Spuren der Korruption - Heidi Oehlmann - E-Book

Spuren der Korruption E-Book

Heidi Oehlmann

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Beschreibung

Anina hat nach langer Suche wieder einen Job bei einer Versicherungsgesellschaft bekommen. Anfangs soll sie von einem Kollegen eingearbeitet werden, der ihr alles andere als sympathisch ist. Mit der Zeit fallen ihr Ungereimtheiten auf, die auf Versicherungsbetrug schließen lassen. Es gibt etliche Todesfälle, die Anina stutzig machen. Sie versucht auf eigene Faust, Beweise zu sammeln. Gleichzeitig lernt sie den Polizisten Ulf kennen und weiß nicht, ob sie ihm vertrauen kann. Hat Ulf etwas mit den Betrügereien zu tun? Bekommt Anina genug Beweismaterial zusammen, um die Versicherung ans Messer zu liefern?

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Seitenzahl: 307

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Heidi Oehlmann

Spuren der Korruption

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Anina

2. Knoll

3. Anina

4. Julian

5. Anina

6. Julian

7. Anina

8. Knoll

9. Anina

10. Julian

11. Anina

12. Ulf

13. Anina

14. Julian

15. Anina

16. Ulf

17. Anina

18. Julian

19. Anina

20. Ulf

21. Anina

22. Knoll

23. Anina

24. Knoll

25. Anina

26. Ulf

27. Anina

28. Ulf

29. Anina

30. Ulf

31. Anina

32. Ulf

33. Anina

34. Ulf

35. Anina

36. Ulf

37. Anina

38. Julian

39. Ulf

40. Anina

41. Ulf

42. Julian

43. Ulf

44. Anina

45. Ulf

46. Knoll

47. Ulf

48. Knoll

49. Ulf

50. Knoll

51. Ulf

52. Knoll

53. Ulf

54. Knoll

55. Ulf

56. Knoll

57. Ulf

58. Knoll

59. Ulf

60. Knoll

61. Ulf

62. Knoll

63. Ulf

64. Knoll

65. Ulf

66. Knoll

67. Ulf

68. Knoll

69. Ulf

70. Knoll

71. Ulf

72. Knoll

73. Ulf

Impressum neobooks

1. Anina

»Ja«, jubele ich flüsternd, als ich das Büro des Personalchefs der Versicherungsgesellschaft verlasse. Mit einem breiten Grinsen schlendere ich aus dem Gebäude. Ich kann nicht glauben, den Job bei der RVVG - Regionale Volksversicherungsgesellschaft - so einfach bekommen zu haben. Innerlich hatte ich mich auf eine Ablehnung eingestellt. In den letzten Wochen brachte ich ein Vorstellungsgespräch nach dem anderen hinter mich. Anschließend hagelte es Absagen. Ich hatte die Hoffnung der Arbeitslosigkeit zu entfliehen fast aufgegeben. Umso glücklicher bin ich über die neue Arbeitsstelle. Das Einzige, was mich an dem Job stört, ist die Aussicht nur im Außendienst tätig zu sein. Das heißt, ich muss zu den Kunden fahren. Ich weiß, wie aufgeregt ich vor dem ersten Termin sein werde. Immerhin hatte ich bisher keine Außentermine gehabt. Im Gegenteil, die Leute kamen zu mir, wenn sie etwas wollten. Es war leicht, Umsatz zu generieren. In meinem alten Job gehörte ich zu den Besten. Dennoch wurde ich vor einem Vierteljahr aus einem scheinheiligen Grund entlassen. Angeblich wurden nicht mehr so viele Mitarbeiter gebraucht. Das glaube ich weniger. Warum sonst hatten sie vielmehr Lehrlinge eingestellt, als in den Jahren zuvor? Sie wollten Kosten einsparen, indem sie Vollzeitkräfte gegen günstige Berufseinsteiger austauschten. Sobald sie ausgelernt sind, werden sie gekündigt. Solange dürfen sie die Aufgaben erledigen, die sonst keiner machen will. Ich muss es wissen, auch ich machte meine Ausbildung dort und schloss sie vor einem Dreivierteljahr ab. Seit meiner Entlassung war ich auf der Suche nach einer Festanstellung. Ich hatte einige Angebote, auf Provisionsbasis zu arbeiten. Doch ich brauche die Sicherheit eines festen Einkommens. Nur von der Provision zu leben, ist mir zu unsicher. Meinen Vermieter würde es kaum interessieren, wenn ich einen schlechten Monat hätte und ich die Miete nicht bezahlen könnte. Also lebte ich das letzte Vierteljahr übergangsweise vom Staat und freute mich, mir durch den neuen Job die Gänge zu den Ämtern zu ersparen. Es kostete mich eine Menge Mut, dort hinzugehen und um Geld zu betteln. Nun musste ich mich nur überwinden, zu den Kunden zu fahren, um bei ihnen die Verkaufsgespräche zu führen.

Noch immer lächelnd erreiche ich den Parkplatz der RVVG. Ich gehe zu meinem Wagen und steige ein. Nachdem ich den Motor gestartet habe, schalte ich das Radio ein und stimme lautstark in den Song ein, der gerade läuft. Überglücklich fahre ich nach Hause. Im Hinterkopf bleibt die Angst vor dem kommenden Tag, vor meinem ersten Arbeitstag. Von dem Personalchef weiß ich, dass ich gleich sieben Termine an diesem Tag haben werde. Noch bin ich ruhig, aber spätestens am nächsten Morgen wird die Aufregung größer sein als die Freude. Da bin ich mir sicher. Dabei brauche ich die Kunden nicht alleine besuchen. Ein Kollege soll mich in den ersten Wochen begleiten und einarbeiten, damit ich den Ablauf kennenlernen und mich mit den Produkten vertraut machen kann. Viel muss ich also noch nicht tun. Solange ich nicht weiß, mit wem ich die ersten Tage unterwegs sein werde, ist es schwer, mich zu beruhigen. Bis jetzt kenne ich nur den Namen meines Begleiters. Er heißt Julian Flisch. Der Name klingt nach einem jungen Mann. Über seinen Charakter verrät er mir nichts. Insgeheim hoffe ich auf einen netten Kollegen, mit dem ich gut auskomme. Es wäre kaum auszuhalten, wenn es jemand ist, mit dem ich mich überhaupt nicht verstehe.

