Spreemörder - Sandra Hausser - E-Book

Spreemörder E-Book

Sandra Hausser

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  • Herausgeber: Midnight
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Eine Mordserie, die bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs reicht  Die Kripo Berlin fischt kurz nacheinander die Einzelteile zweier weiblicher Leichen aus der Spree. Die Ermittler Thilo Franz und Dirk Meister ahnen, dass sich ein kaltblütiger Mörder in ihrer Stadt herumtreibt. Als der eingeschaltete Rechtsmediziner prognostiziert, dass der Täter über ausgereifte medizinische Kenntnisse verfügt und entsprechend intelligent sein muss, vermuten die Polizisten das Schlimmste. Vor ihnen tun sich die Abgründe eines Falls auf, dessen Ursprünge bis in den Zweiten Weltkrieg reichen. Doch ist der vermeintliche Serienmörder überhaupt noch aufzuhalten? Von Sandra Hausser sind bei Midnight by Ullstein erschienen: Tod auf leisen Pfoten (Rhein-Main-Krimi 1) Cold Case - Spurlos (Rhein-Main-Krimi 2) Düstere Rache (Rhein-Main-Krimi 3) Spreemörder (Ein Berlin-Krimi)

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Spreemörder

Die Autorin

Sandra Hausser, geboren 1969 in Rüsselsheim, lebt mit ihrer Familie in Raunheim und arbeitet in einer Arztpraxis. Das Schreiben begleitet sie seit ihrem vierzehnten Lebensjahr. Aus einer Leidenschaft für Tagebucheinträge und Kurzgeschichten ist inzwischen mehr geworden. 1999 gewann die Autorin den zweiten Preis im Literaturwettbewerb Stockstadt mit anschließender Veröffentlichung in der Anthologie des Jahres. Damit war ihr Ehrgeiz geweckt, und sie wagte sich an ihren ersten Kriminalroman.

Das Buch

Eine Mordserie, die bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs reicht

Die Kripo Berlin fischt kurz nacheinander die Einzelteile zweier weiblicher Leichen aus der Spree. Die Ermittler Thilo Franz und Dirk Meister ahnen, dass sich ein kaltblütiger Mörder in ihrer Stadt herumtreibt. Als der eingeschaltete Rechtsmediziner prognostiziert, dass der Täter über ausgereifte medizinische Kenntnisse verfügt und entsprechend intelligent sein muss, vermuten die Polizisten das Schlimmste. Vor ihnen tun sich die Abgründe eines Falls auf, dessen Ursprünge bis in den Zweiten Weltkrieg reichen. Doch ist der vermeintliche Serienmörder überhaupt noch aufzuhalten?

Von Sandra Hausser sind bei Midnight by Ullstein erschienen:Tod auf leisen Pfoten (Rhein-Main-Krimi 1)Cold Case - Spurlos (Rhein-Main-Krimi 2)Düstere Rache (Rhein-Main-Krimi 3)Spreemörder (Ein Berlin-Krimi)

Sandra Hausser

Spreemörder

Ein Berlin-Krimi

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

Originalausgabe bei MidnightMidnight ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinJuli 2019 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019Umschlaggestaltung:zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privatE-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95819-261-4

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Berlin, Eichenallee

Gemeindepark Lankwitz

Insel Nistwerder

Kellerraum

Insel Nistwerder

Henok

Insel Nistwerder

Polizeidirektion 4 Südwest

Kellerraum

Eichenallee

Polizeidirektion 4 Südwest

Insel Nistwerder

Henok

Polizeidirektion 4 Südwest

Parkhaus Karstadt, Schulstraße

Ufer der Spree

Psychotherapeutische Praxis

Kellerraum

Ufer der Spree

Gemeindepark Lankwitz

Insel Nistwerder

Henok

Polizeidirektion 4 Südwest

Eichenallee

Charité, Institut für Rechtsmedizin

Psychotherapeutische Praxis

Wohnung von Reinhard Fuchs

Kellerraum

Eichenallee

Polizeidirektion 4 Südwest

Am Schäfersee 23, Wohnung Larissa Finke

Büro von Thilo Franz

Eichenallee

Matthias

Kellerraum

Polizeidirektion 4 Südwest

Charité, Institut für Rechtsmedizin

Eichenallee

Polizeidirektion 4 Südwest

Insel Nistwerder

Gemeindepark Lankwitz

Kellerraum

Eichenallee

Polizeidirektion 4 Südwest

Insel Nistwerder

Kellerraum

Polizeidirektion 4 Südwest

Im Zivilfahrzeug der Kripo

Eichenallee

Insel Nistwerder

Im Rettungswagen

Reinhard Fuchs

Eichenallee

Insel Nistwerder

Sankt-Joseph-Krankenhaus

Verfolgung des Taxis

Insel Nistwerder

Tempelhof, Hessenring

Sankt-Joseph-Krankenhaus

Eichenallee

Polizeidirektion 4 Südwest

Insel Nistwerder

Matthias

Sankt-Joseph-Krankenhaus

Eichenallee

Insel Nistwerder

Alois

Eichenallee

Sankt-Joseph-Krankenhaus

Insel Nistwerder

Eichenallee

Polizeidirektion 4 Südwest

Auf dem Weg nach Nistwerder

Insel Nistwerder

Alois

Eichenallee

Insel Nistwerder

Polizeidirektion 4 Südwest

Insel Nistwerder

Videokonferenz

Alois

Insel Nistwerder

Eichenallee

Matthias

Insel Nistwerder

Alois

Eichenallee

Urban-Klinikum

Insel Nistwerder

Urban-Klinikum

Eichenallee

Insel Nistwerder

Urban-Klinikum

Insel Nistwerder

Urban-Klinikum

Matthias

Insel Nistwerder

Urban-Klinikum

Direktion 3 – Kriminalpolizei

Landgericht

Epilog

Danksagung

Leseprobe: Tod auf leisen Pfoten

Empfehlungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Berlin, Eichenallee

Widmung

Für Conny und Holger,euer Haus und die Nordseeluft wecken die Muse im Handumdrehen.

Für Ingrid,die mir gezeigt hat, dass es Leute gibt, die einen ins Herz schließen, bevor man sie das erste Mal getroffen hat. Danke, das hat mein Wochenende in Köln gerettet.

Außerdem für meine Berlin-Fraktion, die mir bewiesen hat, dass man die Stadt Berlin einfach lieben muss .

Spruch

Gift in den Händen eines Weisen ist ein Heilmittel. Ein Heilmittel in den Händen des Toren ist Gift.

