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Nachdem ihre Ehe gescheitert ist, bricht Jessie Jefferson ihre Zelte in New York ab und zieht zurück in ihre alte Heimatstadt Boston, der sie ganz bewusst den Rücken zugekehrt hat. Der jungen Frau fällt die Eingewöhnung nicht leicht, denn an jeder Ecke wird sie an ihre erste große Liebe Logan Sullivan erinnert, den Mann, der ihr vor Jahren das Herz gebrochen hat. Erst, als Jessie von einer ehemaligen Kommilitonin die Möglichkeit erhält, ihre künstlerische Ader wiederzubeleben, kann sie über die nahezu allgegenwärtigen Erinnerungen hinwegsehen. Nicht einmal die Nachricht, dass Logan künftig das Tor der Boston Razors hüten wird, bringt sie aus der Ruhe. Doch dann steht Logan eines Tages vor ihr und konfrontiert sie mit seinem Vorhaben, wieder ein Teil ihres Lebens zu werden und seine Fehler der Vergangenheit wiedergutzumachen. Jessie wehrt sich verzweifelt gegen die wiedererwachenden Gefühle für den attraktiven Eishockeyspieler, unterschätzt dabei jedoch dessen Hartnäckigkeit …
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kim Valentine
Starting Six: Jessie und Logan
© 2020 Written Dreams Verlag
Herzogweg 21
31275 Lehrte
© Covergestaltung: Sabrina Dahlenburg
(www.art-for-your-book.weebly.com)
ISBN ebook: 978-3-96204-325-4
Sämtliche Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Dieses Buch darf weder auszugsweise noch vollständig per E-Mail, Fotokopie, Fax oder jegliches anderes Kommunikationsmittel ohne die ausdrückliche Genehmigung des Verlags weitergegeben werden.
Die Boston Razors sind ein fiktives Team, das mit fiktiven Spielern in einer fiktiven Liga gegen fiktive Gegner um einen fiktiven Pokal spielt.
Für Iris K.
Ich blickte auf die beiden Koffer hinab, die links und rechts neben mir standen, und atmete tief durch. Das sollte es also gewesen sein? Das war alles, was nach vier Jahren Beziehung übrig war? Zwei Koffer mit Klamotten und eine Handvoll Fotos – Überbleibsel aus glücklichen Zeiten, in denen Martin und ich uns verliebt anlächelten. Besonders die Bilder unserer Hochzeit, die den Anfang von ‚bis dass der Tod uns scheidet‘ markieren sollten, kamen mir nun vor wie Hohn. Gerade einmal drei Jahre hatte unsere Ehe Bestand gehabt. Vermutlich würde ich die Aufnahmen wegwerfen, sobald ich in Boston angekommen war.
Martins Räuspern riss mich aus meinen Gedanken und ich sah auf. Mit der Schulter lehnte er an der Tür, die zur Küche führte und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Er trug eine dunkle Anzugshose und das hellgelbe Hemd, das ich insgeheim immer das Pipi-Hemd nannte. Trotzdem sah er gut aus. Ob man das von mir behaupten konnte, war fraglich, doch meine äußere Erscheinung war mir im Augenblick herzlich egal. Meine Ehe war in die Brüche gegangen und ich würde in ein paar Stunden wieder bei meinen Eltern einziehen. Ich hatte demnach andere Sorgen, als mein Aussehen. Mit der Discounter-Jeans und dem unifarbenen schwarzen Langarmshirt, die ich mir vor einigen Wochen gekauft hatte, gewann ich ohnehin keinen Blumentopf. Beides war allerdings bequem und das war alles, was für mich im Moment zählte. Bevor ich vor drei Jahren nach New York gezogen war, hatte ich meine Garderobe Stück für Stück mit Kleidern, Leinenhosen und Blusen erweitert und Jeans und Sweater beim Umzug komplett zurückgelassen. Nun konnte ich das jedoch einfach nicht mehr tragen. Es hatte sich befreiend angefühlt, als ich gestern drei prall gefüllte Säcke an eine Wohlfahrtsorganisation gespendet hatte.
Obwohl mein aktuelles Outfit dem entsprach, was ich früher getragen hatte, fühlte sich die Kleidung an mir ebenso fremd an, wie es der Mann geworden war, der vor mir stand. Wir hatten uns geliebt, hatten uns ein Versprechen gegeben und sogar ein gemeinsames Kind erwartet. Davon war längst nichts mehr übrig. Nur Schweigen, das so erdrückend war, dass es uns selbst jetzt, nachdem wir eine Trennung als einzig vernünftige Option erkannt hatten, Tag für Tag weiter auseinandertrieb.
„Ich helfe dir“, bot mein künftiger Ex an und ging auf mein Gepäck zu.
„Lass nur. Ich schaffe das ohne deine Hilfe“, wehrte ich ab und legte rasch die Hände um die Griffe der Koffer, um ihm zu beweisen, dass ich es konnte. Die Gepäckstücke waren schwer und das Ächzen kroch bereits meine Kehle hoch, doch ich verbot mir, Schwäche zu zeigen.
„Sei nicht kindisch, Jessica“, wies er mich mit diesem tadelnden Unterton in der Stimme an, den ich inzwischen so sehr hasste.
Eine Strähne meines mausbraunen Haars fiel mir ins Gesicht und kitzelte mich an der Nase. Ich pustete sie weg, aber sie rutschte sofort zurück. Sobald ich in Boston war, würde ich mir einen Friseursalon suchen, der mir dabei half, diesen grässlich-biederen Haarschnitt loszuwerden, den ich nur Martin zuliebe trug. Damit war nun endgültig Schluss! Ich hatte mich ihm ohnehin länger angepasst, als gut für mich war. Nun war ich dran.
„Es ist nichts kindisch daran, wenn ich vermeiden möchte, dir noch mehr deiner kostbaren Zeit zu stehlen“, konterte ich und sah ihn finster an.
Martin hatte mich in einem hässlichen Streit, der höchstwahrscheinlich den traurigen Höhepunkt unseres Zerwürfnisses darstellte, beschuldigt, ihm die besten Jahre seines Lebens gestohlen zu haben, und das hatte ich ihm bis heute nicht verziehen. Vermutlich würde ich das auch nie.
„Nun. Wie du willst“, entgegnete er und schob die Hände tief in die Taschen seiner Anzughose, um mir zu demonstrieren, dass das Angebot einmalig gewesen war. Ich konnte kaum erwarten, endlich von hier zu verschwinden. Es war so verkorkst zwischen uns, dass ich das Gefühl hatte, in Martins Anwesenheit gar nicht mehr richtig atmen zu können.
„Ich will“, erwiderte ich resigniert und sah mich ein letztes Mal in der Wohnung um, in die wir nach unserer Hochzeit gezogen waren und in der ich die vergangenen drei Jahre verbracht hatte. Drei Jahre, nur damit ich mir nun wie eine Fremde vorkam, deren Anwesenheit keine Sekunde länger erwünscht war. „Falls ich etwas vergessen habe …“, setzte ich an.
„ … schicke ich es dir nach“, beendete er den Satz für mich, wie er es während unserer Ehe nur zu gern getan hatte. Manchmal sogar mit Worten, die dem Gegenteil von dem entsprachen, was ich ursprünglich hatte sagen wollen. „Danke für die Einladung, doch …“ „… wir kommen nicht, ohne ein Geschenk mitzubringen!“, um nur ein Beispiel zu nennen.