2. Knoll

Ich schlendere über den Flur zum Büro meines besten Mitarbeiters. Nachdem ich angeklopft habe, öffne ich, ohne auf eine Reaktion zu warten, die Tür so weit, dass mein Kopf hindurchpasst.

Julian Flisch sitzt an seinem Schreibtisch und ist in die Arbeit vertieft. Er hat mein Klopfen nicht bemerkt.

»Julian!«

»Ja.« Flisch zuckt zusammen und schaut zu mir.

»Ab Morgen haben wir eine neue Mitarbeiterin. Sie heißt Anina Geiger. Ich möchte, dass du sie einarbeitest.«

»Okay, das mache ich doch gern. Wie ist sie so?«

»Sie ist ganz nett, sonst hätte ich sie ja nicht eingestellt. Na ja, ein bisschen naiv scheint sie zu sein.«

»Das ist doch gut, oder nicht?«

»Sicher. Du solltest trotzdem vorsichtig sein, bis wir sie besser einschätzen können. Also lass sie möglichst nicht aus den Augen!«

»Geht klar, Detlef.«

Ich schließe seine Bürotür und gehe zurück in mein Büro. Dabei überlege ich, ob ich mit der Anstellung von Frau Geiger die richtige Entscheidung getroffen habe oder es zu voreilig war. Der Gedanke an ihre Probezeit beruhigt mich. Ich kann sie jederzeit entlassen, falls sie keine Leistungen bringt. Schließlich erwarten unsere Vorgesetzten in der Zentrale Höchstleistungen von uns. Das können wir nur schaffen, wenn wir ein gutes Team sind.

3. Anina

»So ein Mist!«, schreie ich, als mir der Schlüsselbund aus der Hand fällt. Ich bin gerade dabei, meinen Wagen auf dem Parkplatz der RVVG abzustellen. Meine Hände zittern so stark, dass ich nicht in der Lage bin, die Schlüssel festzuhalten. Mich wundert es kaum. In der vergangenen Nacht fand ich nur wenig Schlaf. Ich habe mir vorgestellt, wie die Begegnung mit diesem Julian verlaufen könnte. Ich hoffe, er ist nett und verständnisvoll. Am meisten Sorge bereitet mir der Gedanke, ich müsste ohne Produktkenntnisse allein ein Verkaufsgespräch führen. Der Chef hat mir gestern Produktinformationen mitgegeben, die ich am Abend bis in die Nacht hinein studierte. Mir sind jedoch kaum Informationen im Gedächtnis hängen geblieben. Dafür sind es zu viele Unterlagen. Die Unterschiede zu den Produkten meines ehemaligen Arbeitgebers sind gravierend. Es gibt kaum Parallelen. Ich werde alles neu lernen müssen.

Endlich habe ich es geschafft, den Schlüssel aufzuheben. Nun will ich den Wagen abschließen, ich benötige mehrere Anläufe, um es zu schaffen. Ich zittere immer heftiger. Ängstlich schaue ich mich um. Ich habe das Gefühl, beobachtet zu werden. Derjenige muss meine Nervosität bemerken. Mir kommt es zumindest so vor, als ob man von Weitem sehen kann, wie mein Körper zittert. Das macht es mir noch schwerer.

Inzwischen habe ich klitschnasse Hände bekommen. In meinem Magen macht sich ein flaues Gefühl breit. Am liebsten möchte ich zurück in den Wagen steigen und mich aus dem Staub machen. Der Gedanke ein weiteres Mal beim Amt um Geld zu betteln, hält mich davon ab. Mir reicht es schon, sie über den neuen Job in Kenntnis zu setzen. Dafür will ich nicht extra hinfahren. Ich werde ein Schreiben aufsetzen und es ihnen per Post schicken. Das sollte reichen. Ich nehme mir fest vor, das am Abend zu erledigen, damit ich dieses Kapitel endlich hinter mir lassen kann.

Mit kleinen Schritten gehe ich auf das Gebäude zu. Mit jedem Meter, den ich mich der RVVG nähere, geht es mir schlechter. Ich verringere unbewusst die Geschwindigkeit. Doch der Weg ist nicht allzu weit. Die Langsamkeit nutzt mir wenig.

In solchen Situationen frage ich mich immer, warum ich mich damals ausgerechnet dazu entschieden habe, Versicherungskauffrau zu werden. Eigentlich passt der Job nicht zu mir. Ich bin jedes Mal unheimlich aufgeregt, wenn ich auf neue Menschen treffe. Sobald sie vor mir stehen, lässt dieses Gefühl schnell nach. Im Grunde habe ich mich damals nur dafür entschieden, weil ich dringend einen Ausbildungsplatz gesucht und mich bei den unterschiedlichsten Firmen beworben habe. Mir war es fast egal, wo ich arbeitete, solange ich überhaupt irgendwo etwas bekam. Eine Versicherungsgesellschaft war auch darunter, das war die erste Firma, die mir sofort eine Zusage für eine Lehrstelle gegeben hatte. Also nahm ich sie an. Mit der Zeit merkte ich, wie viel Spaß mir der Job macht. Damals hätte ich nur nicht gedacht, irgendwann in den Außendienst zu wechseln.

