Seerosenzauber - Heidi Oehlmann - E-Book

Seerosenzauber E-Book

Heidi Oehlmann

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Beschreibung

Maja wird bei ihrer morgendlichen Joggingrunde von einem unverschämten Kerl umgestoßen. Da er es nicht für nötig hält, sich zu entschuldigen, stellt sie ihn zur Rede. Danach verschwendet sie keinen weiteren Gedanken an ihn. Schließlich hat sie mit ihrem vergesslich werdenden Großvater genug um die Ohren. Doch er muss ständig an die Frau mit den grünen Augen denken. Durch einen Zufall begegnen sie sich als Geschäftspartner wieder. Wird es ihnen gelingen, professionell miteinander umzugehen? Oder ist die Geschäftsbeziehung zum Scheitern verurteilt?

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Seitenzahl: 317

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Heidi Oehlmann

Seerosenzauber

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Maja - Freitag

2. Gregor - Freitag

3. Maja - Freitag

4. Maja - Samstag

5. Gregor - Samstag

6. Maja - Samstag

7. Gregor - Sonntag

8. Maja - Sonntag

9. Gregor - Sonntag

10. Maja - Sonntag

11. Gregor - Montag

12. Maja - Montag

13. Maja - Mittwoch

14. Gregor - Mittwoch

15. Maja - Mittwoch

16. Gregor - Donnerstag

17. Maja - Donnerstag

18. Gregor - Donnerstag

19. Maja - Donnerstag

20. Maja - Freitag

21. Gregor - Freitag

22. Maja - Samstag

23. Gregor - Samstag

24. Maja - Sonntag

25. Gregor - Sonntag

26. Maja - Freitag

27. Gregor - Freitag

28. Maja - Freitag

29. Gregor - Freitag

30. Maja - Montag

31. Gregor - Dienstag

32. Maja - Mittwoch

33. Gregor - Mittwoch

34. Maja - Donnerstag

35. Gregor - Samstag

36. Maja - Samstag

37. Gregor - Sonntag

38. Maja - Sonntag

39. Maja – Samstag, vier Wochen später

Impressum neobooks

1. Maja - Freitag

»Nein«, grummle ich verschlafen, als das ohrenbetäubende Klingeln meines Handyweckers ertönt.

Als ich damals den Rufton eingestellt hatte, fand ich ihn perfekt. Seitdem bereue ich es jeden Morgen, wenn mich dieser Lärm um Punkt acht Uhr aus dem Schlaf reißt.

Ich würde ihn nur allzu gern durch einen weniger nervigen Ton ersetzen, allerdings habe ich Zweifel, ob ich davon auch wach werde.

Hektisch taste ich nach dem Handy, das auf meinem Nachttisch liegt, und tippe auf dem Display herum.

Nachdem der Klingelton endlich verstummt, atme ich erleichtert auf und überwinde mich, die Augen zu öffnen.

Ich springe aus dem Bett und schleiche nach unten. Im Haus herrscht eine angenehme Stille.

Mein erster Weg führt mich in die Küche zur Kaffeemaschine, die nur noch eingeschaltet werden muss. Im Laufe der Zeit habe ich mir angewöhnt, sie am Vorabend vorzubereiten. So kann ich mich in meine Sportklamotten werfen, bis der Kaffee durchgelaufen ist.

***

Eine halbe Stunde später verlasse ich mit Koffein im Blut das Haus. Wie jeden Morgen laufe ich langsam zum Park. Unterwegs begegnen mir täglich die gleichen gestressten Menschen, die auf dem Weg zur Arbeit sind. Mein Arbeitstag beginnt in etwas mehr als zwei Stunden.

Im Park ist von der Hektik nichts zu spüren. Es ist, als würde man eine neue Welt betreten. Bis auf ein paar andere Jogger und wenige Hundebesitzer, die ihre vierbeinigen Lieblinge ausführen, bin ich allein und genieße die frische Morgenluft. Der kleine See liegt friedlich vor mir. Die Blüten der zahlreichen Seerosen sind noch halb geschlossen. Sie öffnen sich langsam und werden ihre volle Pracht erst zeigen, wenn ich den Park längst verlassen habe. Leider verpasse ich den Seerosenzauber an den meisten Tagen.

Ich erhöhe mein Tempo und versinke in meinen Gedanken. Wie so oft träume ich von meinem eigenen Restaurant. Ich male mir bis ins kleinste Detail aus, wie es aussehen soll und welche Gerichte ich unbedingt auf die Speisekarte setzen will. Jedes Mal sieht mein Laden anders aus und auch die Speisen variieren. Es gibt so viele Möglichkeiten, dass es mir schwerfällt, mich zu entscheiden. Natürlich macht das keinen Unterschied, weil es sich um einen Traum handelt, der noch lange nicht greifbar ist.

Seit ich denken kann, will ich nur kochen. Zu einem kleinen Teil konnte ich mir den Traum schon erfüllen. Die Ausbildung zur Köchin habe ich abgeschlossen und arbeite nun in einer Küche. Leider habe ich dort nichts zu melden. Ich bin nur eine von vielen, die Anweisungen befolgen muss. Kreativ ist nur der Küchenchef. Er ist der Einzige, der neue Rezepte entwickeln darf. Wir anderen müssen seine Kreationen nach Anweisung zubereiten. So hatte ich mir meinen Traumjob nicht vorgestellt. Dafür ist die Bezahlung anständig und bringt mich meinem Traum ein Stück näher. Jeden Monat lege ich einen Großteil meines Gehalts zur Seite. Zum Glück muss ich keine Miete bezahlen, da ich im Haus meiner Großeltern lebe.

Ich bleibe stehen, schaue in den Himmel und seufze. Der Mensch, dem ich meine Leidenschaft zum Kochen verdanke, wird das alles nicht mehr miterleben. Meine Oma ist vor acht Jahren an Herzversagen gestorben. Nichts hatte darauf hingedeutet. Im Gegenteil. Anneliese Blum war einer der fittesten Menschen, die ich kannte. Von ihr konnte sich so manch einer der jüngeren Generationen eine Scheibe abschneiden. Sie war wie ein Wirbelwind.