Giacomo Casanova

Berlin, Eichenallee

Der Geruch von versengter Haut und Erbrochenem schwängerte die abgestandene Kellerluft, als er die Tür zum Laboratorium öffnete. Er beglückwünschte sich ein weiteres Mal dazu, einer Familie anzugehören, in der Geld keine Rolle spielte. Die Chance, dass seine Eltern einen der Kellerräume der Stadtvilla betraten, ging praktisch gegen null. Falls sie doch einmal die Treppen nach unten kommen würden, hatte er Vorkehrungen getroffen. Das Labor verfügte über ausreichende Sicherheitsvorkehrungen, um Unbefugten den Zutritt zu verwehren. Die Montage der elektronisch verriegelten Tür mit Codesicherung hatte er sich eine Stange Geld kosten lassen. Jedes Mal, wenn seine Eltern einen ihrer zahlreichen Urlaube antraten, nutzte er die Gelegenheit, um Handwerker und Techniker zu beauftragen, das Refugium im Keller nach seinen eigenen, sehr persönlichen Vorstellungen zu verändern. So hatte er es geschafft, sich mit viel Geduld und Durchhaltevermögen ein Reich zu schaffen, das er für seine ganz individuellen Belange nutzen konnte. Dass der Abgang zum Keller direkt neben der Eingangstür lag, war ein weiterer enormer Vorteil. Es ermöglichte ihm, rasch und unbemerkt hinunterzugelangen, wenn seine Eltern sich im Haus aufhielten.

Die Lider der Frau auf der Pritsche zuckten, als er mit zufriedener Miene eintrat und die Tür mit einem lauten Rumms ins Schloss fallen ließ. Respekt, dachte er amüsiert. Ich hätte nicht geglaubt, dass sie die letzte Versuchsreihe überlebt. Das gibt mir die Gelegenheit, Phase drei zu testen. Mit überraschtem Gesichtsausdruck trat er an die Monitore, warf einen Blick darauf und öffnete die Druckoption am angeschlossenen PC. Achtlos nahm er das Papier aus dem Druckerschacht und heftete es in einen Ordner. Später, beschloss er lächelnd. Zuerst der praktische Teil. Er zog die Instrumentenablage zu sich heran, griff zum Skalpell und setzte, ohne zu zögern, zum Schnitt an. Ein leises Stöhnen entwich den Lippen der Frau, die ansonsten regungslos blieb. Zumindest deine Dosierungsanweisung ist goldrichtig, Urgroßvater. In naher Zukunft beweise ich, dass das, woran du geforscht hast, Hand und Fuß hat. Keine Spinnerei, wie diese Dilettanten es nach Kriegsende hingestellt haben. Und auch mein ignoranter Bruder wird endlich erkennen, dass ich keineswegs einem Geist hinterherjage. Er wird zugeben müssen, dass meine Forschungsarbeit erfolgreich ist.

Zufrieden dachte er an den Tag zurück, als Großmutter ihm das Kästchen aus Uropas Schrank überreicht hatte. »In seinem Vermächtnis hat er verfügt, dass der erste männliche Nachfahre unserer Linie es an seinem vierzehnten Geburtstag erhalten soll.«

»Was ist da drin?«, hatte er Großmutter überrascht gefragt.

»Keine Ahnung. Wir haben nie darüber gesprochen. Ich musste ihm versprechen, nicht hineinzuschauen und es genau nach seinen Anweisungen zu überreichen. Heute ist es so weit. Wenn du möchtest, kannst du mir eines Tages erzählen, was er dir vermacht hat.«

Doch dazu war es nie gekommen. Zu Hause angekommen, hatte er sich im Kinderzimmer eingeschlossen und die Aufzeichnungen seines Urgroßvaters aufmerksam gelesen. Danach fasste er den unumstößlichen Entschluss, alle schulischen Leistungen entschieden zu verbessern, um nach dem Abitur Medizin studieren zu können. Die Unterlagen versteckte er zwischen der Rückwand und den Schubladenkästen des Schreibtisches. Er brannte darauf, seinem Bruder vom Erbe und seinen Plänen zu erzählen, doch der Urgroßvater hatte in dem in krakeliger Handschrift verfassten Brief um Stillschweigen gebeten. Am folgenden Abend beschloss er, zumindest von dem Entschluss zu berichten, in der Schule besser zu werden, um ein Studium beginnen zu können.

»Du schaffst noch nicht einmal den Realschulabschluss. Vom notwendigen Abitur und dem Einser-Numerus-Clausus ganz zu schweigen«, gab der Bruder belustigt zurück und schaute wieder auf den Fernseher.

Damit lagst du ziemlich daneben, Bruderherz, oder? Den Einstieg ins Medizinstudium habe ich geschafft, auch wenn ich drei Wartesemester in Kauf nehmen musste.

Gedankenverloren griff er zu einem chirurgischen Bauchtuch und drückte es unsanft auf die starke Blutung, als die Frau die Augen einen Spaltbreit öffnete.

»Widerwärtiges Monster«, hauchte sie kraftlos. Dann verdrehte sie den Blick und hörte auf zu atmen.

»Verflucht!«, schrie er empört auf. »Musstest du gerade jetzt aufgeben und sterben? Wir waren so dicht dran. So verdammt kurz davor!«, rief er, schleuderte das blutgetränkte Tuch auf den Boden und lief hinaus.

Auf den Stufen nach oben beschloss er, den Kellerraum notdürftig zu reinigen. Oder ich lass das den Junkie erledigen. Für den einen Schuss macht der, ohne zu fragen, alles.

Gemeindepark Lankwitz

Er parkte nahe der Haltestelle Havensteinstraße, stieg aus dem Wagen und ging hastig in die Parkanlage. Angetrieben vom Befehl des Bosses, noch heute Abend passendes Versuchsmaterial zu liefern, sah er sich aufmerksam um. Die Zeit drängte, insbesondere, weil er wertvolle Stunden damit vergeudet hatte, sowohl den Bäkepark als auch den Steglitzer Stadtpark ergebnislos nach potenziellen Kandidaten, die den Wünschen des Chefs entsprachen, abzusuchen. Irgendwo musste dieses heimatlose Gesindel doch zu finden sein.

»Bring mir einen Penner, möglichst groß und einigermaßen gut genährt. Achte darauf, dass er sich nicht in einer Gruppe von Gleichgesinnten aufhält. Es darf kein Aufsehen geben«, hatte der Chef befohlen und ihm Zeit bis heute Abend gelassen. »Denk daran, dass du nur dann ausreichend Stoff von mir bekommst, wenn du pünktlich bist und alle Voraussetzungen erfüllst.«

Oh ja, das wusste er sehr genau. In Sachen Drogenentzug als Strafmaßnahme kannte sich der Boss aus und ließ es ihn mit regelmäßiger Grausamkeit deutlich spüren. Der letzte Schuss lag bereits einige Stunden zurück, und er spürte, dass seine Kräfte in absehbarer Zeit unweigerlich nachlassen würden. Zum Glück hatte er sich etwas Meth aufgehoben, um Kraft genug zu haben, den Auftrag durchzuführen.