Als ich vor der Eingangstür stehe, zögere ich einen Augenblick. Ich atme tief durch und spreche mir gedanklich Mut zu. Leider bringt es nicht viel. Meine Aufregung verringert sich kein bisschen. Zitternd öffne ich die Tür und gehe schnurstracks auf das Büro des Chefs zu. Wie erwartet, ist die Bürotür verschlossen. Das verschafft mir einen Moment Zeit, um nochmals tief durchzuatmen. Dann klopfe ich an. Es dauert eine Weile, bis ich ein »Herein« vernehme. Ich erkenne die Stimme sofort. Es ist die von Herrn Knoll. Ich greife nach der Türklinke, drücke sie hinunter und schiebe die Tür auf. Als ich im Büro stehe, fühle ich mich plötzlich viel selbstbewusster. Es ist, als hätte sich ein Schalter in meinem Kopf umgelegt, es fühlt sich an, als wäre nichts gewesen.

»Hallo Frau Geiger, schön, dass Sie so pünktlich sind«, begrüßt mich Herr Knoll mit einem breiten Lächeln. Er erhebt sich und reicht mir die Hand.

»Guten Tag Herr Knoll«, antworte ich freundlich.

»Dann bringe ich Sie gleich zu ihrem neuen Kollegen Julian Flisch.« Der Chef geht ohne Umschweife an mir vorbei. Er verlässt sein Büro. Ich folge ihm und muss mir Mühe geben, mit seinem Tempo mithalten zu können. Er bewegt sich so zügig, dass es fast einem Sprint gleicht, zumindest für mich in meinen Pumps. Im Vergleich zu Knoll komme ich mir vor wie eine Schnecke. Vielleicht hätte ich heute Morgen auch nicht gerade die Schuhe mit dem höchsten Absatz wählen sollen. Im Geist stelle ich mir vor, wie die nächsten Stunden verlaufen würden, falls dieser Julian das gleiche Tempo drauf hat wie der Chef. Wenn ich den ganzen Tag so rennen muss, habe ich mir in den Schuhen bis zum Abend bestimmt einen Fuß gebrochen oder bin zumindest umgeknickt.

Vor einer Tür in der Mitte des Flurs macht Knoll halt. Er dreht sich zu mir, um zu schauen, ob ich ihm gefolgt bin. Dann klopft er an die Tür. Statt auf eine Antwort zu warten, stürmt er hinein. Ich gehe mit kleinen Schritten hinterher und bin wieder ein wenig aufgeregt. Das wird so lange anhalten, bis ich den neuen Kollegen begrüßt habe.

»Darf ich vorstellen? Das ist Frau Geiger, die neue Kollegin«, sagt Knoll zu dem erschrockenen Mann, der hinter dem Schreibtisch sitzt und aufschaut. Dann wendet er sich mir zu. »Und das ist Herr Flisch. Er wird Sie in den nächsten Wochen einarbeiten.«

»Hallo, es freut mich, Sie kennenzulernen«, sagt Julian Flisch mit hoher, fast schon piepsender Stimme. Gleichzeitig erhebt er sich und streckt mir über seinen Schreibtisch hinweg die rechte Hand entgegen.

Ich mache einen Schritt nach vorn, reiche ihm die Hand und sage: »Mich auch.«

»Ihr kommt zurecht?«, fragt Knoll. Seinem Blick zu urteilen, war die Frage an den jungen Kollegen gerichtet.

Flisch nickt nur.

»Gut. Dann lasse ich euch jetzt alleine. Ich habe noch eine Menge zu tun. Ich wünsche euch eine gute Zusammenarbeit und einen erfolgreichen Tag«, sagt Knoll und verlässt das Büro, ohne eine Antwort abzuwarten.

Ich stehe vor dem Schreibtisch und mustere den jungen Mann. Er sieht aus, als wäre er noch in der Schule. So ähnlich sahen früher die Streber in meiner Klasse aus. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich diesen kurpulenten Typen auf höchstens fünfzehn Jahre schätzen. Ein Alter, in dem einen die Pubertät vollständig im Griff hat, zu einer Zeit, in der die Haut mit Pickeln übersät ist und sich der Stimmbruch bei dem männlichen Geschlecht bemerkbar macht. Ob dieser Flisch im Stimmwechsel ist, kann ich nur schwer einschätzen. Dazu hat er zu wenig gesprochen. Mir fiel nur seine hohe Stimme auf, als er mich begrüßte. Es könnte also sein.

Julian Flisch mustert mich ebenfalls von Kopf bis Fuß und sagt keinen Ton. Ich fühle mich wie auf einem Präsentierteller. Die Situation ist mir äußerst unangenehm. Ich reiße mich zusammen, still stehenzubleiben und abzuwarten, bis sich dieser Julian gefangen hat. Denn ich will, nein, ich brauche den Job unbedingt.

Nach einer gefühlten Ewigkeit scheint der verpickelte Jüngling sich an mir sattgesehen zu haben. Er sagt mit piepsender Stimme: »Sie können gern Platz nehmen!« Er deutet auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.

Hören sich so Jungs an, die im Stimmbruch sind?

Angestrengt versuche ich mich an die Schulzeit zu erinnern, daran wie sich die Jungen in meiner Klasse anhörten, als ihre Stimmen sich veränderten. Es funktioniert nicht, meine Erinnerungen an die Zeit sind zu schwach.

Ich spüre, wie sich meine Mundwinkel nach oben bewegen wollen. Am liebsten hätte ich laut losgelacht. Ich muss mich zusammenreißen. Tief durchatmend komme ich seiner Aufforderung nach und setze mich. Das Grinsen will nach wie vor aus mir heraus. Ich sitze Flisch gegenüber, der Lachzwang wird auf einmal durch ein Ekelgefühl abgelöst. Der Grund für die plötzlichen Stimmungsschwankungen sind die Haare meines Gegenübers. Als ich das Büro betrat, dachte ich noch der picklige Teenager hatte sich am Morgen in der Menge seines Haargels vertan und sich eine ganze Tube hineingeschmiert. Erst jetzt fällt mir auf, dass es sich nicht um Gel, sondern einfach um Fett handelt. Das bestätigt der Geruch, der mir entgegenkommt. Ich nehme einen beißenden Schweißgeruch wahr, der in mir Würgegefühle auslöst. Bevor ich umkippe, halte ich sekundenweise die Luft an. Das macht es nicht besser. Zwischendurch muss ich atmen. Der schwitzige Jüngling merkt nichts. Er sieht mich über seine dicke Brille hinweg an und sagt keinen Ton.