Ich nickte knapp und überlegte, wie man sich von dem Menschen verabschiedete, dem man einst das Versprechen gegeben hatte, ihn zu lieben, bis dass der Tod einen scheidet. Zwar waren wir beide am Leben – trotzdem war der Tod dafür verantwortlich, dass diese Ehe gescheitert war. Der Tod unseres gemeinsamen noch ungeborenen Kindes hatte zugleich das Todesurteil für unsere Ehe bedeutet. Schon zuvor war es ab und an zu kleineren, und im Rückblick betrachtet, bedeutungslosen Streits gekommen. Martin hatte sich allerdings so sehr auf das Baby gefreut, dass ich zuversichtlich gewesen war, unser Kind würde eine gestärkte und glückliche Familie aus uns machen. Diese Hoffnung kam mir inzwischen unglaublich naiv vor.
„Also dann“, sagte ich lahm und suchte in Martins Gesicht nach einem Anhaltspunkt, welche Verabschiedung er für angemessen hielt. Aber was ich bekam, war das, was mich auch aus seinen Armen, aus seinem Bett und letztendlich aus seinem Leben getrieben hatte. Kälte, Schweigen und Abweisung.
Statt eines Wortes zum Abschied nickte er mir lediglich zu und ging zur Tür, um sie zu öffnen. Deutlicher konnte sein Hinweis, dass es für mich Zeit war zu gehen, kaum sein.
„Moment, die Schlüssel“, fiel es mir ein, daher stellte ich die Koffer ab und begann, an meinem Schlüsselbund herumzufummeln.
„Behalte ihn, Jessica. Ich habe den Austausch der Schlösser schon veranlasst.“
„Das ist unnötig, Martin“, widersprach ich, war zugleich jedoch erleichtert, dass ich mir nicht länger die Blöße geben musste, da ich mich vergebens mit dem Schlüsselring abmühte.
„Es ist nur ein Schlüssel. Lass es einfach sein“, beharrte er und warf mir dabei einen seiner berüchtigten Laser-Blicke zu, die mich daran erinnerten, wie verbohrt er sein konnte. Früher, nachdem ich ihn in einer Bar kennengelernt hatte, in der Harvard-Studenten sich die Klinke in die Hand gaben, hatte ich das als Zielstrebigkeit interpretiert. Es gefiel mir, dass er sein Ziel nie aus den Augen ließ, bis er es erreichte. Nun fand ich diese völlige Unfähigkeit, sich etwas flexibel zu zeigen, furchtbar. Zum Davonlaufen sozusagen. Mein Stichwort.
„In Ordnung. Dann leb‘ wohl“, verabschiedete ich mich, musterte ihn noch einmal von Kopf bis Fuß und hievte die Koffer zum Aufzug.
„Leb‘ wohl“, hörte ich ihn sagen, ehe ich anschließend zum letzten Mal das leise Klicken des Schließzylinders der Wohnung vernahm, die ich drei Jahre lang als mein Zuhause angesehen hatte.
Ich betrat die sterile Aufzugskabine und vermied es, einen Blick in die spiegelnde Oberfläche zu werfen. Stattdessen sah ich hinab auf meine Vans. Sie waren eines der wenigen Dinge meines alten Ichs, die ich aus Boston mitgebracht hatte. Die meiste Zeit hatten sie ihr Dasein in der hintersten Ecke des Kleiderschranks gefristet, da ich sie ursprünglich nur zu Renovierungszwecken anziehen wollte. Dazu war es nie gekommen. Martin, der Top-Harvard-Absolvent aus gut betuchtem Hause, ließe sich eher seine Hoden in die Tür klemmen, als sich an handwerklicher Arbeit zu versuchen. Hierfür gab es schließlich Fachleute, die man anheuern und herumkommandieren konnte. Ich hatte einige Male mit dem Gedanken gespielt, die Schuhe zu entsorgen, es aus einem sentimentalen Grund jedoch nie geschafft. Nun war ich froh darum. Nachdem klar geworden war, dass es für Martin und mich keine Zukunft gab, hatte ich Sehnsucht danach gehabt, etwas zu tragen, das mich daran erinnerte, wer ich einst gewesen war. Es mochte nur ein Paar Schuhe sein; für mich waren sie im Augenblick allerdings mehr. Sie erdeten mich und sagten mir, dass irgendwo tief in mir vielleicht noch die alte Jessie steckte.
Als ich auf den Bürgersteig trat und das am Straßenrand wartende Taxi sah, das ich bestellt hatte, erfasste mich eine Welle der Melancholie und für einen Moment kitzelten Tränen in meinen Augen. Entschlossen drängte ich sie zurück, denn schließlich hatte ich in den vergangenen Monaten zu viel geweint und meine Heimkehr nach Boston sollte zeitgleich ein Neustart sein.
Ein Neustart, in dem es in erster Linie um mich und meine Bedürfnisse ging. Ich musste den Verlust meines Kindes verarbeiten und mit dem Aus meiner Ehe fertig werden. Im Augenblick fühlte ich mich wie ein Scherbenhaufen und ich hatte keine Ahnung, ob ich eine Vase oder ein Teller war, falls es mir gelang, mich wieder zusammenzusetzen. Ich blickte ein letztes Mal auf die Eingangstür und verspürte einen seltsamen Druck in der Brust. Es mochte nur eine Tür sein, die eben hinter mir ins Schloss gefallen war. In Wahrheit war jedoch ein Kapitel meines Lebens zu Ende gegangen.
Der Taxifahrer lud das Gepäck in den Kofferraum und ich nutzte die Zeit, um tief durchzuatmen. Ich musste nach vorn sehen, herausfinden, wer ich war und was ich mit meinem Leben künftig anfangen wollte. Wenn ich ständig über Dinge nachdachte, die ich rückwirkend nicht mehr beeinflussen konnte, würde mir das nie gelingen! Die Vergangenheit war ein Teil von mir, aber ich durfte mich davon nicht lähmen lassen.
Dass das alles andere als leicht werden würde, erkannte ich vier Stunden später, als ich meine Koffer am Logan International Airport in Richtung Ausgang schleifte.
Was für eine Ironie, dass der Bostoner Flughafen den Namen des Mannes trug, der mir auf eine sehr schmerzhafte Weise das Herz gebrochen hatte.
Nein, ich redete nicht von Martin. Das mit ihm hatte zwar auch weh getan und ich litt immer noch unter dem Verlust meines Babys, das so winzig gewesen war, dass man mir nicht hatte sagen können, ob es ein Junge oder ein Mädchen geworden wäre.
Ich sprach von Logan Sullivan, meiner ersten Liebe.
„Zum Teufel“, platzte es aus mir heraus, als ich ausgerechnet ihn vor mir sah.
Er war älter, trug nun einen Bart und sein Gesicht war kantiger und maskuliner, als das des Logans, der mich verlassen hatte. Der Blick aus seinen blauen Augen war intensiv und mir war, als würde er sich in meine Haut brennen. Mir wurde warm, mein Herz schlug schneller, während ich langsam auf ihn zuging. Ich musste den Kopf in den Nacken legen, um ihn weiter anzusehen, denn Logan war riesig. Mindestens fünf Meter groß prangte er an einer Werbetafel im Eingangsbereich des Flughafens und warb für sein neues Team.
Die Boston Razors.
Verfluchter Mist.
