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"Sage mir, dass das hier kein Fehler ist. Sage mir, dass ich dir wirklich vertrauen kann, dann kämpfe ich nicht dagegen an." Einsamkeit trifft auf Abwehr. Wut trifft auf Kontrolle. In der Welt nach dem Fall glaubt Alec nicht daran, jemals denjenigen zu finden, der an seine Seite gehört. Nemis erträgt Nähe und Berührungen nicht. Er erträgt sich selbst kaum. Ians Wut brennt schon viel zu lange. Raemir weiß, wer er ist. Bis er fällt. Vier Männer. Zwei Begegnungen - zwischen Feuer und Zurückhaltung, Licht und Dunkelheit. Mensch und Vampir.
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Seitenzahl: 530
Veröffentlichungsjahr: 2025
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J. A. Monroe lebt mit ihrer Familie im Norden Deutschlands, liebt M/M-Geschichten, apokalyptische Szenen, urbane Fantasy – und alles, was ein bisschen kaputt ist.
Wenn sie nicht schreibt oder liest, spielt sie Videospiele, hört Cowboymusik oder diskutiert mit ihren Katern.
Staying After Sunrise ist ihr Debüt. Weitere Welten stehen schon bereit.
Staying
After
Sunrise
J. A. Monroe
Texte: © Copyright by J. A. MonroeUmschlaggestaltung: © Copyright by J. A. Monroe
Impressum:J. A. Monroe c/o Fakriro GmbH / Impressumsservice Bodenfeldstr. 9 91438 Bad Windsheim [email protected]
Herstellung: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Nichts davon ist passiert. Außer in Staying After Sunrise.Alec, Nemis, Ian und Raemir existieren nur in dieser Geschichte – und in meinem Kopf, der manchmal zu viel denkt. Alle Orte, Dialoge und emotionalen Katastrophen sind frei erfunden. Wer sich trotzdem wiedererkennt, hat vermutlich zu viel zwischen den Zeilen gelesen. Oder ist zufällig genau wie ein blutsaugender Eigenbrötler mit Bindungsproblemen. In jedem Fall: Das hier ist Fiktion. Versprochen.
Inhaltsverzeichnis
Über die Autorin:
Playlist
Inhaltswarnung:
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Danksagung
Für mich
- und für alle, die einfach ihr Ding durchziehen.
tables turnin – Ryman Leon
Run all night – Goo Goo Dolls
The fire – Vincent Lima
I hope you know – Forest Blakk
Safe with me – Ike Dweck
Fall into me – Forest Blakk
Indestructible – Goo Goo Dolls
Bridges – Ike Dweck
Love you till death - Forest Blackk
Your found me – The Fray
Iris – Goo Goo Dolls
If you could only see – Tonic
Eye of the storm – Rynam Leon
The light – Disturbed
Don’t look down – The Fray
The only thing left – Vincent Lima
Dieses Buch enthält explizite Darstellungen
von Sexualität, Gewalt und psychischen Belastungen.
Es wurde für ein erwachsenes Publikum geschrieben
und sollte mit Achtsamkeit gelesen werden.
Nemis
Die Stadt war überfüllt. Ich drängte mich an einer Gruppe Menschen vorbei und versuchte, niemanden zu berühren. Auch wenn ich möglichst jeden Millimeter meines Körpers mit Kleidung bedeckte, wollte ich trotzdem niemandem zu nahe kommen. Meine Hände hatte ich tief in meine Manteltaschen vergraben und meinen Schal bis unter meine Nase gezogen.
Ich konnte sie riechen, die Menschen, die in der Stadt wohnten. Die Menschen, die Seite an Seite mit den Vampiren lebten. Mit uns. Ich wich einer Frau aus, die einen Schritt zur Seite machte und sich mir so unbeabsichtigt in den Weg stellte.
„Oh, Entschuldigung.“, sagte sie und legte, um ihre Worte zu unterstreichen, eine Hand auf meine Schulter. Ich zuckte weg und bewegte mich schneller.
Nicht anfassen.
Es würde bald hell werden. Die Straßen würden sich mit den Menschen füllen und die Vampire würden sich bis zum Abend zurückziehen. Ich konnte mich nicht entscheiden, welche Zeit ich schlimmer fand.
Alec
Die Sonne ging unter. Ich sah aus dem schmutzigen Fenster und mein Auge zuckte zu dem Riss in der Scheibe. Das nächste Mal, wenn irgendjemand Klebeband fand, müsste das repariert werden. Es würde im Schlafsaal sonst unangenehm werden, wenn das Fenster ganz brach, wenn der Sprung sich vergrößerte und die kalte Nachtluft eindrang. Vorhänge hätten geholfen, doch wer hatte schon Vorhänge? Ich hatte seit Jahren keine mehr gesehen.
Mein Auge richtete sich auf den Horizont. Könnte ich weiter schauen, hätte ich den Turm von Blackfall sehen können. Es war die einzige Stadt im Umkreis von unzähligen Meilen. Ich fragte mich, ob sie vielleicht die letzte war, die übrig war. Aus den Ruinen von Seattle hatten die Vampire eine Festung erschaffen. Meterhohe Mauern umgaben die Stadt und niemand kam ungesehen rein oder raus. Zumindest keine Menschen.
Es hieß, dass die Menschen, die dort lebten und als Blutspender für die Vampire agierten, ein gutes Leben führten. Es hieß, dass sie Wohnungen hatten und genug zu essen, dass manche sogar Berufe hatten. Ich hatte meine Zweifel.
„Alec?“ Eine leise Stimme brachte mich in die Gegenwart zurück, in den muffigen Schlafsaal, in dem wir zu viert schliefen. Es gab noch vier weitere dieser Räume.
Ich drehte mich um und sah blonde Locken, die in das kleine Gesichts des Mädchens fielen, das wenige Schritte von mir entfernt stand.
„Hen. Was gibt’s?“
„Das Essen ist fertig.“ Ihr Gesicht verzog sich zu einer angeekelten Grimasse. „Es gibt Brot und Apfelmus.“
„Hmm, ein wahrer Festschmaus.“, sagte ich aufmunternd und legte meine Hand auf ihre Schulter, als wir beide zusammen den Raum verließen.
Hen war jetzt ungefähr sechs Jahre alt. So genau wusste es niemand. Ezra, einer unserer Läufer, hatte sie auf einer Erkundungstour gefunden, als sie vielleicht drei Jahre alt war. Sie konnte laufen und erzählte ihm etwas von ihren Eltern, aber sie waren nirgends zu sehen. Er hatte sie mitgenommen und Robyn hatte sich ihrer angenommen. Hen nannte sie nicht Mom, aber sie war das, was einer Mutter am nächsten kam.
Ich begleitete das Mädchen in den Flur und die große Treppe hinunter, an der das Gelände teilweise weggebrochen war.
„Ich hasse Apfelmus.“
„Dann tauschen wir. Du bekommst mein Brot und ich esse dein Apfelmus. Aber zwei Löffel musst du selbst essen. Wegen der Vitamine.“ Ich zwinkerte ihr mit meinem guten Auge zu.
Hen stöhnte genervt, schlug dann aber in meine Hand ein, die ich ihr hinhielt. Als sie Robyn entdeckte rannte sie los und warf sich in ihre Arme. Die große schlanke Frau hob das Kind in die Luft und küsste ihre Haare.
„Ich habe nur Alec geholt. Sonst verpasst er das Essen wieder.“ Hen zeigte über die Schulter zu mir.
„Hi.“ Ich hob die Hand und begleitete die beiden dann in die alte Mensa, die uns nun auch als Speisesaal diente.
*
Ich war sieben Jahre alt gewesen, als die Vampire die Welt übernommen hatten. Gebannt und voller Horror hatte ich vor dem Fernseher gesessen, als die Epidemie begann. Schon nach einer Woche wurde es zur Pandemie. Verschwommen erinnerte ich mich daran, wie meine Eltern hektisch begannen Dinge zu packen, die uns am Ende nicht geholfen hatten.
Als deutlich wurde, dass die Blutsauger für alles verantwortlich waren, wollten wir in die Stadt flüchten. Ein Fehler. Mein Magen zog sich zusammen, wenn ich daran dachte, wie unser Auto sich aufs Dach drehte.
Mein Bruder Steve, nur zwei Jahre älter als ich, war sofort tot. Sein lebloses Gesicht suchte mich heute noch, zwanzig Jahre später, in meinen Träumen heim.
Ich hing auf dem Rücksitz im Gurt und schrie, als die Beifahrertür aufgerissen wurde. Meine Mutter konnte kaum um Hilfe rufen, als sie aus dem Wagen gezogen wurde. Nur einen Tränen erfüllten Atemzug später verschwand mein Vater. Ich warf Steve noch einen letzten Blick mit meinem guten Auge zu.
„Es tut mir leid.“, hatte ich geflüstert. Dann schnallte ich mich ab. Ich schlug hart gegen das Dach des Wagens, konnte meinen Kopf aber mit meinen Händen schützen. So schnell, wie mein kleiner Körper es zuließ, krabbelte ich über die Mittelkonsole und schlüpfte aus der noch offenen Beifahrertür.