Mein Gehirn arbeitet. Ich will schleunigst aus diesem Büro, raus an die frische Luft. »Wann haben wir den ersten Termin?«, frage ich so normal, wie es mir unter diesen Umständen möglich ist.

»In einer Stunde«, piepst mein Gegenüber.

Die Antwort macht mir Sorgen. Ich weiß nicht, wie ich die Zeit hier überstehen soll. »Wann müssen wir los?«, frage ich in der Hoffnung auf einen langen Anfahrtsweg.

Obwohl so lange auf engem Raum mit dem Kollegen, das halte ich nicht aus! Ein Fußmarsch wäre gut.

»Ich denke in einer halben Stunde.«

»Brauchen wir dreißig Minuten, um zu dem Kunden zu fahren?« Der Gedanke eine halbe Stunde eingepfercht im Auto neben Flisch sitzen zu müssen, bringt mich ins Schwitzen. Meine einzige Chance, diese Fahrt zu überstehen, ist ein weit geöffnetes Fenster.

»Nicht ganz. Aber wir wollen ja pünktlich sein«, antwortet Flisch und lächelt mich an. Sein Gesichtsausdruck ist so schmierig, dass mir ein kalter Schauer über den Rücken läuft. Insgeheim hoffe ich, die Einarbeitungszeit mit diesem Kollegen geht schnell vorüber. Ich muss mich anstrengen, die Produkte schleunigst kennenzulernen, damit ich alleine zu den Terminen fahren kann.

»Was sind das für Kunden? Ich mein, für welche Versicherung interessieren sie sich?«

»Bei unserem ersten Termin handelt es sich um ein älteres Ehepaar. Sie sind bei uns seit Jahren gut versichert. Das Gespräch dient nur dazu, dass wir eventuelle Änderungen aufnehmen und schauen, ob etwas gebraucht wird.«

»Okay. Was machen wir so lange noch?«, frage ich.

»Ich will mir die Unterlagen der Kunden anschauen. Wenn Sie möchten, können Sie rüberrutschen und mit hineinschauen.«

Was? Ich soll diesem nach Schweiß stinkenden Typen näherkommen? Ich will doch nicht ohnmächtig werden! Wie komme ich aus der Nummer bloß wieder raus?

Bei dem Gedanken den intensiven Geruch vollkommen ausgeliefert zu sein, wird mein Hals staubtrocken. Mir fällt es schwer zu atmen. Dann kommt mir die rettende Idee. »Gerne, aber vorher müsste ich noch auf die Toilette.«

»Okay. Wissen Sie, wo Sie hin müssen?«

»Nein, noch nicht. Können Sie mir kurz den Weg beschreiben?«

»Klar, das ist einfach. Wenn Sie aus dem Büro kommen, müssen Sie nach rechts und ganz hinten sehen Sie schon die Toilette.«

* * *

Erleichtert folge ich der schwarzen Limousine von Julian Flisch. Ich habe es tatsächlich geschafft, ihn zu bequatschen, mit zwei Autos zu fahren. Es war nicht leicht. Erst das Argument, dass ich vom letzten Kunden gleich nach Hause fahren könne und nicht mehr ins Büro müsse, hat gezogen.

Mein Kollege biegt in eine neu gebaute Wohnsiedlung ein und wird immer langsamer. So wie es aussieht, haben wir jeden Moment unser Ziel erreicht. Wir werden gleich die ersten Kunden aufsuchen.

Als Flisch vor einem prunkvollen Einfamilienhaus hält, atme ich tief durch. Meinen Wagen parke ich genau hinter seinem.

Auf geht es in den Kampf.

Wieder bin ich etwas aufgeregt. Schließlich kenne ich die Kunden nicht. Ich hoffe, sie sind nett und umgänglich.

Flisch schaut zu mir. Er lächelt mich an und wartet, bis ich ausgestiegen bin. Mir läuft ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Ich finde seine schmierige Art abstoßend und weiß nicht, wie ich die nächsten Wochen überstehen soll. Gleichzeitig wundere ich mich darüber, wie es so jemand schafft, bei einer Versicherungsgesellschaft zu arbeiten.

Hat bei seinem Vorstellungsgespräch niemand etwas gemerkt? Waren die alle erkältet und hatten einen begrenzten Geruchssinn?

Ich öffne die Fahrertür und spüre die frische Luft. Gierig sauge ich sie in mich hinein. In wenigen Augenblicken ist es vorbei. Meine Atmung wird eingeschränkt sein und nur noch so viel arbeiten, um am Leben zu bleiben.

Als ich neben Flisch stehe, betätigt er die Klingel. Auf dem Schild kann ich den Namen Angermann erkennen. Es dauert nicht lange, bis uns eine schmächtige ältere Frau die Tür öffnet. Ihr Anblick löst Mitleid in mir aus. Sie ist so dürr und wirkt schwach, begrüßt uns aber freundlich und bittet uns hinein.

Ich bleibe mit einem kleinen Sicherheitsabstand hinter meinem Kollegen und folge ihm bis ins Wohnzimmer.

Auf einem Schaukelstuhl sitzt ein älterer Herr. Er sieht genauso mager aus, wie seine Frau. Auch er begrüßt uns herzlich und bittet uns, Platz zu nehmen.