Ich liebte es, mit ihr zusammen in der Küche zu stehen. Trotz meiner Lehre lernte ich von ihr noch einige Kniffe. Ihre Rezepte waren einzigartig. Bereits als kleines Mädchen faszinierte es mich, ihr dabei zuzusehen, wie sie uns die leckersten Speisen zubereitet hatte.

Bei dem Gedanken an unsere gemeinsame Zeit kommen mir die Tränen.

Bevor ich sie mir von den Wangen wischen kann, werde ich hart zur Seite gestoßen. Ich falle hin. Zum Glück ist der Aufprall gedämpft, da ich im Gras lande.

Ich schaue mich nach dem Übeltäter um, in der Erwartung jemand würde mit schuldbewusster Miene vor mir stehen und sich für sein Verhalten entschuldigen. Doch da ist keiner, zumindest nicht in meiner unmittelbaren Nähe.

Ich kann nur die Rückansicht eines Joggers erkennen, der sich von mir entfernt. Sonst sehe ich niemanden. Also muss er mich zur Seite gestoßen haben.

»Hey, du Idiot!«, brülle ich ihm hinterher.

Doch er reagiert nicht. Entweder hat er mich nicht gehört oder er ignoriert mich konsequent.

Kopfschüttelnd schaue ich ihm nach, bis er aus meinem Sichtfeld verschwunden ist.

Wütend erhebe ich mich und untersuche meinen Körper auf Verletzungen. Bis auf ein paar Grasflecken auf der Hose scheine ich unbeschadet davon gekommen zu sein.

Um sicherzugehen, lege ich die ersten Meter langsam zurück, bevor ich wieder in einen Laufschritt verfalle und mein Tempo wiederfinde.

Gedankenverloren laufe ich weiter, bis ich an einer Bank einen Jogger wahrnehme, der dabei ist, sich zu dehnen.

Seine Kleidung kommt mir bekannt vor. Er trägt die gleiche schwarze Hose und ein T-Shirt im identischen Blauton, wie der Flegel, der mich vor wenigen Minuten zur Seite gestoßen hat. Auch seine Rückansicht stimmt überein.

Wutentbrannt stürme ich auf ihn zu, stemme meine Hände in die Hüften und schreie ihn an. »Was stimmt mit Ihnen nicht? Erst schubsen Sie Menschen um und dann halten Sie es nicht für nötig, sich zu entschuldigen! Ich hätte mir sonst was brechen können und Sie hätten mich einfach da liegen lassen. Schämen sollten Sie sich!« Mir liegen noch sämtliche Schimpftiraden auf der Zunge, die ich abfeuern möchte, doch als der Typ sich umdreht, verstumme ich. Er ist der bestaussehende Kerl, der mir je begegnet ist. Seine braunen Augen mustern mich von Kopf bis Fuß. Es fühlt sich an, als würde ich nackt vor ihm stehen.

Während er mich betrachtet, tue ich es ihm gleich und lasse meine Augen über seinen muskulösen Körper wandern. Ich schaffe es gerade noch, ein entzücktes Seufzen zu unterdrücken.

Dem Fremden ist sein gutes Aussehen durchaus bewusst. Er schenkt mir ein wissendes Grinsen, bevor er den Mund öffnet. »Reden Sie mit mir?«, fragt er scheinheilig.

Ich atme tief durch und sammle mich. »Sehen …«, piepse ich.

Das ermutigt den Kerl, noch breiter zu grinsen.

Seine Arroganz macht mich wütend.

Ich räuspere mich und setze zu einem neuen Versuch an. »Sehen Sie hier noch jemanden?«, frage ich mit fester Stimme. »Sie haben mich da hinten«, ich deute mit dem Finger in die Richtung, aus der ich gekommen bin, »einfach umgestoßen und sind weitergelaufen, als ob nichts geschehen wäre! Wollen Sie das jetzt etwa abstreiten?«

»Nein, ich will gar nichts abstreiten.«

»Also geben Sie es zu?«, frage ich verwundert.

»Nein.«

Ich starre ihn ungläubig an. »Sondern?«

»Nichts. Ich muss mich für nichts rechtfertigen, was ich nicht getan habe«, antwortet er noch immer grinsend.

Für einen Moment bin ich unsicher, ob er wirklich der Täter ist. Allerdings glaube ich nicht an Zufälle. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn es zwei Typen von dieser Sorte gäbe. Doch ich habe keine Beweise für das, was er getan hat. Zeugen gab es keine. Also steht Aussage gegen Aussage. Somit ist es sinnlos weiter mit ihm zu diskutieren.

Wutschnaubend straffe ich die Schultern und gehe wortlos an dem Typen vorbei. Ich spüre seinen Blick in meinem Rücken. Es fühlt sich unangenehm an. Damit ich seinen Blicken schneller entkommen kann, beschleunige ich mein Tempo in einen ordentlichen Laufschritt.

Obwohl meine Joggingrunde eigentlich noch nicht beendet ist, beschließe ich den Heimweg anzutreten. Ich will raus aus dem Park.

Ich nehme den nächsten Pfad, der aus dem Park auf die Straße führt, und quäle mich durch die überfüllten Straßen. Zwischendurch muss ich etlichen Menschen ausweichen.

***

»Guten Morgen, meine Kleine!«, begrüßt mich mein Großvater, als ich wenig später die Küche betrete.

Er sitzt bereits am Küchentisch und schlürft seinen ersten Kaffee.

»Morgen, Opa«, erwidere ich, während ich zu ihm gehe und ihm einen Kuss auf die Wange gebe.

»Du bist aber heute früh zurück«, stellt er fest. »Ist alles in Ordnung?« Er schaut mich mit einer Mischung aus Neugier und Sorge an.

»Ja, es ist alles gut. Ich wollte vor der Arbeit nur noch etwas erledigen«, rede ich mich raus.

Ich kann meinem Großvater ansehen, dass er mir nicht glaubt, doch er sagt nichts. Er kennt mich eben gut genug und weiß, wie sinnlos es ist, mich in die Enge zu treiben.