Ich konnte meine Eltern hören, konnte hören, wie sie starben. Aber ich sah nicht zurück, ich rannte nur. Ein paar Tage schlug ich mich durch die Wälder, überlebte am Rande es Abgrunds, aß Beeren und Blätter, von denen ich keine Ahnung hatte, ob sie essbar waren oder mir einen schmerzhaften Tod bringen würden.
Irgendwann gabelte Rich mich auf und ich lebte ein paar Jahre mit ihm und seiner Frau Carmen in einer verlassenen Hütte in einem alten Feriencamp. Das Camp musste schon vor der Übernahme der Vampire Jahrzehnte leer gestanden haben. Rich und Carmen hatten ihre Tochter bei der Flucht aus der Stadt verloren, wahrscheinlich war sie, wie auch der Rest meiner Familie, tot. Als ich zehn war stieß Joseph dazu.
Drei Jahre später starb Carmen an einer Infektion, nachdem sie sich beim Kartoffelschälen in die Hand geschnitten hatte. Wir lebten so abgeschottet, dass wir nicht gewusst hatten, dass es Wege gab, an Medikamente zu kommen. Rich ertrug ihren Tod nicht und entschied sich ihr zu folgen.
Zwei Jahre später, ich war fünfzehn, entschieden Joseph und ich, das Lager zu verlassen. Wir zogen eine Weile umher und blieben kurzzeitig in alten Restaurants oder Tankstellen. Ein paar Wochen lebten wir in einem maroden Hundefrisörsalon. Dann trafen wir Ezra.
Er war unterwegs, auf der Suche nach was auch immer zu gebrauchen war und zögerte zuerst, als er auf uns stieß. Der einzige Vorteil daran, dass es Vampire waren, die unsere Welt übernommen hatten, war, dass man sicher sein konnte, ihnen tagsüber nicht zu begegnen.
Nachdem wir ausreichend überzeugend genug waren, dass von uns keine Gefahr ausging, nahm Ezra uns mit zur alten Schule. Es war ein großes zweigeschossiges Gebäude, früher einmal eine Highschool für hunderte von Teenagern, heute das Zuhause von dreiundzwanzig Leuten, die sonst nicht wussten, wo sie hin sollten.
Als Joseph und ich ankamen lebte nur eine Handvoll anderer in der Schule. Seit zwei Jahren waren sie hier und hin und wieder stieß jemand neues dazu. So wie wir an diesem Tag.
In den ersten Wochen wurden wir argwöhnisch von den meisten angesehen. Einzig Ezra und Abby, die die Älteste im Lager war, waren wirklich freundlich und gaben uns das Gefühl dazuzugehören. Abby und Joseph hatten sofort einen besonderen Draht zueinander und so wunderte es mich nicht, als ich nach ungefähr einem halben Jahr bemerkte, wie sie sich zufällig berührten, ihre Fingerspitzen über die Hand des jeweils anderen fuhren und ihre Blicke länger und verträumter wurden. Ich freute mich für sie, besonders für Joseph, der nun schon seit über fünf Jahren für mich wie eine Familie war. Ich wusste, dass er vorher nicht verheiratet gewesen war, er hatte nicht wirklich jemanden verloren, aber ihn glücklich zu sehen beruhigte mich auf eine seltsame Art und Weise.
Mich hielten die meisten auf Abstand. Mit Ausnahme von Ezra und Abby. Und Joseph natürlich. Ich glaube, mein Auge schreckte alle sofort ab. Von Geburt an war ich auf dem linken Auge blind. Aber ich konnte nicht nur nicht damit sehen, andere konnten sehen, dass es so war. Mein rechtes Auge war blau. Strahlend wie der Himmel am schönsten Sommertag, hatte meine Mom immer gesagt. Mein linkes aber hatte einen milchig grauen Ton und es sah aus, als lag eine Art Film darüber. Kaum jemand hielt je Blickkontakt mit mir, zu irritiert durch mein kaputtes Auge.
Vier Jahre später kamen Narben dazu, die mich weiter entstellten und die Menschen noch mehr dazu brachten, einen Bogen um mich zu machen.
Auf dem alten Schulhof war eine trockene Hecke in Brand geraten. Es war ein wirklich heißer Sommertag und die meisten hielten sich im Inneren des Gebäudes auf, doch ich spazierte umher, meine Gedanken wild in meinem Kopf. Ich bemerkte das Feuer und ehe ich mit einem Eimer Wasser zurück war, waren die Flammen so groß, dass mir klar war, dass es nicht ausreichen würde. Ich rief um Hilfe und kippte das Wasser in den Busch. Verzweifelt, weil niemand in der Nähe war, begann ich die Flammen auszutreten. Dabei fing mein T-Shirt Feuer. Ich schrie, rief um Hilfe. Ich versuchte mein Shirt auszuziehen. Ich brannte. Irgendwann wurde ich mit Wasser übergossen. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass ich mich inzwischen auf dem Boden wälzte. Ezra warf den Eimer zur Seite und fiel auf die Knie.
„Alec!“ Er riss an dem jetzt nassen Stoff. Oder an dem, was davon übrig geblieben war.
„Ist es aus?“, fragte ich und hustete. Aus dem Augenwinkel konnte ich andere sehen, die mit weiteren Gefäßen voll Wasser um uns herum rannten.
Ezra sah kurz auf und nickte dann.
„Ja, es ist aus.“
Ich nickte ebenfalls und sackte auf dem Rücken liegend zusammen. Meine rechte Schulter brannte. Und mein Arm. Es roch nach verbranntem Stoff und Fleisch.
„Wir müssen dich ins Krankenzimmer bringen. Kannst du laufen?“ Ezra war schon dabei, mich sanft auf die Beine zu ziehen.
„Ich denke ja.“ Ich hustete wieder.
Er half mir hoch und legte meinen linken Arm um seinen Nacken. Ich überragte ihn bereits um einen Kopf, aber er schleppte mich ins Gebäude.
Zwei Wochen ließ Marisol, unsere Krankenschwester, mich nicht aus den Augen. Die kleine Frau mit japanischen Wurzeln und schwarzen Haaren war erstaunlich hartnäckig dafür, dass ich sie wahrscheinlich mit einer Hand hätte hochheben können. Nun ja, mit der linken Hand. Meine Rechte war bis zur Hälfte verbrannt, genau wie die Außenseite meines Arms und ein großer Teil meiner Schulter. Die Verbrennungen reichten bis auf die rechte Seite meiner Brust, kurz vor meiner Brustwarze.
Als ich das erste Mal nach dem Unfall in den Spiegel gesehen hatte, hatte ich ein Schluchzen nicht unterdrücken können. Links blind, rechts entstellt.
Die Brandnarben hatten zur Folge, dass ich meinen rechten Arm nicht mehr so weit heben konnte, wie vorher. Knapp über meinem Kopf war Schluss. Ich hatte versucht die Haut zu dehnen, indem ich entschlossen immer und immer wieder meinen Arm höher hob, doch gerade an der Stelle, an der die Schulter in die Brust überging, war das Narbengewebe so starr, dass es einfach keinen Sinn hatte.
In der Mensa angekommen rannte Hen sofort zu Tobey. Er war ungefähr drei Jahre älter als sie und hier geboren. Ezra war sein Vater. Er hatte Sasha, Tobeys Mutter, kennengelernt, als sie mit Marisol hier auftauchte. Wir hatten ein paar Pärchen im Lager, viele blieben aber auch aus den unterschiedlichsten Gründen alleine. Wie ich. Weil ich ein Freak war.
Manchmal war ich beinahe froh, dass noch niemand hier aufgetaucht war, der tiefere Gefühle in mir weckte. Ich liebte Joseph und Abby und auch Hen und Robyn. Aber sie waren meine Familie. Und Ezra. Er war wohl das, was man meinen besten Freund nennen konnte. Doch es gab niemanden, zu dem ich mich hingezogen fühlte, was das Leben hier irgendwie leichter machte. Wenn ich mir vorstellte, mich zu verlieben und derjenige fände mich abstoßend... Da blieb ich lieber alleine. Siebenundzwanzig Jahre alt, allein und unberührt. Was soll's. Wir lebten eh in einer Gott verdammten Postapokalypse.
Ich schnappte mir meine Portion und setzte mich zu Robyn und den Kindern an den Tisch. Verstohlen blickte Hen auf meinen Teller.
„Zwei Löffel.“, sagte ich und nickte zu ihrem eigenen.
Sie stöhnte genervt.
„Naaagut.“, sagte sie gedehnt und schaufelte sich schnell zwei Löffel Apfelmus in den Mund. Ich grinste. Dann schob sie mir ihren Teller rüber, nicht ohne vorher die zwei Brotscheiben wegzunehmen. Ich hielt ihr meine beiden hin. Nachdem der Tausch vollzogen war, begann ich meinen Apfelmus zu essen. Ich hasste Apfelmus. Aber ich liebte Hen.