Flisch und ich sitzen nebeneinander auf der Couch. Er ist viel zu nah bei mir. Wieder nehme ich einen Schweißgeruch wahr, der sich in meiner Nase festsetzt. Am liebsten würde ich schreiend davon laufen. Es kostet mich eine Menge Kraft, sitzen zu bleiben.

Der Tisch vor uns ist liebevoll mit Kaffee und Kuchen eingedeckt. Die Frau des Hauses bietet uns sofort etwas an. Mein Kollege nimmt dankend an. Um nicht unhöflich zu wirken, nehme ich eine Tasse Kaffee. Im Moment bekomme ich keinen Bissen hinunter. Ich habe schon genug damit zu tun, nichts aus meinem Magen nach draußen gelangen zu lassen.

Nachdem Frau Angermann uns mit Essen und Trinken versorgt hat, nimmt sie auf einem kleinen Sessel neben mir Platz.

Flisch erklärt den beiden in aller Ruhe, wer ich bin und warum er mich mitgebracht hat. Das Paar hört uns aufmerksam zu. Statt gleich zum Punkt zu kommen, beginnt mein Kollege einen Small Talk mit dem Hausherrn. Seine Frau und ich sagen nichts und hören ihnen zu.

Nach einer Weile schaue ich auf meine Armbanduhr und muss mit Entsetzen feststellen, dass wir schon seit einer Dreiviertelstunde hier sitzen und noch nicht über das gesprochen haben, warum wir hier sind.

Das kann ja heiter werden, wenn das bei jedem Kunden so läuft.

4. Julian

Schweigend sitzen wir am Wohnzimmertisch der Angermanns. Herr Angermann wippt in seinem Schaukelstuhl hin und her, während seine Frau in der Küche ist und Kaffee kocht.

Heimlich beobachte ich meine neue Kollegin, die neben mir sitzt und auf die Schrankwand des Ehepaars starrt. Vermutlich schaut sie sich die unzähligen Fotos an, die darin aufgestellt wurden.

Sie bemerkt meine Blicke nicht. Mir bleibt also genügend Zeit, um sie zu mustern. Ich kann Knoll verstehen, warum er sie eingestellt hat. Anina Geiger ist eine schöne Frau. Allerdings verhält sie sich komisch. Schon allein die Tatsache, dass wir mit zwei Autos unterwegs sind, finde ich merkwürdig. In den vergangenen zwei Jahren habe ich einige Leute eingearbeitet, aber niemand kam bisher auf so eine Idee.

Überhaupt ist sie etwas abweisend. Ich bin mir unsicher, ob es an mir liegt oder sie generell so ist. Vielleicht wurde sie in der Vergangenheit auch zu viel angebaggert oder meint es zumindest. Heutzutage wird einem ja schon unterstellt zu flirten, wenn man nur nett ist. Der Übergang von dem einem in das andere ist fließend.

»Ein sehr schönes Haus haben Sie«, sagt meine Kollegin, als Frau Angermann das Zimmer betritt. Die alte Dame stellt das Tablett auf den Tisch und setzt sich zurück auf ihren Platz. »Danke.«

Das Paar schaut erwartungsvoll zu mir. Für mich heißt es nun, zum Geschäft zu kommen. Der gemütliche Teil ist vorüber.

5. Anina

Völlig fertig treffe ich in meiner Wohnung ein. In den vergangenen Stunden hatte ich zunehmend mit Übelkeit zu kämpfen. Während ich es bei den Angermanns noch einigermaßen schaffte, mein Würgegefühl unter Kontrolle zu halten, wurde es von Kunde zu Kunde schlimmer. Bei dem siebten und gleichzeitig letzten Kundenbesuch war es dann vorbei. Ich musste mich übergeben. Es ist zu hoffen, dass die Leute nichts bemerkt haben. Als ich es nicht mehr aushielt, bat ich darum, ihre Toilette benutzen zu können und dort ist es passiert. Meine Magensäfte flossen durch meinen Körper, bis sie den Weg in die Freiheit fanden. Es war ziemlich eklig. Zum Glück hatte ich Kaugummis einstecken, um den widerwärtigen Geschmack loszuwerden. Anschließend ging ich zurück ins Wohnzimmer und tat so, als ob nichts gewesen wäre. Es fiel mir schwer, so zu schauspielern. Ich konnte mich noch nie gut verstellen. Jeder, der mich kennt, hätte sofort gemerkt, dass mit mir etwas nicht stimmte. Schon allein meine Gesichtsfarbe ließ es erkennen. Weder meinem Kollegen noch den Kunden schien etwas aufgefallen zu sein, zumindest merkte man ihnen nichts an.

Julian Flisch scheint kein guter Verkäufer zu sein. Ich habe das Gefühl, er nimmt seinen Job überhaupt nicht ernst. Er macht keine vernünftige Beratung und schreibt nur Anträge, wenn ihn die Kunden darum bitten. Seine Kundentermine haben etwas von Kaffeeklatsch. Es ist schwer vorstellbar, bei dieser Leistung nicht entlassen zu werden. Er kann unmöglich fürs Kaffeetrinken Geld bekommen.

Mein erster Weg führt mich ins Badezimmer. Ich habe das Bedürfnis, mir die Zähne zu putzen, um die letzten Kotzereste loszuwerden. Danach fühle ich mich sauberer, aber mir ist immer noch schlecht. Ich gehe ins Bett und hoffe, am nächsten Tag wieder genug Energie zu haben, um den Tag mit Flisch durchzustehen.

6. Julian

»Janine, ich bin zu Hause.«

»Na, wie war dein Tag?«, fragt meine Freundin, die gerade angelaufen kommt und mir um den Hals fällt.