Ich knabberte nervös an meinem Daumennagel, während Mom uns durch den Verkehr bugsierte und munter vor sich hin quasselte. Sie redete von Wohnungen und ließ sich nahezu im selben Atemzug über das Umzugsunternehmen aus. Dieses sträubte sich nach wie vor, die Kosten für das Glas der Vitrine zu ersetzen, das beim Umzug vom noblen Back Bay in einen Vorort von Boston zu Bruch gegangen war. Von dort aus schwenkte sie zu ihrem Assistenten Robert, der sich das Bein beim Fensterputzen gebrochen und wegen der daraus resultierenden Immobilität mehr als zehn Kilo zugenommen hatte. Diese versuchte er nun mittels Fahrradfahren wieder loszuwerden.
Schließlich erzählte sie von Dad, der endlich einen Therapieplatz für seine Sucht gefunden hatte, das Familienvermögen mit hochriskanten Aktienkäufen zu vermehren, oder in seinem Fall, es auf null zu setzen. Sie sprach von Charlie, meiner Schwester, die als Ärztin in einer Privatklinik arbeitete und meinem jüngeren Bruder Nick, der ein wahres Technik-Genie war. Mom beklagte sich, dass sie ihn kaum noch zu sehen bekam, seit er in Verhandlungen mit einem Interessenten steckte, der die Lizenz des neuartigen Mikrochips kaufen wollte, den mein Bruder entwickelt hatte.
Kurzum: zu viel Information.
Als sie wieder von Charlie zu sprechen begann, klinkte ich mich geistig aus. Mir fiel auf, dass sie sich nach wie vor weigerte, uns mit den von uns bevorzugten Abkürzungen anzusprechen, und stur auf Charlize, Jessica und Nicolas beharrte. Ich sparte mir, sie darauf hinzuweisen, mich bitte Jessie zu nennen, denn ich hatte – auch ohne das komprimierte Lebensumstands-Update meiner Familie – eine Unmenge zu verarbeiten. Allem voran, dass Logan und ich uns offenbar den gleichen Zeitpunkt ausgesucht hatten, um in unsere Heimatstadt zurückzukehren. Es war unmöglich, darüber hinaus dem Wortschwall meiner Mutter zu folgen.
„Jessica! Hörst du mir zu?“
Ich blinzelte und hoffte, mein selektives Gehör hätte in den vergangenen Minuten irgendetwas aufgeschnappt, das mir weiterhelfen würde. Das Letzte, an das ich mich erinnern konnte, war, dass sie etwas von Charlie erzählt hatte.
„Ich bin total erledigt. Sorry, Mommy“, wich ich begleitet von einem tiefen Seufzen aus, woraufhin sie über die Mittelkonsole griff und verständnisvoll mein Knie tätschelte.
„Das wird schon wieder, mein Schatz. Ich sagte gerade, dass ich an einer Wohnung für dich dran bin. Sie liegt in der Nähe von Charlize. Ich dachte, es könnte dir gefallen, wenn du in der Nachbarschaft deiner Schwester wohnst.“
„Klingt super“, meinte ich matt und sah weiter aus dem Fenster. Ich schätzte das Engagement meiner Mutter, im Moment wusste ich jedoch einfach nicht, wo mir der Kopf stand. Bereits seit klar war, dass Martin und ich uns trennen würden, war mir, als befände ich mich im freien Fall, während ich verzweifelt an der Reißleine zog, um den Fallschirm zu öffnen, der offenbar nicht existierte.
Ungeachtet dessen schaltete Mom sofort in den Maklerinnen-Modus und bald flogen mir die Eckdaten der Immobilie um die Ohren wie Geschosse, die man aus einer Kanone abfeuerte. Ich hörte noch etwas von zwei Zimmern, aber schon rasch kreisten meine Gedanken erneut um das, was ich vor wenigen Minuten erfahren hatte.
Logan Sullivan war zurück in Boston!
Es war kaum zu fassen!
Eine Weile hatte ich seine Karriere nachverfolgt, die ihn nach Russland geführt hatte, doch spätestens, seit ich von meiner Schwangerschaft wusste, hatte ich fast nicht mehr an ihn gedacht. Und nun waren wir beide wieder in einer Stadt, die sich auf zweihundertzweiunddreißig Quadratkilometer erstreckte und mir dennoch zu klein erschien.
„Da wären wir!“, rief Mom und zirkelte ihren Wagen geübt in die briefmarkengroße Parklücke vor dem Bungalow, in den sie und Dad vor etwa sechs Monaten gezogen waren.
Da mein Vater die gesamten Familien-Ersparnisse an der Börse verloren und zudem heimlich eine Hypothek aufgenommen hatte, hielten meine Eltern es für das Beste, das große Haus in Back Bay zu verkaufen und in ‚etwas Kuscheligeres‘ am Stadtrand zu ziehen. Weil meine Mutter seit Jahren im Immobiliengeschäft tätig war, nutzte sie ihre Kontakte und ich musste ihr zugestehen, dass sie wirklich ein Händchen dafür besaß. Ihr und somit auch mein neues Zuhause war ein flacher Bungalow, vor dem sich ein sehr gepflegter Vorgarten erstreckte. Die Fassade war in einem warmen Braunton gestrichen und die weißen Holzfenster stellten dazu einen hübschen Kontrast dar. Es sah gemütlich aus, daher erschien mir der Einzug bei meinen Eltern nicht mehr so schlimm wie noch vor wenigen Stunden. Immerhin wurde mir durch deren Umzug die Peinlichkeit erspart, künftig und hoffentlich nur vorübergehend wieder in meinem alten Kinderzimmer zu leben.
„Komm, Jessica. Ich zeige dir alles“, trällerte meine Mutter und stöckelte bereits über den gepflasterten Weg, der zur Haustür führte. „Das Haus mit einer Wohnfläche von einhundertzehn Quadratmetern wurde schon in den Achtzigern gebaut, aber die Vorbesitzer hatten glücklicherweise eine Schwäche für ständige Modernisierung. Der Wasserdruck in der Dusche ist phänomenal. Du wirst es lieben, Schatz.“
Grinsend folgte ich meiner Mom, die offenbar gar nicht bemerkte, dass gerade erneut die Maklerin in ihr hervorbrach.
„Dein Zimmer ist am Ende des Flurs. Charlize hat mir geholfen, passende Bettwäsche und Vorhänge auszusuchen. Wir wollten dich damit nicht belasten“, erklärte sie und schenkte mir ein liebevolles Lächeln.
Es war wirklich rührend, wie sie sich um mich sorgte und ich rechnete ihr hoch an, dass sie mir ohne zu zögern das Gästezimmer angeboten hatte, als ich ihr von meiner bevorstehenden Scheidung erzählte.
„Danke, das ist sehr nett von euch“, erwiderte ich ehrlich. Mom öffnete die Tür und ich warf einen ersten Blick in mein neues Reich.
