Tod auf leisen Pfoten - Sandra Hausser - E-Book

Tod auf leisen Pfoten E-Book

Sandra Hausser

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  • Herausgeber: Midnight
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Der erste Fall für Hannah Bindhoffer Kommissarin Hannah Bindhoffer hat in Rüsselsheim ein neues Zuhause gefunden. Auch mit Jens Hartmann, ihrem Partner bei der Kripo, versteht sie sich blendend. Die beiden werden zu einem Tatort gerufen, an dem eine tote Frau gefunden wurde. Zunächst deutet alles auf einen Selbstmord hin. Ein Abschiedsbrief, gedämpfte Beleuchtung und die passende Musik untermauern den Verdacht. Doch schon bald müssen die Kommissare feststellen, dass nichts ist, wie es scheint. Als ein weiterer Mordanschlag gerade so vereitelt werden kann, geraten die Ermittler unter Druck … Von Sandra Hausser sind bei Midnight by Ullstein in der Rhein-Main-Krimi-Reihe erschienen: Tod auf leisen Pfoten (Fall 1) Cold Case – Spurlos (Fall 2) Düstere Rache (Fall 3)

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Die AutorinSandra Hausser, geboren 1969 in Rüsselsheim, lebt mit ihrer Familie in Raunheim und arbeitet in einer Arztpraxis. Das Schreiben begleitet sie seit ihrem vierzehnten Lebensjahr. Aus einer Leidenschaft für Tagebucheinträge und Kurzgeschichten ist inzwischen mehr geworden. 1999 gewann die Autorin den zweiten Preis im Literaturwettbewerb Stockstadt mit anschließender Veröffentlichung in der Anthologie des Jahres. Damit war ihr Ehrgeiz geweckt, und sie wagte sich an längere Texte. Das Buch Tod auf leisen Pfoten ist der Auftakt zu ihrer Rhein-Main-Krimireihe.

Das Buch

Der erste Fall für Hannah BindhofferKommissarin Hannah Bindhoffer hat in Rüsselsheim ein neues Zuhause gefunden. Auch mit Jens Hartmann, ihrem Partner bei der Kripo, versteht sie sich blendend. Die beiden werden zu einem Tatort gerufen, an dem eine tote Frau gefunden wurde. Zunächst deutet alles auf einen Selbstmord hin. Ein Abschiedsbrief, gedämpfte Beleuchtung und die passende Musik untermauern den Verdacht. Doch schon bald müssen die Kommissare feststellen, dass nichts ist, wie es scheint. Als ein weiterer Mordanschlag gerade so vereitelt werden kann, geraten die Ermittler unter Druck …

Sandra Hausser

Tod auf leisen Pfoten

Ein Rhein-Main-Krimi

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

Neuausgabe bei Midnight Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Mai 2017 (1)  © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017 © Sandra Hausser 2016 Titel der Originalausgabe: Katzensitter Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat  ISBN 978-3-95819-114-3  Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Prolog

Das Wasser kühlte rasch aus. Sie registrierte es, obwohl ihre Körperfunktionen bereits auf Minimalwerte gesunken waren. Gedanken formten sich zäh, wirbelten durcheinander und folgten keinem nachvollziehbaren Muster. Jemand hatte sie vergiftet, das spürte sie deutlich und ohne Zweifel.

»Womit? Wann und wie?«, hallte es in ihrem Verstand. Krampfhaft versuchte sie, die Sicht zu klären. Ihre Augen brachten nur ein undeutliches und verschwommenes Bild zustande.

»Habe ich den Ofen ausgeschaltet und den Salat zurück in den Kühlschrank gestellt?

Warum bestraft der Geschichtslehrer immer nur mich und macht mich vor der Klasse runter?

Was ist das in meinem Körper? Und von wem?

Ob Oma ihre Bestattung so gemocht hätte?«

Sie versuchte, ihr Denken auf sich und das Gift zu lenken. Zu begreifen, was mit ihr geschah und weshalb ihr Verstand es nicht fertigbrachte, mehr als zwei Sekunden an einem Gedanken festzuhalten.

Ihr Tag war wie stets verlaufen, keine Abweichungen, ohne Besonderheiten oder Überraschungen.

Nachdem sie auf der Couch eingenickt und fast drei Stunden geschlafen hatte, weckte sie das Gefühl, beobachtet zu werden.

»Ich bin aufgestanden und konnte mich kaum auf den Beinen halten. Mir war schwindelig und übel«, ging sie im Geiste das Geschehen durch. Dieses Mal ohne Mühe, den Gedanken festzuhalten. Ein jäher Schmerz zuckte durch ihre Eingeweide. Von Krämpfen geschüttelt hob sie ihren Kopf.

»Ob ich mehr Butter in den Streuselkuchen geben sollte?

Warum geht Thomas so oft auf Meetings spät am Abend und bleibt nicht bei mir?«

Wie Pfeile schossen Gedanken aus allen Richtungen auf sie ein. Quer durch sämtliche Phasen des Lebens und ohne roten Faden, der sie miteinander verband. Sie bewegte ihre Augen ruckartig, in verzweifeltem Bemühen, ihre Konzentrationsfähigkeit zurückzuerlangen.

»Als ich aus dem Wohnzimmer ging, schien mir der Kopf zu zerspringen. Ich war am Verdursten und wollte mir ein Bad einlassen.«

Erneut verdrehte Vorstellungen in wirrer Abfolge.

»Ist Yoga die beste Therapie zum Einschlafen? Ich muss es wieder einmal ausprobieren.

Warum ich? Was geschieht mit mir?«

Die Schwelle zur Ohnmacht nahte. Die Windungen des vernebelten Gehirns rebellierten dagegen, weigerten sich, die unausweichlichen Konsequenzen zu akzeptieren. »Ich will leben!«, waberte es in kleinen Kreisen durch ihren Kopf, während sie verzweifelt darum kämpfte, das Gesicht über der Wasseroberfläche zu halten. Das Atmen fiel unendlich schwer. Ihr Körper sackte zusammen und rutschte nach unten, die Beine krampften, blieben bewegungsunfähig, wie gelähmt.