»Ganz okay.«

»Und wie war es mit der Neuen?«

»Die ist ein bisschen komisch.«

»Wieso komisch?«

»Irgendwie abweisend.«

»Aha. Zu den Kunden oder wie?«

»Nein, zu den Kunden ist sie nett, aber sie ist ein wenig unnahbar.«

»Tja.«

»Na ja, vielleicht ging es ihr heute auch nicht so gut.«

»Hä? Wie kommst du denn darauf?«

»Ich glaube, dass sie sich bei den letzten Kunden übergeben hat. Sie wurde auf einmal blass und ist dann ins Badezimmer verschwunden. Als sie zurückkehrte, hatte ich plötzlich den Geruch von Erbrochenem in der Nase.«

»Ihhh, das ist ja ekelhaft«, antwortet Janine und verschwindet aus dem Flur.

Ich lache und folge ihr in die Küche, nachdem ich mir die Schuhe ausgezogen habe. »Wow«, sage ich, als ich den gedeckten Tisch sehe, und setze mich.

Janine sitzt schon. »Und war sonst alles gut?«

»Klar, sonst ist alles in Ordnung. Es wird nicht mehr lange dauern, bis das nächste Geld kommt«, sage ich und lächle.

»Das ist gut. Ich muss unbedingt mal wieder shoppen gehen.«

Shoppen? Diese Sorgen möchte ich gerne haben.

Ich sage nichts, stattdessen nicke ich nur, und beginne zu essen. Dabei beobachte ich Janine. Sie ist wirklich verdammt hübsch. Auch nach knapp drei Jahren kann ich immer noch nicht fassen, dass sie mit mir zusammen ist. Ich bin ein echter Glückspilz. Sie hatte so viele Verehrer und hat sich am Ende für mich entschieden. Erfolg macht eben doch sexy. Natürlich will ich ihr auch etwas bieten. Sie gehört zu den Frauen, die man nicht mit Kleinigkeiten abspeisen kann.

7. Anina

Schlecht gelaunt treffe ich auf dem Parkplatz der RVVG ein. Nachdem ich letzte Nacht tief und fest durchgeschlafen habe, geht es mir an diesem Tag etwas besser. Jedoch befürchte ich, dass sich dies durch den Schweißgeruch im Büro gleich ändern könnte.

Von Weitem erkenne ich den Wagen von Flisch, er ist schon im Haus.

Ich steige aus, laufe auf das Gebäude zu und verschwinde darin. Vor der Treppe bleibe ich stehen. Meine Hand greift nach dem Geländer. Panisch atme ich ein und aus.

Nach einigen Minuten habe ich mich gefangen und gehe hinauf ins Büro. Flisch sitzt an seinem Platz und telefoniert. Er bemerkt mich nicht sofort. Ich schnappe ein paar Wortfetzen auf, die nicht nach einem Kundengespräch klingen und für mich keinen Sinn ergeben. Als mein Kollege mich sieht, beendet er das Gespräch hastig. Es kommt mir so vor, als fühlt er sich von mir bei etwas ertappt. Den Gedanken verwerfe ich wieder, da er mir albern vorkommt.

Ich gehe zu meinem Arbeitsplatz, setze mich und hoffe, der Tag wird schnell vergehen.

»Guten Morgen Frau Geiger«, sagt Flisch.

»Guten Morgen.«

»Heute Abend haben wir nur zwei Kundentermine. Vorher steht Büroarbeit an. Wenn Sie möchten, können Sie mir über die Schulter schauen.«

Von MÖCHTEN kann keine Rede sein!

Langsam erhebe ich mich und ziehe meinen Stuhl auf die andere Seite zu Julians Arbeitsplatz. Ich bin den Tränen nahe. Am liebsten würde ich zu Knoll gehen und ihn bitten, mich einem anderen Kollegen zuzuteilen, aber mir fällt keine schlüssige Begründung dafür ein.

Ich nehme neben Flisch Platz und lausche seinen piepsenden Erklärungen, die er mir gibt. Nebenbei füttert er ein Programm mit Daten. Es gelingt mir kaum, mich zu konzentrieren. Als er mich fragt, ob ich auch etwas machen will, muss ich mich zusammenreißen, damit ich es schaffe. Ich rutsche näher an seinen Computer heran. Meine Finger gleiten über die Tastatur und geben die Kundendaten ein, die vor mir liegen.

Flisch hat sich keinen Millimeter bewegt, sein Schweißgeruch strömt mir ungefiltert in die Nase. Mein Magen meldet sich, er sagt mir, wenn ich der Situation nicht bald entfliehe, schickt er mir Magensäure nach oben. Jedoch kann ich nichts ändern und muss das Risiko in Kauf nehmen, mich erneut zu übergeben.

»… die meisten Unfälle passieren zu Hause …«, höre ich Flisch sagen.

8. Knoll

»Na wie läuft es mit Frau Geiger«, frage ich, als Julian in mein Büro kommt, um mir einige wichtige Unterlagen zu bringen.

»Ganz gut.«

»Das freut mich. Und wie geht es Janine?«

»Auch gut. Sie …« Julian schaut mich unsicher an. Ich spüre, er hat etwas auf dem Herzen.

»Was?«

»Es wäre gut, wenn bald wieder Geld kommen würde. Janine ist schon ziemlich ungeduldig. Sie will endlich shoppen gehen. Na ja, du kennst ja die Frauen oder ist das mit Andrea anders?«

Ja, Andrea ist ganz anders. Sie ist kein so geldgeiles Miststück wie deine Janine!

Laut kann ich das natürlich niemals sagen. Julian würde mir sowieso kein Wort glauben, wenn ich ihm erzähle, dass Janine nur an dem Geld und nicht an ihm interessiert ist. Er denkt, sie hätte sich in ihn verliebt, ich habe daran meine Zweifel. Schon allein ihr Verhalten ihm gegenüber deutet nicht auf Liebe hin, aber mein junger Kollege ist alt genug und muss selber wissen, was er macht.

