gesehen hatte. Sie schien noch etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber anders. Nach einem ihrer schnellen Lächeln wandte sie sich ab und kehrte zu den anderen zurück.

Cameron starrte in die Holo-Leinwand und fragte sich, warum seine Hände eine Königin gemalt hatten. Und warum ihre Fühler auf ihn zeigten.

Als er den Freizeitraum kurz darauf müde verließ, begegnete er Qurek an der Tür. Er schien auf ihn gewartet zu haben.

»Es war Glück«, flüsterte ihm Qurek zu. »Du hast nur Glück gehabt, dieses eine Mal.«

Du musst überleben

Cameron: 14, 13. April 3240 TerrastandardLuton, 7. Mond des Gasriesen Jovva im Esmerald-System, 4109 Lichtjahre von der Erde entfernt

4

Heißer Wind wehte aus der Wüste, die dort begann, wo die Honta vor fünfundfünfzig Jahren eine Stadt mit mehr als einer Million Einwohnern angegriffen hatten, das Zentrum der menschlichen Kolonie. Es war nichts von ihr übrig. Eine Mikrosingularität hatte einen Teil von Luton gefressen und ein zehn Kilometer breites und fast ebenso tiefes Loch hinterlassen. Es grenzte an ein Wunder, dass nicht die ganze Welt in den gierigen Gravitationsschlund gestürzt war.

»Dies ist die letzte Möglichkeit«, ertönte Grindels knarrende Stimme. Er war noch immer ihr Vater, aber schon seit zwei Jahren kein Kommandant mehr, sondern Kommandeur. Fünfzig Trupps standen unter seinem Befehl, fünftausend Soldaten. Es hieß, dass ihn bald eine Beförderung zum General der Stufe Eins erwartete. Dann würde er die Streitkräfte von ganz Luton kommandieren. »Noch kannst du es dir überlegen. Du hättest noch zwei Jahre Zeit, bis du dich dem Kampf stellen musst.«

Cameron sah zu den anderen, die zwei Dutzend Meter entfernt warteten. Ihre Präsenz sollte ihm Mut machen. So war es Tradition, und so gebot es die Freundschaft.

Melkom stand dort, inzwischen sogar größer als Grindel und in seiner Bekkta-Uniform. Er hatte den Kampf vor einem Jahr hinter sich gebracht und war dabei verwundet worden. Einen ganzen Monat lang hatte er die Narben voller Stolz getragen.

Oberon und Tjuscha standen links neben ihm und hoben die Faust zum Gruß. Oberon war noch immer still und schweigsam, aber durch die besondere Freundschaft mit Tjuscha wirkte er etwas weniger traurig. Und Tjuscha war trotz ihrer zwölf Jahre kein Kind mehr, das sah man ihr an.

Ganto, der zusammen mit Palmi rechts neben Melkom stand, wurde erst in einigen Monaten vierzehn. Ihm blieb noch Zeit, er hatte sich noch nicht entschieden. Das galt erst recht für den elfjährigen Palmi, der nicht mehr ganz so dürr war. Er trainierte oft und hart, um die Knochen zu stärken und mehr Muskeln zu bekommen.

Ein wenig abseits stand Qurek, ein Jahr jünger als Bekkta Melkom mit seinen siebzehn Jahren. Ein Schatten schien in seinem Gesicht zu liegen, etwas Dunkles, das selbst im hellen Sonnenschein nicht von ihm wich. Für ihn ging die Übergangsphase am nächsten Tag zu Ende.

Sechzehn Jahre. Das war die Grenze. Zwischen Rekruten und Soldaten. Zwischen Kind und Erwachsenem. Manchmal auch zwischen Leben und Tod.

Der Kampf gegen einen echten, lebenden Honta. Als echter, lebender Mensch, nicht als Simulacrum. Wer siegte, bewies damit, dass er einen Platz als Kämpfer in den Vereinten Streitkräften verdiente. Wer verlor, bekam ein Ehrengrab und für den Namen einen Platz auf der Anerkennungsliste.