»Wo ist Waldi?«, frage ich, um vom Thema abzulenken.

»Ich schätze, in seinem Körbchen.«

Ich nicke wissend.

»Warst du mit ihm draußen?«, erkundige ich mich.

»Ja.«

Ich weiß, dass die beiden nur vor der Tür waren. Wenn Waldi nicht gerade in der Küche ist, um zu fressen, schläft er am liebsten. Der Dackel ist mit seinen elf Jahren nicht mehr der Jüngste und das zeigt er auch. Früher konnte ich mit ihm stundenlang spazieren gehen. Inzwischen bin ich froh, ihn überhaupt nach draußen zu bekommen, damit er sein Geschäft verrichtet. Ab und zu lässt er sich zu einer winzigen Gassirunde überreden, aber nur, wenn die Bedingungen stimmen. Es darf nicht regnen oder zu kalt sein.

»Ich springe schnell unter die Dusche«, sage ich und haste die Treppe nach oben.

»Gut, ich mache uns Frühstück«, ruft mein Opa mir hinterher.

Normalerweise hat er den Tisch bereits gedeckt, wenn ich vom Joggen zurück bin. Das hat sich im Laufe der Zeit so ergeben. Früher hatte meine Oma das Frühstück für uns gemacht. Nach ihrem Tod habe ich es eine Weile übernommen. Doch irgendwann hat mein Opa sich der Sache angenommen. Er meint, ich hätte genug zu tun und er bräuchte auch ein paar Aufgaben. Also überließ ich es ihm. Im Grunde bin ich über jede Kleinigkeit froh, die er mir abnimmt. Inzwischen ist er mit seinen 79 Jahren nicht mehr der Jüngste. Leider macht sich das immer häufiger bemerkbar. In den letzten Jahren ist er ziemlich vergesslich geworden.

Ich habe schon mehrfach versucht, ihn zum Arzt zu schleppen, aber er weigert sich konsequent. In dem Punkt ist mein Opa August stur, wie ein Maulesel. Er meint, dass alles kommt, wie es kommen muss und die Menschen früher auch nicht wegen jeder Kleinigkeit zum Arzt gegangen sind.

Meine Argumentation interessiert ihn nicht. Obwohl es sinnlos ist, gebe ich nicht auf und versuche, ihn in regelmäßigen Abständen zu einem Arztbesuch zu überreden.

***

»Ich muss los«, sage ich erschrocken, als ich einen Blick auf meine Armbanduhr werfe. In einer halben Stunde muss ich auf der Arbeit sein. Da das Restaurant auf der anderen Seite der Stadt liegt, wird es knapp, rechtzeitig zu meiner Schicht anzukommen.

Beim Thema Pünktlichkeit versteht der Küchenchef keinen Spaß. Er ist generell ein humorloser Mensch. Seit ich ihn kenne, habe ich ihn noch nie lächeln sehen. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, ob er dazu überhaupt in der Lage ist. Dafür ist Schreien eine Disziplin, die er perfekt beherrscht. Er brüllt jeden in seiner Küche an, selbst um jemandem etwas mitzuteilen. Als ich in dem Laden anfing, war der Umgang viel herzlicher. Der ehemalige Chef Bill wurde niemals laut, sogar wenn jemand den größten Mist gebaut hatte, blieb er ruhig. Mit ihm zu arbeiten hatte mir immer Spaß gemacht. Deshalb war ich glücklich, dass er mich nach der Lehre als Köchin eingestellt hatte.

Leider ist er vor einem Jahr in Rente gegangen. Ich hätte den Laden gerne übernommen. Nur fehlte mir das nötige Kleingeld, um ihm alles abzukaufen. Also musste er sich nach einem anderen Käufer umsehen. Es gab nicht allzu viele Interessenten. Am Ende war Bill froh, als Eduard auftauchte und das Restaurant übernahm. Mit ihm wechselte nicht nur der Name von Bills Gasthaus in Eduards. Auch die Küche änderte sich von einer bodenständigen in eine gehobene.

Obwohl Eduard so ein Griesgram ist, lieben die Gäste seine Kochkünste. Von seinem ersten Tag an war das Restaurant besser besucht als bei Bill.

Erst vermutete ich, die Leute würden aus Neugier kommen. Vielleicht taten sie es auch, aber da der Ansturm bis heute so geblieben ist, muss es an der Küche liegen.

Selbst der angrenzende Saal ist dauerhaft ausgebucht. Die Leute feiern dort Geburtstage, Hochzeiten und Jubiläen. So weit ich zurückdenke, kann ich mich nicht daran erinnern, dass es unter Bills Herrschaft jemals so gewesen war. Wenn es zwei Buchungen im Monat gab, war es schon viel.

Mittlerweile wird der Saal sogar wochentags gebucht. Das gab es früher nie.

Ich erhebe mich, verpasse meinem Opa einen Kuss auf die Wange und stürze aus dem Haus. Zum Glück läuft mein Wagen wieder, sodass ich nicht auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen bin.

In der letzten Woche stand mein kleines in die Jahre gekommenes Auto in der Werkstatt und ich verbrachte viel Zeit an Bushaltestellen. Mein Arbeitsweg hatte wesentlich länger gedauert. Gefühlt gibt es Hunderte von Haltestellen, die der Busfahrer von einem Ende der Stadt bis zum anderen Ende ansteuert. Auch das Einkaufen war anstrengend. Nicht nur, weil die Bushaltestelle ein Stück vom Supermarkt entfernt ist. Es ist auch gewöhnungsbedürftig, die Einkäufe mit sich rumschleppen zu müssen, statt sie einfach auf dem Supermarktparkplatz in den Kofferraum zu räumen und sie vor der Haustür wieder rauszuholen.

Der KFZ-Mechaniker hatte mir mitgeteilt, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis mein Auto erneut liegen bleibt. Er hatte mir zuvor schon von einer Reparatur abgeraten. Aber der Kauf eines neuen Autos kostet Geld. Es würde meine Ersparnisse schmälern. Natürlich werde ich irgendwann ein anderes Auto anschaffen müssen. Spätestens, wenn ich selbstständig bin, brauche ich ein zuverlässiges Fahrzeug.