»Ja, ein bisschen warten müsst ihr noch. Du weißt doch, dass es nicht so schnell geht.«

»Was meinst du, wie lange es dauert?«

»Ich schätze so zwei bis drei Wochen.«

»Oh Mann, so lange noch. Kannst du mir nicht bis dahin ein bisschen was leihen?«

Nein! Mit Sicherheit nicht. Die Kohle sehe ich nie wieder!

»Es tut mir leid Julian, aber im Moment bin ich selber nicht flüssig. Hast du denn keinen Dispo?«

»Doch, aber der ist bis zum Anschlag ausgereizt.«

Tja, dann würde ich über eine andere Frau nachdenken!

Mir ist unbegreiflich, wie man sich so eine weibliche Geldvernichtungsmaschine ins Haus holen kann. Über die Höhe seines Einkommens würde sich jede vierköpfige Familie freuen und damit locker auskommen.

»Hast du schon versucht, einen Kredit zu bekommen?«, versuche ich es weiter.

»Nein! Ich glaube auch nicht, dass ich einen kriege.«

»Das tut mir leid! Ich kann dir leider nicht helfen! Wenn ich könnte, würde ich dir was geben. Das weißt du doch, oder?«, flunkere ich, in der Hoffnung, das Thema damit zu beenden.

»Ja, danke. Na ja, es wird schon irgendwie gehen.«

»Gut, gibt es sonst noch etwas? Ich müsste weiter machen.« Dabei deute ich auf die Papiere, die vor mir liegen.

»Nein, wir sehen uns später«, sagt Julian und verlässt das Büro. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hat, atme ich erleichtert auf.

9. Anina

Ich sitze an meinem Schreibtisch und sortiere die Akten für die Ablage vor. Es ist fantastisch, Flisch nicht mehr auf Schritt und Tritt folgen zu müssen und eigenständig arbeiten zu dürfen. Hin und wieder gibt er mir Aufgaben, die seine Nähe nicht erforderlich machen. Von mir aus könnte das so bleiben, bis ich ein eigenes Büro bekomme. Wir sitzen natürlich noch im gleichen Raum und auch der Gestank nach Schweiß ist geblieben. Nur muss ich dem Kollegen jetzt nicht mehr so nah kommen.

Seit knapp zwei Wochen arbeite ich nun schon mit ihm zusammen. Mittlerweile ist mir nicht mehr permanent schlecht. Womöglich hat sich mein Körper an den Schweißgeruch gewöhnt. Vielleicht liegt es auch am regelmäßigen Lüften, für das ich sorge. Ich reiße mindestens zwei Mal am Tag das Bürofenster weit auf. Flisch ist davon weniger begeistert, er hat das Fenster schon oft geschlossen, aber ich gebe nicht auf und mache weiter.

Mit der schmierigen Art des Kollegen kann ich mich nach wie vor nicht arrangieren. Er ist permanent so überfreundlich. Solche Menschen konnte ich noch nie leiden, normalerweise gehe ich ihnen aus dem Weg. Hier ist das nicht möglich.

Flisch ist noch nicht da. Ich bin darüber etwas verwundert. Sonst ist er immer überpünktlich.

Ich greife nach der nächsten Akte, darauf lese ich den Namen Angermann und denke sofort an dieses niedliche ältere Paar. Es waren die ersten Kunden, die ich mit Julian Flisch bei der RVVG aufgesucht habe. Neugierig schaue ich mir die Unterlagen an und werde kreidebleich, als ich eine Sterbeurkunde entdecke und darauf den Namen Erich Angermann lese. Ich blättere weiter und kann es kaum glauben, als mir eine zweite Urkunde seiner Frau Alma in die Hände fällt.

Wie kann es sein, dass beide gestorben sind? Wir sind doch erst vor Kurzem bei ihnen gewesen.

Mein Blick wandert zu dem Sterbedatum. Sie sind beide am selben Tag verstorben.

Das sind nur zwei Tage, nachdem wir dort gewesen sind!

Ich frage mich, wie sie gestorben sind. An einen natürlichen Tod kann ich nicht glauben. Es kann nur Selbstmord oder ein Unfall gewesen sein. Ich blättere weiter in der Akte, auf der Suche nach Informationen zu den Todesumständen, doch es gibt keine Infos dazu. Stattdessen entdecke ich zwei Lebensversicherungspolicen. Ich schaue, wer als bezugsberechtigte Person eingetragen ist. In beiden steht derselbe Name: Janine Hageler.

Bei einem Paar, das so glücklich wirkte, wie die Angermanns hätte man meinen können, sie würden sich gegenseitig eintragen. Schließlich konnten sie nicht davon ausgehen, gleichzeitig zu sterben.

Wer diese Janine wohl ist?

Aus dem Gespräch beim Kaffeeklatsch ging hervor, dass das Paar kinderlos war.

Vielleicht ist es eine entfernte Verwandte?!?

Ich lege die Akte zur Seite und sehe mir die nächste an. Den Namen Anneliese Brettschneider kenne ich nicht. Ich blättere darin und entdecke wieder eine Sterbeurkunde. Bei der Kundin handelte es sich ebenfalls um eine ältere Dame, die kurz nach den Angermanns verstorben ist. Ich durchblättere die Akte und finde auch hier eine Lebensversicherungspolice. Noch bevor ich sie mir genauer anschauen kann, betritt mein Kollege das Büro. »Guten Morgen!«

»Morgen!«, antworte ich mit zittriger Stimme.

»Was haben Sie denn da für Akten?«, fragt er, als er an meinem Platz steht. Mir steigt sein Geruch, eine Mischung aus Schweiß und Moschus, in die Nase. Ich halte für einige Sekunden die Luft an.

»Wer hat Ihnen die Akten gegeben?«

»Sie! Das ist der Stapel, den Sie mir zur Ablage gegeben haben.«

»Das kann nicht sein! Die beiden Akten hier sind noch nicht bearbeitet.« Flisch reißt mir die Unterlagen von den Angermanns und von Frau Brettschneider aus den Händen. Er nimmt sie mit zu seinem Arbeitsplatz.