»Nicht sterben!«, hallte es durch ihre Gedanken, »ich hatte es doch im Griff, warum jetzt?«

Sie schloss die Augen und versuchte mit letzter Energie, sich aufzubäumen. Schließlich gab sie völlig ermattet, kraft- und atemlos, auf.

23. August

Im Hochhaus am Stadteingang, in das Hannah Bindhoffer gerufen wurde, blieb sie zunächst orientierungslos vor den langen Reihen der Klingelknöpfe stehen. Sie versuchte, auf den Namen zu kommen, den der Kollege ihr mitgeteilt hatte. Nach kurzem Grübeln fiel es ihr ein, Reinheimer. Vermutlich ein Suizid, der wie alle Selbstmorde polizeilich bestätigt werden musste, hatte Schneider ihr gemeldet und gelangweilt geklungen. Sie verabscheute es, wenn jemand aus der Dienststelle sich anmaßte, Untersuchungen zu einem Freitod wie lästige Fliegen auf der Marmelade zu betrachten. Hannahs Empathieempfinden war so ausgeprägt, dass sie damit beruflich wie privat oft an Grenzen stieß. So mancher Scherz, gepaart mit Spott der Kollegen, zielte auf diesen Umstand. Doch sie weigerte sich, auch nur einen Schritt von ihrer Einstellung abzuweichen. Die Gefühle anderer Menschen außer Acht zu lassen, fand in ihrer Sichtweise auf das Leben keinen Platz.

Die Herkunft einiger Familiennamen erahnte sie mühelos. Hannah stellte erneut fest, dass das alte HL-Hochhaus, wie es noch immer von etlichen Einwohnern der Nachbarstadt Raunheim genannt wurde, ein gutes Beispiel dafür war, wie viele unterschiedliche Nationen im Ort ein Zuhause fanden. Nachdem ihre Augen ein drittes Mal die immense Anzahl von Namen erfolglos überflogen hatten, drückte sie gegen die Eingangstür. Sie schnappte mit einem Klick auf und Hannah trat in den Flur. Auf dem Fußboden vor den Briefkästen lagen Stapel von Reklameblättchen, die ihren Weg in die Kästen nie gefunden hatten. Das ausgeblichene Farbbild und die Daten zu den Erscheinungswochen zeigten ihr, dass hier eine geraume Zeit nicht mehr aufgeräumt worden war.

Einige Postkästen quollen über und erweckten den Anschein, als wären die Besitzer seit Wochen verreist.

»Oder sie liegen tot in ihrer Wohnung und es bleibt einfach unbemerkt«, dachte sie niedergeschlagen. Keine Seltenheit, dass die Polizei von Nachbarn gerufen wurde, die einen unangenehmen Geruch meldeten. Wann sie den Bewohner das letzte Mal gesehen beziehungsweise gesprochen hatten, konnten sie häufig nicht beantworten.

»Verdammte Anonymisierung«, wisperte sie mit Blick auf die Briefkästen. Endlich fand sie den gesuchten Postkasten und las an den Gruppierungen ab, in welches der elf Stockwerke sie sich begeben musste. »Neunte Etage. Treppensteigen fällt aus, ich nehme den Lift!«

Als sie aus dem Fahrstuhl trat, schepperten laut die Bässe eines Heavy-Metal-Songs. Sie bog nach links in den schummrigen Hausflur und blieb an der letzten Tür der Reihe stehen.

Die Haustür der Familie Reinheimer war nur angelehnt. Die Kommissarin ging nach einem kurzen Klopfen und ohne eine Antwort abzuwarten hinein. Jens Hartmann stand mit einem Kollegen am Esstisch und diskutierte.

»He, Hannah, da bist du ja. Die Frau liegt im Badezimmer. Ist da vorne rechts«, erklärte er und drehte sich wieder weg.

»Moin, Hardy. Gibt es Erkenntnisse?«

»Schau sie dir erst einmal an, ich möchte wissen, was du denkst, bevor ich mich äußere.«

Er grinste. Jens Hartmann arbeitete bereits einige Monate mit Kommissarin Bindhoffer zusammen und zu Beginn einer Ermittlung vertraten sie oft unterschiedliche Meinungen. Der Kommissar liebte es, ihre Diskussionen lautstark vor den Kollegen auszutragen. Was in keinerlei Hinsicht etwas daran änderte, dass die Zusammenarbeit ausgezeichnet funktionierte. Dieser Umstand hatte Hartmann den Spitznamen Hardy eingebracht, weil er beharrlich und hart seine Meinung vertrat. Hannahs andere Art, auf Dinge zu schauen und zu argumentieren, überzeugte ihn jedoch meist recht bald. Mit ihm als Partner zu ermitteln, empfand die Kommissarin als reine Wohltat, und es entsprach zudem ihrer Vorstellung von echtem Teamwork. Von Stefan Wagner, dem ihr früher zugeteilten Arbeitskollegen, hatte sie das nie behaupten können. Er war unnahbar und arrogant in seiner Art und es hatte keinen Zusammenhalt, sondern nur Intrigen und persönliche Ringkämpfe gegeben, die sie zermürbt hatten. Hannah hatte zu jener Zeit monatelang mitgespielt, auf eine Besserung gewartet und drauf gehofft, eines Tages als gleichwertig angesehen zu werden. Bis sie schließlich aufgegeben und die Versetzung nach Rüsselsheim beantragt hatte.

