Stephanasville - Jacqueline Kiara Nele Barnett - E-Book

Stephanasville E-Book

Jacqueline Kiara Nele Barnett

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Beschreibung

Willkommen in Stephanasville, einer beschaulichen Kleinstadt! Die Spezialklinik dort hat es jedoch in sich. Neben den üblichen Operationen werden in einem Konferenz-Trakt Leute behandelt, die Verbrechen begangen haben, die vom geltenden Rechtssystem nicht bestraft werden. Auch vor religiösen Heuchlern und geistlichen Blindgängern wird hier nicht Halt gemacht. Das merkt auch Bridget, die sich hilfesuchend an die Klinik wendet und merken muss, dass sie in ein jahrzehntealtes Verbrechen tiefer involviert ist, als ihr lieb ist.

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Über die Autorin:

Jacqueline Kiara Nele Barnett schreibt seit ihrer Jugend. Sie wirkt bei Lesungen und Anthologien mit. Im Internet wurden ihre Werke von verschiedenen Plattformen bereits mit Preisen ausgezeichnet.

Bei BOD erschien bereits ihr erotischer Roman „Himmel voller Leidenschaft“

Alle in „Stephanasville“ beschriebenen Personen und Geschehnisse sind frei erfunden und absolut fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden und gestorbenen Personen und tatsächlichen Ereignissen sind rein zufällig.

„Ich ermahne euch aber, Brüder und Schwestern: Ihr kennt das Haus des Stephanas, dass sie die Erstlinge in Achaia sind und sich selbst in den Dienst der Heiligen gestellt haben. Ordnet auch ihr euch solchen unter und allen, die mitarbeiten und sich mühen! Ich freue mich über die Ankunft des Stephanas und Fortunatus und Achaikus; denn wo ihr mir fehltet, haben sie euch ersetzt. Sie haben meinen und euren Geist erquickt. Erkennt solche Leute an!“

Aus der Bibel (Übersetzung nach Martin Luther),

1. Korinther 16, Verse 15 bis 18

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Kapitel Vierundzwanzig

Kapitel Fünfundzwanzig

Kapitel Sechsundzwanzig

Kapitel Siebenundzwanzig

Kapitel Achtundzwanzig

Kapitel Neunundzwanzig

Kapitel Dreißig

Kapitel Einunddreißig

Kapitel Zweiunddreißig

Kapitel Dreiunddreißig

Kapitel Vierunddreißig

Kapitel Fünfunddreißig

Kapitel Sechsunddreißig

Kapitel Siebenunddreißig

Kapitel Achtunddreißig

Kapitel Neununddreißig

Kapitel Vierzig

Kapitel Einundvierzig

Kapitel Zweiundvierzig

Kapitel Dreiundvierzig

Kapitel Vierundvierzig

Kapitel Fünfundvierzig

Kapitel Sechsundvierzig

Kapitel Siebenundvierzig

Kapitel Achtundvierzig

Kapitel Neunundvierzig

Kapitel Fünfzig

Kapitel Einundfünfzig

Kapitel Zweiundfünfzig

Kapitel Dreiundfünfzig

Kapitel Vierundfünfzig

Kapitel Fünfundfünfzig

Kapitel Sechsundfünfzig

Kapitel Siebenundfünfzig

Kapitel Achtundfünfzig

Kapitel Neunundfünfzig

Kapitel Sechzig

Kapitel Einundsechzig

Kapitel Zweiundsechzig

Kapitel Dreiundsechzig

Kapitel Vierundsechzig

Epilog

Prolog

Als Bridget Siewert am 5. Mai 2020 die Hauptstraße entlangging, merkte sie, dass sie diese Stadt kannte. Gut kannte. Aber woher? Eigentlich wohnte sie in Augsburg und sie konnte sich nicht erinnern, wann sie jemals in Stephanasville gewesen war.

Sie erkannte den großen Platz wieder, auf dem einmal ein großer Supermarkt gestanden hatte. Daran erinnerte sie sich. Sie sah den Supermarkt vor ihrem geistigen Auge – so, als wäre sie erst gestern dort gewesen. Aber wo war dieser Supermarkt jetzt?

Vielleicht würde Bridget das später herausfinden. Es wäre sinnvoll gewesen, sie hätte sich vor ihrer Reise nach Stephanasville genauer im Internet über diese Stadt informiert.

Sie schritt zu dem Platz, an dem sich ein imposantes Gebäude befand. Es war nicht weit vom Bahnhof entfernt.