»Hm, das ist ja komisch. Die lagen hier in dem Stapel. Haben Sie gewusst, dass die Angermanns verstorben sind? Wir waren doch erst vor Kurzem dort. Sie machten nicht den Eindruck, sich umbringen zu wollen …«

»Woher wollen Sie wissen, dass sie sich umgebracht haben? Sie können auch auf natürliche Weise gestorben sein.«

»Das kann ich nicht glauben. Sie sind immerhin beide am selben Tag verstorben, da kann es nur ein Unfall oder Selbstmord gewesen sein.«

Vielleicht auch Mord!, denke ich. Den Gedanken verwerfe ich schnell wieder, weil ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, wer einen Grund hätte, diese beiden netten Leute umzubringen.

»Seien Sie bloß vorsichtig mit irgendwelchen Behauptungen!«, sagt Flisch schnippisch. Seine sonst so piepsige Stimme klingt auf einmal tief und hat etwas Bedrohliches an sich. Es ist, als würde jemand anders sprechen.

»Ja, schon gut«, versuche ich, ihn zu beruhigen.

Mein Kollege verstaut die beiden Akten in einer seiner Schreibtischschubladen. Er will wohl auf Nummer sicher gehen, dass sie kein weiteres Mal bei mir auf dem Tisch landen. Sein Verhalten ist äußerst merkwürdig.

Entweder stimmt hier irgendetwas nicht oder der Typ ist einfach schlecht drauf.

»Ich bin gleich mit der Ablage durch. Was kann ich als Nächstes machen?«, frage ich vorsichtig, um vom Thema abzulenken.

»Wenn Sie fertig sind, können Sie im Programm eine Liste von Kunden zusammenstellen, die schon lange nicht mehr besucht worden sind. Ich zeige Ihnen gleich, wie das geht.«

»Okay.«

10. Julian

Verfluchter Mist! Wie konnte das nur passieren?

Ich koche innerlich vor Wut auf mich selber. Meine Sorgen um das Geld haben mich unaufmerksam werden lassen. Die ganze Zeit denke ich darüber nach, wie ich Janine besänftigen kann. Dabei sind Akten auf dem Platz der Neuen gelandet, die da nichts zu suchen haben.

Ausgerechnet die Unterlagen von den Angermanns, die Leute bei denen wir vor Kurzem noch zusammen zu Besuch gewesen sind, musste sie sehen. Ich hoffe, die Geiger hat nichts gemerkt. Ihre Fragen zeigen, dass sie sich Gedanken über den Tod des Paares macht.

Julian, beruhige dich! Das Paar war alt, da kann es durchaus zum Tod kommen!

Aber beide gleichzeitig?, frage ich mich selber.

Das ist alles schon vorgekommen!

Ich atme tief durch und schaue von meinem Platz zu der Geiger rüber. Sie ist in ihre Arbeit vertieft. Ich mustere sie genau und gebe mir Mühe, in ihrem Gesicht zu lesen, ob sie vielleicht noch an die Angermanns denkt und mich nur versucht, in Sicherheit zu wiegen.

Warum sollte sie? Sie weiß doch nichts!

Ich versuche, mich zu beruhigen und auf die Akte vor mir zu konzentrieren. Es gelingt mir nicht. Mein Blick fällt immer wieder zu der neuen Kollegin. Sie sieht nachdenklich aus. Das gefällt mir nicht.

Soll ich sie noch mal auf die Sache ansprechen? Oder ist es besser, es auf sich beruhen zu lassen?

Nach einer Weile entscheide ich mich für die zweite Version, in der Hoffnung, sie vergisst, was sie gesehen hat. Außerdem sollte ich mit dem Chef darüber reden.

11. Anina

Nach einem Wochenende mit wenig Schlaf sitze ich an meinem Arbeitsplatz in der RVVG. Der Tod von den Angermanns hat mich die meiste Zeit beschäftigt. Ich konnte kaum an etwas anderes denken. Die Reaktion von Flisch trug ihren Teil dazu bei. Ich habe das ungute Gefühl, hier stimmt irgendetwas nicht.

Mein Kollege ist noch nicht da. Ich bin an diesem Montagmorgen schon einige Minuten zu spät dran gewesen. Er ist mittlerweile eine halbe Stunde überfällig.

Ich denke darüber nach, wie ich herausfinden kann, was mit den Angermanns passiert ist. Mich an die Polizei zu wenden, kommt nicht infrage, da ich befürchte, dass mein Kollege das erfahren könnte. Ich muss auf eigene Faust aufdecken, was hier im Argen liegt.

Hektisch erhebe ich mich von meinem Platz, renne zum Fenster und schaue nach unten auf den Parkplatz. Flischs Auto ist nirgendwo zu sehen.

Das ist meine Chance!

Ich gehe zur Tür und schließe sie. Dann schleiche ich zum Schreibtisch und versuche, die Schubladen zu öffnen. Doch sie sind verschlossen. Da ich nicht weiß, wann mein Kollege auftauchen wird, fehlt mir die Zeit, um seinen Tisch aufzubrechen.

Ich muss am Abend wiederkommen, wenn keiner mehr im Haus ist!

Ich kehre zu meinem Arbeitsplatz zurück und setze mich.

Keine zwei Sekunden später klopft es an der Tür. Sie geht auf und Knoll steckt seinen Kopf ins Zimmer. »Frau Geiger, kommen Sie bitte mal!«

Ich folge Knoll in sein Büro.

»Nehmen Sie bitte Platz!«

Ich setze mich und warte gespannt, was mir der Chef zu sagen hat.

»Wie gefällt es Ihnen bei uns?«

»Ganz gut«, flunkere ich.

»Also haben Sie etwas gelernt?«

Ja, dass ich den Geruch von Schweiß nicht ertrage!

»Ja, natürlich.«