„Hey Alec, vergiss nicht aufzuschreiben, was wir brauchen.“
Chloe, eine der Läufer, sah kurz in den Lagerraum, in dem ich gerade dabei war aufzuräumen.
„Klar.“ Ich hielt einen Daumen hoch, ohne von den Seilen aufzusehen, die ich gerade zählte. Den meisten Kram fanden wir in verlassenen Häusern. Wir waren ziemlich gut aufgestellt, doch langsam mussten wir unseren Suchumkreis erweitern, weil wir alles in der Umgebung schon leer geplündert hatten.
„Klebeband!“, rief ich aus, als es mir einfiel und schrieb es auf die Liste, direkt unter Neue Zange. Die Lebensmittel sichtete heute jemand anderer und ich war mir sicher, dass ich hier schnell durch wäre. Aber ich musste sorgfältig sein. Es war Herbst und die Tage wurden kürzer, was bedeutete, dass unsere Läufer weniger Zeit hatten tagsüber zu plündern. Nachts blieben alle in der Schule, die wenigen Türen, die wir nicht zugenagelt hatten, fest verschlossen.
Reihum hielten wir Wache, nur für den Fall, dass einer der verdammten Blutsauger sich doch einmal zu uns verirren sollte. Es war nie passiert in den zwölf Jahren, in denen ich hier lebte, aber Vorsicht war noch immer besser als Nachsicht.
Ich schrieb noch Schere und Eimer auf. Dinge, die mit der Zeit einfach ersetzt werden mussten.
„Irgendjemand muss morgen raus und Setzlinge suchen.“, hörte ich jemanden durch den Flur rufen.
„Es ist Herbst!“, kam von einer anderen Person zurück.
„Es sind aber noch zu viele leere Töpfe im Gewächshaus.“
„Ich werde gehen!“, rief ich zur Tür raus und sammelte meinen Schreibblock und Stift ein, bevor ich noch einmal einen Blick durch die Regale gleiten ließ und das Lager dann verließ.
„Danke Alec.“ Ezra trat neben mich und begleitete mich ein Stück den Flur entlang.
„Was meinst du, wie viele brauchen wir?“, fragte ich, als wir am Kopf der Treppe stehen blieben.
„Ich weiß nicht genau. Am besten schaust du vorher nach.“
Ezra zuckte mit den Schultern und deutete dann hinter sich.
„Ich muss mich hinhauen. Morgen wird ein langer Tag.“ Mit den Worten nahm er mir die Liste aus der Hand, die ich ihm hinhielt.
„Klar. Gute Nacht.“ Ich nickte und ging nach unten. Im Eingangsbereich bog ich scharf nach rechts und ging unter der Treppe durch die große Glastür hindurch, die zum ehemaligen Schwimmbecken, den wir nur den Pool nannten, führte.
Wir hatten, dem Himmel sei Dank, funktionierende Duschen und laufendes Wasser. Wir wussten nicht, was wirklich mit der Welt passiert war, aber unsere Läufer kontrollierten jedes neue Gebäude, das sie fanden und fast immer funktionierten die Sanitäranlagen und der Strom war noch nicht abgestellt.
Weiß der Geier, was die Arschlöcher von Vampiren da machten. Ich verstand zu wenig von solchen Dingen und fragte mich, ob alles funktionieren musste, damit sie es in ihrer Stadt schön warm und sauber hatten.
Abby war gerade im leeren Schwimmbecken und hing Wäsche auf. Trotz fließendem Wasser, hatten wir es nie geschafft Waschmaschinen zu beschaffen. In großen Wannen wuschen wir die Sachen und hingen sie auf einer Auswahl an Wäscheleinen und -ständern zum Trocknen auf. Im Sommer meist auf dem Schulhof.
„Ich habe gehört, wir haben leere Töpfe?“, fragte ich, als ich die gefliesten Treppen hinunter trat.
„Sieben.“, gab unsere Lagerchefin zurück.
Ich trat neben sie und bückte mich, um eines der Kleidungsstücke aus einem Korb zu nehmen und ihr beim Aufhängen zu helfen.
„Ich werde morgen losgehen und ein paar Setzlinge suchen. Vielleicht finde ich noch irgendwas, das noch nicht erfroren ist.“
„Danke. Ich wollte eigentlich einen der Läufer schicken, aber du weißt schon.“ Abby drückte meinen Arm und nahm das nächste Kleidungsstück aus dem Korb.
„Ich gehe gerne. So komme ich auch nochmal raus, bevor es wirklich zu kalt wird.“
Mein rechter Arm vertrug Kälte nicht. Irgendwie reagierten die Narben auf Temperaturabfälle, weswegen ich meistens, außer im Sommer, einen Pullover trug.
Schweigend beendeten wir die Arbeit und als Abby wieder zurück ging, schlüpfte ich ins Gewächshaus.
Es war kein richtiges Gewächshaus, nur eine abgegrenzter Teil des Schwimmbeckens, über das wir, wie bei einem großen Zelt, eine Plastikplane gezogen hatten. Durch die große Fensterfront in diesem Teil des Gebäudes kam mehr als genug Licht herein und wir konnten uns eigentlich nicht darüber beschweren, dass die Ernte nicht ausreichte. Alles, was schwieriger war, bauten wir draußen am Rande des Schulhofes an. Außerdem hatten wir ein ordentliches Kartoffelfeld angelegt und einige Obstbäume aus der Umgebung geholt und umgepflanzt. Besonders an Äpfeln mangelte es uns nicht. Ich verzog das Gesicht.
Nachdem ich vorsichtshalber nochmal die Töpfe gezählt hatte, verließ ich das Gewächshaus und machte mich auf den Weg zurück.
Nemis
Zuviel.
Es war alles zu viel.
Zu viele Menschen, zu viele Vampire.
In meinem Einzimmer-Appartement schlüpfte ich aus meinem Mantel und warf ihn über den Stuhl, der vor dem kleinen Schreibtisch stand. Ich streifte meine schweren Stiefel ab und kickte sie zurück in den kleinen Flur, durch den ich gerade getreten war. Mit beiden Händen fuhr ich mir über mein Gesicht und erschauderte, als mir einfiel, dass ich sie noch nicht gewaschen hatte.
Hatte ich etwas angefasst? Sicher hatte ich etwas angefasst.
Angeekelt schüttelte ich mich und zog meine Sachen aus. Nackt trug ich alles in die kleine Küchennische und stopfte es in die Waschmaschine. Dann ging ich durch den schmalen Eingangsbereich in das Badezimmer. Ich zog den Duschvorhang zurück und stellte das heiße Wasser an. Kurz blieb ich vor dem Waschbecken stehen und betrachtete mich im Spiegel, während ich wartete, dass das Wasser warm wurde. Meine dunkelbraunen Haare waren verschwitzt und hingen mir in die Stirn.
Mit den Augenringen sah ich aus, als hätte ich tagelang nicht geschlafen – was zutraf – oder nicht genug Blut getrunken. Was auch zutraf. Ich wandte den Blick ruckartig ab und stieg unter die Dusche.
Das heiße Wasser konnte nur oberflächlich das wegspülen, was meine Haut zum Kribbeln brachte. Das quälende Gefühl darunter blieb. Es blieb immer.
Ich duschte lange, fühlte mich doch nicht wirklich sauber und dachte an die Frau, die mir eine Hand auf die Schulter gelegt hatte. Ich musste meinen Mantel auch waschen. Frustriert drehte ich das Wasser ab, trat aus der Dusche und wickelte mir ein Handtuch um die Hüfte. Ohne meinem Spiegelbild noch einmal meine Aufmerksamkeit zu widmen, verließ ich das Badezimmer und griff im Vorbeigehen nach meinem Mantel und warf ihn vor die Waschmaschine.
Heute sollte ich trinken und schlafen. Ich öffnete den kleinen Kühlschrank und holte eine Blutkonserve heraus.
„Scheiße.“
Ich hasste es Menschen anzufassen und musste das trinken, was sie in ihren Körpern hatten. Ich wusste nicht, wie oft ich mich schon gefragt hatte, warum ich es tat. Warum ich nicht einfach aufgab. Über einhundert Jahre lebte ich nun als Vampir und hasste es. Erst recht, seitdem unsere Art alles an sich gerissen hatte.
Ich fummelte an einer der Öffnungen, in die die Schläuche gesteckt wurden, bis ich sie geöffnet hatte und würgte mir das Zeug schnell rein. Hustend versuchte ich es in mir zu behalten und mich nicht in meiner Küche zu erbrechen. Schnell trank ich ein Glas Wasser hinterher und atmete tief ein. Ok, das war erledigt.
Jetzt schlafen. Ich trocknete mich halbherzig ab und warf mein Handtuch zu meinem Mantel auf den Boden.
In meinem Schrank wühlte ich nach einer Boxershorts und zog sie über. Nach einem kurzen Blick aus dem Fenster schlüpfte ich ins Bett. Vampire mussten nicht zwangsmäßig schlafen. Wenn wir stetig Blut tranken kam unser Körper wochenlang ohne Schlaf aus. Da ich das Blut aber auf einem Minimum hielt, musste ich mich ausruhen.