Modern und ansprechend wirkte es. Ein weißer Bunker mit vielen Fenstern. Eine der besten Kliniken für Hals-, Nasen- und Ohrenleiden sowie kompetent in Kieferchirurgie. Die Stephanas-Klinik.

Schnell setzte sich Bridget ihren blau-weiß-gestreiften Mund-Nasenschutz auf, also eine Maske aus Stoff, die während der 2020 herrschenden Corona-Pandemie einfach unerlässlich war. Anschließend zog sie ein Einladungsschreiben aus ihrer Handtasche und ging durch die Eingangstüre der Klinik.

Die blonde Dame an der Anmeldung nahm das Schreiben und überflog es.

„Sie sind Teilnehmerin an der Konferenz mit Doktor Müller? Dann gehen Sie rechts, dann links den langen Gang entlang, dann wieder rechts, bis Sie in den Trakt mit der Aufschrift ‚Konferenz‘ kommen. Sie werden dort schon erwartet!“

Bridget nickte. Rasch schritt sie durch die Gänge und klingelte schließlich an der Glastür, auf der mit großen Lettern „Konferenz“ stand.

Eine Dame mit braunen lockigen Haaren öffnete. Ihr Gesicht konnte Bridget nicht sehen, denn auch sie trug einen bunten Mund-Nasenschutz mit Elefanten darauf. Lustigen Elefanten, fand Bridget.

„Frau Siewert, schön, dass Sie da sind! Sie haben uns den Fall Hagelkorn gemeldet?“

Bridget nickte.

„Okay, kommen Sie mit! Mein Name ist Melinda Grünwald. Ich werde Sie mit den Regeln hier bekannt machen! Einen Mund-Nasenschutz tragen Sie ja schon, das ist in Ordnung!“

Sie gingen einen langen Gang entlang. Frau Grünwald öffnete die Türe zu einem modernen Zimmer. Helle Möbel, weiße Wände, nicht einmal ein Bild an der Wand. Steril wirkte der Raum, wie in einem Krankenhaus, dachte Bridget.

„Darf ich Ihren Ausweis sehen?“, fragte Melinda Grünwald.

Bridget zog ihren Personalausweis aus ihrer Handtasche und reichte ihn Frau Grünwald.

„Ich scanne ihn ein für unsere Unterlagen. Ich muss Ihnen das sagen.“

„Okay“, lächelte Bridget unter ihrer Maske. „Ich habe nichts dagegen!“

Schnell war der Scan erledigt, und Bridget steckte ihren Personalausweis wieder ein.

„Ihre Krankenkassenkarte brauche ich auch noch!“

Bridget stutzte. Die Krankenkassenkarte? Warum denn?

„Das war im Einladungsschreiben vermerkt!“ Frau Grünwald wurde fast ungeduldig. „Haben Sie die Krankenkassenkarte dabei oder nicht?“

„Ja, doch, ich habe sie dabei!“ Bridget reichte Frau Grünwald die Krankenkassenkarte. Frau Grünwald steckte diese in ein Kartenlesegerät, drückte ein paar Tasten auf ihrem Computer – und auf dem Bildschirm erschienen einige Krankenberichte.

Bridget wunderte sich, wagte aber nicht nachzufragen, warum sie diese Karte vor der Teilnahme an einer Konferenz zeigen sollte.

Doch Frau Grünwald ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. Sie überflog einen Arztbericht über eine Darmspiegelung, die Bridget vor drei Jahren hatte machen lassen. Dann einen Bericht über eine Mammografie-Untersuchung in einer Röntgenpraxis. Es gab viele Dokumente über Bridget, zumindest empfand sie das so. Geschrieben von vielen Ärzten.

„Wie geht es Ihnen gesundheitlich? Irgendwelche Probleme?“

„Nein“, Bridget schüttelte den Kopf. „Aber – warum fragen Sie mich das?“

„Reine Routine“, erklärte Frau Grünwald. „Wir checken immer den Gesundheitszustand unserer Konferenzteilnehmer! Welche Operationen haben Sie hinter sich?“

Sie händigte Bridget ein Formular aus. „Tragen Sie bitte jede Operation ein!“

Bridget runzelte die Stirn. Operationen angeben vor einer Konferenz fand sie reichlich merkwürdig, sie sagte aber nichts dazu. Fieberhaft überlegte sie, trug Operationen, die ihr einfielen, in das Formular ein und reichte es Frau Grünwald.

Diese überflog es – war aber nicht ganz zufrieden.