Wenn ich ehrlich bin, versuche ich die Neuanschaffung so lange hinauszuzögern, wie es geht, da es sich bei dem schrottreifen Gefährt um mein erstes Auto handelt. Ich habe es damals von meinen Großeltern geschenkt bekommen. Meine Oma hatte es hauptsächlich ausgesucht. Das macht mir die Trennung besonders schwer. Es ist, als würde ich einen Teil von ihr mit dem Fahrzeug zusammen weggeben.

Ich starte den Motor und bin erleichtert, als mein Wagen gleich beim ersten Versuch anspringt.

***

»Schön, dass du auch schon kommst!«, schreit mich Eduard an, als ich in Küchenmontur die Küche betrete.

Ich sage nichts. Immerhin hat meine Schicht vor fünf Minuten begonnen.

Dafür, dass auf den Straßen heute so viel los war, bin ich relativ gut durchgekommen. Hätte ich mich nicht noch umziehen müssen, wäre ich rechtzeitig in der Küche gewesen.

Am liebsten möchte ich Eduard für seine Kleinlichkeit in die Schranken weisen. Aber ich verkneife es mir. Eduard hat nicht nur seine Prinzipien, gleichzeitig fällt es ihm schwer, Kritik einzustecken.

Vor einigen Monaten beschwerte sich ein Gast. Er meinte, sein Fisch wäre noch roh. Statt sich bei ihm zu entschuldigen, diskutierte Eduard so lange mit ihm, bis er entnervt das Restaurant verließ. Als Köchin weiß ich, dass der Gargrad so gewollt war, aber ich verstehe auch, wenn Menschen ihren Fisch richtig durchgegart haben wollen. Geschmäcker sind eben verschieden.

Die meisten Kellner versuchen, die Kritik von unserem Küchenchef fernzuhalten. Das funktioniert allerdings nur so lange, wie der Gast keine Nachbesserung fordert. Wenn ein voller Teller zurück in die Küche gebracht wird, bekommt Eduard das mit. Er kann noch so beschäftigt sein, das entgeht ihm nie. Es ist fast, als hätte er ein Radar dafür, der anschlägt, sobald etwas nicht stimmt.

Ich stehe vor ihm und schaue betreten zu Boden.

»Was ist? Brauchst du eine Extraeinladung? Oder schaffst du es an deinen Arbeitsplatz?« Er deutet mit dem Messer in seiner Hand auf die andere Seite der Küche.

Statt einer Antwort nicke ich ihm zu und eile davon.

Bevor der Betrieb richtig losgeht, müssen sämtliche Vorbereitungen getroffen werden. Das sind die Momente, in denen ich mir vorkomme, als wäre ich eine Küchenhilfe statt einer ausgebildeten Köchin. Wie jeden Tag liegt auf meinem Arbeitsplatz jede Menge Gemüse, das geschnippelt werden muss.

Neben mir steht mein Kollege John und ist dabei, Fisch zu filetieren.

Er schaut zu mir und nickt mir mitleidig zu, bevor er sich wieder seiner Arbeit widmet.

Wir trauen uns beide nicht, während der Arbeitszeit zu reden. Eduard sieht es überhaupt nicht gern, wenn in seiner Küche Privatgespräche stattfinden. Ein »Wie geht es dir?« ist ihm schon zu viel. Wenn seine Köche miteinander sprechen, dann darf es nur um berufliche Dinge gehen, dabei sollte möglichst laut geredet werden, damit der Küchenchef auch alles mitbekommt.

Private Gespräche müssen wir uns für die Pausen aufheben.

Das Arbeitsklima ist rau, wenn Eduard da ist. Und er ist so gut wie immer in der Küche. Er kommt vor uns und geht erst nach uns. Manchmal habe ich den Verdacht, er schläft hier. Vielleicht hat er in irgendeinem Regal einen Schlafsack versteckt, den er hervor holt, sobald wir weg sind. Anders kann ich mir nicht erklären, dass er fast täglich eine neue Kreation auffährt. Während des Kundenzulaufs kommt er kaum zum Experimentieren. Das geschieht immer nach Ladenschluss. Die Köche müssen am nächsten Tag vor Dienstbeginn seine neuesten Experimente bewerten. Manches ist wirklich sehr lecker, aber die meisten seiner Schöpfungen sind eher gewöhnungsbedürftig.

Durch meine Verspätung bin ich wohl um ein Urteil herumgekommen. Die anderen werden die Verkostung bereits hinter sich gebracht haben.

Normalerweise bin ich eine Viertelstunde vor Dienstantritt hier. Heute bin ich das erste Mal zu spät gekommen. Ich weiß nicht, warum ich die Zeit beim Frühstück aus den Augen verloren hatte. Vielleicht liegt es an dem Sturz, der mir von diesem arroganten Fremden beschert wurde.

»Maja!«, lässt mich eine laute Männerstimme an meinem Ohr zusammenzucken. Obwohl ich mir angewöhnt habe, in der Küche Ohrenstöpsel zu tragen, ist die Stimme des Küchenchefs immer noch deutlich genug, um mich zu erschrecken. Wenn ich mir nichts in die Ohren stecken würde, wäre ich längst taub. Den Tipp hat mir John gegeben. Er benutzt die Dinger seit dem zweiten Tag.

Ich drehe mich ruckartig um und sehe Eduard mit einem Teller vor mir stehen.

Am liebsten möchte ich ihn schütteln und ihn genauso ins Ohr schreien, wie er es bei mir gemacht hat. Nur wird es ihm nichts ausmachen. Er wird im Laufe der Zeit durch seine eigene Stimme taub geworden sein. Auf Dauer kann diese Schreierei niemand aushalten.

Ich setze ein gequältes Lächeln auf und starre auf den Teller. Darauf liegt …

Nun ja, was ist das eigentlich?

Zwischen zwei hellgrünen biskuitartigen Schichten befindet sich eine weiße Creme.