Auf dem Rücken liegend erinnerte ich mich daran, wie ich die Stunden zuvor in der Stadt verbracht hatte, eingepfercht zwischen den Körpern fremder Menschen und Vampire, und beschloss am nächsten Tag einen Ausflug außerhalb der Stadt zu machen. Ich musste hier raus, ich brauchte Luft. Und bis zum heutigen Tag hatte noch niemand herausgefunden, dass ich mich auch tagsüber frei draußen bewegen konnte.
Am Tor zeigte ich mein Tattoo am Handgelenk und konnte die Stadt verlassen. Es war ein kleines rundes Symbol, das alle Vampire und einige ausgewählte Menschen trugen. Zu meinem Glück hatten einiger meiner Artgenossen Lieblingsmenschen, denen sie mehr erlaubten, die auch die Stadt verlassen durften. Auch ein paar Händler trugen das Zeichen, um ihre Waren hinaus bringen zu können. Ohne diese Menschen wäre meine eigene Tätowierung wertlos.
Ich streifte ein paar Stunden umher und genoss die Ruhe und Einsamkeit. Nicht, dass ich in meiner Wohnung nicht einsam war. Mein ganzes Leben war einsam. Aber außerhalb der Stadt war es etwas anderes. Hier fühlte sich die Einsamkeit frei an. Trotzdem musste ich zurück. Ich hielt es draußen vielleicht einen halben Tag aus, ohne dass mein Körper an jeder erdenklichen Stelle juckte und ich mich am liebsten übergeben hätte.
Gerade als ich mich auf den Rückweg machen wollte, riss der Himmel auf und es begann zu regnen. Ich schlang meinen Mantel um mich und zog meinen Schal hoch, halb übers Gesicht. Regen machte mir nichts, er kam sauber vom Himmel. Aber die Erde unter meinen Füßen, die immer schneller zu Schlamm wurde ließ mich schlucken. Ich musste irgendwo hin, wo es trocken war.
Ein paar Minuten vorher war ich an einer morschen Hütte vorbeigekommen, nicht mehr als ein kleiner Verschlag, aber es hatte eine Tür. Eilig ging ich zurück und schob die Tür auf. Es roch muffig aber war trocken. Wenn ich in der Mitte stehen blieb und nichts anfasste, sollte es gehen. Durch das kleine Fenster sah ich hinaus. Es regnete als gäbe es kein Morgen. Das würde sicher eine Weile dauern.
Ich weiß nicht, wie lange ich steif herumstand, die Hände in den Manteltaschen, als ich jemanden um Hilfe rufen hörte. Meine Nackenhaare stellten sich auf. Ich war nicht gut im Helfen. Ich konnte nicht. Helfen hieß meist anfassen.
Die Person rief nochmal, es hörte sich wie ein Mann an. Ich blieb starr stehen. Horchte, bis er wieder rief.
„Ach verdammt!“, fluchte ich und stieß die Tür auf.
Alec
„Scheiße. Fuck. Verfluchte Scheiße!“
Ich stapfte durch den Matsch und suchte nach einem Platz, an dem ich mich unterstellten konnte. Der Regen hatte plötzlich und heftig eingesetzt. Ja, es war Oktober und der Himmel war bedeckt. Aber um Gottes Willen, musste es so schütten?
Meine Stiefel schmatzen in der nassen Erde und meine Schritte wurden mühsamer. Verdammt, ich hatte erst drei Setzlinge in meinen Rucksack stopfen können, als der Himmel aufgebrochen war. Mein Auge scannte die Gegend ab, doch durch den Regen konnte ich kaum etwas sehen. Ich war schon bis auf die Haut durchnässt und mir sicher, dass das eine dicke Erkältung mit sich ziehen würde.
„Scheiße!“, fluchte ich nochmal.
Dann sah ich eine Art Verschlag und rannte los. Wahrscheinlich war es ein Überbleibsel eines Stalls oder so, aber das war mir egal. Ich beeilte mich und versuchte, nicht auf dem nassen Gras auszurutschen. Das Ding hatte sogar eine Tür! Ich könnte dort bleiben, bis der Regen nachließ. Weniger als zehn Meter trennten mich von dem Unterschlupf, als unter mir die Erde wegrutschte und ich mit rudernden Armen auf meinen Arsch fiel.
Ich rutschte irgendwo hinein. Ein Loch?
Über mir bröckelte nasse Erde, unter mir platschte Regen auf anderes Wasser. Kurz wusste ich nicht, wo oben und unten war, als ich mit dem Kopf untertauchte. Prustend tauchte ich wieder auf und sah mich um. Ich musste in einer alten Sickergrube oder so gelandet sein.
„Fuck!“, schrie ich und schlug auf das Wasser. Ich war groß, aber selbst ich konnte nicht stehen, ohne mich enorm strecken und das Kinn hochhalten zu müssen. Hektisch grub ich meine Finger in die Wand, doch die Erde war so nass, dass ich keinen Halt finden konnte. Mein Kopf flog umher und mein rechter Arm schmerzte von der überdehnten Haut. Ich würde ertrinken.
„Hilfe!“, rief ich so laut ich konnte. Aber in meinem Hinterkopf verfestigte sich schon der Gedanke, dass das hier das Ende war. Wer sollte denn jetzt gerade in der Gegend sein? Irgendwo im Nirgendwo bei strömendem Regen. Trotzdem rief ich weiter.
Ich versuchte noch unzählige Male an der feuchten Erde hochzuklettern, irgendwas zu greifen, suchte nach Wurzeln, doch es war alles sinnlos. Und durch den Regen stieg der Wasserstand. Ich würde nicht mehr lange durchhalten.
Oben erschien ein Kopf.
„Hey!“, rief ich, doch er verschwand wieder.
„Warte! Hilf mir! Bitte. Ich ertrinke hier unten!“
Er tauchte wieder auf. Es war ein Mann, etwa in meinem Alter. Viel konnte ich durch den Regen nicht erkennen aber er schien zu zögern.
„Bitte, sei kein Arschloch!“ Ich schluckte einen Schwall Wasser und hustete.
„Was soll ich tun?“, fragte er dann, die Stimme unsicher.
„Ich weiß nicht... liegt mein Rucksack da oben?“
Der Kopf verschwand wieder und tauchte kurz darauf wieder auf.
„Ja.“
„Da ist ein Seil drin. Meinst du, du kannst mich hochziehen?“ Ich spürte, wie meine Kraft langsam nachließ.
„Ich kann es versuchen.“ Wieder verschwand er und brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis er wieder hinunter sah und gleichzeitig das Ende des Seils fallen ließ.
„Großartig!“ Ich griff eilig danach und wickelte es mir um mein linkes Handgelenk. Das würde schmerzhaft werden, aber wenigsten käme ich lebend hier heraus.
Der Kerl zog sich wieder zurück und für einen Atemzug bekam ich Angst, dass er mich alleine lassen würde, doch dann begann er zu ziehen. Mit einer erstaunlichen Kraft zog er mich aus der Grube, während ich mit meinen Füßen versuchte an der Wand Halt zu finden. Oben angekommen packte er mich unter den Armen und zog mich über den Rand. Ich krabbelte einige Meter von der Grube weg und drehte mich dann auf den Rücken. Schwer atmend hob ich einen Daumen hoch.
„Danke. Ohne dich wäre ich früher oder später ertrunken.“
Im noch immer strömenden Regen setzte ich mich auf und sah meinen Retter an. Er kniete zitternd neben mir und sah auf seine Hände, die mit nasser Erde und Dreck bedeckt waren.
„Wo kamst du eigentlich her?“, fragte ich und versuchte mich zu erinnern, ob ich sein Gesicht schon einmal gesehen hatte. Manchmal traf man den ein oder anderen Umherziehenden hier draußen. Er zeigte auf den Verschlag.
„Ok. Vielleicht sollten wir da rein gehen und warten, bis der Regen aufhört.“ Zumindest war das mein ursprünglicher Plan gewesen.
„Ja, gut.“ Er nickte und stand auf. „Ok.“, sagte ich gedehnt, als er einfach los stiefelte, ohne mir aufzuhelfen oder zu warten. Schnell rappelte ich mich auf und folgte ihm. Im Vorbeigehen schnappte ich meinen Rucksack.
„Arschkalt, aber wenigstens trocken.“ Ich sah mich in der kleinen Hütte um. Keine Ahnung, was das hier einmal gewesen war. Aber es regnete zumindest nicht rein und es hatte ein kleines Fenster, so dass wir nicht komplett im Dunklen saßen.
„Ich bin übrigens Alec. Und... danke nochmal für deine Hilfe.“
Der Kerl stand an der Tür, die Hände in den Manteltaschen und sein Blick flog hektisch umher.
„Und ähm... wie heißt du?“, fragte ich.