Sechzehn Jahre.

Cameron war vierzehn. Damit öffnete sich die Tür für ihn. Er konnte wählen, er konnte entscheiden. Mit sechzehn wurde Pflicht daraus.

Wie für Qurek, der einen finsteren Blick auf Cameron richtete. Fühlte er sich von ihm beiseitegedrängt? Glaubte er, nicht die verdiente Aufmerksamkeit zu bekommen, weil Cameron entschieden hatte, an diesem Tag den Kampf zu führen?

Es war schwer, Qurek zu verstehen. Oft genug verhielt er sich wie ein Außenseiter, dann wiederum schien er unbedingt im Mittelpunkt stehen zu wollen.

Cameron war überzeugt, dass er besondere Narben trug, nicht im Gesicht wie Grindel, sondern tief in seinem Innern, in seiner Seele, dort, wo sie am meisten schmerzten. Er wurde ihn nicht los, den Schmerz von Harkonia. Er versuchte, ihn irgendwie zu betäuben.

Und er hatte Angst, das spürte Cameron. Qurek fürchtete, den eigenen Erwartungen nicht zu genügen, vor sich selbst zu versagen. Was die Schmerzen in seinem Innern vielleicht noch schlimmer machte.

Cameron nickte ihnen allen zu, auch Qurek, der daraufhin den Blick senkte.

Kora fehlte. Er hatte gehofft, dass sie ihn zum Kampf verabschiedete, aber sie war nicht da.

Er sah zum Himmel hoch, den heißen Wüstenwind im Gesicht. Der Gasriese Jovva nahm den größten Teil des Firmaments ein, umkreist von einundsechzig Monden, unter ihnen Luton, fast so groß wie die Erde. Auf einigen der anderen Monde hatte es noch bis vor zwanzig Jahren verborgene Stützpunkte der Honta gegeben, aber die Streitkräfte hatten sie gefunden und zerstört. Inzwischen befand sich das strategisch wichtige Esmerald-System wieder fest in menschlicher Hand. Von hier aus war es nicht weit bis zu den Ophiuchus-Abbreviatoren, einer von ihnen groß genug für den Transfer von Trägern und Mutterschiffen.

»Nun?«, fragte Grindel sanft.

Kora ist nicht da, dachte Cameron und sagte: »Ich habe es mir gut überlegt. Heute ist mein Tag. Ich werde kämpfen.«

Vor ihm trennte eine weiße Linie das Lager mit den Baracken von einigen Felsenhügeln. Einer von ihnen wies eine große Öffnung auf, Zugang zu einer Höhle. Hinter der Linie standen mehrere Schirmfeldgeneratoren, und auf einem kleinen Podest lagen Ausrüstungsgegenstände.

Grindel trat zur Seite. »Es ist deine Entscheidung, es ist dein Tag«, erwiderte er förmlich. »Wenn du nach einer halben Stunde nicht zurückgekehrt bist, holen wir deinen Leichnam.«

Dann lächelte er plötzlich und fügte hinzu: »Oh, da kommt jemand für dich.«

Cameron wandte den Kopf.

Kora lief an Melkom und den anderen vorbei auf ihn zu. Ihre türkisfarbenen Augen schienen zu leuchten.

Ein wenig außer Atem blieb sie stehen und wandte sich an Grindel. »Darf ich?«

Er nickte.

Kora trat zu Cameron. »Ich habe etwas für dich.« Sie reichte ihm eine silberne Scheibe, nur ein wenig größer als sein Daumennagel. »Das ist ein Memo-Medaillon. Von mir, für dich. Es soll dir Glück bringen.«

Er drehte das Medaillon einige Male hin und her, bevor er es einsteckte. »Danke.«

Kora trat ganz nahe an ihn heran und flüsterte: »Du musst überleben.«

Dann hauchte sie ihm einen Kuss auf die Wange, ging mit langen Schritten zu Melkom und den anderen und reihte sich bei ihnen ein.

Cameron sah ihr verwundert nach.