Das Queen-Size-Bett, das den Raum dominierte, war mit blauer Bettwäsche bezogen und sah unglaublich einladend aus. Die Wände waren in einem Beigeton gestrichen, was sich gut von dem dunklen Holzboden abhob. Neben einer Tür, die vermutlich zum Wandschrank führte, befand sich eine kleine Kommode, die zum Bett und zum Nachttisch passte. Alles wirkte noch ein bisschen karg und unpersönlich, aber dann entdeckte ich das Bild von meinen Geschwistern und mir, das auf dem Nachttisch stand. Ich ging ein paar Schritte darauf zu, fuhr lächelnd über das Glas und zeichnete unsere Umrisse nach. Die Sonne funkelte in Charlies verspiegelter Sonnenbrille und Nicks Grinsen war so breit und strahlend, dass man die Grübchen in seinen Wangen erkannte, die er eigentlich nicht ausstehen konnte. Der Wind zauberte uns die wildesten Frisuren und wir sahen glücklich aus.
„Das war die Idee deiner Schwester“, erklärte Mom, die an der Tür stehen geblieben war. Ich wandte mich zu ihr um und bedankte mich mit einem Lächeln für die nette Geste.
„Das war einer unserer letzten Familienausflüge nach Nantucket“, sagte ich und musterte das Bild erneut.
Wenn ich geahnt hätte, dass Logan nur wenige Tage später aus meinem Leben verschwinden würde, hätte ich mich sicher geweigert, meine Familie zu begleiten, um den Tag mit ihm zu verbringen. Mit einem Anflug von Wehmut betrachtete ich mein Lächeln auf dem Bild, das ich kurz darauf nur noch aufgesetzt hatte, um mir meine Mom vom Leib zu halten. Es war nicht weiter ungewöhnlich, dass Logan als Eishockeyspieler viel unterwegs war, doch natürlich fiel ihr irgendwann auf, dass sie meinen Freund schon lange nicht mehr gesehen hatte.
Sie hatte rasch gewittert, dass etwas passiert sein musste, allerdings wollte ich nicht über Logan sprechen. Mom hatte jedoch so lange nachgebohrt, bis ich mit der Sprache rausgerückt war. Nachdem sie wusste, was vorgefallen war, war sie ständig um mich herumgeschlichen, bis mir ihre permanente Fürsorge zu viel geworden war. Meine Mutter neigte diesbezüglich gerne zu maßloser Übertreibung. Sie hatte ständig versucht, mich aus dem Haus zu locken, mir jede erdenkliche Nascherei mitgebracht und war dauernd in mein Zimmer geplatzt, um mir Tee zu bringen. Nach einer Woche hielt ich es nicht länger aus und beschloss, die Tapfere zu spielen, damit sie endlich aufhörte, um mich herumzuschleichen, als wäre ich ein neuartiger Sprengstoff, der jederzeit explodieren konnte.
Vielleicht war das aber einfach meine Bürde. Ich war das mittlere Kind, doch da Charlie immer brav in der Spur geblieben und Nick damals noch zu klein gewesen war, war ich diejenige, die alles als Erstes tat.
Schule schwänzen. Mir selbst die Haare schneiden. Heimlich Moms Lippenstift benutzen. An einer Zigarette ziehen und Alkohol probieren, wonach ich mich beide Male übergeben hatte. Ich war als Erste nachts aus dem Fenster gestiegen, um zu einer Party zu gehen. Dasselbe Fenster hatte ich einige Monate darauf geöffnet, um den Jungen hereinzulassen, dem ich später meine Unschuld geschenkt hatte.
Den unrühmlichen Höhepunkt aller ersten Male bildete die Tatsache, dass ich auch die Erste gewesen war, die sich das Herz hatte brechen lassen. Demnach war ein permanent heulendes Mädchen, das sich weigerte, das von ihrem Ex-Freund bei ihr vergessene T-Shirt loszulassen, Neuland für meine Mom gewesen. Möglicherweise war es völlig normal, dass sie in ihrem Streben, meinen Liebeskummer zu lindern, ein wenig übers Ziel hinaus geschossen war.
Damals war es mir unglaublich auf die Nerven gegangen, dass sie mich nicht in Ruhe gelassen hatte. Aber aus der Entfernung von einigen Jahren betrachtet, war ich inzwischen froh, dass sie damals so gehandelt hatte. Es war eben ihre Art gewesen, mir zu zeigen, dass sie da war, falls ich sie brauchte und sie nicht von meiner Seite weichen würde.
Und genauso tat sie es jetzt, nur dass Mom dieses Mal meinen Dad, Charlie und auch Nick mit einbezog. Einer nach dem anderen hatte mich angerufen und mir seine Unterstützung zugesichert. Mir waren dabei jedes Mal die Tränen gekommen, denn es tat unendlich gut, dass sie mich in ihrer Mitte willkommen hießen und mit offenen Armen empfingen, obwohl ich die Versagerin der Familie darstellte.
„Ich habe noch einen Termin, Jessica. Ist es okay, wenn ich dich alleine lasse?“, erkundigte sich Mom, die mich leicht besorgt musterte.
„Natürlich. Geh nur. Ich werde mich vermutlich ein bisschen hinlegen“, antwortete ich und begleitete sie rasch nach draußen, um meine beiden Koffer ins Haus zu holen.
„Es ist schön, dass du hier bist. Nimm dir Zeit, um dein Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Es wird alles gut“, tröstete sie mich und lächelte mir zu.
„Danke, Mom“, erwiderte ich und sah ihrem Auto nach, bis es um eine Ecke verschwand, ehe ich zurück in mein Zimmer ging.
Das Bett sah bequem aus, daher streifte ich die Schuhe ab und ließ mich kopfüber auf die weiche Matratze fallen. Mit geschlossenen Augen atmete ich den vertrauten Geruch des Weichspülers ein, den wir benutzten, seit ich denken konnte. Dann dachte ich an das hübsche Backsteinhaus, in dem wir aufgewachsen waren und an mein altes Zimmer im ersten Stock. Zuerst war es ein Schock in Rosa gewesen, bis ich in der fünften Klasse entschieden hatte, zu alt für diese Farbe zu sein. Meine Eltern hatten kurz zuvor die Wände neu streichen lassen und weigerten sich, erneut einen Maler anzuheuern, der meinem Wunsch nach einem weniger mädchenhaften Farbton nachkam. Also hatte ich mir kurzerhand von meinem Taschengeld einen Eimer Wandfarbe gekauft und selbst losgelegt. Am Anfang war ich voller Elan gewesen, hatte jedoch bald gemerkt, was für ein Mammutprojekt ich mir aufgehalst hatte. Das Ende der Geschichte war ein halb rosa, halb apfelgrün gestrichenes Zimmer und die Erkenntnis, dass sich die Heimwerker-Industrie durchaus etwas dabei dachte, wenn sie empfohlen, genügend Abdeckmaterial zur Hand zu haben. Da ich glaubte, Mom und Dad würden irgendwann nachgeben, machte ich keine Anstalten, meine angefangene Arbeit zu beenden, aber ich hatte ihre Hartnäckigkeit unterschätzt.
Ein knappes Jahr später beschloss ich, das Beste daraus zu machen, und verwandelte die Wände mithilfe einer Unmenge Markierstifte in eine surreale Fantasiewelt, die aus Märchenschlössern, turmhohen Baumhäusern und allerhand Fabelwesen bestand. Logan war total perplex, als er das erste Mal bei mir gewesen und meine eigenwillige Wandverzierung gesehen hatte.
Logan.
Schon wieder dieser Name.
Schon wieder dieser schmerzhafte Stich in meiner Herzgegend.
Offenbar verfolgte er mich in Gedanken, seitdem ich dieses verfluchte Plakat am Flughafen entdeckt hatte!