Eduard nickt mir aufmunternd zu. »Probier!«, fordert er mich lautstark auf.

Zaghaft greife ich nach dem quadratischen Etwas und schnüffele daran. Es fällt mir schwer, die Gerüche zuzuordnen.

Vorsichtig beiße ich ein Stück ab und kaue darauf herum. Das Grüne fühlt sich im Mund tatsächlich an wie Biskuit. Die weiße Masse ist zäh, wie Schmelzkäse ohne Schmelz und so schmeckt es auch.

Eduard schaut mich erwartungsvoll an.

Ich zwinge mich zu einem Lächeln und beiße noch ein Stück ohne die Creme ab. »Brokkoli?«, stelle ich fragend fest.

Eduard nickt mir aufmunternd zu.

»Ein Brokkoli-Biskuit mit Käse-Creme?«, rate ich.

Eduard klatscht freudig in die Hände. »Und?«, fragt er.

Ich überlege, wie ich ihm die Wahrheit möglichst schonend beibringen kann, ich darf nicht allzu viel Kritik ausüben.

»Na ja, das Biskuit ist angenehm im Mund. Der Geschmack ist …« Durch meinen Kopf rattern verschiedene Adjektive.

Abartig. Ekelhaft. Widerlich. Unnütz. Ungenießbar. Eigenartig. Merkwürdig.

Alle Adjektive klingen zu kritisch. Ich muss sie abmildern, ohne die Bedeutung aus den Augen zu verlieren.

Ungewohnt. Außergewöhnlich. Ungewöhnlich.

Eduard schaut mich immer noch fragend an.

Aus den Augenwinkel kann ich Johns mitleidigen Blick sehen.

Ich drehe meinen Kopf ein Stück weiter in seine Richtung. Meine Augen flehen ihn um Hilfe an.

Doch John deutet nur ein Kopfschütteln an.

»Exotisch«, rutscht es aus meinem Mund, bevor ich genauer darüber nachdenken kann. »Ein bisschen wie Brokkolikuchen. Und die Füllung schmeckt nach Schmelzkäse. Sie könnte noch etwas weicher sein«, wage ich zu sagen.

Eduard schaut mich nachdenklich an. »Exotisch? Brokkolikuchen? Weicher?«, murmelt er vor sich hin, allerdings so laut, dass es in der ganzen Küche zu hören ist.

Er dreht sich von mir weg und geht kopfschüttelnd zurück zu seinem Platz.

John grinst mich an. »Gut gemacht«, formt er mit seinem Mund, ohne auch nur einen Ton zu verlieren.

Ich zucke mit den Achseln und widme mich den Auberginen, die vor mir liegen und in Scheiben geschnitten werden wollen.

***

»Ernsthaft, Maja?«, fragt Maike leise lachend, nachdem John mein Testurteil zum Besten gegeben hat. »Exotisch?«

Wir stehen zu viert im Hinterhof und genießen unsere Verschnaufpause nach dem Mittagsansturm. Leider können nur zwei aus der Küche und zwei der Servicemitarbeiter gleichzeitig Pause machen. Ein Teil der Crew muss immer bereitstehen, weil vereinzelt Gäste kommen und Vorbereitungen getroffen werden müssen.

Meist verbringe ich meine Pausen mit John. Mit ihm verstehe ich mich von allen aus der Küche am besten. Heute sind Maike und Charlotte aus dem Service dabei.

»Was habt ihr denn gesagt?«, frage ich neugierig.

Charlotte ist anzusehen, wie unangenehm es ihr ist. Jeder weiß, was sie gesagt hat. Sie traut sich nie, ehrlich zu sein und sagt immer, es wäre gut.

Maike grinst. »Ungewöhnlich«, antwortet sie. Das ist ihre Standardantwort, wenn es ihr nicht schmeckt und sie ein Testurteil abgeben muss.

»War ja klar«, antworte ich grinsend und drehe mich zu John. »Was hast du gesagt?«

Sein Grinsen wird breiter. »Ich habe es als Brokkolisandwich mit zäher Käsefüllung bezeichnet.«

Ich pruste los. »Oh Gott, das hat ihm sicher nicht gefallen.

»Nicht wirklich, aber exotisch finde ich auch gut.«

Ich lächle. »Mir fiel kein anderes Adjektiv ein, was die Abscheulichkeit ausdrückt, dabei aber nicht kritisch ist.«

»Egal, das landet sowieso nicht auf der Karte. Spätestens, wenn sein Manfred ihm die Wahrheit sagt, ist das vergessen.«

Ich nicke zustimmend.

Manfred ist der einzige Mensch, der sich traut Eduard die Wahrheit unverblümt an den Kopf zu knallen. Als Eduards Lebensgefährte ist er dafür auch privilegiert. Leider ist er nie der Erste, der Eduards Kreationen probiert, sonst würden uns so einige Kuriositäten erspart bleiben.

Ich muss allerdings zugeben, dass ihm hin und wieder richtige Leckereien gelingen, die dann auf der Karte landen. Für meinen Geschmack sind diese Geschmacksexplosionen viel zu selten.

Wie aus dem Nichts taucht unser Azubi Josef auf. Seine Miene ist ernst. Er schaut von einem zum anderen und bleibt bei mir hängen.

»Was ist los?«, frage ich.

»Der Chef …«, stammelt Josef.

»Was ist mit ihm?«, erkundigen John und ich uns wie aus einem Mund.

»Er hatte einen Unfall.«

»Was er war doch gerade noch …«, sage ich und deute mit der Hand in Richtung Gebäude.

»Ja, als ihr rausgegangen seid, war er im Büro und ist auf die Leiter gestiegen …«

»Auf das alte Holzteil?«, unterbreche ich ihn.

»Und?«, hakt Maike nach.

»Sie ist unter ihm zusammengebrochen und er ist gestürzt.«

»Oh mein Gott«, quietscht Charlotte.

»Wie geht es ihm?«, erklingt meine Stimme piepsend.

»Die Sanitäter sind gerade bei ihm.«

Ich nicke.

Josefs Blick hält mich gefangen.

Ich spüre, dass er mir etwas sagen will, was mir nicht gefallen wird.