Die Stadt, mit der sie zunächst nichts weiter als die Autofirma Opel verband, war zu ihrem eigenen Erstaunen rasch zur Heimat geworden. Obwohl es zweifelsfrei viele Orte gab, die baulich gelungener, beschaulicher und einladender wirkten, fühlte sie sich heimisch. Von ihrer unschön beendeten Liebesbeziehung hatte sie mit dem veränderten Wirkungskreis ebenfalls Abstand gewinnen können. Hamburg lag hunderte Kilometer entfernt. Und wenngleich sie die pulsierende Stadt liebte, hatte sie ihre Entscheidung keine Sekunde bereut. Stefan Wagner traktierte in der Zwischenzeit einen anderen Kollegen, daran zweifelte die Kommissarin nicht. Ihr Ex, Jan-Christian Hoffer, gehörte mit all seinen Kontrollzwängen, lebensnotwendigen Meetings und vergessenen Dates jetzt der Vergangenheit an. Das Zwei-Fliegen-mit-einer-Klappe-Prinzip blieb eine gelungene Sache, wie Hannah sich jeden Morgen ins Gedächtnis rief. All das stimmte sie zufrieden.

***

Im winzigen Badezimmer, nur spärlich durch den Schein aufgestellter Duft-Teelichter beleuchtet, roch es penetrant nach Vanille. Sie rümpfte die Nase. Chemisch hergestellte Gerüche, niemals natürlich duftend, konnte sie einfach nicht ausstehen. Sie schloss die Tür und ließ zunächst Bilder und Eindrücke auf sich wirken.

Eine Frau mittleren Alters lag mit geschlossenen Augen in der Wanne. Hannah vermutete, dass einer der Kollegen sie ein Stück hinaufgezogen hatte. Ihr dunkles Haar, vollständig durchnässt, klebte strähnig am Kopf. Ihre rechte Hand umkrampfte den Wannenrand. Die Finger, auseinandergespreizt und zu einer Kralle geformt, erinnerten an eine verendete Spinne. Der Rest des Körpers wirkte vollkommen entspannt und auf eine fast aufdringliche Art versöhnlich. Neben der Badewanne stand ein tragbarer CD-Player. Kein Glas, Tabletten oder andere Dinge, die die Tote für ihren Selbstmord benutzt haben könnte. Hannah streifte ein Paar Latexhandschuhe über und trat an den Leichnam. Vorsichtig hob sie ein Lid der Frau an, um die Pupillen zu checken. Keinerlei verdächtige Eintrübungen. Ergebnislos tastete sie den Kopf der Verblichenen nach spürbaren Verletzungen ab.

»Was hast du getan?«, fragte sie vernehmlich, schaute der Toten fragend ins Gesicht und drückte die Play-Taste des CD-Gerätes. Andrea Bocelli schmetterte Time to say Goodbye ohrenbetäubend laut in den kleinen Raum. Hektisch schlug sie auf die Stopptaste. Mit einer Gänsehaut, die über ihren gesamten Körper jagte, verließ Hannah das Bad. »Hat jemand am CD-Player gespielt?«

Jens Hartmann drehte sich um und sah sie fragend an.

»Wenn es nicht so unpassend klingen würde, würde ich sagen, damit könnte man Tote wecken. Ihr könnt es unmöglich überhört haben.«

»Ach, du bist das gewesen? Ich dachte, das käme von dem Freak, der weiter vorne am Gang seine Wohnung hat. Obwohl mich sein Stilwechsel ordentlich irritiert hätte. Vorhin hat er ja noch Metallica gehört. Aber du hast recht. Hat Frau Reinheimer die Musik so laut aufgedreht? Passt kaum zum kuscheligen und romantischen Arrangement im Badezimmer.«

Die Kommissarin nickte nachdenklich: »Wenn niemand von den Kollegen am Player rumgefummelt hat, ist die Lautstärke unverändert und sie selbst muss es so eingestellt haben. Es sei denn, jemand war hier, als sie bereits in der Wanne lag. Kerzenschein von Duftkerzen um die Badewanne und dazu dröhnende Musik? Ich halte das für fast ausgeschlossen.« Hannah schüttelte heftig den Kopf, um ihre Worte zu unterstreichen.

»Wer ahnt schon, was Menschen denken, die die Absicht hegen, diese Welt für immer zu verlassen?«, fragte Jens und zuckte die Schultern.

»Die Suche der Spurensicherung ist bisher ergebnislos geblieben. Für mich sieht das Ganze nach Selbstmord aus. Keine Spuren äußerer Gewalteinwirkung und ein Abschiedsbrief. Was braucht es mehr?«

»Es gibt einen Brief?«

»Ja, liegt im Schlafzimmer auf dem Bett. Für ihren Mann, nehme ich an.«

»Warum erfahre ich erst jetzt davon?«

Hartmann runzelte die Stirn: »Hannah, wenn du darüber Bescheid gewusst hättest, bevor du dich umschaust, wäre dir möglicherweise etwas entgangen.«

»Hmm«, brummte sie beleidigt. »Weil ich mich am Verhalten von Kollegen orientiere und froh bin, früher in den Feierabend zu gehen? Vergiss es, Hardy! Man kann mir viel vorwerfen, aber das nicht. Du weißt, dass ich …«

Er unterbrach sie mit den Worten: »Herr Reinheimer müsste auch bald eintreffen«, um sie zu beruhigen und wieder auf den Fall zu fokussieren. Hartmann wusste, dass seine Kollegin noch mit manchem aus ihrer Dienstzeit in Hamburg haderte.