„Nemis.“, gab er so knapp zurück, dass ich es fast nicht verstanden hätte.
„Ok. Und woher kommst du?“
„Ich bin auf der Durchreise.“ Er rührte sich kein Stück. Gut, kurze und knappe Antworten.
Ich sah aus dem Fenster. Es schüttete immer noch wie aus Kübeln.
„Sieht nicht so aus, als würde es bald aufhören. Schätze wir sind hier eine Weile gefangen.“
Nemis schnaubte. Er sah mich nicht an, sondern runter auf seine schmutzigen Stiefel. Er war etwas kleiner als, ungefähr einen halben Kopf. Seine dunklen Haare waren, wie meine, pitschnass und klebten an seinem Gesicht und der Stirn. Unvermittelt hob er den Kopf und sah mich an.
Es war nicht besonders hell in der Hütte aber ich meinte hellbraune Augen zu sehen, die mich anstarrten. Natürlich. Ich sah weg und seufzte.
„Hast du dir dein Auge verletzt?“, fragte er, seine Stimme jetzt gefasster.
Was auch sonst?
„Nein. Ich bin seit meiner Geburt auf dem Auge blind.“, erzählte ich zum was weiß ich wievielten Mal.
„Kannst du es spüren?“
„Was?“ Ich zog die Augenbrauen zusammen.
„Dein Auge.“ Nemis nickte zu meinem Gesicht.
„Ähm.“ Ich hatte nie darüber nachgedacht.
„Ja, ich schätze schon.“ Ich bewegte beide Augen und konzentrierte mich auf das Gefühl.
„Ja, ich kann es spüren.“
Er beobachtete mich. Eine ganze Weile sagte keiner was und ich begann irgendwann vor Kälte zu zittern.
„Es scheint weniger zu werden.“, sagte ich, als ich wieder aus dem Fenster sah.
„Außerdem wird es bald dunkel. Wir sollten...“ Ich deutete zur Tür.
„Ähm. Ja.“ Nemis trat ans Fenster und sah ebenfalls hinaus. Irgendwas war seltsam an ihm.
„Bist du alleine unterwegs? Ich meine, weil... du weißt schon. Nachts sind die Vampire unterwegs.“ Ich sah ihn an und versuchte in seinem Gesicht zu lesen.
„Ich... die Vampire, ja. Vielleicht bleibe ich einfach hier.“, sagte er.
Ich hob die Brauen. „Du bist völlig durchnässt. Ich kann dich mit in unser Lager nehmen. Dann kannst du morgen früh zurück.“
Für den Bruchteil einer Sekunde meinte ich Panik in seinem Gesicht zu sehen.
„Dein Lager?“
Ich nickte.
„Es ist ungefähr eine Stunde von hier. Wenn wir jetzt gehen, schaffen wir es noch vor Einbruch der Dunkelheit.“
„Ich weiß nicht. Ich...“ Was war mit dem Kerl nur los?
„Komm. Es ist warm und trocken dort. Du kannst duschen und deine Sachen trocknen.“ Ich drückte mich an ihm vorbei, um die Tür zu öffnen. Ob er nun mitkam oder nicht, ich wollte kein Vampirfutter werden, weil ich zu blöd war, meinen Arsch zeitig zurück zu bewegen.
Ich ging nach draußen, wo es endlich aufgehört hatte zu regnen. Hinter mir hörte ich schmatzende Geräusche, als Nemis mir folgte.
„Der Gedanke von den Wichsern ausgesaugt zu werden ist doch nicht so toll, was?“, warf ich lachend über die Schulter. Nemis murmelte etwas, das ich nicht verstand.
Wir schwiegen über die Hälfte des Weges. Mir machte Stille nichts aus, aber dieser Kerl hatte etwas seltsames an sich, so dass ich irgendwann zu reden begann, nur um mich selbst abzulenken. Ich erzählte von den Setzlingen, die ich suchen wollte. Drei mickrige kleine Pflänzchen, die jetzt völlig zerquetscht in meinem Rucksack lagen. Vielleicht könnte man mit viel Feingefühl noch etwas retten.
Als wir an der Schule ankamen blieb Nemis davor stehen und sah an dem Gebäude hinauf.
„Komm schon. Ich muss echt aus den nassen Sachen raus.“, drängte ich. Erstaunlicher Weise folgte er mir sofort.
„Alec! Wir hatten schon Angst du schaffst es nicht vor Einbruch der Du-“ Robyns Worte erstarben, als sie Nemis erblickte. „Wir haben Besuch?“
„Das ist Nemis. Er hat mir den Arsch gerettet. Bin in eine Sickergrube oder so gefallen und wäre ertrunken, wenn er nicht zufällig da gewesen wäre.“, stellte ich den Fremden vor.
Nemis Blick flog im Gebäude umher und er schien nicht zu bemerken, wie sich mehrere Augenpaare auf ihn richteten.
„Ich zeige ihm schnell die Duschen und besorge was trockenes zum Anziehen. Das ist das Mindeste, was ich tun kann.“ Ich sah ihn an. „Und was essen kannst du auch.“
Gut die Hälfte der Leute, die gerade anwesend waren, beäugten unseren Besuch skeptisch. Ich war solche Blicke gewohnt, weshalb ich sie nicht kommentierte.
„Hier entlang.“ Ich zeigte zur Glastür, die zum Pool und den Duschen führte und ging dann vor.
„Du kannst duschen. Hier.“ Im vorbeigehen griff ich nach einem Handtuch aus dem Regal, in dem wir sie lagerten und gab es ihm.
„Danke.“, sagte er leise und sah sich in dem riesigen Raum um.
„Da entlang. Es sind sechs Kabinen. Ich hole dir in der Zwischenzeit etwas neues zum Anziehen. Deine nassen Sachen können wir dann dort aufhängen.“ Ich deutete in Richtung der Wäscheleinen.
Nemis nickte zögernd und schwieg.
Nachdem er im Duschbereich verschwunden war, ging ich wieder durch die Glastür zurück, um in unserem Wäschelager nach etwas passendem zu suchen.
Jeder hatte eine Auswahl eigener Klamotten und persönlicher Dinge, die er in einer Kiste am Schlafplatz aufbewahrte. Wir hatten aber auch ein Lager mit Sachen, die jeder nutzen konnte.
Hier suchte ich nun nach einem Pullover, einer Hose und Unterwäsche. Ich hatte mir schon ein Sweatshirt über den Arm gehängt und hielt eine Jogginghose hoch, die mir zu kurz war, Nemis aber passen sollte. Mit den beiden Teilen, einer Boxershorts und für mich ähnlichen Sachen ausgestattet, ging ich zurück zu den Duschen.
Ich hörte das Wasser laufen und legte die Klamotten auf eine Bank.
„Ich habe dir was zum Anziehen hingelegt.“, rief ich in die Richtung, aus der die Geräusche kamen.
„Da... danke.“, kam es zurück und ich verließ den Duschbereich wieder. Ich würde warten, bis Nemis fertig war und dann selbst duschen. Ich zeigte mich vor den anderen schon so selten wie möglich, da musste ich nicht vor einem Fremden blankziehen.
Nemis
Die Dusche war eklig.
Das Wasser roch seltsam und das Wissen, dass hier noch so viele andere Menschen duschten ließ mich fast würgen. Ich hatte meine Arme um meinen Körper geschlungen und ließ das warme Wasser über meinen Kopf laufen, ohne mich zu bewegen. Meinen Mund hielt ich geschlossen, viel zu groß war die Angst, etwas von dem Wasser zu schlucken.
Warum war ich mitgekommen?
Warum hatte ich diesem Kerl überhaupt geholfen?
Wäre ich in der Hütte geblieben, wäre ich trocken wieder in die Stadt spaziert und würde hier nicht barfuß auf einem Boden stehen, auf dem wer weiß was für Dreck lauerte. Ich erschauderte.
Ich fragte mich, ob Alec wirklich ertrunken wäre. Er war groß, einen halben Kopf größer als ich. Und er schien recht kräftig zu sein, zumindest war er nicht so mager, wie viele Menschen in der Stadt. Warum war das Wasser hier eigentlich warm? Und warum lebten sie alle hier zusammen, obwohl jeder ein eigenes Haus haben könnte?
Es standen noch viele Häuser herum, die nicht komplett verfallen waren.
Meine Gedanken kreisten in meinem Kopf.
Warum hatte ich ihm geholfen?
„Nemis? Ist alles in Ordnung?“ Alec war wieder da.
Wie lange war es her, dass er mir die Sachen hingelegt hatte? Ich sollte mich beeilen und mich anziehen.
„J... Ja, alles gut. Ich bin gleich fertig!“, rief ich zurück, in der Hoffnung, dass er wieder gehen würde. Ich hörte, wie die Tür geschlossen wurde. Nachdem ich einen Augenblick gewartet hatte stellte ich das Wasser aus und stieg aus der Kabine. Ich griff nach dem Handtuch, das Alec mir gegeben hatte und trocknete mich eilig ab. Dann sah ich mich um, bis ich die Kleidung entdeckte.