Er bog um eine Ecke und lief Richtung Malteserstraße quer durch die Anlage. Am Parkteich traf er auf eine Gruppe Obdachloser, die ihn misstrauisch beäugten, als er sich ihnen schnurstracks näherte.

»Haste mal ’ne kleine Spende über?«, fragte einer der Männer mit hoffnungsvollem Gesichtsausdruck.

»Du kannst dir eine verdienen«, gab er zurück und grinste.

»Ach ja, wie denn?«

»Gib mir einen Tipp, wo ich eine Parkbank finde, die weniger bevölkert ist als diese hier«, erwiderte er. Die Verachtung gegenüber seinem Gesprächspartner war kaum zu überhören. »Eine, die nicht in den Geruch von ungewaschenen Körpern eingehüllt ist.«

»Verpiss dich!«, riefen die Männer und Frauen im Chor und hoben drohend die Fäuste.

»Liebend gerne«, antwortete er und setzte zuversichtlich seinen Weg fort. Aus früheren Erfahrungen wusste er, dass es immer einige Ausreißer gab, die sich von der Gruppe entfernten, um ihre Ruhe zu haben. Trotzdem blieben sie nahe genug am Sammelplatz, um im Notfall Hilfe von der Obdachlosengruppe herbeizurufen.

Als er den Parkausgang beinahe erreicht hatte, trat ein großer Kerl von einem Mülleimer zurück, aus dem er ein kleines, in Alufolie gewickeltes Päckchen gefischt hatte. Der Mann sah in die Folie, lächelte zufrieden und ging zu einer Parkbank in der Nähe. Hastig lief der Beobachter in die Deckung einiger Büsche und sah zu, wie das potenzielle Opfer genüsslich in etwas hineinbiss. Dabei wirkte der Obdachlose fast glücklich. Seine gesamte Aufmerksamkeit war auf das Essen in seiner Hand gerichtet.

Besser wird es nicht, dachte der Mann entschlossen und zog ein Stofftaschentuch sowie ein Fläschchen aus der Jackentasche. Vorsichtig schraubte er den Deckel auf, gab einige Tropfen in das Tuch und schlich hinter dem Rücken des Obdachlosen zur Parkbank.

Insel Nistwerder

Die Sonne glitzerte auf dem Wasser des Tegeler Sees und malte schimmernde Punkte auf die Wasseroberfläche. Karin schob die runde Sonnenbrille mit dem Zeigefinger nach oben. Billigware, dachte sie ärgerlich. Die sitzt so locker auf dem Nasenrücken wie die Zähne im Kiefer eines neunzigjährigen Mannes.

Die derben Bemerkungen des Kerls am Steuer der kleinen Fähre, die sie zu ihrem Ziel, der Insel Nistwerder, brachte, lenkten sie für einen Augenblick von ihren übellaunigen Gedanken ab. Allerdings nur für kurze Zeit. Sie fragte sich, wer in drei Teufels Namen auf die bescheuerte Idee gekommen war, eine Insel Nistwerder zu nennen? Vermutlich hieß die Nachbarinsel Vogelei oder Federviehstrand, schließlich gab es zahlreiche Landpassagen im Tegeler See, die man mit albernen Bezeichnungen betiteln konnte. Und was hatte ihren vermeintlichen neuen Auftraggeber hierher verschlagen? Stünde es um meine Auftragslage nicht so bescheiden, würde ich augenblicklich umkehren, dachte sie missmutig.

»Hast du genügend Bier an Bord?«, fragte eine Frau, die eine gelbe Regenjacke über ihrem Arm trug. »Du weißt ja, dass die Tillmanns ordentlich was wegtrinken, wenn sie so richtig in Feierstimmung sind.«

»Keine Sorge, falls die das alles saufen, fresse ich ’nen Besen und unseren Anlegesteg dazu.«

»Na hoffentlich verschätzt du dich da nicht, mein lieber Ole. Bei denen haben schon ganz andere Bauklötze gestaunt. Neulich, bei einem Fest auf Nistwerder, haben sie so lange herumgepöbelt, bis Donald noch mal zum Festland in den Getränkemarkt aufgebrochen ist. Es war stockdunkel, und man konnte auf dem Wasser kaum mehr die Hand vor Augen sehen. Er ist trotzdem losgezogen. ›Lieber leg ich ’ne Bruchlandung hin‹, hat er gesagt, bevor er ins Boot gestiegen ist, ›als mir weiter die Sprüche von diesen Schluckspechten anzuhören.‹«

»Wir werden es erleben«, erklärte Ole belustigt. »Geh ruhig davon aus, dass ich über alles informiert bin, was in unserer kleinen Laubenkolonie so vor sich geht.« Er grinste breit. »Und daraus meine Schlüsse ziehe. Die Vorräte, die ich in den letzten Tagen angeschippert habe, können sie niemals schaffen. Zumindest nicht in einer Nacht, das schwöre ich dir bei der Seele meiner Mutter, Dörte.«

Karin lauschte der Unterhaltung und überlegte, welche Feier auf der Insel anstand und wer diese Tillmanns mit dem übermächtigen Durst sein konnten. Laubenpieper sind anscheinend eine eigene Art Menschen, da komm ich nicht hinterher. Also hör ich auf, mich abzumühen, dachte sie verdrossen und wartete darauf, dass Ole das Boot in die Position am Anlegesteg brachte.

Als sie gefahrlos von Bord steigen konnte, bat sie die Frau mit der Regenjacke um Auskunft. »Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wo Herr Werners Laube steht?«

Kaugummi kauend überlegte sie einen Moment und fragte dann, weiterhin mit offenem Mund kauend: »Welchen Werner meinen Sie? Hier gibt es mindestens zwei mit dem Nachnamen.«

Karin zuckte zusammen. Sie wusste nicht, wie der Mann mit Vornamen hieß, mit dem sie gestern Abend telefoniert und die Verabredung für heute ausgemacht hatte. »Keine Ahnung, aber er hat beruflich etwas mit Medikamenten zu tun. Falls Ihnen das weiterhilft?«

»Nö. Was die Typen so treiben, wenn sie bei der Arbeit sind und nicht hier auf Nistwerder, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass das zu Alois passt. Wohnt auf der anderen Seite und tut immer wichtig.« Sie streckte den Arm aus und deutete geradeaus. »Hier entlang, vorbei am Rathaus und danach noch etwa zweihundert Meter. Im Garten neben seiner Hütte stehen ein paar Plastikrehe, man kann sie kaum verfehlen.«

»Danke, dann versuche ich mal mein Glück.«

»Gerne. Hoffentlich ist der Alois der Richtige.«

»Das hoffe ich auch«, erwiderte Karin und versuchte weiter freundlich zu bleiben. Obwohl die Frau sie mit ihrem Small Talk unnötig aufhielt und ihre schlechte Laune noch verschlimmerte, lächelte sie. Da sie das Gespräch mit diesem Pharmamenschen so rasch wie möglich hinter sich bringen wollte, hob sie die Hand und verabschiedete sich höflich.