»Wir haben ihn aus einem Meeting in Düsseldorf geholt. Er versprach, sofort zu kommen.«

»Was macht er beruflich?«

»Er ist Abteilungsleiter einer Firma in Kelsterbach. Was genau die machen, fragst du ihn am besten selbst. Irgendetwas mit Spedition, Zoll und so ein Kram. Jedenfalls absolut uninteressant für mich, deshalb kann ich es mir vermutlich auch nicht genau merken.«

»Das Einsetzen der Demenz beginnt mit dem zwanzigsten Lebensjahr«, antwortete sie mit wiederkehrendem Sarkasmus. »Wie alt bist du noch mal?«

»Ein Jahr jünger als du. Es bleibt mir also noch ein wenig mehr Hirnschmalz zur Verfügung, als dir, werte Kollegin.«

»Abwarten, wie sich dein Genpool auf die Entwicklung auswirkt. Ernsthaft, das mit dem frühen Beginn der Krankheit habe ich neulich beim Blättern in einer Illustrierten gelesen. Kann einem ordentlich Angst einjagen, stimmt’s?«

»Allerdings«, erwiderte Hartmann. Er dachte an seine Tante, die vor Jahren ins Land des Vergessens abgeglitten war und nur für kurze und kostbare Augenblicke wieder daraus hervortauchte. »Was die familiäre Disposition angeht, habe ich beschissene Karten. Du weißt von Tante Monika?«

»Ja.« Hannah nickte zerknirscht. »Entschuldige bitte. Ich wollte dich nicht in trübe Gedanken treiben. Ist mir nur so eingefallen, dieser Bericht.«

»Völlig in Ordnung«, erwiderte er betont lässig.

Sie durchschaute seinen Versuch, ungezwungen zu erscheinen, ohne Probleme.

»Hol mir den Abschiedsbrief«, bat sie, um ihn zu beschäftigen und vom Grübeln zu befreien.

»Jawohl! Wird sofort erledigt«, reagierte er im Befehlston und dankbar für die Ablenkung.

Die Kommissarin nahm am Küchentisch Platz und rieb ihre Schläfen. Das erste sanfte Brummen einer Migräne wurde spürbar. Eine Strafe für erhöhte Konzentration, die sie seit Jugendtagen häufig zahlte. Dazu trug heute bei, dass sie sich für die unbedachte Bemerkung gegenüber Hardy ärgerte und schämte.

Hartmann ging aus der Küche und kam fast augenblicklich mit einem gefalteten DIN-A4-Blatt zurück. »Hier! Viel ist es nicht«, erklärte er und übergab ihr den Bogen.

Hannah las:

Ich weiß, wir hätten es schaffen können, doch der Weg war zu steinig für mich, meine Kraft kaum mehr vorhanden. Wir sehen uns in einem besseren Leben, wo uns niemand je wieder zu scheiden vermag. Ich liebe Dich.

Marion

»Himmel, das klingt aber, wie soll ich sagen, reichlich gestelzt und melodramatisch, oder? Shakespeare lässt grüßen.«

Jens lächelte: »Diesmal sind wir zu hundert Prozent einer Meinung. Die Frau scheint einen Hang zum Drama zu haben. Dieser Brief und dazu das Lied, ziemlich dick aufgetragen. Ob sie geraucht hat?«

»Wie kommst du denn jetzt darauf?« Hannah zog fragend die Augenbrauen nach oben.

»Ich wüsste nur gerne, ob man hier rauchen darf«, erklärte er grinsend, zog eine Packung Zigaretten aus der Jackentasche und setzte sich neben seine Partnerin.

»Anstatt dich zu fragen, ob du hier ungestraft eine quarzen kannst, solltest du besser einen Blick ins Bücherregal werfen. Oder hast du das bereits erledigt?«

»Nein, sorry. Aber die Idee hat was. Ich suche nach Klassikern, stimmt’s?«

»Blitzmerker. Du schaffst es immer wieder, mich mit deinem Intellekt zu überzeugen. Respekt, Kollege Hartmann«, gab sie grinsend zurück und wies mit einer Handbewegung Richtung Wohnzimmer.

***

Das monotone, unheilverkündende Brummgeräusch im Schädel nahm zu, während sie auf die Auskunft von Hardy wartete. Vor ihrem geistigen Auge visualisierte sie erneut das Bild der Toten in der Wanne. Irgendetwas roch hier oberfaul, das spürte sie überdeutlich. Leider stellte sich die entscheidende Erleuchtung, an der sie diese Vermutung festmachen konnte, nicht ein. Der wummernde und pochende Schmerz, der strahlenförmig über ihrer Stirn tobte, entlockte ihr ein mattes Stöhnen.

»Alles in Ordnung?« Hartmann stand in der Küchentür und schaute besorgt.

»Kopfschmerzen«, antwortete sie kraftlos. »Das wird wieder. Schieß los, hast du etwas gefunden?«

»Fehlanzeige. So etwas wie ein echtes Bücherregal gibt es nicht. Einige wenige Exemplare lagen in einer Schublade.«

»Merkwürdig. Ich hätte einen Eid darauf geschworen, dass die Frau literarisch hochwertige Werke besessen und deswegen so schwulstig geschrieben hat.«

»Du kannst dich gerne selbst davon überzeugen. Aber zuerst solltest du ein Glas Wasser trinken und eine Tablette nehmen. Du siehst echt blass aus. Eine kränkelnde Mitstreiterin brauche ich zurzeit überhaupt nicht!«

»Brauchbarer Einwand, mache ich sofort. Lass mich trotzdem kurz mit dir ins Wohnzimmer gehen und die Bücher ansehen.«

Im Zimmer angekommen warf sie einen Blick aus dem Fenster. Die Aussicht auf die neu gebaute Brücke der Stadt wirkte grandios. Ließ man jedoch seine Augen nach unten schweifen, musste man den Anblick eines verwahrlosten Müllplatzes ertragen. Es gab erheblich mehr Müllsäcke, als die aufgestellten Tonnen fassen konnten, weshalb sie in wildem Durcheinander auf dem Platz lagen. Die Sicht auf den Inhalt blieb wegen der aufgeplatzten Beutel nicht verborgen und die Kommissarin glaubte fast, den Gestank bis in die neunte Etage zu riechen.