Nein, das stimmte nicht. Bereits, als ich mein Baby verloren hatte und Martin begann, sich so seltsam zu verhalten, hatte ich immer öfter an ihn gedacht. Hätte ich dasselbe durchleben müssen, wenn wir zusammengeblieben wären? Hätte ich ebenfalls den Verlust meines Kindes zu betrauern, wäre Logan der Vater gewesen?
Die Ärzte hatten davon gesprochen, dass eine Fehlgeburt manchmal ein vom Körper bewusst eingeleiteter Prozess war. Sie erklärten Martin und mir, unser Kind könne krank gewesen sein und dass es möglicherweise außerhalb des Mutterleibs aufgrund eines Immundefekts oder Organschadens keine Überlebenschance gehabt hätte. Ich weigerte mich bis heute, das zu akzeptieren. Trotzdem fragte ich mich seitdem unzählige Male, ob der genetische Cocktail Schuld daran trug und ob die Schwangerschaft einen positiveren Verlauf genommen hätte, falls ein anderer der Vater gewesen wäre.
Meine Hand wanderte hinab zu meinem Bauch, wo vor vier Monaten die vielversprechende Wölbung zu spüren gewesen war. Nun war dort nichts und ich fühlte mich mindestens genauso leer. In Gedanken hatte ich bereits begonnen, das Kinderzimmer zu gestalten. Unzählige Stunden hatte ich damit verbracht, in den gängigsten Onlineshops nach den besten Angeboten zu suchen, um dabei winzige Strampler aus Nicki-Stoff in virtuelle Warenkörbe zu legen. Ich hatte einschlägige Internet-Seiten nach möglichen Namen durchforstet und mich erkundigt, welcher Kinderwagen die geringste Schadstoffbelastung vorzuweisen hatte. Im Park hatte ich Mütter beobachtet und davon geträumt, ein friedlich schlafendes, zufriedenes Neugeborenes im Arm zu halten, während Martin mich glücklich anlächelte und ich mich an ihn schmiegte. Mein künftiges Familienleben war der Inbegriff der Kitschigkeit gewesen, aber es war exakt das, was ich gewollt hatte.
Es hätte mein kleines, perfektes Universum sein sollen, doch stattdessen lag ich im Gästezimmer meiner Eltern, weil ich keine Wohnung hatte. Zudem hatte ich auch keinen Abschluss, keinen Job, keine Freunde, keine Perspektive, kein Baby und keinen Ehemann mehr.
Bravo, Jessie, sagte ich im Stillen zu mir selbst. Du bist fünfundzwanzig und kaum weiter als vor fünf Jahren. Der plötzliche Drang, etwas zu tun, erfasste mich und trieb mich aus dem Bett. Mein Blick fiel auf die aufgestapelten Kartons, die hinter der Tür standen und mir bisher nicht aufgefallen waren. Vermutlich beinhalteten sie all die Sachen, die ich bei meinem Umzug nach New York in Boston zurückgelassen hatte. Langsam ging ich auf sie zu und mit jedem Schritt, den ich mich ihnen näherte, schlug mein Herz heftiger. Ich ahnte, was in diesen Kartons war und mir war klar, dass alte Wunden aufbrechen würden, sobald ich mich mit gewissen Erinnerungen konfrontierte. Aber irgendwas in mir wollte genau das. Ich wollte den Schmerz spüren, um zu wissen, nicht völlig tot zu sein.
Mein Mund war staubtrocken, als ich den ersten Umzugskarton öffnete und vorsichtig hineinspähte. Darin befanden sich Sweater mit dem Logo des College of Arts, Media and Design, kurz CAMD, und Jeans mit Farbflecken oder Rissen an den Knien. Während meines Grafikdesignstudiums war das meine übliche, meine Wohlfühlkleidung gewesen, die ich sogar getragen hatte, wenn ich mich an eines meiner Kunstprojekte gesetzt hatte. Egal ob Bleistift, Aquarell, Ölfarben oder Tusche. Ich hatte alles ausprobiert, wie man auch nach fünf Jahren noch bestens an der Kleidung erkennen konnte. Logan hatte es gefallen, dass ich kaum ein Kleidungsstück besaß, das frei von Farbe war.
Martin hingegen hatte mich manchmal damit aufgezogen, man könne denken, ich sei sein Sozialprojekt. Als wir uns gerade erst kennengelernt hatten, fand ich das auf eine verquere Art lustig. Jetzt würde ich ihm dafür vermutlich einen Drink ins Gesicht kippen. Ich hatte so unbedingt gewollt, dass das mit uns funktionierte, um gar nicht zu bemerken, wie herablassend er bereits damals hin und wieder gewesen war.
Mein Ex hatte immer sehr auf sein Äußeres geachtet und ich konnte mich an keinen Tag erinnern, an dem er etwas anderes als ein Hemd getragen hatte. Anfangs hatte mir das gefallen, denn das war ein weiterer Punkt, der Martin von Logan unterschied, den ich fast ausschließlich in Sportklamotten gesehen hatte. Und alles, was mich nicht an Logan Sullivan erinnerte, war zu diesem Zeitpunkt etwas Gutes gewesen.
Offenbar war Martin auf lange Sicht nicht der Richtige für mich gewesen, aber als ich ihn kennenlernte, war er genau, was ich wollte. Es mochte nicht die Liebe auf den ersten Blick gewesen sein, doch es wäre unfair, zu behaupten, ich hätte ihn nie geliebt.
Sein Charisma hatte mich auf der Stelle fasziniert. Zudem bewunderte ich seine Intelligenz, seinen Ehrgeiz und auch wenn wir wie Tag und Nacht wirkten, verliebten wir uns nach ein paar Dates ineinander. Martin war nach dem Tiefschlag, den Logan mir verpasst hatte, mein Rettungsring und zugleich eine Möglichkeit, Boston erhobenen Hauptes zu verlassen.
Boston, die sogenannte Wiege der Freiheit, wo an jeder Ecke Erinnerungen warteten, die mich einschnürten und mir die Luft zum Atmen raubten. Ich konnte keine Pizza essen, ohne dass mir eine von Logans seltsamen Kreationen, wie Ziegenkäse mit Hackfleisch und Spiegelei in den Sinn kam. Ich konnte kein Eis genießen, ohne dran erinnert zu werden, dass er immer darauf bestanden hatte, zu ‚Toscanini’s‘ nach Cambridge zu fahren, weil es seiner Meinung nach kein vergleichbares Eis gab.
Später, nachdem ich erfahren hatte, wohin es Logan gezogen hatte und ich mir anhand dessen auch die Gründe hierfür denken konnte, war ich nicht mehr in der Lage, mich in der Stadt zu bewegen, ohne dass mir ein Plakat der Razors ins Auge fiel. Obwohl Logan nur in deren Nachwuchsmannschaft gespielt hatte und sie rein objektiv betrachtet nichts mit seinem überraschenden Wechsel nach Russland zu tun hatten, begann ich, das Team und den gesamten Sport zu meiden. Eishockey hatte mir meine erste große Liebe genommen und ich kam einfach nicht darüber hinweg.