»Eine halbe Stunde«, sagte Grindel streng. Und dann, etwas sanfter: »Gib gut auf dich acht, mein Sohn.«

5

Cameron trat über die Linie, und sofort veränderte sich das Brummen der Schirmfeldgeneratoren. Ein Schild entstand hinter ihm, transparent wie Glas, und machte eine Rückkehr unmöglich. Er ging zu dem kleinen Podest mit den Ausrüstungsgegenständen. Zwei Variatoren lagen dort, der eine klein und leicht, keine Behinderung bei schnellen Bewegungen, aber mit begrenzter Feuerkraft. Der andere war groß und schwer, ausgestattet mit vollen Magazinen für Sprengprojektile und Mikroraketen. Damit ließ sich viel ausrichten, auch gegen einen gepanzerten oder von Schirmfeldern geschützten Feind. Doch in diesem besonderen Fall bekam er es mit einem ungepanzerten, ungeschützten Gegner zu tun. Der Honta in der Höhle trug keinen Schild, und er war auch nicht bewaffnet. Er gehörte zu den Gefangenen, die ein Transporter vor wenigen Tagen gebracht hatte, für die Ausbildungslager auf Luton. Sie stammten von Vizza beim Lolkoniaschen Ring, vierzehn Lichtjahre entfernt, wo vor wenigen Wochen ein heftiges Gefecht stattgefunden hatte.

Mit dem großen Variator wäre ein solcher Feind leicht zu töten gewesen, wenn man keine eklatanten Fehler machte. Cameron wusste, dass die meisten Rekruten diesen Weg gingen, weil sie am Leben bleiben und es möglichst leicht haben wollten.

Unter den beiden Variatoren lag ein leichtes Exoskelett, auf nackter Haut zu tragen für einen guten physischen Kontakt mit den Sensoren und Stimulatoren. Es verbesserte die Ausdauer, und die kleinen Servomotoren gaben jeder Bewegung zusätzliche Kraft. Für einen Moment spielte Cameron mit dem Gedanken, die schlichte Rekrutenuniform auszuziehen und das Exoskelett überzustreifen, doch dann entschied er sich dagegen.

Bevor er eine bewusste Entscheidung treffen konnte, griff die rechte Hand nach dem Vibromesser, dem letzten Gegenstand auf dem Podest. Zusammen mit dem Verzicht auf das Exoskelett bedeutete es den schweren Weg, und so fühlte es sich richtig an.

Zwei Minuten waren vergangen. Cameron wandte sich dem Höhleneingang zu. Auch dort gab es ein Schirmfeld, ebenso klar wie das hinter ihm und ohne visuelle Hilfsmittel schwer zu erkennen. Es würde verschwinden, wenn er sich dem Zugang bis auf drei Meter näherte.

Keine Sensoren. Keine Blend- oder Betäubungsgranaten. Nur das Messer gegen die Krallen des Honta.

Du musst überleben. Wie hatte Kora das gemeint?

Natürlich wünschte sie sich, dass er überlebte, so wie es ihm die ganze Rekrutengruppe wünschte, vielleicht mit Ausnahme von Qurek. Immerhin waren sie Freunde. Aber ihre Stimme hatte anders geklungen als sonst, und sie hatte ihn anders angesehen.

Vier oder fünf Meter vor dem Höhleneingang zögerte er, das Vibromesser in der rechten Hand, und holte mit der linken das Memo-Medaillon hervor. Als er mit dem Daumen darüberstrich, erschien Koras Bild auf der einen Seite und sein eigenes auf der anderen. Die Lippen der Kora auf dem Medaillon bewegten sich. »Ich bin bei dir«, sagte sie leise, nur für ihn.

Drei Minuten. Oder waren es bereits vier? Er ließ kostbare Zeit ungenutzt verstreichen.

Cameron steckte das Memo-Medaillon ein, schloss die Finger der rechten Hand etwas fester um den Griff des Vibromessers und näherte sich der Höhle.

Das Schirmfeld im Zugang verschwand.