»So ein Haufen Dreck«, schimpfte Hannah. »Ein paar zusätzliche Mülltonnen würden vermutlich Abhilfe schaffen! Eine echte Zumutung für die Mieter in den unteren Stockwerken. Stinkt genauso zum Himmel wie die Leiche der Frau. Ich sage dir, da stimmt was nicht. Leider bisher nur ein Instinkt, denn die zündende Idee, worauf wir achten sollten oder was wir übersehen, fehlt mir noch.«

»Also, was haben wir?«, fragte ihr Partner und schob die Antwort auf seine Frage sogleich hinterher. »Eine Dame in der Badewanne, die es sich unverkennbar behaglich zum Sterben gemacht hat. Einen Abschiedsbrief und dazu, das vermute ich jetzt zur Abwechslung ins Blaue hinein, genug Betäubungs- oder Schlafmittel in ihrem Blut, um einen Elefanten umzubringen. Ich schlage vor, wir gedulden uns bis nach dem Gespräch mit dem Ehemann. Der Autopsiebericht hilft deiner Intuition womöglich auf die Sprünge, falls nicht, schließen wir die Akte. Es sei denn, du hast einen besseren Vorschlag«, ergänzte er und schnippte die Asche der Zigarette in ein leeres Glas, das auf der Fensterbank stand.

»Die Lautstärke irritiert mich genauso wie der Umstand, dass im Badezimmer null Gegenstände umherlagen, mit denen sie den Suizid durchgeführt haben könnte. Ich verstehe, dass auf den ersten Blick alles darauf hindeutet. Besonders wenn man einen Abschiedsbrief in den Händen hält«, warf sie nachdenklich ein. »Trotzdem will ich einfach nichts übersehen, falls kein Freitod vorliegt. Da ziehen wir doch an einem Strang?«

»Selbstverständlich, Hannah. Die Spurensicherung soll besonders auf Fingerabdrücke achten. Sollte dein Gefühl durch einen handfesten Beweis untermauert werden, kannst du auf mich zählen. Warum fragst du so etwas?«

»Ach, vergiss es. Nur Nachwehen aus Hamburg und unwichtig. Mein Kopf vibriert höllisch und ich hoffe, dass unser Doc sich beeilt. Wir kommen zu einem freien Wochenende, falls alles reibungslos läuft und du recht behältst. Verlass dich aber besser kein bisschen darauf. Dieses Bauchgefühl«, sie zeigte mit beiden Zeigefingern auf ihre Körpermitte, »hat mich nie im Stich gelassen. Zumindest in beruflicher Hinsicht. Am Rest sollte ich noch arbeiten. Samstag und Sonntag dienstfrei bei dir, oder? Ich meine, rein theoretisch?«

Hartmann nickte sie strahlend an: »Ja! Achtundvierzig Stunden ohne Job und nicht den blassesten Schimmer, was ich mit so viel Freizeit anfangen soll. Ideen von deiner Seite?«

»Such dir endlich ein Hobby, sammle Briefmarken, Kronkorken oder Autogramme. Ansonsten kletter auf Berge, davon haben wir im Taunus doch genug. Du könntest auch der Theater-AG beitreten, ich hörte, sie geben demnächst Shakespeare. All das ist besser, als ständig im Internet nach der Dame fürs Leben Ausschau zu halten. Die triffst du eher im Gebirge, im Kino oder einem Restaurant als dort.«

»Drei meiner Kumpels haben so auch ihre Frau …«

Das Telefon klingelte und unterbrach Hartmanns Ausführungen. Hannah stand auf und nahm ab: »Bei Familie Reinheimer.«

Ein kurzes Rauschen in der Leitung, dann, mit blechern klingender, veränderter Stimme: »Katzensitter gesucht!«, gefolgt von einem Klicken. Der Anrufer hatte aufgelegt.

Sie schaute auf das Display, auf dem keine Telefonnummer angezeigt wurde.

»Scheiße«, rief sie verärgert.

»Wer war das?«

Die Kommissarin zuckte die Schultern. »Hmm, kann ich nicht sagen, meinte nur, Katzensitter gesucht.«

»Hä?«, Hartmann sah sie fragend an. »Das war alles? Männlich, weiblich?«

»Schwer zu erkennen, wegen der verzerrten Stimme. Ich tippe aber eher auf einen Kerl. Hast du Hinweise gefunden, dass es hier eine Katze gibt, Katzenklo, Haare oder dergleichen?«

»Nein, das hätte mein Radar mir signalisiert, Augen und Nase sind trocken.«

Hannah grinste verlegen. »Ach ja, deine Allergie, vergessen. Ich fand den Anruf recht eigenartig und will das vorsichtshalber überprüfen«, erklärte sie nachdenklich.

Jens Hartmann stand auf. »Ich übernehme das und versuche herauszubekommen, von wo aus angerufen wurde. Komme gleich wieder.«

Hannah hörte seine harten Schritte im Hausflur. In ihrem Kopf pochte und klopfte es immer heftiger, sie ging zurück ins Badezimmer. Dort streifte sie erneut Handschuhe über und öffnete die Türen und Schubladen des Badezimmerschrankes. Sie drehte die Medikamentenverpackungen, um zu erkennen, um was es sich im Einzelnen handelte. Zwei verschiedene Sedativa, ein Schlafmittel, Magenpräparate und ein Schmerzmittel.

»Na also«, dachte sie, nahm die Dose heraus, schraubte sie auf und ließ gleich drei Tabletten in ihre Hand fallen.