Ich schluckte gegen den Kloß in meiner Kehle an und schnappte mir die weinrote Sweatjacke, die ganz oben lag. Als ich den Baumwollstoff berührte, flackerte sofort eine Erinnerung auf. Ich war auf Logans Schoß gesessen und hatte kichernd zu ihm hinabgesehen, wie er versuchte, den Reißverschluss der Jacke mit den Zähnen zu öffnen. Irgendwann war er mit seiner Geduld am Ende gewesen, hatte die Versuche eingestellt und mich aus der Jacke geschält, während er mich geküsst hatte, damit ich endlich aufhörte zu lachen. Das hatte bestens funktioniert, denn für mich gab es damals nichts Besseres, als Logan Sullivan zu küssen. Jede Minute, die wir miteinander verbracht hatten, nutzten wir, um uns irgendwie zu berühren. Selbst nach mehreren Jahren Beziehung, verhielten wir uns wie frisch Verliebte – bis zu diesem einen verfluchten Tag, an dem Logan durch meine Zimmertür ging und nie wieder zurückkam.
Ein dunkler, kreisrunder Fleck bildete sich auf dem Stoff, den ich in der Hand hielt und ich wischte mir mit dem Ärmel rasch über die Wangen, als ich bemerkte, dass ich weinte. Wie war es nur möglich, dass mein Körper nach all den von Traurigkeit geprägten Wochen noch Tränen besaß? Ich fühlte mich so unendlich leer und verloren inmitten der Trümmer, aus denen mein Leben nun bestand. Himmel, ich war gerade bei meinen Eltern eingezogen und vermutlich war es besser, wenn ich mir eingestand, dass ich auf ganzer Linie versagt hatte.
Angeekelt von mir selbst, stopfte ich den Pullover zurück in den Karton. Dabei stießen meine Finger an etwas Hartes. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich den Gegenstand herausnahm und ihn als mein altes Handy erkannte. Mir war, als stünde plötzlich ein Lastwagen auf meiner Brust, als ich über das Display strich. Natürlich war der Akku längst leer, doch ich sah trotzdem nach wie vor die Nachricht vor mir, als ob sie wirklich dort zu lesen wäre.
Es tut mir leid.
Diese vier Worte waren das Letzte gewesen, das ich von Logan gehört hatte. Bis heute hatte ich ihm nicht darauf geantwortet. Was hätte ich auch sagen sollen?
Es ist okay, dass du verschwunden bist.
Hey, du hast dich fünf Wochen nicht gemeldet, aber ich freue mich über deinen neuen Vertrag.
Ich verstehe, dass du mir nichts von dem Angebot aus Russland gesagt hast, denn Karriere geht selbstverständlich vor. Vergiss mein gebrochenes Herz.
Mir war bewusst, wie verbittert ich klang, doch die Erinnerung war plötzlich so real, so klar, als hätte jemand die Zeit zurückgedreht. Zitternd atmete ich aus und presste eine Hand auf meinen Brustkorb, wo sich ein schmerzhaftes Brennen bemerkbar machte. Wieso tat es nach all den Jahren immer noch so weh? Als eine weitere heiße Träne über meine Wange rollte, fällte ich eine Entscheidung.
Umringt von diesem alten Kram war ein erfolgreicher Neustart in Boston unmöglich. Ich schnappte mir mein Smartphone und war im Begriff, meiner Schwester eine Mitteilung zu schicken, um sie um Hilfe zu bitten. Nach einem Blick auf die Uhrzeit beschloss ich jedoch, das auf morgen zu verlegen. Es war schon kurz vor acht und selbst, wenn Charlie sich unmittelbar auf den Weg begab, wären wir bestimmt bis Mitternacht mit den Kartons beschäftigt.
Da ich seit Wochen schlecht schlief, machte sich auch die Anstrengung des Tages bemerkbar, daher entschied ich, den von Mom erwähnten großartigen Wasserdruck der Dusche auszuprobieren und anschließend ins Bett zu gehen. Vielleicht konnte ich hier besser schlafen.
Meine Hoffnung auf besseren Schlaf wurde nicht erfüllt. Die Wände entpuppten sich als enorm hellhörig, sodass ich das leise Glucksen in den Heizungsrohren ebenso gehört hatte, wie die Toilettenspülung, die um elf, um zwei Uhr morgens und im Morgengrauen betätigt worden war.
Auf dem Frühstückstresen in der geräumigen Küche lag ein Zettel von Mom, auf dem sie mir mitteilte, dass sie erst am späten Nachmittag zurück sein würde und mir einen schönen Tag wünschte. Darunter stand, dass ich sie aber jederzeit telefonisch erreichen könne. Lächelnd strich ich mit den Fingerspitzen über die Notiz. Es tat gut, jemanden in seinem Rücken zu wissen, der sich um einen sorgte und den ich im Notfall anrufen konnte.
Verschlafen stellte ich die Pulverkaffeemaschine an und machte einen Abstecher ins Bad, bis die Kanne durchgelaufen war. Mein Magen knurrte, doch da ich keinen Elan hatte, Rühreier oder Pancakes zu braten, gab ich mich mit einer Banane zufrieden. Schließlich schickte ich meiner Schwester Charlie eine Nachricht. Mit etwas Glück hatte sie frei und würde mich bei meinem Vorhaben, mit meinem alten Leben abzuschließen, unterstützen können.
Jessie: Guten Morgen Schwesterchen, hast du Zeit für eine Entrümpelungs- und Shopping-Aktion?
Die Antwort kam prompt.
Charlie: Ich bin mit Blaine unterwegs. Wenn ich ihn mitbringen darf, bin ich in einer Stunde bei dir. Er eignet sich hervorragend, um schwere Sachen zu schleppen und kann uns beim Entrümpeln helfen. Keine Sorge, zum Shoppen wird er uns nicht begleiten …
Ich seufzte und starrte auf den blinkenden Cursor meines Displays. Charlies Freund war Eishockeyspieler und obwohl Mom in den höchsten Tönen von ihm schwärmte, verspürte ich kein großes Verlangen danach, ihn kennenzulernen. Mir war bewusst, wie engstirnig das war. Aber die Tatsache, dass er bei den Razors spielte, gekoppelt mit der unerwarteten Nachricht über Logans Rückkehr nach Boston und der psychischen Belastung der vergangenen Monate war im Moment zu viel für mich. Dennoch war ich nicht in der Lage, mich dazu zu überwinden, meiner Schwester die Wahrheit zu sagen.
Jessie: Helfende Hände sind immer willkommen. Bis gleich!
Ich las Charlies umgehend eintreffende Antwort nicht mehr, sondern stürzte meinen Kaffee hinab und machte mich auf die Suche nach Müllsäcken.
Rasch merkte ich, dass ich weder Pullover noch T-Shirt ansehen konnte, ohne dass dabei die entsprechenden Erinnerungen über mich hereinbrachen.
Da war der Sweater, auf dessen Schulter ein kleines Brandloch war, weil ich bei einer Lagerfeuerparty mit Logan zu nah am Feuer gesessen und ein Stück Glut abbekommen hatte. Dort war die Jeans, deren Knopf er partout nicht aufbekam, weshalb er sie als Jungfernhose bezeichnet hatte. Und da war das T-Shirt, das er bei mir vergessen und in das ich tausende Tränen geweint hatte, nachdem er mich verlassen hatte.