»Du sollst ihn vertreten«, sagt Josef leise.

»Was?«, frage ich mit einer Stimme, die mir fremd vorkommt. »Ich?«

»Ja, du sollst ihn vertreten, bis er aus dem Krankenhaus zurück ist.«

»Ist er noch drin?«, erkundige ich mich. Statt auf Josefs Antwort zu warten, bin ich schon auf dem Weg ins Gebäude.

»Wo ist er?«, rufe ich, als ich die Küche betrete.

Eileen, eine der Küchenhilfen deutet mit dem Kopf auf das Büro.

Ich haste hinein.

Eduard liegt auf dem Boden und stöhnt. Vor ihm hocken zwei Sanitäter.

»Wie geht es dir?«, frage ich.

Eduard schaut zu mir auf und zuckt mit den Schultern. »Du musst mich vertreten! Du bist die Einzige, der ich vertraue.«

Das erste Mal, seit ich ihn kenne, ist seine Stimme leise. Na ja, eigentlich spricht er in einer normalen Lautstärke. Für seine Verhältnisse ist es aber leise.

Ich starre ihn mit offenem Mund an. »O-Okay«, stammle ich. Zu mehr bin ich nicht in der Lage. »Wie lange muss unser Chef im Krankenhaus bleiben?«, wende ich mich an die Sanitäter.

»Das können wir Ihnen noch nicht sagen«, antwortet der eine, während sie Eduard auf die Trage hieven.

»Soll ich Manfred informieren?«, hake ich nach.

Eduard schlägt sich eine Hand gegen die Stirn. »Ja, das wäre toll. Aber Maja?«

»Ja?«

»Bitte bring es ihm schonend bei! Er soll sich nicht aufregen!«

»Okay, das mache ich«, antworte ich und schaue dem Küchenchef und den Sanitätern nach, wie sie das Büro verlassen.

Ich starre eine Weile auf die Tür, um die Informationen zu verarbeiten. Es ist schwer zu begreifen, dass Eduard nun auf unbestimmte Zeit nicht in der Küche sein wird. Seine Worte wollen mein Gehirn nicht so recht erreichen. Er hat mir nie gesagt, was er von mir hält. Ich hätte nie gedacht, sein Vertrauen zu genießen. Er hat mich immer genauso streng behandelt, wie alle anderen. Seine Worte schmeicheln mir und schockieren mich gleichzeitig.

Nach einigen Minuten fange ich mich endlich und eile zum Schreibtisch. Manfreds Nummer ist in der Adresskartei auf dem Tisch. Ich suche die richtige Seite heraus und wähle seine Handynummer.

2. Gregor - Freitag

»Guten Morgen, Chef«, begrüßt mich meine Sekretärin, als ich das Vorzimmer meines Büros betrete.

Rosalie ist die gute Seele des Hauses. Für ihre einundsechzig Jahre hat sie sich gut gehalten. Wenn ich nicht wüsste, wie alt sie ist, würde ich sie auf Ende vierzig schätzen. Nur die grauen Haare, die in den letzten Jahren immer mehr geworden sind, verraten ihr Alter. Noch vor wenigen Jahren waren es ein paar vereinzelte Strähnen, die zwischen ihrem schwarzen Haar sichtbar waren. Inzwischen hat sich das Verhältnis umgekehrt. Von dem Schwarz ist nur noch wenig zu sehen. Doch Rosalie ist alles andere als eitel, sie steht zu ihrer natürlichen Haarfarbe. Sie ist eine der wenigen Frauen in meinem Leben, die sich nicht bis zur Unkenntlichkeit anmalen. Außerdem ist sie sehr herzlich. Für die Menschen, die sie liebt, kämpft sie wie eine Löwin.

»Guten Morgen, Rosalie!« Ich nicke ihr zu und gehe an ihr vorbei in mein Büro. Hinter mir schließe ich die Tür und atme tief durch.

Wie jeden Morgen genieße ich die ersten Minuten der Stille, bevor es hektisch wird. In einer halben Stunde beginnt unsere offizielle Öffnungszeit, bis dahin trudeln die restlichen Mitarbeiter ein.

Rosalie kommt meist eine Stunde früher und ist die erste. Durch meine morgendliche Joggingrunde treffe ich immer nach ihr ein.

Ich starte meinen Computer und lehne mich zurück. In Gedanken bin ich noch bei der Begegnung von heute Morgen. Ich sehe die leuchtend grünen Augen vor mir, die der Frau gehören, die behauptet hat, ich hätte sie geschubst. Dabei kann ich mich nicht daran erinnern, sie überhaupt berührt zu haben. Entweder war es ein Versuch, mich anzubaggern oder ich war so in Gedanken, dass ich es nicht bemerkt hatte. So sauer, wie die Kleine war, ist die erste Möglichkeit undenkbar. Sie könnte also im Recht sein. Trotzdem stritt ich es ab, sie umgestoßen zu haben.

Ich hätte es zugeben und sie nach ihrer Nummer fragen sollen.

Ein Klopfen an der Tür holt mich aus meinen Gedanken. »Ja«, rufe ich.

Die Tür wird geöffnet und Rosalie kommt mit einer Tasse Kaffee in der Hand hinein, die sie auf meinem Schreibtisch abstellt.

»Danke, du bist ein Schatz!«, sage ich und lächle meine Sekretärin an.

Insgeheim hoffe ich, sie in vier Jahren nicht an den Ruhestand zu verlieren. Die Hoffnung ist gering. Sie schwärmt mir ständig vor, wohin sie noch reisen will. Ihr Mann ist bereits in Rente und langweilt sich zu Hause zu Tode. Ihm wäre es am liebsten, wenn Rosalie ebenfalls sofort in den Ruhestand ginge und die beiden die Welt bereisen könnten.

Rosalie ist hin und her gerissen. Sie betont immer, wie gern sie für mich arbeitet und wie sehr sie es vermissen würde, wenn es vorbei wäre. Gleichzeitig ist sie vom Fernweh gepackt.