Zurück in der Küche schaute sie in die Schränke, um ein Glas zu finden. Sie drehte den Wasserhahn auf, füllte es zur Hälfte und schluckte die Tabletten mit verzerrtem Gesicht und Ekel hinunter. Matt ließ Hannah sich auf einem der Stühle nieder und hoffte auf rasche Linderung. Dass sie ohne ein Bett mit extra weichem Kissen und abgedunkeltem Raum niemals schmerzfrei wurde, wusste sie aus langjähriger Erfahrung. Doch wenn das Wummern und Dröhnen erst ein wenig nachließ, konnte sie ihre Gedanken und Ideen zumindest wieder besser ordnen. Sie schloss die Augen und versuchte, die Konzentration zurückzuerlangen. Nach einem Moment der Entspannung schlug sie sich ausgesprochen behutsam gegen die Stirn. »Natürlich! Die Tabletten stehen im Badezimmerschrank und darunter ist ein Waschbecken. Hardy hat recht, es war Selbstmord. Sie nimmt die Medikamente in die Hand, trinkt von dem Wasserstrahl und fertig. Dann ab in die Badewanne und abwarten, bis der Gift-Cocktail die erwünschte Wirkung zeigt. Hin und wieder hat man in der Tat Tomaten auf den Augen und das berühmte Brett vorm Kopf gesellt sich munter dazu«, informierte sie die leere Küche. Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen? Ich scheine heute nicht in Bestform zu sein.«

In diesem Augenblick betrat Jens Hartmann die Wohnung. »Es wurde ein Prepaid-Handy benutzt.«

»Mistkram. Könnte allerdings auch sein, dass jemand einen Spaßanruf getätigt hat. Belassen wir es zunächst dabei. Ich bin deiner Meinung und gehe von einem Freitod aus.«

»Woher der plötzliche Sinneswandel?«

Sie erzählte ihm von den Tabletten im Badezimmer und was sich ihrer Auffassung nach abgespielt haben könnte. Hartmann nickte und verzichtete auf eine neckende Erwiderung. Ein Umstand, den Hannah außerordentlich schätzte. Wagner wäre wie eine Hyäne mit Aasgeruch in der Witterung auf sie gesprungen und hätte ihr tagelang vorgeworfen, nicht gründlich gewesen zu sein.

»Wohin hast du ihren Mann bestellt? Ins Präsidium oder in die Wohnung?«

»Hierher, warum?«

»Weil auf meinem Schreibtisch ein Haufen Arbeit liegt. Mir wäre ein Gespräch auf dem Revier lieber.«

»Meinetwegen. Die Spurensicherung ist fast fertig, nur das Treppenhaus steht noch aus. Wenn wir von Selbstmord ausgehen, was wir tun, oder?«, er sah sie prüfend an und Hannah nickte bejahend, »dann sind die hier abmarschbereit.«

»Ruf Herrn Reinheimer an und gib ihm Bescheid. Hast du seine Handynummer?«

»Ja, hier«, erklärte er und fingerte einen kleinen Zettel aus der Hosentasche. »Ich versuche, ihn an die Strippe zu bekommen. Hoffentlich gibt es eine Freisprechanlage in seinem Auto.«

»Danke. Da fällt mir ein, wen hat sie als Letztes angerufen? Ist das überprüft?«

Jens Hartmann schüttelte den Kopf und errötete. »Sorry, wollte ich gerade machen, als du zur Tür reingekommen bist.«

»Himmel, Hardy, bist du lahmarschig«, schimpfte sie in absichtlich lautem und tadelndem Ton. Ein Kollege der Spurensicherung lachte vernehmlich im Hausflur.

»Wenigstens laufen wir beide heute nicht rund«, erklärte sie amüsiert.

Sie nahm den Hörer vom Telefon, das im Flur auf einem kleinen Tischchen stand, drückte die Wahlwiederholungstaste und wartete.

»Guten Tag, Sie sind verbunden mit dem automatischen Anrufbeantworter der Praxis Dr. Klingelbach. Leider sind wir im Augenblick nicht für Sie erreichbar. Unsere Sprechzeiten sind täglich von acht Uhr bis elf Uhr. In dringenden Notfällen wenden Sie sich bitte an die psychiatrische Ambulanz …«

Sie legte auf, nahm einen Zettel vom Notizblock neben dem Apparat, notierte die Nummer und steckte ihn ein. Jens Hartmann klappte sein Oldschool-Handy zu, mit dem Hannah ihn schrecklich gern aufzog, als sie die Küche betrat.

»Hat dein oller Hörknochen ein Telefonat zustande gebracht?«

»Erst als ich Hilfe vom Deutschen Museum bekommen habe, um die Verbindung zu schalten.« Er lachte gequält. »So alt ist es keineswegs, und warum muss ich mehr damit können als telefonieren?«

»Weshalb wohnst du in einer Wohnung und nicht in einer Höhle?«, gab sie neckend zurück.

»Ich habe ein nagelneues Smartphone zu Hause liegen, aber ehrlich gesagt scheue ich mich noch davor, es zu benutzen.«

»Schöne Grüße aus dem Neandertal. Mensch, Hardy, nimm das endlich in Angriff.«

»Geht klar, gleich heute Abend. Ihr Mann kommt ins Präsidium, braucht etwa zwei Stunden. Soweit man den Angaben meiner völlig veralteten Telefontechnik trauen darf.«

»Wunderbar«, entgegnete sie grinsend, »dann lass uns fahren.«

Er nickte. »Wer war die letzte gewählte Nummer?«

»Eine Praxis, bereits notiert. Das müssen wir später checken, im Augenblick kann man nur mit dem Anrufbeantworter ins Gespräch kommen. Und jetzt los, Mitheimer macht mich rund, wenn er merkt, mit wie vielen Berichten ich im Rückstand bin.«

»Was treibst du tagsüber im Büro, dass du so im Hintertreffen bist? Doch wohl nicht im Internet Kerle aufreißen und Blind Dates ausmachen?« Er lächelte verschmitzt.

»Du erinnerst dich, dass ich nach meiner letzten Beziehung ewige Enthaltsamkeit gelobt habe?«, erwiderte sie und versuchte, eine ernste Miene zu wahren.

»Ja«, entgegnete er glucksend, »ich erinnere mich nur zu gut. Vor allem an das Gefühl während des Gesprächs, dir keine Sekunde zu glauben.«

»Blödmann!« Sie streckte Hardy die Zunge heraus. »Und jetzt komm endlich.«

Hartmann schaffte es immer, dass sie mit Spott und Belustigung an ihre vermasselte Vergangenheit dachte, statt darüber in Trübsal zu versinken. Ein Umstand, den sie jeden Tag mehr zu würdigen wusste.