»Ach, eine Frage noch. Sind Sie krank?«, rief die Frau ihr hinterher.

»Was? Wieso?«

»Na weil Sie zum Pillen-Werner wollen.« Sie kicherte albern. »Nichts für ungut. Es klang so nach der Suche nach dem heilbringenden Medizinmann. Vergessen Sie’s einfach, geht mich nix an.«

Das sehe ich genauso, neugierige Ziege, dachte Karin grimmig. Sie ließ die Frau kommentarlos stehen und lief in die angewiesene Richtung. Unwillkürlich kam ihr eine Szene aus dem Film Ein Käfig voller Narren in den Sinn. Man muss das Wort Käfig einfach gegen Nistwerder austauschen. Sie lachte auf. Sei nicht so voreingenommen, rügte sie sich streng. Eine Frau ist sicher kein Maßstab für alle hier auf der Insel. Und nur weil du so schlecht drauf bist …

Ein Rascheln im Gebüsch zu ihrer Linken ließ sie innehalten. Sekunden später verstellte ein junger Mann in Latzhosen ihr den Weg. Erschrocken wich sie zur Seite.

»Einen Moment, Zollkontrolle. Sag mir, wer du bist und was du hier zu suchen hast?«

Karin fasste sich rasch und erwiderte tadelnd: »Nein. Und dürfte ich wissen, was Sie dazu bewegt, mich zu duzen? Sind wir uns schon einmal begegnet? Haben wir zusammen ein Bier getrunken und sind danach gemeinsam die Treppe heruntergefallen? Ich wüsste nicht. Wenn ich Sie so ansehe, bezweifle ich, dass Sie hier als eine Art Aufpasser fungieren. Also gehen Sie einfach beiseite und lassen mich durch.«

Der Kerl schaute sie einen Augenblick lang verwundert an und schien seine Gedanken zu sortieren. Dann lächelte er verstehend und zeigte eine große Zahnlücke im Oberkiefer. »Ich bin der Gilbert, und das hier ist meine Insel. Niemand läuft hier entlang, ohne mir Bescheid zu sagen. Auch du nicht.« Er kam mit ausgestrecktem Zeigefinger auf sie zu. »Wie heißt du?«

»Karin, und jetzt hau endlich ab!«

Der junge Mann stieß ein ohrenbetäubendes Gejammer aus und schlug blindlings auf sie ein. »Du darfst nicht hier auf der Insel sein, verschwinde!«, schrie er wütend und traf sie mit der Faust an der rechten Schulter.

Den Schmerz ignorierend wich sie weiteren Schlägen aus und begann laut um Hilfe zu rufen.

Keine Minute später hielten die Arme von drei herbeigeeilten Inselbewohnern Gilbert fest.

»Sie müssen entschuldigen. Er ist nicht der Hellste«, erklärte eine ältere Dame, die auf die kleine Gruppe zueilte. Während des Laufens tippte sie mehrfach an ihre Stirn. »Eigentlich ist er völlig harmlos, nervt zwar alle, aber tut niemandem etwas.«

»Das sehe ich anders«, zischte Karin und fasste sich an die schmerzende Schulter. »Er hat auf mich eingeprügelt und überhaupt nicht mehr von mir abgelassen.«

»Dann müssen Sie ihn provoziert haben«, erklärte die Frau aufmüpfig. »Mein Enkel Gilbert ist absolut friedlich. Kein schlauer Kopf, aber zahm. Wahrscheinlich wollten Sie an ihm vorbeistürmen, ohne seine Fragen zu beantworten, da kann er echt ungemütlich werden.«

»Passen Sie besser auf ihn auf!«, rief Karin erbost. »Sie haben doch gesehen, wie er sich aufgeführt hat. Wie ein Berserker auf mich eingeprügelt und gebrüllt wie von Sinnen.« Sie schaute in die Gesichter der drei Männer, die ihr zu Hilfe geeilt waren. Die zuckten einhellig die Schultern. »So schlimm war es doch gar nicht«, brachte einer von ihnen unter Stottern heraus. »Der Gilbert ist echt friedlich und hat sich schon wieder beruhigt«. Er deutete auf den jungen Mann. »Sehen Sie doch selbst.«

»Tun Sie mir den Gefallen, und halten Sie ihn fest, bis ich bei der Hütte von Herrn Werner bin. Am besten, jemand von den Herrschaften begleitet mich sicherheitshalber.«

»Ganz sicher nicht«, fauchte die alte Dame und griff nach der Hand ihres Enkelsohnes. »Komm, mein Lieber, wir gehen nach Hause und trinken eine Limonade, einverstanden?«

Gilbert lachte glücklich auf und rief laut: »Ja. Oma, mach schnell, ich habe großen Durst. Aber die da«, er zeigte auf Karin, »kriegt keine Limo. Sie ist böse, und sie stinkt nach Parfum!«

Die Frau strich ihrem Enkel über den Kopf. »Nein, die nicht«, erwiderte sie frostig und führte ihn fort. Die drei Männer folgten ihr rasch und ließen Karin einfach stehen.

»Meine Güte«, schimpfte sie laut und lief los. »Euch sollte man doch in Gewahrsam nehmen. Das kann echt nicht wahr sein!« Wenige Meter weiter bereute sie ihre grobe Bemerkung bereits. Nur weil ich so schlecht drauf bin, musste ich den Jungen doch nicht so angehen. Verdammt, manchmal bin ich echt unausstehlich.