„Oh nein.“, entwich es mir, als ich mit spitzen Fingern die Unterhose hoch hielt. Die, die nicht mir gehörte. Die, in der bestimmt schon einmal jemand anderer seinen Hintern gehabt hatte. Und schlimmeres.
„Scheiße.“ Hektisch atmend zog ich mir die Sachen an und fühlte mich, als hätte ich mich in Dreck gewälzt. Wie konnten die Leute hier so leben?
Ich rollte das Handtuch zu einem Ball zusammen und ging hinaus in den großen Raum, in dem früher scheinbar ein Schwimmbecken betrieben wurde. Alec saß am Beckenrand, die Beine baumelten in der Luft. Meine nassen Sachen hingen über einem Wäscheständer. Als er mich entdeckte stand er auf und kam freundlich lächelnd auf mich zu.
Warum hatte ich ihm geholfen?
„Viel besser, oder?“ Er schien mir eine Hand auf die Schulter legen zu wollen, hielt aber inne, die Hand in der Luft schwebend. Dann ließ er sie sinken.
„Ja. Danke.“
Was sollte ich sagen? Dass ich mich jetzt eigentlich noch schmutziger fühlte als vorher? Dass die Kleidung, die nicht mir gehörte, auf meiner Haut brannte, als würde sie sich hineinfressen?
„Ja, viel besser.“, setzte ich stattdessen nach.
Alec nickte und griff nach einem weiteren Handtuch.
„Ich werde auch...“ Er deutete zum Duschbereich.
„Du kannst gerne zu den anderen gehen. Suche nach Joseph. Er ist unser Koch. Ungefähr so groß, schwarz, Bart.“ Er hielt seine Hand auf Schulterhöhe.
„Ich komme dazu, sobald ich fertig bin.“
„Ok.“ Ich nickte und bewegte mich in Richtung der Glastür, die zurück führte.
Alec
Ich beobachtete, wie Nemis alleine an einem der Tische in der Mensa saß. Irgendwie tat er mir leid. Niemand hielt an und redete mit ihm oder setzte sich zu ihm. Er stocherte in dem Essen auf seinem Teller herum. Heute gab es Reis und Erbsen. Joseph legte alles möglich ein, was übrig war, so dass wir über den Winter kamen.
Mit der Hand fuhr ich durch meine noch feuchten Haare und ging auf den Tisch zu, an an dem unser Besuch saß. Mit der Dusche hatte ich mich beeilt, damit er nicht zu lange alleine war, ich hatte aber nicht damit gerechnet, dass niemand sich seiner annehmen würde.
Auf dem Weg zu ihm holte ich mir eine übriggebliebene Portion und nickte Joseph dankbar zu.
„Wer ist er?“, fragte er.
„Hat mich aus einer Grube gezogen.“
„Er hat was seltsames an sich.“, sagte Joseph und wir beide blickten zu Nemis, der den Kopf hob und in unsere Richtung sah, als hätte er gespürt, dass wir ihn anstarrten.
„Ich denke er ist nur schüchtern.“ Ich zuckte mit den Schultern und ging zum Tisch.
Beim Hinsetzen zeigte ich mit dem Kinn in Richtung seines Tellers.
„Ist kein Gourmet-Menü aber es füllt den Magen.“ „Es ist in Ordnung. Ich habe nur keinen Hunger.“ Er schob eine Erbse auf dem Teller herum.
„Ich werde es trotzdem essen.“, sagte er dann erschrocken
„Ich will nicht, dass es an mich verschwendet wird.“
Ich lachte.
„Keine Sorge. Die Kids essen auch nicht immer alles. Was übrig bleibt bekommen die Hühner.“
„Ihr habt hier auch Kinder?“, frage er und sah sich um.
„Ist es nicht zu gefährlich?“
„Wir passen gut auf sie auf. Und wahrscheinlich ist es nicht gefährlicher als sonst wo.“ Ich zuckte mit den Schultern und schaufelte mir eine Gabel Reis in den Mund.
Wir schwiegen, während ich aufaß und Nemis sein Essen weiter mit der Gabel auf dem Teller verteilte. Danach nahm ich beide Teller und brachte sie zur Durchreiche in die Küche. Ich hatte das Geschirr kaum hingestellt, da erschienen zwei Hände und griffen danach.
„Danke Fay!“, rief ich in die Küche hinein.
Fay war drei Jahre jünger als ich. Sie und ihr Zwillingsbruder Ian waren seit sieben Jahren bei uns. Sie half Joseph in der Küche, während Ian überall mitmischte, wo er konnte. Die beiden hatten mit ihren Eltern auf einer Farm gelebt, irgendwo im Nirgendwo, bis sie im Alter von siebzehn Jahren zu Waisen wurden, als im Haus ein Feuer ausbrach. Ian hatte mir einmal erzählt, dass ihr Vater beide hinausgeschickt hatte und selbst drinnen blieb, um ihre Mutter zu holen. Keiner von beiden kam wieder raus.
Fay zeigte mir einen Daumen hoch und ihre Hände verschwanden mit den Tellern.
„Wir haben in zwei Schlafräumen noch Plätze. Ansonsten kann ich dir anbieten in einem der Lager zu übernachten. Ich könnte dir eine Matratze holen.“, sagte ich zu Nemis, als wir die Mensa verließen.
„Ich weiß nicht, ob ich heute Nacht schlafen kann.“, gab er zurück.
Ich nickte.
„Verstehe. Fremde Menschen und so.“
„Ja, und so.“
Wir standen in der Eingangshalle und ich steckte meine Hände in die Hosentaschen.
„Also, ich denke ich bin echt fertig und brauch wirklich eine Mütze Schlaf. Der Regen hat mir ziemlich zugesetzt.“
„Ja. Natürlich.“ Nemis hob die Brauen. „Ich werde einfach...“ Er sah sich um. „Ich werde...“
Während sein Blick durch den großen Raum ging, musterte ich ihn. Sein Gesicht war kantig und die Augen waren wirklich hellbraun und umrandet von langen Wimpern. Seine Haut war blass, als würde er nicht viel Zeit in der Sonne verbringen. Mein Blick fiel auf seine Lippen. Sie waren voll und leicht geöffnet. Ich leckte über meine eigenen und sah schnell zu Boden, als er seinen Kopf zu mir drehte.
Als ich ihn wieder ansah bemerkte ich einen kleinen Leberfleck neben seinem linken Nasenflügel.
„Ich warte einfach?“ Es war mehr eine Frage, als eine Aussage.
„Ähm. Ok. Wir haben da hinten ein paar Bücher. Vielleicht magst du etwas lesen?“ Ich zeigte auf ein Regal neben dem Lager, in dem wir unsere Lebensmittel aufbewahrten.
„Wenn du doch müde werden solltest, oben im Schlafraum fünf sind noch Plätze. Die Tür ist beschriftet und die leeren Betten sind gemacht. Daran kannst du sie erkennen.“ Ich zog die Schultern hoch und sah Nemis abwartend an.
„Ok, danke.“ Er nickte.
„Also, dann werde ich mal. Wir sehen uns morgen?“
„Ja. Und... danke, dass ich die Nacht hier verbringen darf.“
Ich winkte ab.
„Ist doch selbstverständlich. Ohne dich wäre ich jetzt vielleicht nicht hier.“ Unsere Blicke hielten noch einen Moment aneinander fest, vielleicht einen Atemzug zu lange, dann sah Nemis zu dem Bücherregal und machte einen Schritt darauf zu.
„Dann bis morgen.“, sagte ich nochmal, bevor ich die Treppe hinauf ging.
Ich schlief fast sofort ein und träumte vom Regen. Alles war grau und ich konnte kaum etwas sehen, als ich in einen Fluss fiel, der mich gefühlte Meilen mit sich riss. Irgendwas verhakte sich mit meiner Jacke und zog mich aus dem Wasser und stellte mich am Ufer auf die Beine. Meine Schulter schmerzte und ich hatte Probleme zu atmen, obwohl ich aus dem Wasser raus war. Vor mir stand eine Person, die ich nicht kannte und gab mir meinen Rucksack. Ich hustete und würgte kleine Setzlinge hervor, die ich in den Rucksack stopfte.
„Du solltest Himbeeren pflücken.“, sagte die Person, die mich direkt ansah, deren Gesicht ich aber nicht hätte beschreiben können.
„Ja, ich weiß. Das wollte ich ja.“, antwortete ich ihr und zeigte in meinen Rucksack hinein.
„Oder Schwimmen.“ Mit diesen Worten versetzte sie mir einen Stoß und ich fiel rückwärts wieder in den Fluss. Wild ruderte ich mit den Armen, doch ich wusste nicht, wo oben und unten war und versuchte kein Wasser zu schlucken.
Ich öffnete die Augen. Irgendjemand schnarchte, wahrscheinlich Kris. Mit einer Hand fuhr ich mir durch das Gesicht. Auf dem Rücken liegend starrte ich an die Decke und beobachtete die Schatten, die dort tanzten.