Cameron hörte ein Zischen in der Dunkelheit vor ihm. Der Honta wusste, dass jemand kam, um ihn zu töten.

 

Zwei Schritte weit in der Höhle blieb Cameron stehen und lauschte. Es war so still, dass er den eigenen Atem viel zu laut hörte. Sein Herzschlag wurde zu einer Trommel, die immer schneller schlug, das Rauschen des Bluts füllte seine Ohren.

Plötzlich bereute er, auf das Exoskelett mit den Servomotoren verzichtet zu haben und ebenso auf den großen Variator. Beim Kampf gab man Vorteile nicht freiwillig auf. So etwas war dumm. Sieg oder Niederlage, nur darauf kam es an. Man benutzte alle zur Verfügung stehenden Mittel, um siegreich zu sein und am Leben zu bleiben.

Du musst überleben.

Cameron trat einen weiteren Schritt vor.

»Ich bin gekommen, um dich zu töten«, sprach er laut in die Dunkelheit, die so dunkel nicht mehr war, weil sich seine Augen daran gewöhnten.

Kratzende und schabende Geräusche drangen aus den Schatten weiter vorn, gefolgt von einem leisen Knurren.

Cameron duckte sich, die Sinne gespannt. Er erwartete einen Angriff.

Nichts geschah. Er wartete noch einige Sekunden länger, setzte dann langsam einen Fuß vor den anderen und hörte das verräterische Knirschen von Sand und kleinen Steinen unter seinen Stiefeln. Honta konnten gut sehen und noch besser hören, außerdem fühlten sie mit ihren Beinen Vibrationen des Bodens. Es gab keine Möglichkeit, diesen Honta zu überraschen.

Vor Cameron verbreiterte sich der schmale Durchgang. Die Wände wichen zurück, es gab mehr Platz, und ein wenig Licht fiel durch eine kleine Öffnung in der Decke. Die Arena. Der Ort, der über Leben und Tod entschied.

Er war ganz plötzlich da, der Honta. Er sprang aus dem Schatten und ragte vor Cameron auf, oder er war ein Schatten, der plötzlich Substanz und Gestalt gewann. Ein Knochenbein schlug nach ihm, und Cameron reagierte nicht schnell genug – das Bein streifte seinen linken Arm, riss den Uniformärmel auf und hinterließ einen blutigen Striemen, der von der Schulter bis fast zum Handgelenk reichte.

Cameron schnitt eine Grimasse und begann mit einem Tanz, der ihn zu einem schwerer zu treffenden Ziel machen sollte. Gelegentlich wagte er einen Vorstoß und stach mit dem Vibromesser zu, aber nicht einziges Mal gelang es ihm, mit der Klinge den Körper des Gegners zu erreichen. Der Honta wich immer viel zu schnell aus.

Es handelte sich um ein mittelgroßes Exemplar mit einer Körperlänge von knapp drei Metern, bedeckt von einem feuerroten Panzer, der aus einzelnen Segmenten bestand, jedes davon zwischen zwanzig und dreißig Zentimeter groß. Die vorderen Knochenbeine wiesen scharfe Kanten auf, die mittleren und hinteren waren mit scheußlichen Widerhaken versehen, die ihr Opfer nicht mehr losließen, wenn sie es einmal gepackt hatten. Der dreieckige Kopf mit den dunklen Augenringen starrte aus einer Höhe von mehr als zwei Metern auf Cameron herab, nur durch einen Sprung erreichbar.

Er warf sich nach vorn und schwang dabei den Arm mit dem Messer, aber die Klinge verfehlte das anvisierte Bein um wenige Zentimeter. Nach der langen Gefangenschaft hätte der Honta müde und entkräftet sein sollen, doch das schien nicht der Fall zu sein – er war noch immer sehr schnell und agil.

Das Geschöpf senkte den Kopf ein wenig und fauchte. Cameron glaubte, Worte zu hören. Sie klangen wie: »Wer bist du?«

Er wich zurück und schnappte nach Luft. »Hast du gesprochen?«, fragte er verblüfft.