Sie entdeckte die angekündigten Plastikrehe und beschleunigte ihre Schritte. Wie ich diese dämlichen Aufträge hasse, dachte sie, als sie an die Tür der Gartenhütte trat und klopfte. Ich könnte entspannt am Schreibtisch sitzen und Innendienst schieben, wenn ich nicht so stur gewesen wäre. Karin bedauerte zutiefst, dass sie in einer überstürzten Entscheidung ihren Job gekündigt hatte. Sie hatte es abgelehnt, während einer internen Untersuchung zu Schreibarbeiten verdonnert zu werden. »Was kann ich dafür, wenn Hofstetter Mist gebaut hat? Ich bin Polizistin geworden, um draußen auf der Straße für Recht und Ordnung zu sorgen«, hatte sie damals gebrüllt und sich ihre Tasche geschnappt. »Sind Sie sicher?«, hatte ihr Vorgesetzter seinerzeit teilnahmslos und unbeeindruckt nachgehakt. »Absolut«, hatte sie entschlossen geantwortet und die Tür hinter sich zugeschlagen. Heute wusste sie, dass ihr Chef auf eine Situation wie diese gewartet hatte und froh darüber war, sie ohne große Mühe aus dem Team bekommen zu haben. Alter Hut, dachte sie verdrossen, als die Tür knarzend aufschwang.

»Ja bitte?«, fragte ein sportlicher Mann kurz angebunden.

»Mein Name ist Karin Keller. Haben wir gestern Abend miteinander telefoniert?«

Ein Ausdruck der Erleichterung machte sich auf dem Gesicht ihres Gegenübers breit, als es nickte. »Kommen Sie herein. Was ich mit Ihnen besprechen möchte, ist nicht für die neugierigen Ohren der Nachbarn bestimmt.« Er deutete auf eine Hütte gegenüber. »Und glauben Sie mir«, versicherte er mit lauter Stimme, »dieser Johann hört alles. Leider muss er das Belauschte dann sofort weitertratschen. Er kann nie etwas für sich behalten. Deshalb gehen wir hinein, schließen Fenster und Türen und flüstern.« Karin sah irritiert von Herrn Werner zum Gartenhaus gegenüber und beobachtete, wie eine derbe Männerhand hastig die Vorhänge zuzog. »Verstehe«, erwiderte sie, ebenfalls laut genug, um von Johann gehört zu werden. »Dann lassen Sie uns reingehen. Oder sollten wir lieber eine Runde auf dem See fahren? Da kann uns niemand belauschen?«

Alois Werner grinste. »Sie gefallen mir, denn Sie scheinen zu wissen, worauf es ankommt. Gehen wir rein.«

»Gern«, erwiderte Karin und ließ ihren Blick ein zweites Mal über ein markantes Muttermal an Werners Kinn gleiten. Das hätte ich mir schon lange entfernen lassen, dachte sie zerstreut, bevor sie ihm in die Laube folgte.

Kellerraum

Tropf, tropf, tropf! Das stetige Plätschern des Wasserhahns unterbrach die absolute Stille des Kellers. Er erwachte aus einem Dämmerschlaf, der ihn ein weiteres Mal übermannt hatte. Erneut versuchte er, sich aus den Fesseln am Bettgestell zu befreien. Wütend drehte er ruckartig die Hände im Strick und zog scharf die Luft ein, als das derbe Seil über die Schürfwunden an seinen Handgelenken scheuerte. Ein heftiger Schmerz flammte auf und ließ ihn innehalten. Er saß fest und konnte nur mutmaßen, wie lange er bereits zur Bewegungsunfähigkeit verdammt hier lag.

Er erinnerte sich deutlich, dass er am Montagabend zu einer Runde durch den Park aufgebrochen war. Dort hatte er nach Pfandflaschen und Essensresten Ausschau gehalten. An einem Mülleimer am Ausgang zur Malteserstraße hatte er ein in Alufolie gewickeltes Stück Toastbrot gefunden, dass nur angebissen war. Er hatte sich auf eine Parkbank gesetzt und begonnen, genüsslich den Toast zu essen, als jemand ihn von hinten festgehalten und ihm einen Lappen vor Mund und Nase gedrückt hatte. Als er aus der Bewusstlosigkeit erwacht war, hatte er sich hier befunden. Auf einem Bett mit strammen Fesseln an Armen und Beinen, die ihn nahezu bewegungsunfähig machten. Er hatte laut gebrüllt, gefleht und unzählige Male erfolglos an den Stricken gerissen, die ihn in der unbequemen Position hielten. Seitdem mussten mindestens zwei Tage vergangen sein, zumindest vermutete er das aufgrund des brennenden Hungergefühls und der Feuchtigkeit, die er unangenehm unter sich spüren und riechen konnte.

Warum hat der Kerl mich überwältigt und hierher gebracht? Ich habe schrecklichen Durst und Hunger und will nicht schon wieder ins Bett pissen müssen.

Zum wiederholten Mal versuchte er eine Ahnung davon zu bekommen, aus welchem Grund er gekidnappt worden war und hier festgehalten wurde. Es ergab einfach keinen Sinn. Als Obdachloser, der sein komplettes Familieleben hinter sich gelassen hatte, war bei ihm definitiv nichts zu holen.

Wahrscheinlich ist genau das der Grund. Niemand wird mich vermissen. Allerhöchstens Olaf, aber darauf schließe ich bestimmt keine Wette ab. Wenn er es gerade gut hat, wird ihm gar nicht auffallen, dass ich fehle.

Das gleichmäßige Summen in seinem Kopf setzte wieder ein. Er wusste, dass es den Dämmerschlaf, den er als Erlösung vom nagenden Hunger und Durst empfand, ankündigte. Er hielt jedoch mühsam die Augen offen. Er musste versuchen, alles zu verstehen, um einen Ausweg aus dieser Situation zu finden. Bevor er durch die scharfe Flüssigkeit auf dem Tuch des Angreifers ohnmächtig geworden war, hatte er einen Blick auf die Schuhe des Kerls erhascht. Definitiv ein Mann, denn die Turnschuhe wären für eine Frau viel zu groß gewesen.

Ich weiß also, dass ein Typ mich verschleppt hat. Womöglich ist er lediglich der Handlanger von irgendwem. Aber weshalb schaut niemand nach mir? Ist es möglich, dass der Kerl mich einfach so zum Spaß vom Park hierher gebracht hat und sich einen Dreck darum schert, was aus mir wird?

Eine Woge der Angst durchflutete ihn. Sein Arm brannte höllisch, und er entdeckte einen tiefblauen Fleck in der Armbeuge. Vermutlich hatte der Kerl ihm irgendetwas gespritzt, damit er weiterhin schlief und stillhielt. Aus vollem Hals brüllte er erneut um Hilfe, doch nichts geschah. Resigniert lauschte er dem tropfenden Wasser und versuchte sich mit Erinnerungen an glückliche Tage von seiner Situation und dem grässlichen Hungergefühl abzulenken.