Sie lächelt mir mit ihrem typischen warmen Lächeln zu. »Gerne. Mittlerweile kenne ich deine Koffeinvorliebe.«

Ich lache laut auf. Meine Sekretärin kennt mich wirklich gut, besser als meine Eltern.

»Ach ja, Cindy von der Buchhaltung hat um einen kurzfristigen Termin gebeten. Ich habe sie heute dazwischen gequetscht. Ich hoffe, es ist okay.«

Ich seufze. »Klar. Scheint wichtig zu sein«, antworte ich. Insgeheim weiß ich, worauf ihr Besuch hinauslaufen soll. Mit Rosalie möchte ich aber nicht darüber reden.

»Bestimmt, was es genau ist, wollte sie mir nicht sagen.«

Ich nicke. »Na schön, dann wollen wir mal«, murmle ich gedankenverloren und greife nach der Maus. Seit ich die Firma gegründet habe, komme ich immer seltener dazu, meiner Leidenschaft, dem Programmieren, nachzugehen. In den letzten Jahren sind wir so gewachsen, dass ich zu viele andere Dinge zu tun habe. Mein Highlight sind die Besprechungen mit den Programmierern, wenn sie mir ihre Arbeit zeigen. Hin und wieder tüftle ich noch mit ihnen an Problemen. Leider ist das nur ein winziger Bruchteil meiner Arbeitszeit.

***

Es klopft an der Tür, als ich gerade damit beschäftigt bin, E-Mails von Kunden zu beantworten.

»Herein«, rufe ich und schaue auf.

Rosalie steckt den Kopf zur Tür hinein und hält einen Stapel Briefumschläge in der Hand. »Ich bringe dir die Post«, sagt sie und kommt herein. »Cindy ist auch schon da. Soll ich sie dir gleich reinschicken?«

»Okay, danke. Gib mir zwei Minuten, damit ich die Mail zu Ende schreiben kann.«

»Gut.«

Rosalie verlässt das Zimmer.

Ich lese meine Antwort an den Kunden noch einmal durch und überprüfe sie auf Fehler. Nachdem ich keine finden kann, drücke ich auf Senden und lehne mich zurück.

Mein Schreibtisch ist voll mit Arbeit, aber etwas Neues anzufangen, lohnt sich nicht, da die Buchhalterin jeden Moment hineinkommen wird.

Ich hoffe für sie, dass es wirklich wichtig ist. Bei Cindy weiß man das nie. Sie kam schon häufiger unter einem Vorwand zu mir.

Es klopft erneut an meiner Bürotür.

Ich atme tief durch und setze mich aufrecht hin. »Herein!«, rufe ich mit fester Stimme.

Die Tür geht auf und eine aufgetakelte Cindy betritt das Büro. Ihr schwarzer Rock ist kurz genug, um als Gürtel durchzugehen. Die weiße Bluse, die sie anhat, sieht aus, als würde sie jeden Moment explodieren wollen. Sie sitzt sehr eng und hat ordentlich damit zu tun, Cindys Oberweite zu halten. Die oberen beiden Knöpfe sind bereits geöffnet und bieten einen tiefen Einblick. Sie trägt wieder einmal High Heels, in denen sie kaum laufen kann. Sobald sie etwas schneller gehen muss, sieht sie aus, als würde sie über rohe Eier balancieren.

Ich schaue meiner Buchhalterin ins Gesicht. Wie immer ist sie stark geschminkt. Ich würde jede Wette eingehen, sie ungeschminkt nicht zu erkennen.

Ihre blonden Haare sind hochgesteckt, nur vereinzelte Strähnen hängen heraus. Ich bin mir sicher, Cindy hat sie mit Absicht so drapiert.

Sie trägt eine Mappe unter dem Arm und setzt ein Lächeln auf, als sie meine Musterung bemerkt.

Ich wende meinen Blick von ihr ab. »Bitte!«, sage ich und deute auf einen der Besucherstühle.

In Zeitlupe setzt sich meine Buchhalterin auf den Stuhl, der meinem genau gegenübersteht. Dabei achtet sie darauf, ihre Brust rauszustrecken und sich möglichst lange gebückt zu halten, um mir einen Einblick auf ihre Oberweite zu gewähren.

»Was gibt es so Dringendes?«, erkundige ich mich.

»Nun ja …«, stammelt sie.

Das Gestammel reicht mir, um zu wissen, wie unnötig dieser Termin ist.

»Was?«, frage ich in einem schroffen Ton.

»Ich habe da eine Buchung entdeckt, die ich nicht zuordnen kann.« Cindy starrt mich an und zieht dabei einen Schmollmund.

»Aha. Und?«

Sie erhebt sich im Schneckentempo, läuft um den Schreibtisch herum, bis sie neben mir steht. Sie beugt sich nach vorn und legt die Mappe auf den Tisch.

Ich klappe sie auf und starre auf einen Kontoauszug. »Und?« Meine Stimme klingt genervt. Es fällt mir schwer, Cindy nicht anzuschreien.

Mit einem langen roten Fingernagel deutet sie auf eine Zahl. »Diese hier!«

Ich schaue mir erst die Zahl an und wandere dann in der Zeile weiter, um zu sehen, von wem die Überweisung getätigt wurde. Als ich den Namen Murphy Limited lese, kocht in mir die Wut hoch. Nun kann Cindy nicht mehr leugnen, dass sie einen fadenscheinigen Grund gesucht hat, um herzukommen.

Murphy Limited ist ein Kunde, für den wir mehr als ein Mal gearbeitet haben. Cindy müsste das wissen, sie ist von Angang an in der Firma. Sie war eine der Ersten, die ich vor zehn Jahren, als ich die Firma gründete, eingestellt hatte.

Aber vielleicht ist genau das ihr Problem. Anfangs verhielt ich mich meinen Mitarbeitern gegenüber eher wie ein Kumpel. Im Laufe der Jahre erlernte ich erst den richtigen Umgang mit Angestellten. Ich versuche stets streng, jedoch fair zu sein und mich wie ein Chef zu verhalten. Natürlich ist es schön, freundschaftlich miteinander umzugehen. Leider nutzen das die meisten Leute aus und nehmen einen nicht mehr für voll. Cindy ist so eine Kandidatin. Umso erfolgreicher wir wurden, desto aufdringlicher wurden ihre Annäherungsversuche. Obwohl ich nie darauf eingehe, versucht sie es immer wieder.