Der Honta senkte den Kopf und fauchte erneut. Diesmal waren die Worte besser zu verstehen. »Wer bist du?«, zischte er. »Warum willst du mich töten?«

»Du bist der Feind.« Ein Trick, dachte Cameron. Ein Ablenkungsmanöver, das ihn verwirren sollte. Aber es gab ihm auch eine Chance.

»Ich bin hier gefangen«, zischte der Honta und streckte ihm die Vorderbeine entgegen. »Ich habe dir nichts getan.«

»Ihr habt meine Mutter umgebracht!«

Da war er wieder, der kalte Zorn, den er seit Harkonia tief in sich trug, ein Quell der Kraft. Er vertrieb den Schmerz aus dem blutenden linken Arm und das Brennen aus den Muskeln. Er schärfte den Blick und zeigte ihm das notwendige Bewegungsmuster.

Cameron warf sich nach vorn und hob das Messer, als hätte er es damit auf den Kopf des Honta abgesehen. Doch im letzten Augenblick wandte er sich zur Seite, fort vom dreieckigen Kopf, richtete sich ganz auf und stieß das Vibromesser in die eine schwache Stelle am Unterleib, in die schmale Lücke in der Panzerung zwischen den beiden vorderen Knochenbeinen.

Aus dem Fauchen des Honta wurde ein Kreischen. Er kippte zur Seite, krümmte die Beine und versuchte, Cameron mit ihnen zu ergreifen. Aber der wich ihnen aus und drehte das Messer, hielt es auch mit der Hand des verletzten linken Arms. Er zog es erst aus der klaffenden Wunde, als der Honta auf der Seite lag, duckte sich damit an den zuckenden Beinen vorbei und rammte es in den Knorpelwulst, der Kopf und Körper miteinander verband. Schwefelgelbe ölige Flüssigkeit quoll aus der tödlichen Wunde.

Der sterbende Honta zischte erneut. »Du bist tot«, verstand Cameron. »Du bist tot.«

Die Beine krümmten sich und zuckten ein letztes Mal. Der dreieckige Kopf sank in den Sand.

Der Honta rührte sich nicht mehr.

Cameron wich von ihm zurück. »Nein, du bist tot«, krächzte er.

Mit Beinen, die noch immer voller Kraft steckten, verließ er die Höhle und hob draußen das blutige Messer, damit es alle sahen.

6

Am nächsten Tag wartete Cameron, mit vierzehn Jahren zum Soldaten geworden, zusammen mit den anderen auf die Rückkehr von Qurek. Er stand neben Melkom, am linken Arm einen Verband mit Synth-Haut, und blickte durch den glasklaren Schild zum Hügel mit der Höhle. Wie tags zuvor wehte ein heißer Wind aus der Wüste, und über ihnen bedeckte der Gasriese Jovva fast den ganzen Himmel. Man konnte einige der anderen Monde erkennen, wie sie langsam über Jovvas cremefarbene Wolkenbänder wanderten.

Beim Hügel regte sich nichts. Fünfundzwanzig Minuten waren bereits vergangen, und Qurek war noch immer nicht aus der Höhle zurückgekehrt. Auch er hatte auf das Exoskelett verzichtet, nicht aber auf den großen Variator.

»Wir hören nichts«, flüsterte Melkom. »Wegen des Schirmfelds. Auch wenn er schießt, wir hören nichts davon.«

Cameron sah aufs Chrono. Nur noch vier Minuten.

Grindel stand einige Meter entfernt, neben Ganto, Oberon und Palmi, das narbige Gesicht unbewegt. Er machte sich Sorgen, da war Cameron sicher, aber man sah es ihm nicht an. Einige Meter entfernt überprüften zwei Infanteristen ihre Waffen und ein Mediker seine Notfallausrüstung.

Als die letzte Minute anbrach, taumelte Qurek blutüberströmt aus der Höhle und wollte den Variator heben, zum Zeichen des Sieges. Doch er schaffte es nicht ganz, die Kraft verließ ihn, und er brach zusammen.