Hasso, der Schäferhund aus Kindertagen, leckte ihm in Gedanken gerade übers Gesicht, als ein Poltern vor der Tür ertönte. Er wandte den Blick und hielt ängstlich den Atem an. Langsam bewegte die Türklinke sich nach unten, aber niemand trat ein.

»Hier stinkt es wie im Zoo«, sagte eine mechanisch klingende Stimme. »Kannst du dich nicht zusammenreißen, du elende Kreatur?« Er vermutete, dass das seltsam blecherne Timbre des Mannes von einen Stimmverzerrer verursacht wurde. Mühsam hob er den Kopf einige Millimeter, um die Tür besser im Blick zu behalten.

»Hast du Hunger?«, erkundigte sich der Kerl schroff.

»Ja«, antwortete er zugleich hoffnungsvoll und ängstlich, während sein Magen in Erwartung von etwas Essbarem noch mehr zu schmerzen begann.

»Das tut mir außerordentlich leid. Aber niedere Geschöpfe wie du sind von der Fütterung ausgeschlossen. Ich schlage vor, dass du dir zunächst deine Zunge vornimmst. Vielleicht macht sie dich für eine Weile satt. Außerdem hätte das den enormen Vorteil, dass du hinterher zwar immer noch dein stinkendes Maul aufreißen könntest, aber kein Ton mehr zu hören wäre.«

»Warum tun Sie mir das an?«, fragte er matt und in der zunehmenden Gewissheit, einem schrecklichen Tod entgegenzusehen.

»Weil der Boss dich braucht. Einen Verhungerten hat er noch nicht ausprobiert, das fehlt bisher in der Sammlung. Allerdings werde ich ihn bitten müssen, dir einen Katheter zu legen. Dieser Pissegeruch ist wirklich unerträglich.«

Mit der winzigen Hoffnung, den Mann auf seine Not aufmerksam zu machen und davon zu überzeugen, von ihm abzulassen, erhob er erneut die Stimme. »Wenn Sie mir weder etwas zum Essen bringen noch mich befreien wollten, weshalb sind Sie dann hergekommen?«

»Ganz einfach, der Chef will ein Update, wie lange es in etwa dauert, bis er loslegen kann.«

»Geben Sie mir wenigstens einen Schluck Wasser«, brachte er mühsam hervor. Sein Hals fühlte sich an wie Schmirgelpapier.

»Damit du weiter alles vollpisst? Vergiss es!«

»Ich werde nicht verhungern, eher verdursten. Ist das im Sinne Ihres Bosses? Ich habe keine Ahnung, was er plant, aber ohne Flüssigkeit sterbe ich«, erklärte er matt. Einen Moment lang blieb es still. Hatte er mit diesen Worten etwas bei dem Mann hinter der Tür ausgelöst? Leise Hoffnung keimte in ihm auf.

»Ich handle nach den Vorgaben des Chefs. Der weiß genau, was er wie haben möchte. Es gibt keine Anweisung, dich mit Wasser zu versorgen. Also halt einfach dein Maul und bleib ruhig liegen. Möglicherweise bringt dir das ein paar Stunden mehr zu leben.«

Als die Tür mit einem Krachen ins Schloss fiel, begann er tränenlos zu schluchzen. Alle Kraft strömte aus ihm heraus, und er war bereit aufzugeben. Das Dasein auf der Straße barg viele Gefahren, doch dass er einmal eingesperrt und gefesselt in einem Keller verdursten würde, war ihm nie in den Sinn gekommen.

Insel Nistwerder

»Nehmen Sie schon mal da auf der Eckbank Platz. Ich hole uns eine Erfrischung, bevor ich Sie in den Auftrag einweihe, wegen dem ich Sie hergebeten habe, einverstanden?«

Karin nickte zustimmend. »Nach meinem kleinen Abenteuer von eben kann ich einen Schluck vertragen.« Sie schob einen Stapel Prospekte, allesamt von Baumärkten aus der Umgebung, beiseite und setzte sich. »Gibt es hier auf Nistwerder noch mehr Leute wie diesen Gilbert?«

Er lächelte wissend. »Ach, Sie haben schon Bekanntschaft mit ihm gemacht?«

»Gewissermaßen. Bevor er richtig auf mich losgehen konnte, ist die Großmutter aufgetaucht. Die ist allerdings auch alles andere als umgänglich.«

Alois Werner lachte auf. »Sie sollten wissen, dass das Leben hier komplett anders verläuft als auf dem Festland gegenüber. Man hilft einander aus und arrangiert sich mit den Eigenarten der Nachbarn. Gilbert ist im Grunde völlig harmlos. Man muss nur seine Marotten kennen und ihn machen lassen. Ich versichere Ihnen, dass von dem Jungen keine ernsthafte Gefahr ausgeht.«

»Das freut mich außerordentlich, insbesondere, wenn ich an meinen Weg zurück zur Fähre denke. Allerdings musste ich mir nach der Begenung mit ihm eingestehen, dass ich ziemlich unprofessionell reagiert habe. Vermutlich ist er ja wirklich ganz harmlos.«

»Bevor Sie später losgehen, sage ich Ihnen, wie Sie seinen Wegzoll umgehen und vielleicht sogar eine Freundin von ihm werden.«

»Einverstanden. Aber reden wir nun über das, was Sie bei mir in Auftrag geben möchten.«

Alois Werner nickte. Im Laufe der kurzen Unterhaltung mit Karin Keller, hatte er den Eindruck gewonnen, mit ihr genau die Richtige angerufen zu haben. Er räusperte sich vernehmlich, bevor er lächelnd fragte: »Ich darf davon ausgehen, dass dieses Gespräch unter uns bleibt?«

»Selbstverständlich, Herr Werner, ohne Diskretion gegenüber meinen Klienten könnte ich einpacken. Ich weiß nicht, ob Sie im Vorfeld Erkundigungen zu meiner beruflichen Laufbahn eingezogen haben?« Sie sah ihn fragend an.