Im Treppenhaus trafen sie auf den zuständigen Rechtsmediziner.

»Herr Dr. Winterherbst, ich freue mich, dass Sie den Fall übernehmen«, rief Hartmann und streckte ihm die Hand entgegen.

Der Arzt konterte übellaunig: »Ich nicht! Bin von meinem Ferienhaus in Taunusstein angerückt. Das zum Thema freie Tage.«

»Oh, wie ärgerlich«, erwiderte Hannah, zog Hartmann am Pullover und trieb ihn zur Eile an.

Als der Doktor in der Wohnung verschwand, seufzte Hardy theatralisch und spottete: »Total bedauernswert, nicht wahr? Da hat man genug Kohle, um ein Ferienhaus zu kaufen, und bekommt keine Freizeit, um es zu nutzen, jammerschade!«

»Du bist ein bösartiges Wesen, Jens Hartmann, und von Neid zerfressen, weißt du das? Gönn ihm diesen Luxus, er steht sich das halbe Leben in einem kalten Keller den Rücken bucklig.«

»Mir kommen die Tränen!

***

Josef Mitheimer schaute kurz auf, als Hannah und ihr Kollege sein Büro betraten. »Irgendwelche Erkenntnisse?«

Die Kommissarin zog einen Stuhl heran und nahm ihrem Chef gegenüber Platz. »Sieht nach einem Selbstmord aus, wir haben einen Abschiedsbrief und keinerlei Hinweise auf Fremdeinwirken.«

Mitheimer nickte.

»Trotzdem sprechen wir noch mit dem Ehemann. Einige Dinge erscheinen mir etwas, wie soll ich sagen, seltsam.«

»Zum Beispiel?«, fragte ihr Chef und sah sie zum ersten Mal an.

»Lassen Sie mich das nach dem Gespräch mit dem Mann erläutern. Bisher ist es eher ein dumpfes Gefühl.«

Er nickte erneut. »Wann rechnen Sie mit ihm?«

»In etwa zwei Stunden. Er saß in einer Besprechung, als ich ihn erreicht habe«, erklärte Hartmann, drehte sich um und verließ den Raum.

»War die Rechtsmedizin schon vor Ort?«

»Herr Dr. Winterherbst kam uns im Treppenhaus entgegen, direkt aus seinem Ferienhaus und stocksauer. Meine oberflächige Inspektion der Frau ergab keinen Hinweis auf ein Fremdeinwirken. Einen hundertprozentigen Ausschluss bringt der Abschlussbericht der Gerichtsmedizin. Ich bin sehr interessiert daran, was er alles in ihrem Blut findet.«

Mitheimer winkte genervt ab. »So, Sie sind gespannt. Wissen Sie, auf was ich atemlos lauere?«

Hannah rutschte nervös auf dem Stuhl hin und her. »Nein.«

»Wie lange es dauern wird, bis ich sämtliche Berichte Ihrer Fälle der letzten Monate auf dem Schreibtisch liegen habe. Meine Geduld diesbezüglich ist etwas strapaziert!«

»Ich dachte, ich nehme mir die Akten am Wochenende mit nach Hause. Leider sind Sie mir mit Ihrem Tadel zuvorgekommen«, erklärte sie wenig überzeugend und hoffte, dass ihr Chef den Köder schluckte.

»Sicher, ohne Frage, und am Montag sind die Sachen erledigt und vom Tisch. Selbst mein Vater würde Ihnen das keinesfalls abkaufen. Und der, das lassen Sie mich bitte ergänzen, glaubt per se alles, was er hört«, erwiderte er düster und übellaunig. »Zudem ist es keineswegs das erste Wochenende, an dem Sie sich an die Akten machen konnten.«

Er schien wegen der zu bearbeitenden Unterlagen nicht nur leicht verschnupft, sondern einem echten Wutausbruch viel näher, als sie erwartet hatte.

»Würden Sie bitte nachsehen, was für ein Arzt Dr. Klingelbach ist? Er ist der Letzte, mit dem eine telefonische Verbindung aus der Wohnung der Reinheimers bestand«, bat sie freundlich und in der Absicht, ihn auf ein anderes Thema zu lenken.

Mitheimer beugte sich über seine Tastatur und tippte knurrend den Namen ein.

»Psychotherapeut. Glauben Sie nur nicht, Sie könnten mich einlullen, am Montag möchte ich Akten hier auf dem Schreibtisch liegen sehen. Sonst können Sie feststellen, wie ungemütlich ich werden kann, mein Ehrenwort. Ich verliere Sie ausgesprochen ungern an die Registratur der Asservatenkammer. Aber wenn das so weitergeht, weiß ich mir keinen anderen Rat, verstanden?«

Höchst verlegen erwiderte sie leise: »Ich kümmere mich schleunigst darum, versprochen.«

Mitheimer nickte nur.

»Der letzte Anruf galt einem Psychotherapeuten«, dachte sie laut. »Ob sie gehofft hat, er könnte sie von ihrem Vorhaben abbringen?«

»Absolut denkbar, allerdings ist der Er eine Sie«, entgegnete der Chef und wandte sich erneut betont deutlich seinen eigenen Schriftstücken zu.

»Ich bin extrem beschäftigt, Frau Bindhoffer. Bearbeite meine Fälle, wenn Sie wissen, wovon ich spreche. Reden Sie mit dem Ehemann und dann schreiben Sie verdammt noch mal einen Bericht. Wir sehen uns Montag.«

»Angenehmes Wochenende«, murmelte Hannah verbittert, bevor sie schmollend das Büro verließ.