 

Im Lazarett des Ausbildungslagers saß Cameron zusammen mit den anderen im Flur, während sich die Mediker um Qurek kümmerten. Als Grindel das Behandlungszimmer verließ, erwarteten alle eine Erklärung von ihm, aber er sagte nicht, wie es um Qurek stand.

»Bekkta Melkom und Soldat Cameron zuerst, anschließend die Rekruten, einer nach dem anderen.« Er seufzte fast unhörbar. »Seid leise, stört ihn nicht.«

Cameron folgte Melkom durch die Tür. Qurek lag in einem Behandlungstank, der ihn ganz umschloss, bis hinauf zum Hals. Wie es um seinen Körper stand, ließ sich nicht erkennen, denn es gab keine Fenster im Tank, nur medizinische Indikatoren und Displays. Synth-Haut bedeckte einen Teil des Gesichts, die Augen waren geschlossen.

Cameron begriff plötzlich, warum man ihnen gestattete, den schwerverletzten Qurek zu besuchen. Sie sollten Gelegenheit erhalten, Abschied von ihm zu nehmen.

Am oberen Ende des Tanks blieben sie stehen und blickten auf das Gesicht hinab.

Plötzlich öffnete Qurek die Augen.

»Ich habe es geschafft«, sagte er überraschend deutlich. »Fast hätte mich der Honta erwischt, aber ich habe ihn besiegt und getötet.«

»Das hast du«, bestätigte Cameron leise, obwohl sie wussten, dass der Honta am Leben geblieben war – die beiden Infanteristen hatten ihn erschossen. »Du hast gut gekämpft, besser als ich.«

Qurek schloss die Augen wieder und schien einzuschlafen. Melkom und Cameron blieben noch eine Minute, dann verließen sie den Raum, damit die anderen zu ihm konnten.

Eine Stunde später starb Qurek.

 

Am Abend, als Jovva fast ganz hinter dem westlichen Horizont verschwunden war und erste Sterne am Himmel erschienen, kam Kora zu Cameron. Er saß auf einem Felsen am Rand des Ausbildungslagers und rückte ein wenig zur Seite, damit sie sich neben ihn setzen konnte.

»Es tut mir leid um ihn«, sagte sie und sah mit ihm zum Himmel hoch.

»Er glaubte, den Honta besiegt zu haben. Damit ist er gestorben.«

»Du hast ihn in diesem Glauben bestätigt.« Kora fügte hinzu: »Melkom hat es uns erzählt.«

»Dadurch wurde es leichter für ihn«, erwiderte Cameron.

»Du denkst oft an andere. Denkst du auch an dich?«

Er sah sie an und versuchte zu verstehen, was sie meinte.

»Du hast es nur mit dem Messer geschafft«, sagte sie. »Grindel hat dich gelobt.«

Das Memo-Medaillon fiel ihm ein. Er holte es hervor und strich mit dem Daumen darüber, woraufhin ihre Gesichter erschienen, Koras auf der einen Seite und seins auf der anderen.

»Ich bin nicht allein gewesen«, sagte er halb im Scherz. »Du warst bei mir.«

»Ich bin es immer noch.« Als Cameron nicht reagierte, deutete sie auf das Medaillon. »Was meinst du? Was sagst du dazu?«

Cameron glaubte zu verstehen und bot ihr die Faust an. »Freunde für immer, was auch geschieht.«

Kora zögerte und sah ihm einige Sekunden lang in die Augen, wie auf der Suche nach etwas. Dann hob sie die eigene Faust und berührte seine damit. »Ja, Freunde für immer, was auch geschieht.«

Aber sie schien enttäuscht zu sein, als hätte sie mehr erwartet.