Ich atme tief durch. »Was soll das?«, frage ich mit ruhiger fester Stimme. »Überfordert dich dein Job so sehr, dass du unsere Kunden nicht erkennst? Willst du dir vielleicht etwas anderes suchen?«

Cindy erhebt sich aus ihrer gebückten Haltung und starrt mich verwirrt an. Das Lächeln ist ihr längst aus dem Gesicht gefallen.

»Was?«, piepst sie.

»Du kommst her und verschwendest meine Zeit, das ist!«

Sie schluckt und läuft rot an.

»Was soll das?«, wiederhole ich meine Frage. »Was willst du?«

»I-Ich …«

»Ich höre!«

»N-Nichts!«

»Gut. Dann kannst du ja jetzt zurück an deinen Arbeitsplatz gehen. Und wenn du noch einmal meine Zeit mit so einem Schwachsinn verschwenden willst, betrachte es als deine erste Abmahnung!« Ich wende mich von ihr ab, starre auf meinen Bildschirm und warte, bis Cindy geht.

Langsam setzt sie sich in Bewegung. Ich höre jeden ihrer Schritte durch mein Büro klackern. Nach einer gefühlten Ewigkeit wird endlich die Tür geöffnet und fällt kurz darauf wieder zu.

Ich atme erleichtert aus. Es war das erste Mal, dass ich Cindy in ihre Schranken gewiesen habe. Normalerweise stehe ich über solchen plumpen Anbaggerungsversuchen, aber heute sind meine Nerven zum Zerreißen gespannt. Ich fühle eine innere Unruhe und weiß nicht, woher sie kommt.

Keine zwei Minuten später klopft es.

»Ja!«, rufe ich genervt.

Ich rechne schon damit, Cindy wieder zu sehen. Doch es ist Rosalie, die ihren Kopf hineinsteckt. »Darf ich?«, fragt sie zaghaft.

Ich nicke.

Rosalie kommt näher. »Ich will mich ja nicht einmischen, aber was war hier gerade los? Cindy sah aus, als hätte sie einen Geist gesehen.«

»Sie …«

»Sie hat also wieder versucht, bei dir zu landen«, spricht Rosalie die Worte aus, die mir fehlen.

»Du weißt es! Na klar.« Ich lächle ihr dankbar zu.

»Was hast du gemacht? Sie in ihre Schranken gewiesen?«

»Ja.«

»Irgendwann musstest du es ja mal tun. Sie erzählt den anderen Kolleginnen in den Pausen immer, du würdest mit ihr flirten.«

»Was?« Schockiert hebe ich den Kopf und schaue Rosalie in die Augen. Ich suche nach einem Anzeichen, das mir den Humor hinter der Aussage verrät, aber es gibt keins. »Wirklich?«, frage ich flüsternd.

»Ja, ich weiß es auch nur von den anderen. Vor mir traut sie sich das wohl nicht, zu sagen.«

Ich nicke.

»Kopf hoch, Gregor! So eine ist es nicht wert, sich über sie aufzuregen.«

»Ja, du hast recht«, krächze ich.

»Kann ich dir irgendetwas bringen?«

»Nein. Ich muss endlich weiterarbeiten«, antworte ich und deute auf den Computerbildschirm.

***

»Du bist spät, Gregor«, begrüßt mich meine Mutter, als ich eintreffe. »Du weißt, dein Vater mag es nicht zu warten.«

»Hi Mom«, grüße ich zurück und gebe ihr einen Kuss auf die Wange. Auf mein Zuspätkommen gehe ich nicht weiter ein. Es hat sowieso keinen Zweck, sich zu rechtfertigen.

Wenn es nach meinem Vater geht, kann ich sowieso nichts richtig machen. Er sieht meine Firma noch immer als Spielerei. Dass wir inzwischen pro Jahr einen Millionenumsatz erwirtschaften, kann oder will er nicht kapieren. Für ihn gibt es nur sein eigenes Unternehmen. Er hätte es viel lieber gesehen, wenn ich in seine Firma eingestiegen wäre. Dagegen habe ich mich aber immer gesträubt. Ich habe mich noch nie für Schrauben interessiert. Auch, wenn mein Vater einer der größten Hersteller für Nägel und Schrauben ist, hat es mich nie gereizt, in das Unternehmen einzusteigen. Am Ende wäre es vielleicht auf das Gleiche rausgekommen. In beiden Fällen hätte ich weniger mit der Produktion, als mit Kundenkontakten und der Mitarbeiterführung zu tun. Doch seit ich denken kann, wollte ich Programmierer werden. Wenn es sein muss, kann ich auch einen Nagel in die Wand hauen oder mit Schrauben umgehen, aber das ist eher ein notwendiges Übel.

Meine Mutter hat keine eigene Meinung. Sie zeigt mir nicht, ob sie stolz auf mich ist. Das hat sie noch nie getan. Sie ist meinem Vater hörig und redet ihm nach dem Mund.

Gerit Sander sagt, seine Frau soll nicht arbeiten. Also bleibt Dina zu Hause. Seit ich aus dem Haus bin, muss sich meine Mutter schrecklich langweilen. Für anfallende Arbeiten im Haushalt gibt es schließlich Personal.

Freunde hat meine Mutter auch keine. Wenn sie Besuch bekommen, sind es Geschäftspartner meines Vaters, die in Begleitung kommen.

Ich gehe an meiner Mutter vorbei. Es wundert mich, dass sie heute selbst an die Tür gekommen ist. Normalerweise sind dafür die Angestellten zuständig.

Als ich das Wohnzimmer betrete, sehe ich meinen Vater auf einem Sessel sitzen. Er ist in eine Zeitung vertieft und bemerkt mein Eintreffen nicht sofort.

Ich straffe meine Schultern und gehe auf ihn zu. »Hallo Vater!«