Dann stand ich auf, um runter zu gehen und ein Glas Wasser zu trinken. Ich fühlte mich, als hätte ich drei Tage geschlafen und doch nicht annähernd genug.
Schlaftrunken stapfte ich die Treppe hinunter. Auf einer der unteren Stufen saß Nemis und las ein Buch. Er sah hoch, als er mich hörte.
„Kannst wirklich nicht schlafen, hm?“, fragte ich und blieb am Fuß der Treppe stehen.
„Ich habe es nicht so mit fremden Orten.“
Ich nickte.
„Und von wo kommst du? Ich meine, wo lebst du?“ Ich fuhr mir durch die Haare, um sie aus der Stirn zu streichen.
Nemis
Alec stand vor mir und hob eine Hand, um seine Haare zurück zu streichen. Sein Shirt hob sich dabei ein kleines Stück und gab einen Streifen Haut frei. Beinahe hatte ich seine Frage überhört, während ich versuchte, nicht darauf zu starren.
„Ich... lebe in einem kleinen Camp weiter nördlich.“
Nördlich, nicht südlich, ich musste von Blackfall ablenken. Er sollte nicht wissen, dass ich aus der Stadt kam.
„Mhm.“ Alec nickte.
Dann deutete er in die Richtung des Raumes, in dem gegessen wurde.
„Ich brauch einen Schluck Wasser.“ Er verschwand und tauchte kurz darauf wieder vor mir auf.
„Ich glaube das war´s heute Nacht auch für mich. Verdammt.“ Er setzte sich mit etwas Abstand neben mich auf die Treppe und nickte zu dem Buch in meinen Händen.
„Gut?“
Ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte versucht in die Geschichte einzutauchen, doch meine Augen flogen über die Seiten, ohne dass etwas einen Sinn machte. Ich wartete nur darauf, dass die Sonne aufging und ich zurück in die Stadt konnte.
„Wir könnten nachsehen, ob deine Sachen schon trocken sind.“, schlug er vor.
„Ja, gute Idee.“ Ich stand auf, stellte das Buch zurück in das Regal und folgte ihm zum Schwimmbecken.
„Hm, ist noch feucht. Du kannst später die Sachen mitnehmen, die du trägst. Vielleicht kommst du ja irgendwann wieder vorbei und kannst sie uns zurück geben.“ Alec arrangierte meine Sachen anders auf der Leine, wahrscheinlich damit sie besser trocknen konnten.
„Danke.“, sagte ich gedankenversunken, weil mein Blick durch die großen Fenster des riesigen Raumes glitten. Ich ging um das Becken herum und stellte mich ans schmutzige Glas. Am Horizont konnte man den Sonnenaufgang erahnen. Ich sah einen Schulhof, überwuchert und verwildert. Es war so still. Irgendwo raschelte etwas im Gebüsch, wahrscheinlich ein kleines Tier, was Alec sicher nicht hören konnte. Ansonsten war alles friedlich.
Die Stadt war immer laut. Laut und hell. Hier war es dunkel und ruhig. Meine Hände wurden zu Fäusten, als ich dem Drang widerstand, mich umzudrehen und einen Weg hinaus zu suchen, um mich auf den rissigen Beton zu stellen und die kalte Nachtluft einzuatmen.
Zuhause stand ich oft auf dem kleinen Balkon und starrte in die Stadt unter mir. Alles leuchtete und stank und war viel zu laut. Zu viele Menschen und Vampire, die sprachen und lachten und andere Geräusche machten. Zuviel Müll, zu viele Körper und nicht genug Platz. Hier war alles weit und offen.
Alec war lautlos neben mich getreten und sah ebenfalls hinaus.
„Ich liebe diese Zeit. Wenn ich schon wach bin.“
Ich nickte verstehend. Man fühlte sich, als sei man der einzige Mensch auf der Welt.
Eine Weile blieben wir einfach stehen und sahen in die überwucherte alte Welt hinaus. Ich konnte Alecs Anwesenheit beinahe körperlich spüren. Es störte mich nicht.
Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal neben jemandem gestanden und nicht den Drang verspürt hatte, die Flucht zu ergreifen. Selbst die wenigen Vampire zuhause, die ich vielleicht, unter gewissen Umständen, als Bekannte bezeichnet hätte, sollten mir bitte nur nicht zu nahe kommen.
Als der Himmel sich in einem schmutzigen Rosa färbte, räusperte ich mich und trat vom Fenster weg. Es war Zeit zu gehen. Ich sollte hier nicht länger bleiben als nötig.
„Ich hole dir etwas, wo du deine Sachen hineintun kannst.“, sagte Alec und seine Stimme war belegt, weil wir so lange nicht gesprochen hatten.
„Danke.“
Ich ging zur Wäscheleine und begann meine Kleidung abzunehmen. Meinen Mantel zog ich über die fremden Sachen, in der Hoffnung in Blackfall nicht aufzufallen, weil die Sachen alt und abgetragen waren. Hier schien es niemanden zu stören. Alle trugen Kleidung, die schon bessere Tage gesehen hatten und teilweise fleckig oder verschlissen waren.
Wahrscheinlich hatten sie wichtigere Dinge, mit denen sie sich beschäftigen mussten, als wie gut in Schuss ihre Garderobe war. Überleben zum Beispiel. Ich fühlte mich mies bei dem Gedanken daran, dass ich zurück in mein Leben gehen konnte, das im Gegenteil hierzu lächerlich leicht erschien.
Alec brachte mir einen alten Rucksack.
„Ich habe dir noch eine Flasche Wasser eingepackt und etwas Brot. Ich weiß nicht, wie weit du es zurück hast, aber ich hoffe es hilft.“
Ich spürte Scham in mir aufsteigen dafür, dass ich ihn belogen hatte. Ich brauchte die Sachen nicht und nahm sie trotzdem, um keinen Verdacht zu erzeugen.
„Danke.“
Er zuckte nur mit den Schultern und beobachtete, wie ich meine Kleidung in den Rucksack stopfte. Dann begleitete er mich hinaus bis vor den Eingang der Schule.
„Dann... gute Heimreise. Und danke nochmal.“
Er stand vor mir und kratzte sich mit der linken Hand am Hinterkopf, seine blonden Haare wehten in der viel zu kalten Brise. Er sollte wieder nach drinnen gehen.
Ich zuckte die Schultern.
„Danke, dass ich die Nacht hier verbringen durfte.“ Was nicht nötig gewesen wäre.
„Keine Ursache. Wenn du in der Gegend bist, bist du immer willkommen.“
Er hielt mir seine rechte Hand hin. Für einen Augenblick starrte ich nur darauf, dann ergriff ich sie schnell, bevor es seltsam wurde und er zurückziehen konnte.
Mein Körper versteifte sich automatisch, doch der Ekel blieb aus. Kurz hielt Alec meine Hand fest, dann löste er seine.
„Also, vielleicht sieht man sich.“ Er steckte seine Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern hoch. Er sollte wirklich reingehen, bevor er sich erkältete.
„Ja. Auf Wiedersehen.“, hörte ich mich selbst sagen, nicht wissend, was es bedeutete und dann drehte ich mich um und ging in Richtung Norden, um meine Lüge aufrecht zu erhalten.
Sobald ich außer Sichtweite war, würde ich einen Bogen um die Schule machen und zurück nach Blackfall laufen.
Alec
Der Wind nahm zu und peitschte um meine Ohren, als ich vor dem Lager stand und zusah, wie Nemis verschwand. Ich fragte mich, ob ich ihn je wiedersehen würde. Wahrscheinlich nicht. Etwas in meiner Brust zog sich bei dem Gedanken daran zusammen.
Als mir mein Atem in kleinen Wolke entwich drehte ich mich um und ging wieder hinein.
Die anderen wachten gerade alle nach und nach auf und Sebastian, der Wache gehalten hatte, war auf dem Weg zu den Schlafräumen.
Ich ging hinauf, um mich für den Tag umzuziehen. Ich würde vermutlich nicht rausgehen, wollte aber nicht in der Jogginghose und dem Langarmshirt bleiben, die ich zum schlafen trug. Im Schlafraum nickte ich Kris zu, der sich gerade aufgesetzt hatte.
„Habe ich geschnarcht?“, fragte er und fuhr sich durch die Haare.
„Ja.“ Ich lachte.
Dann flog von rechts ein Kissen und traf Kris am Kopf.
„Ich finde du solltest im Lager schlafen. Herrgott nochmal, es ist nicht auszuhalten!“ Beth schnaubte und stand auf.
„Entschuldige.“, murmelte Kris und stieg ebenfalls aus dem Bett.
Ich grinste, als ich mich umdrehte, um mich mit dem Rücken zu ihnen umzuziehen. Aber Beth hatte Recht. Leute wie Kris sollten ein eigenes Schlafzimmer haben. Alle sollten das.