Freunde für immer

Cameron: 14–17, 3240–3243 TerrastandardIn der Liga

7

Die Winde des Krieges verstreuten die Überlebenden von Harkonia in der Galaxis. Bekkta Melkom und Soldat Cameron setzten ihre Ausbildung in einer Reserveeinheit am Rand des Kerns fort, bei den »Grauen Truppen«, deren Aufgabe darin bestand, das Zentrum der Menschheit zu schützen. Sie lernten den Umgang mit Kwix, indem sie vorübergehend zu Spezialisten wurden, die beim Erkunden von Brücken und dem Bau von Abbreviatoren halfen. Oder indem sie für einige Tage in die Rolle von militärischen Wissenschaftlern schlüpften und einen Beitrag für die Weiterentwicklung von Waffensystemen leisteten.

Melkom entdeckte dabei sein Interesse an der hyperdimensionalen Natur der Brücken, die von Abbreviatoren genutzt werden konnten, um Raumschiffe viel weiter und schneller zu transferieren, als es mittels der Superpositionatoren von Fluidal-Schiffen möglich gewesen wäre, die nur einige Lichtjahre pro Tag zurücklegen konnten und deren Reichweite auf einige hundert Lichtjahre beschränkt blieb. Er entschied sich schließlich für eine Laufbahn bei den technischen Spezialisten der Streitkräfte und wurde mit nur zwanzig Jahren einer ihrer jüngsten Kommandanten.

Cameron blieb bei der Infanterie. In Raumschiffen fühlte er sich nicht wirklich unwohl, solange er nicht zu viel Zeit in ihnen verbringen musste. Doch überall gab es Wände, die Sicht und Bewegungsfreiheit einschränkten, und er liebte das Weite, die fernen Horizonte. Planetare Einsätze bescherten ihm zudem direkte Konfrontationen mit dem Feind, bei denen er nicht nur mit einem Vibromesser kämpfte. Sein Wagemut verschaffte ihm bald den Ruf, ein besonders tapferer Soldat zu sein, der sich nicht scheute, immer wieder sein Leben aufs Spiel zu setzen. Er blieb gern für sich, und wer das Privileg seiner Freundschaft gewann, berichtete von einem seltsamen jungen Mann, der dazu imstande schien, die Welt mit den Augen – den Augenringen – eines Honta zu sehen. Und der sich offenbar nach dem Tod sehnte, nach Erlösung von dem kalten Feuer, das in ihm brannte.

Das mit dem kalten Feuer stimmte, aber es war keine Last, keine Bürde, sondern eine unversiegbare Quelle der Kraft. Immer wenn er müde wurde oder zu zweifeln begann, wenn ihm die Erinnerung das Wer bist du? Warum willst du mich töten? des ersten getöteten Honta zuflüsterte, dachte er an die Hand seiner Mutter, die er festgehalten hatte, obwohl sie so heiß gewesen war, dass sie ihm die Haut verbrannte. Dann verschwanden Müdigkeit und Zweifel aus ihm und wichen neuer Entschlossenheit. Todessehnsucht kannte er nicht, ganz im Gegenteil: Er wünschte sich, möglichst lange gegen die Honta kämpfen zu können.

Wie er es anstellte, die Dinge aus der Perspektive des Feindes zu sehen, sich in seine Lage zu versetzen und seine Aktionen vorauszuahnen, blieb ihm selbst ein Rätsel. Vielleicht war es diese besondere Fähigkeit gewesen, die es ihm ermöglicht hatte, den Honta in der Höhle auf Luton nur mit einem Vibromesser bewaffnet zu besiegen. Er erinnerte sich daran, ein Bewegungsmuster erkannt und danach gehandelt zu haben. Ein Fenster hatte sich geöffnet und ihm für einen Moment gezeigt, wie der Honta agieren würde. Es war wie ein kleiner, kurzer Blick in die Zukunft gewesen.

Bei strategischen Planungen fiel Soldat Cameron durch besonderes Geschick auf, und es dauerte nicht lange, bis man ihn zum Bekkta beförderte und dem strategischen Korps zuwies. Das bedauerte er einerseits, bedeutete es doch seine Teilnahme an mittel- und langfristigen strategischen Planungen, was ihn an Einsätzen auf Planeten hinderte. Andererseits erhielt er dadurch die Möglichkeit, dem Feind noch mehr zu schaden, ihm noch empfindlichere Schläge zu versetzen.