»Nur im Schnelldurchgang. Weshalb fragen Sie?«

»Bevor ich den Dienst quittierte, habe ich lange Zeit für das Bundeskriminalamt gearbeitet. Bei mir landeten mitunter Fälle, in denen der Bundesnachrichtendienst um Mithilfe gebeten hat. Wenn jemand etwas von Verschwiegenheit versteht, dann ich. Also, worum genau geht es?«

Werner stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Ich bin ehrlich überrascht, denn ich muss zugeben, dass ich Sie eher instinktiv beim Blättern in den gelben Seiten ausgewählt hatte. Darf ich erfahren, warum Sie aus dem Staatsdienst ausgeschieden sind?«

Karin schüttelte vehement den Kopf. »Das fällt ebenfalls unter den Bereich der Diskretion und hat persönliche Gründe, die ich mit niemandem erörtern möchte.«

Er hob entschuldigend die Hände in die Höhe. »Verzeihung, geht mich auch nichts an. Also.« Er trank einen großen Schluck aus einem der beiden Wassergläser, die er auf dem Tisch abgestellt hatte. »Was wissen Sie über die medizinische Forschung und das Zusammenspiel mit Pharmakonzernen?«

»Kaum mehr als das, was man ab und an in Artikeln liest oder in einer Dokumentation im Fernsehen mitbekommt.«

»Okay, dachte ich mir. Vermutlich ist es sogar von Vorteil, wenn Sie unvoreingenommen an die Sache herangehen.«

»Nun machen Sie es mal nicht spannender als nötig. Raus mit der Sprache, was soll ich herausfinden?«

»Ich möchte Sie als Spitzel zu jemandem schicken, von dem ich glaube, dass er im Namen der Wissenschaft viel Schindluder treibt.«

»Könnten Sie den Ausdruck Schindluder etwas genauer definieren?«, hakte sie skeptisch nach.

»Mord. Oder besser ausgedrückt, er nimmt es in Kauf, ein Menschenleben für den Fortschritt seiner Testreihen zu opfern.«

»Im Ernst? Und weshalb in drei Teufels Namen gehen Sie damit nicht zur Polizei?«

»Dafür gibt es gute Gründe«, erwiderte Alois Werner bestimmt. »Und ich werde Ihnen alle mir bekannten Details erörtern, wenn Sie daran interessiert sind.«

Psychotherapeutische Praxis, Patient RF

»Wie ist es Ihnen in der letzten Woche ergangen?«, fragte der Psychotherapeut Holger Jansen seinen Patienten und nippte am Wasserglas.

»Gut. Ich habe es geschafft, meine Gelüste zu unterdrücken.«

»Inwiefern?«, hakte der Therapeut nach.

»Vor unserem Wohnblock lief so ein stinkender Penner vorbei. Hat einen Einkaufswagen vor sich hergeschoben. Vollbepackt mit allen möglichen Dingen, die unsereins einfach auf den Müll werfen würde.«

»Haben Sie schon einmal daran gedacht, dass die Bedürfnisse dieser Menschen nicht mit Ihren zu vergleichen sind? Was für Sie Abfall ist, könnte dem Obdachlosen eine Menge wert sein.«

Der Patient schüttelte verärgert den Kopf. »Sind wir hier, um mich zu analysieren oder das, was diese arbeitslosen Dreckspatzen von der Straße benötigen? Mein Großvater hätte sie alle eingefangen und einem besseren Zweck zugeführt.«

»Ihre Abneigung ist in Erzählungen Ihres Opas begründet?«

»Ja und nein. Um dieses Gesindel zu verabscheuen, muss man doch nur die Augen aufmachen, oder? Allerdings konnte Opa die Typen auch nicht ausstehen. Genau wie Zigeuner, Juden und die ganzen Behinderten, die ihrem Umfeld nur Ärger, Arbeit und Probleme machen.«

Der Psychotherapeut räusperte sich vernehmlich, bevor er mit erhobener Stimme antwortete. »Ich muss Sie bitten, solche Sprüche und Vorurteile für sich zu behalten. So etwas möchte ich hier nicht hören, kapiert? Wir sitzen hier, um Ihrem Problem auf den Grund zu gehen. Ich habe überhaupt keine Lust, mir Ihre Feindseligkeiten und Ressentiments gegenüber Minderheiten anzuhören. Es sei denn …«

»Ja, ja, bla bla, es sei denn, sie stehen in direktem Zusammenhang mit meiner Störung, richtig?«

»Absolut. Deshalb kommen wir bitte auf den Obdachlosen zurück. Was stört Sie daran, dass er, genau wie Sie, versucht, sein Leben zu meistern?«

»Sein Leben?« Er lachte höhnisch auf. »Sie machen Witze. Diese Art von Dasein kann man doch nur als dahinvegetieren bezeichnen. Was tun solche Menschen für mich, sich oder das Volk? Wofür öffnen Sie jeden Morgen die Augen und stehen auf?«

»Was ist ihnen zugestoßen, dass sie ihre Existenz auf die Straße verlegen mussten? Was hat die Gesellschaft getan, um sie dorthin zu treiben? Das sind Gedanken, die mir kommen, wenn ich Nichtsesshaften begegne«, erklärte Holger Jansen in sachlichem Ton.

»Typisch Psychofritze. Das war mir so was von klar.« Er lachte zynisch. »Sonst noch irgendwelche psychologischen Hintergedanken, die Sie mir mitteilen wollen?«

»Nein«, erwiderte Jansen kalt. »Eigentlich wollte ich unseren ursprünglichen Gesprächsfaden wiederaufnehmen. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass wir momentan so unterschiedlicher Meinung sind, schlage ich vor, Sie beginnen ein anderes Thema. Ideen?«

»Wie wäre es, wenn wir die Sitzung beenden? Ihre mitfühlende und jammernde Art macht mir heute ganz besonders zu schaffen. Bräuchte ich diese dämliche Bescheinigung nicht, hätte ich ohnehin längst das Weite gesucht und die bescheuerte Therapie bei Ihnen abgebrochen.«

»Reisende soll man bekanntlich nicht aufhalten«, erwiderte der Psychotherapeut gelassen. »Aber wie Sie so treffend bemerkt haben, stecken Sie ohne meine Bestätigung fest. Falls Sie in den kommenden Sitzungen nicht kooperativer sind, würde ich empfehlen, sich schon mal ein gemütliches Plätzchen im Freien neben den anderen Obdachlosen zu suchen.«

Der Patient sprang auf und spuckte auf den Fußboden. »Lecken Sie mich!«

»Ach eins noch. Warum waren Sie vorhin so abgehetzt, als sie zu Ihrer Sitzung gekommen sind?«

»Geht Sie nichts an, Sie verdammter Psycho-Heini«, er hob die Mittelfinger beider Hände ausgestreckt in die Höhe.

»Sie mich auch«, antwortete Holger Jansen in ruhigem Ton. »Falls Sie es sich anders überlegen und Ihnen klar wird, dass Sie ohne die besagte Bescheinigung keinen Job mehr bekommen, wissen Sie, wo Sie einen weiteren Termin vereinbaren können. Auf Wiedersehen und schönen Tag!«

»Fahr zur Hölle!«

Henok

Henok fluchte laut, als er vom Bildschirm aufsah und zur Wanduhr blickte. Nur noch zwanzig Minuten bis zu seinem Termin beim Therapeuten. Das würde er unmöglich schaffen. Wieder einmal war er in den endlosen Möglichkeiten des Programmierens versunken und hatte dabei die Zeit völlig aus den Augen verloren. Wütend auf sich selbst, lief er ins Schlafzimmer und griff zum Smartphone auf der Kommode. Nach dem zweiten Klingelzeichen wurde abgenommen.