Der Gedanke, ein kleines Reich nur für mich zu haben, war überwältigend. Einen Raum, in dem ich mich nicht schämen musste, wenn ich mich umzog, in dem ich im Sommer ohne Shirt schlafen konnte. Und Kris und alle anderen Schnarcher würden niemanden stören. Mal ganz abgesehen davon, dass die wenigen Paare, die wir hier hatten, sich zurückziehen konnten, ohne dafür eins der Lager in Beschlag zu nehmen oder raus in die Wildnis gehen zu müssen.
Wir hatten bereits darüber gesprochen und die meisten waren auch dafür, dass wir einen weiteren Teil der Schule öffneten und die jetzigen Schlafräume teilten. Ich musste nochmal mit Abby sprechen.
Beim Frühstück traf ich Abby und Joseph am Tisch mit Ezra und Sascha.
„Ist unser Besuch schon abgereist?“, fragte sie, als ich mich mit meinem Teller neben sie setzte.
„Ja, er hat ein Lager irgendwo nördlich.“
„Was hat er denn draußen gemacht?“, fragte Ezra und schaufelte sich Rührei in den Mund. Neben mir tauchte Hen auf und kicherte, als sie ihre kurzen Arme um meinen linken Arm schlang.
„Guten Morgen, Alec.“
„Guten Morgen, Hen.“ Ich drückte ihr einen Kuss auf ihre blonden Locken. „Schon gegessen?“
„Ja, alles aufgegessen. Tobey und ich wollen jetzt eine Schatzsuche machen.“ Sie sah mir verschwörerisch ins Auge.
„Vielleicht finden wir was super, super tolles.“
„Ganz bestimmt. Aber seid vorsichtig.“ Noch bevor ich die Worte ausgesprochen hatte, war sie los gedüst, um Tobey, der an den Tisch getreten war und sich kurz an seine Mutter schmiegte, am Arm zu packen und hinaus zu ziehen.
Wir lachten und sahen den beiden hinterher.
„Abby.“, begann ich dann, als alle sich wieder ihrem Frühstück widmeten. „Wir sollten nochmal über die Schlafräume reden.“
„Gut, dass du es sagst, Alec!“ Sasha zeigte mit ihrer Gabel auf mich.
„Ich will endlich einen Raum nur für uns. Die Gabel flog zu Ezra und dann zeigte sie auf sich selbst.
Sie und Ezra schliefen im ersten Schlafraum und hatten zwei Betten aneinander geschoben und die Beine mit Seilen verbunden, damit sie nicht auseinander rutschten.
Abby atmete tief ein.
„Ich denke, es wird wirklich Zeit, diese Sache in Angriff zu nehmen. Alec, könntest du aufschreiben, wie viele Räume wir brauchen?“ „Sicher.“, brachte ich mit vollem Mund hervor. Endlich. In Gedanken stand ich schon in meinem eigenen Zimmer.
Ich grinste.
*
Später saß ich in der Mensa und schrieb die Namen aller Bewohner auf.
„Kann ich dir helfen?“ Hen stand plötzlich auf der anderen Seite des Tisches.
„Klar.“ Ich nickte zum Stuhl.
„Setz dich. Du kannst die Namen ausschneiden.“ Ich schob ihr das erste Blatt Papier zu und die Schere.
Sorgfältig begann sie die Namen auszuschneiden und in zwei Reihen auf den Tisch zu legen.
Als sie auch die Bewohner, die auf dem zweiten Blatt standen ausgeschnitten hatte, sah sie mich abwartend an.
„Also, es geht darum, dass jeder ein eigenes Zimmer bekommen soll.“, erklärte ich.
„Aber ich will mit Robyn in ein Zimmer.“ Hen weitete die Augen.
Ich nickte.
„Natürlich. Ein paar Leute wollen zusammen bleiben. Deshalb legen wir jetzt alle zusammen, die ein gemeinsames Zimmer brauchen.“
„Ok!“ Hen griff sofort nach ihrem Namen und legte ihn zu Robyns. Ich lächelte und mein Herz schmolz. Wir hatten früh begonnen ihr Lesen und Schreiben beizubringen und vieles konnte sie schon lesen, wie die Namen.
„Tobey kommt zu Ezra und Sasha.“, sagte sie und legte auch diese drei Zettel zusammen.
Wir schoben ein paar hin und her, legte alle einzelnen untereinander.
„Chloe und Sutton wollen bestimmt auch zusammen in ein Zimmer. Die küssen sich immer.“, sagte das Mädchen und legte die beiden Namen zusammen.
Ich kicherte. Ja, die beiden Frauen konnten kaum die Hände voneinander lassen.
„Was ist mit dir, Alec?“
Ich sah auf den Schnipsel mit meinem Namen.
„Ich kriege ein eigenes Zimmer.“
„Aber ist das nicht einsam?“ Ihre grünbraunen Augen sahen mich an und ich atmete gerührt ein.
„Ach was. Ich bin froh, wenn ich Kris' Schnarchen nicht mehr hören muss.“, antwortete ich und zwinkerte ihr zu. „Das habe ich gehört!“, kam es von irgendwo hinter mir und Hen und ich brachen beide in Gelächter aus.
„Ok.“, sagte sie dann und schob meinen Namen zu denen, die ein Einzelzimmer bekommen sollten. „Aber wenn du zu einsam bist, dann sagst du mir Bescheid und ich übernachte bei dir.“ Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus, als ich ihr lächelnd zunickte, unfähig zu antworten, ohne dass mir Tränen in die Augen treten würden.
Still beendeten wir die Arbeit und schrieben auf, dass wir sechzehn Schlafräume brauchten.
Tobey tauchte neben uns auf und überredete Hen zum Spielen. Ich scheuchte sie davon, nahm meinen Zettel mit den Notizen und ging nach oben, um mir einen Überblick zu verschaffen. Alle Schlafräume waren in etwa gleich groß. Es waren früher Klassenräume gewesen. Ich ging den ersten Raum der Länge nach ab und zählte meine Schritte. Bei einem Drittel blieb ich stehen. Dann ging ich weiter und blieb nochmal stehen.
Wenn wir die Räume in jeweils drei kleine Zimmer teilten, benötigten wir nur einen weiteren. Ich überlegte und ging dann über den Flur, um mir das kleine Lager anzusehen, in dem wir kaum etwas lagerten. Hier könnte man zwei Zimmer einrichten.
Ich zählte nochmal und schrieb alles auf.
Abby kam gerade von unten hoch, als ich wieder auf den Flur traf.
„Abby, perfektes Timing.“ Ich wedelte mit dem Papier.
„Wenn wir die Schlafräume teilen und das kleine Lager umbauen, passt es für alle.“
„Du bist schon fertig?“, fragte sie und lachte.
Sie nahm mir den Zettel ab und sah sich die Aufteilung an, die ich gezeichnet hatte. Dann nickte sie.
„Sieht gut aus. Du solltest mit Phil und Taylor sprechen, ob wir genug Holz und andere Sachen haben, die wir nutzen können, um die Wände zu ziehen.“
Ich nickte.
„Wahrscheinlich müssen wir in die anderen Teile der Schule. Ich denke da wird noch genug sein, das wir nutzen können.“
Abby drückte kurz meinen linken Oberarm und lächelte mich an.
„Danke Alec. Die Leute werden sich freuen, bald mehr Privatsphäre zu haben.“
Nemis
Nachdem mein Heimweg länger gedauert hatte, weil ich den Umweg hatte nehmen müssen, kehrte das Gefühl der Enge in meiner Brust zurück, als ich durch das Tor trat.
Der Geräuschpegel war unerträglich und ich schlängelte mich durch die Straßen, bis ich an dem Gebäude angekommen war, in dem sich meine Wohnung befand. Ich schleppte mich sechs Stockwerke hinauf durch das Treppenhaus. Auf keinen Fall würde ich den Fahrstuhl benutzen, die Knöpfe drücken, die so viele andere gedrückt hatten.
In meiner Wohnung zog ich meinen Mantel und die Stiefel aus. Ich sah an mir herunter. Lohnte es sich, die Sachen, die ich trug, zu waschen? Ich würde sie ohnehin nicht behalten. Ich sollte sie einfach wegwerfen.
Vielleicht kommst du ja irgendwann wieder vorbei und kannst sie uns zurück geben, hatte Alec gesagt. Mein Zeigefinger fuhr nervös an meinem Daumen auf und ab. Vielleicht sollte ich sie wirklich zurückbringen. Was für ein Arsch wäre ich, die Sachen einfach zu behalten, wo ich sie gar nicht brauchte? Ich hatte mehr als genug und die Leute im Lager hatten so wenig.
Ich würde die Sachen waschen, beschloss ich. Über das wie und wann ich sie zurückbringen würde, konnte ich mir noch keine Gedanken machen.
Nach einer ausgiebigen Dusche saß ich halb angezogen auf meinem Bett und starrte auf meine Füße. Sie steckten in schwarzen Socken, meine Beine waren nackt bis zu der Boxershorts, die ich trug. Ich hatte ein T-Shirt angezogen und rieb mir gedankenversunken mit dem Handtuch durch die Haare. Dann stand ich auf und öffnete die Tür zu dem kleinen Balkon.