Ich wusste, dass sich in den Kartons kaum ein Kleidungsstück befand, das ich nicht auf irgendeine Art und Weise mit Logan verknüpfte und machte daher kurzen Prozess. Blind stopfte ich die Kleidung in die Säcke und während ich das tat, spürte ich, wie sehr es mir zusetzte, dass ich alles, was mich damals ausgemacht hatte, abgestreift hatte wie einen alten Mantel, der mir nicht mehr gefallen hatte. Ich wünschte mir, die Jessie in bequemen Sweatern und farbbeklecksten Jeans nie aufgegeben zu haben, doch an den Kleidern, die ich zurückgelassen hatte, klebte zu viel emotionaler Ballast. Er würde mich nur tiefer in das Loch ziehen, aus dem mich der Umzug nach Boston eigentlich retten sollte, deswegen musste ich einen anderen Weg finden, um wieder ich selbst sein zu können.
Ehe Charlie in meinem Übergangszuhause eintraf, hatte ich mich bereits durch sämtliche Kartons gearbeitet und nun standen sieben Säcke voll mit Erinnerungen, nein, mit Altkleidern vor mir. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und schaffte es kaum, zu Atem zu kommen, als es an der Tür läutete. Nachdem ich die Haustür geöffnet hatte, keuchte ich immer noch vor Anstrengung. Möglicherweise wäre es ratsam, ein wenig Sport zu treiben, doch ich war nie ein Fan von derartiger körperlicher Ertüchtigung gewesen.
„Jessie! Wie schön, dich zu sehen!“, rief Charlie und zog mich in ihre Arme. „Auch, wenn es mir lieber gewesen wäre, du wärst wegen anderer Umstände hier“, fügte sie leise hinzu, während sie sich von mir löste. Ein Kloß steckte in meinem Hals, aber ich lächelte tapfer und nickte, damit sie wusste, dass ich sie verstanden hatte.
„Ich hab dich vermisst, große Schwester“, erwiderte ich und widmete meine Aufmerksamkeit dem Mann, der mit etwas Abstand hinter ihr stehen geblieben war. Himmel, war dieser Typ riesig! Offenbar war er mit überraschten Reaktionen wie meiner vertraut, denn er strich sich in einer lässigen Geste sein dunkles Haar zurück und kam auf mich zu.
„Hey, ich bin Blaine“, stellte er sich mir vor und reichte mir die Hand. Oder sollte ich besser Pranke sagen?
„Hey, Blaine. Schön, dich endlich kennenzulernen. Ich bin Jessie“, rang ich hervor und beobachtete, wie meine Hand in seiner verschwand, als er sie nahm und schüttelte.
Sein Händedruck war warm und fest und das aufrichtige Lächeln, das er mir schenkte, sorgte dafür, dass ein Teil meiner Bedenken verflog, er könnte zu viele schlechte Erinnerungen aufwirbeln. Mom schien nicht übertrieben zu haben, als sie gemeint hatte, Charlize hätte einen ‚Goldschatz‘ an ihrer Seite. Ein weiterer Pluspunkt war, dass er optisch betrachtet kaum etwas mit Logan gemeinsam hatte. Mein Ex-Freund hatte dunkelblondes Haar, blaue Augen und war eher schlank-athletisch, als muskulös. Blaines Haar hingegen war fast schwarz, seine Augen würde ich als grau bezeichnen. Darüber hinaus hatte ich Logan in der ganzen Zeit, in der wir zusammen gewesen waren, nie in einem karierten Flanellhemd und Cargohosen gesehen, die an Charlies Freund zugegebenermaßen gut aussahen.
„Kommt rein. Kann ich euch Kaffee anbieten?“
„Danke, nein. Besser, wir legen direkt los“, lehnte Charlie, die eigentlich ein Kaffee-Junkie war, mein Angebot ab und rieb sich voller Tatendrang die Hände.
„Für mich auch nicht. Ich muss nachher noch zur Teambesprechung wegen des anstehenden Testspiels“, warf Blaine ein und ich erwartete, er würde mir jeden Moment stolz und ausschweifend erklären, dass er bei den Razors unter Vertrag war, doch überraschenderweise hielt er den Mund.
Die Zeit mit Logan hatte mich allem Anschein nach wirklich geprägt. Während der fünf Jahre, die wir zusammen gewesen waren, hatte ich einige seiner Teamkameraden kennengelernt, von denen sich der Großteil immer eine Menge darauf eingebildet hatte, zum Nachwuchs des Bostoner Erstligateams zu gehören. Bei den unmöglichsten Gelegenheiten erwähnten sie, dass sie für die Icebreakers spielten.
Ich habe an Säule vier getankt, weil ich auf dem Weg zum Training beim Nachwuchsteam der Razors bin!
Danke, für mich bitte keinen Nachtisch. Ich muss auf meine Linie achten, da mich der Coach des Nachwuchsteams der Razors sonst aus der Aufstellung streicht, falls ich zu viel Gewicht ansetze.
Nein, Baby, du kannst kein rotes Kleid anziehen. Die Teamfarben der Icebreakers sind grau, weiß und dunkelblau – wie bei den Razors!
Das waren nur drei der Momente, die mir in Erinnerung geblieben waren. Wenn ich ein bisschen nachdachte, fielen mir vermutlich noch Dutzende ein.
„Gut, dann mal los“, murmelte ich vor mich hin und nahm mir fest vor, dem Freund meiner Schwester eine faire Chance zu geben. Er hatte mich nett begrüßt und war hilfsbereit genug, um einer wildfremden Frau dabei zu helfen, mit ihrem alten Leben abzuschließen. Mit einem Winken gab ich den beiden zu verstehen, dass sie mir in mein Übergangszimmer folgen sollten. „Das hier ist für die Altkleidersammlung und die dort drüben gehören in den Müll“, erklärte ich, nachdem wir den Flur hinter uns gelassen hatten, und zeigte auf die entsprechenden Säcke. Als Charlie das sah, blieb sie stehen und zog die Brauen in Richtung Haaransatz.
„Du willst das alles wegwerfen?“, hakte sie perplex nach und deutete auf den Berg Müllsäcke vor dem Fußende des Bettes, in dem sich ein Großteil meiner Kleidung befand. Zusammen mit der Jeans und dem Langarmshirt, das ich trug, behielt ich außer Unterwäsche und einigen Kleidungsstücken, die sich zum Schlafen eigneten, kaum etwas.
„Will ich“, versicherte ich ihr und pustete mir eine Strähne aus dem Gesicht, die mir ständig in die Augen fiel. Charlie sah zu Blaine, der nur mit den Schultern zuckte und sich zwei der Säcke schnappte, als wären sie lediglich mit Luft gefüllt.
„Gut, dass ich einen Pick-up mit einer großzügigen Ladefläche habe“, war sein einziger Kommentar, ehe er das Zimmer verließ.
„Möchtest du denn so gar nichts behalten?“, bohrte Charlie weiter, öffnete einen Sack und sah hinein. Eine Mischung aus Verwirrung, Überraschung und Zweifel lag auf ihrer Miene, als sie aufsah. „Dort drin ist der CAMD-Hoodie, den du immer so geliebt hast!“
Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich und sagte nun deutlich: Du bist nicht ganz dicht.
„Ich weiß, Charlie. Aber ich brauche einen Neuanfang. Alles, was sich darin befindet, ist entweder mit Martin oder Logan verbunden und ich will weder an den einen noch an den anderen erinnert werden. Ich hoffe, Letzterer verschwindet bald genauso schnell aus Boston, wie er es vor fünf Jahren schon einmal getan hat.“
Blaine kam zurück und anhand des kurzen Blickes, den er mir zuwarf, ging ich davon aus, dass er gehört hatte, was ich eben gesagt hatte. Wusste er, dass der Logan, von dem ich gesprochen hatte, der neue Goalie seines Teams war, und dieser einst meine Jugendliebe gewesen war? Wenn ja, so ließ er sich nichts anmerken. Wortlos schnappte er sich die nächsten zwei Säcke und verschwand ein weiteres Mal.