Vor der Tür trat sie wütend gegen die Wand. Die bereits abklingenden Kopfschmerzen meldeten sich sofort zurück, die Zehen schmerzten höllisch. Musste er immer auf ihrem einzigen Problem herumhacken? Sie verabscheute Berichte, trockene, bürokratische Ausführungen über abgeschlossene Untersuchungen zu Straftaten. Es glich einer Bildbeschreibung im Deutschunterricht, man sah, was das Bild zeigte. Musste man sich seitenweise darüber auslassen und es erklären? Welcher Sinn steckte dahinter? War der Täter zweifelsfrei ertappt, in einer ordentlichen Verhandlung verurteilt und hinter Gittern, nahm niemand mehr den entsprechenden Bericht zur Hand. Die Ausnahme bestätigte auch hier zweifelsohne die Regel. Trotzdem wollte und konnte sie dieser Art von Beschäftigung nicht den Hauch von Zuneigung entgegenbringen.

Sie trat erneut gegen die Wand, definitiv half das Herauslassen von Aggressionen eben doch, um flackernde Wut im Zaum zu halten.

***

Mit einer Stunde Verspätung erschien Thomas Reinheimer im Präsidium. Am fahlen Gesicht und den geröteten Augen sah man ihm die Mühe an, sich auf den Beinen zu halten.

»Entschuldigen Sie vielmals«, bat er kraftlos. »Zuerst auf der Autobahn kein Durchkommen und dann ein Stau auf dem Rugbyring.«

Rasch stand Hannah auf, schob einen Stuhl in seine Richtung und begrüßte ihn mit freundlicher und sanfter Stimme.

»Macht nichts, das Problem kennen wir zur Genüge. Nehmen Sie bitte Platz, Herr Reinheimer. Es tut mir leid, dass wir Sie in dieser Situation zu uns gebeten haben. Wir müssen uns vergewissern, dass Ihre Frau sich das Leben genommen hat.«

Er sah sie fest und mit vor Wut blitzenden Augen an. »Das hat sie nicht getan«, herrschte er sie an und schüttelte zur Bekräftigung heftig den Kopf. »Niemals!«

Verhaltensweisen von Hinterbliebenen waren stets schwer einzuschätzen, sie reichten von Trauer über Hysterie bis zu ausgeprägten Wutausbrüchen. Für alle Polizisten eine Herausforderung, die rasch zu einer Bürde werden konnte.

Hannah schob ihm vorsichtig den in Folie steckenden Brief zu und behielt seine Reaktion im Auge. Er nahm ihn in die Hand, las, brach in Tränen aus und sagte leise: »Sehen Sie, sie hat sich nicht umgebracht. Das war Mord. Sie würde nie so schreiben.«

»Worauf spielen Sie an? Den Text, die Schreibweise oder etwas anderes?«

»Alles! Sie müssen wissen, meine Frau hatte zeit ihres Lebens Probleme mit der Rechtschreibung, sie war Legasthenikerin. Wie also soll sie das geschrieben haben? Fehlerfrei und in diesem Stil? Niemals!«

Er verschränkte seine Arme auf dem Schreibtisch, legte den Kopf darauf und schluchzte haltlos. »Wer hat das getan?«, keuchte er atemlos.

»Herr Reinheimer, beruhigen Sie sich. Wir müssen zwar den endgültigen Bericht unseres Pathologen abwarten, aber ich fürchte, er wird zu keinem anderen Ergebnis als Selbsttötung kommen. Hatte Ihre Frau psychische Probleme?«

Er schüttelte energisch den Kopf. »Nein.«

Hannah zog ihre Augenbrauen kraus. Ahnte er in der Tat nichts oder war es ihm unangenehm, darüber zu sprechen?

»Sind Sie sicher?«

Herr Reinheimer sah auf: »Ja! Warum fragen Sie das so vehement?«

»Als ich die Wahlwiederholungstaste an Ihrem Telefon gedrückt habe, landete ich auf dem Anrufbeantworter einer psychotherapeutischen Praxis. Außerdem ist die Menge an verschiedenen Beruhigungspillen in Ihrem Badezimmerschrank beachtlich.«

Er errötete: »Die gehören mir. Ich bin seit Jahren in Behandlung.«

»Darf ich fragen, aus welchem Grund?«

»Burn-out, Stress, all diese Dinge. Glauben Sie, Marion hat sie geschluckt? Hat sie meine Tabletten benutzt, um sich das Leben zu nehmen?« Er schluchzte erneut auf.

»Davon gehen wir im Augenblick aus«, erklärte Hannah leise, sachlich und entschuldigend. »Wir haben sonst nichts entdeckt.«

»Vor etwa einem Jahr begann ich eine Therapie. Gestern rief ich Marion aus Düsseldorf an und bat sie, meinen Termin für heute bei Frau Dr. Klingelbach abzusagen. Das hat sie vermutlich getan, wenn Sie mit der Wahlwiederholung dort gelandet sind«, erklärte er weiterhin weinend.

Er wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes übers Gesicht und schluckte. »Wäre es auch denkbar, dass sie eines natürlichen Todes gestorben ist? Ich meine, könnte sie an einer Erkrankung gelitten haben, von der wir nichts wussten? Ein Tumor, eine Herzerkrankung oder was weiß ich?«

Hannah schüttelte unglücklich den Kopf. »Weshalb dann der Brief?«

»Es muss einen Hinweis geben, dass jemand in der Wohnung war. Warum sollte sie aus dem Leben scheiden wollen? Dafür finde ich keine Erklärung. Sie schien absolut ausgeglichen und glücklich. Ich habe sie mehr geliebt als alles andere.«

»Möchten Sie etwas zu trinken, bevor wir weitermachen?«, fragte Hannah sanft.

Thomas Reinheimer schüttelte den Kopf, putzte sich mit einem zerfledderten Taschentuch, das er aus der Hosentasche zog, die Nase und bat: »Fragen Sie weiter.«

»Wie würden Sie Ihre Ehe schildern? Harmonisch?«

»Ja«, erwiderte er sofort. »Ich sagte Ihnen doch bereits, wie sehr wir uns geliebt haben.«

»Und das Leben Ihrer Frau? Ich meine, was hat sie gemacht? Hatte sie viele Freunde, ein Hobby? Was machte sie beruflich?«