»Hier ist Henok Tafari. Ich habe gleich einen Termin bei Herrn Jansen. Leider schaffe ich es nicht.«

»Und das fällt Ihnen jetzt ein?«, gab die Dame an der Anmeldung des Therapeuten schnippisch zurück.

Er überlegte kurz, ob er der verärgerten Frau eine fadenscheinige Ausrede liefern sollte, entschied sich jedoch dagegen. »Ich bitte um Entschuldigung, und ich weiß, dass ich mich früher melden und Bescheid geben muss. Aber ich habe einfach die Zeit vergessen, weil ich momentan an einem ausgesprochen faszinierenden Projekt arbeite. Wenn Sie darauf bestehen, zahle ich natürlich für die verlorene Therapiestunde von Herrn Jansen.«

»Da kommen Sie ohnehin nicht drum herum, schließlich kann ich mir in der nächsten Viertelstunde keinen anderen Patienten aus dem Ärmel zaubern, der für Sie einspringt. Und Sie haben zu Beginn Ihrer Therapie unterschrieben, dass Sie den Verdienstausfall von Herrn Jansen bezahlen müssen, wenn ein Fall wie dieser eintritt«, erklärte sie Henok energisch.

»Ja, das ist mir durchaus bewusst. Deshalb schreiben Sie mir bitte einfach die Rechnung.«

Welche Laus ist der denn über die Leber gelaufen?, dachte er verblüfft. Normalerweise ist sie immer so friedlich und nett. »Nochmals sorry.« Er räusperte sich. Bleib freundlich und untersteh dich, sie noch mehr auf die Palme zu bringen. »Es kommt nicht wieder vor, versprochen. Können wir einen neuen Termin vereinbaren?«

»Wenn Sie meinen. Morgen um sechzehn Uhr habe ich zufällig einen frei. Von einer Dame, die rechtzeitig genug abgesagt hat.«

Henok räusperte sich. »Sie sollten selbst einmal ein paar Sitzungen bei Ihrem Chef buchen. Ich weiß zwar nicht, was Ihnen Ihre Laune so versaut hat, aber es klingt nach einem größeren Problem. Und ehe wir uns nun ernsthaft zu streiten beginnen, schlage ich vor, dass Sie meinen Termin eintragen und das Gespräch beenden. Sie haben lange genug herum…« Noch ehe er die letzten Worte aussprechen konnte, war die Leitung tot. Die Assistentin des Therapeuten hatte einfach aufgelegt.

Hoffentlich nimmt sie mich morgen überhaupt dran. Er verfluchte sich, wie so oft, für sein forsches Mundwerk. Dann lief er in die Küche, schnappte sich ein Tetrapack Orangensaft und ging zurück zum Rechner. Erfreut darüber, dass er nun ungestört weiterarbeiten konnte, goss er sich ein Glas Saft ein. Er nippte kurz daran und sah konzentriert auf die Änderungen im Programm, die er zuvor getätigt hatte. Wäre doch gelacht, wenn ich das Baby nicht in der nächsten Woche allen Interessenten zeigen könnte. Amüsiert dachte er an eine der letzten Präsentationen, die er erst seit einem knappen Jahr selbst leiten durfte. Lange Zeit hatte Henoks Vorgesetzter die Meinung vertreten, dass ein Programmierer die von ihm entwickelte Software niemals so gut vorstellte und anpries wie jemand aus der Marketingabteilung. Genervt erklärte er dem Chef immer wieder, dass niemand so viel Feuer und Begeisterung für ein Programm zeigen konnte wie derjenige, der es programmiert hatte. »Wer könnte besser über mein Baby informiert sein und die Vorzüge hervorheben als ich?«

Insgeheim vermutete Henok, dass die Ablehnung des Vorgesetzten eher damit zusammenhing, dass er aus Äthiopien kam. In der IT-Branche waren Fachleute aus anderen Länder schon lange keine Seltenheit mehr. Er wusste, dass der Chef seiner Abteilung sich nie ausländerfeindlich verhielt. Trotzdem war er lange Zeit weit davon entfernt gewesen, ihm einen Auftritt vor Firmeninhabern zu gestatten, die Interesse an den IT-Produkten der Firma zeigten. Dafür reichte die Fremdenfreundlichkeit nicht aus, und der Boss hegte, auch wenn er dies selbst immer wieder vehement abstritt, Vorurteile. Nur der Umstand, dass einer der eingeladenen Firmenbetreiber darauf bestanden hatte, vom Programmierer selbst durch die Präsentation geführt zu werden, bescherte Henok seine erste Chance.

Die Erinnerung ließ ihn erneut lächeln. Und dieses Mal haue ich alle Anwesenden um. Das Ding wird eine Sensation.

Insel Nistwerder

Karin runzelte abermals die Stirn. »Weshalb sollte ich zusagen, mich Ihrer Sache anzunehmen, wenn Sie andeuten, dass wir es mit einer richtig großen Schweinerei zu tun haben. Bitte vergessen Sie nicht, dass ich lange Jahre Polizistin war. Falls Sie mit der Vermutung recht haben, dass der Kerl, von dem Sie sprechen, im wahrsten Sinne des Wortes, mehrere Leichen im Keller hat, schlage ich vor, Sie verständigen die Polizei. Mir fällt kein Grund ein, der so schwer wiegen könnte, es nicht zu tun.«

Alois Werner nickte und blickte mit wacher Miene direkt in ihre Augen. »Wenn Sie gestatten, würde ich Ihnen die Sache gerne etwas genauer beleuchten.«

»Jetzt bin ich hier und habe mich durch die Inselmeute zu Ihrer Hütte durchgeschlagen. Dann kann ich auch zuhören. Natürlich bin ich durch Ihre Andeutungen neugierig geworden. Aber ich warne Sie, sollte ich zu dem Schluss kommen, dass tatsächlich ein Tötungsdelikt vorliegt, behalte ich mir vor, nach unserem Gespräch Kontakt mit der Polizei aufzunehmen.«

Er nickte erneut. »In Anbetracht Ihrer beruflichen Vergangenheit werde ich dieses Risiko wohl eingehen müssen. Bevor ich mehr erzähle, möchte ich Ihnen gerne eine alte Aufzeichnung meiner Großmutter zeigen.«

»Wie bitte?«