„Weiß er von Sullivan und mir?“, zischte ich Charlie zu, als ihr Freund außer Sicht und hoffentlich auch Hörweite war. Meine Schwester seufzte und blieb mir eine Antwort schuldig. Stattdessen starrte sie einige Sekunden auf den Hoodie, ehe sie ihn zurücksteckte und den Müllsack wieder zuschnürte.
„Blaine und ich reden über alles, Jessie. Er würde allerdings nie etwas ausplaudern. Du kannst ihm vertrauen“, erklärte sie nach einem Moment leise.
„Ich soll ihm vertrauen? Er ist ein Wildfremder für mich“, erwiderte ich ein wenig trotzig, weil ich gerne gefragt worden wäre, ehe sie ihren Freund über meine vergangene Beziehung informiert hatte, was aufgrund ihrer ausweichenden Antwort ganz offensichtlich der Fall war.
„Dann vertrau eben mir. Blaine ist kein Plappermaul“, verteidigte sie ihre Entscheidung, was mich jedoch kaum beruhigte.
„Was, wenn er Logan doch darauf anspricht? ‚Hey Sullivan, ich habe deine Ex getroffen. War ihr Becken schon immer derart ausladend?‘“, imitierte ich einen männlichen Tonfall, worauf meine Schwester mit einem Schnauben reagierte.
„Das wird er nicht, okay? Er hat mir sein Wort gegeben“, beharrte sie und fuhr herum. Als ich ihr in die Augen sah, erkannte ich, dass ich sie mit meinem Misstrauen verletzt hatte. „Außerdem hast du kein ausladendes Becken. Im Gegenteil“, wies sie mich zurecht.
Ich atmete tief ein und rieb mir über die Stirn, während ich die Luft langsam wieder ausstieß. Sie hatte ja recht. Mit allem. Blaine schien in Ordnung zu sein und selbst wenn ich ihm nicht vertrauen wollte oder konnte, so wusste ich, dass Charlie für mich die Hand ins Feuer legen würde. Sie würde mich nie bloßstellen oder mit meinen Privatangelegenheiten hausieren gehen.
„Es tut mir leid. Ich bin derzeit ein wenig dünnhäutig“, entschuldigte ich mich für mein vorschnelles Urteil und sank auf die Bettkante, da ich das Gefühl hatte, meine Knie könnten jederzeit nachgeben. Die nervliche Belastung der vergangenen Wochen hatte meine Kräfte aufgezehrt und ich hoffe, dass ich bald ein bisschen zur Ruhe kam, um endlich meine Batterien aufladen zu können. „Ich will nur verhindern, dass er mich in Logans Gegenwart erwähnt und ihn damit auf die Idee bringt, er müsse mich wegen einer Aussprache oder aufgrund der guten alten Zeiten aufsuchen.“
Bei den letzten vier Worten hatte ich Anführungszeichen in die Luft gemalt. Die Matratze gab nach, als sie sich neben mich setzte.
„Du möchtest das nicht, also wird Blaine dich mit keiner Silbe erwähnen“, versprach sie mir, doch da ich offenbar noch immer nicht wirklich überzeugt aussah, schob sie ein „Glaub mir“ hinterher. Gott, genau das wollte ich! Allerdings war das schwerer, als es sich anhörte.
„Es ist nichts Persönliches. Im Moment habe ich einfach keine Ahnung, wo mir der Kopf steht. Ich wünschte, ich könnte auf dem Spielfeld meines Lebens fünf Felder zurückgehen und wieder zwanzig sein. Dummerweise würde dort Logan warten. Demnach bräuchte ich eher einen Soft-Reset. Ich will ich selbst sein, nur ohne diesen Herzschmerz-Kram. Von dem habe ich nämlich die Nase voll“, versuchte ich, meine Verwirrung in Worte zu fassen. „Ich mochte mich, ehe ich mich Martin zuliebe verändert habe, und schäme mich, dass ich alles, was mich ausgemacht hat, so leichtfertig aufgegeben habe.“
„Nach dieser Enttäuschung hast du eine Veränderung gebraucht, Jessie. Das ist mehr als verständlich“, erwiderte sie, obwohl sie die komplette Geschichte gar nicht kannte.
Ich biss mir auf die Unterlippe und überlegte, ob nun der richtige Zeitpunkt war, um ihr zu erzählen, was damals passiert war. Meine Schwester hatte natürlich mitbekommen, was vorgefallen war, aber ich hatte mit ihr nie über die Details der Trennung gesprochen. Ich war damals nicht sonderlich wild darauf, Salz in meine Wunden zu streuen und Charlie hatte irgendwann auch nicht mehr nachgefragt. Vermutlich war sie zu der Zeit mit ihrem Medizinstudium zu beschäftigt gewesen, und hatte das ganze Drama ohnehin nur am Rande mitbekommen.
„Ich …“, begann ich, doch allein der Gedanke an diese Wochen genügte, um mich den Schmerz von damals erneut spüren zu lassen.
Charlie legte mir eine Hand auf den Rücken.
„Schon gut, Jessie. Spätestens, als ich in einem Artikel von Logans Wechsel in die Kontinentale Hockey League erfuhr, musste ich nur eins und eins zusammenzählen. Du hast nicht darüber geredet, aber Mom hat mir schließlich bestätigt, was ich ohnehin bereits wusste.“
Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen, als ich das hörte. Das bedeutete, dass ich es selbst nicht noch einmal auszusprechen brauchte. Bei genauerer Überlegung wurde mir klar, dass ich auch allein hätte darauf kommen können. Charlie liebte Eishockey und sog jedes Fitzelchen Wissen über diesen Sport auf wie ein Schwamm. Dazu gehörte ebenfalls das muntere Wechselspiel, das besonders in den Sommermonaten Hochkonjunktur hatte. Natürlich hatte sie von Logans Transfer nach Russland gewusst! Zudem war sie viel zu intelligent, damit eine jüngere Schwester, die an heftigem Liebeskummer litt, von ihr unbemerkt blieb.
„Dass er nie mit dir über seine Pläne gesprochen hat, kann ich nicht fassen“, murmelte sie nach einer Weile.
„Ich auch nicht“, gab ich zu.
Wir schwiegen einen Augenblick, bis mir auffiel, dass Blaine längst hätte zurück sein müssen. Vermutlich wollte er uns die Gelegenheit geben, unter vier Augen zu reden, was ihm – ob mir das nun passte oder nicht – Pluspunkte einbrachte. Ein Mann, der aussah wie ein Teilnehmer der jährlichen Highland-Games mit Feingefühl. So etwas sollte man eigentlich in einem Museum ausstellen.
„Wusstest du, dass er wieder nach Boston kommt?“, fragte ich meine Schwester und zeichnete dabei mit der Schuhspitze ein Muster in den dicken Teppich.
„Die Mannschaft erfuhr es im Februar“, lautete ihre schwammige Antwort, aber da sie mir eben erklärt hatte, sie und ihr Freund hätten keine Geheimnisse voreinander, war klar, dass auch sie bereits seit Monaten davon gewusst hatte.