„Was haben Sie hier am Hals? Diese beiden Narben?“ Frau Grünwald hatte zwei Narben an Bridgets Hals entdeckt, nahm eine Lupe und schaute sich diese Narben genauer an. „Was war da? Was ist Ihnen hier passiert?“

Bridget schluckte. „Sie werden es mir nicht glauben, aber ich kann mich nicht erinnern, woher diese Narben kommen. Eines Tages waren sie da. Ich habe mich auch schon gewundert, habe mir den Kopf darüber zerbrochen, aber…“

„Okay, gehen Sie kurz ins Nebenzimmer. Ich gebe Ihnen den Konferenzvertrag zum Durchlesen. Ein Exemplar unterschreiben Sie bitte und geben es mir wieder, das andere ist für Ihre Unterlagen! Etwas zu trinken gibt es auch. Wenn Sie trinken, dürfen Sie Ihre Maske absetzen. Ich komme gleich wieder und hole Sie ab! Dann machen wir weiter mit dem Aufnahmegespräch!“

Mit einer hektischen Handbewegung öffnete Frau Grünwald eine dicke, gepolsterte Türe. Eine Türe, die nur von außen zu öffnen war. Sie führte in einen Raum mit einem gemütlichen Sofa und einem Sessel. Bridget trat ein, ließ sich im Sessel nieder und schenkte sich Mineralwasser in ein Glas. Beides stand auf einem Tisch. Irgendwoher klimperte angenehme Instrumentalmusik.

Bridget nahm ihre Maske ab und nippte an dem kühlen Getränk. Ja, das konnte sie jetzt gut gebrauchen! Ohne Maske fühlte sie sich frei. Wehmütig dachte sie an die Zeit vor dem März 2020 zurück – an die Zeit vor der Corona-Pandemie.

Das war eine Zeit wie aus einem anderen Leben.

Frau Grünwald schloss die Türe, setzte sich wieder an ihren Computer und rief einen Arztbrief auf, den Bridget nie bekommen hatte – der aber von Bridget handelte. Aufmerksam las Frau Grünwald, was darin stand.

Dann wählte sie eine Nummer am Telefon.

„Hallo – ja, ich bin’s, Melinda Grünwald! Haben Sie Zeit? Es ist wichtig. Ich habe hier eine Konferenzteilnehmerin, die schon einmal bei uns war.“

Eins

Bevor Stephanasville zu seinem Namen kam, hieß es Wallkingen und war eine beschauliche und eher langweilige Kleinstadt in Süddeutschland.

Niemand konnte sagen, wann genau Wallkingen Stadtrechte bekommen hatte. Es musste irgendwann im Mittelalter passiert sein. Historiker vermuteten, dass um 1220 ein Herzog oder Graf diesen Ort zur Stadt erhoben hatte.

Wallkingen genoss seinen Stadt-Status. Und das mit nur 12.600 Einwohnern. Es gab ein Gymnasium dort, eine Realschule, eine Hauptschule und mehrere Grundschulen. Außerdem erfolgreiche Firmen, die immer wieder ihre Geschäftskunden nach Wallkingen einluden. Geschäftskunden, die Hotelzimmer buchten, in den Läden einkauften und in den vorhandenen Restaurants speisten.

An Freizeitmöglichkeiten gab es nicht viel. Lediglich ein Freibad und ein paar Turnvereine. Außerdem einen Fußballclub, der in der untersten Regionalliga spielte.

Seit einigen Jahren traten immer wieder Musikgruppen und Sänger in der Stadthalle oder im örtlichen Heimatmuseum auf. Ab und zu gab es auch eine Theateraufführung. So versuchte man, die Einwohner Wallkingens bei Laune zu halten.

Ein Grund, vielleicht nach Wallkingen zu kommen, war der gute Wein, der auf vielen Weinbergen rund um die Stadt angebaut wurde. Da viele der Weinsorten auch über die Stadtgrenzen hinaus bekannt waren, konnte man sie ebenfalls in den Supermärkten der Nachbarorte kaufen.

Ungeahntes Interesse an Wallkingen entstand allerdings, als die Stephanas-Klinik gebaut wurde. Einige der dort praktizierenden Ärzte waren namhafte Hals-Nasen-Ohrenärzte und Kieferchirurgen, die immer wieder fundierte Artikel in Medizinzeitschriften veröffentlichten. Artikel, die in der ganzen Welt gelesen wurden.

Bei der Namensgebung der Klinik orientierte man sich bewusst an einer Stelle aus dem Korintherbrief im Neuen Testament der Bibel. Dort wurde von einem Mann, namens Stephanas, berichtet. Er hatte eine leitende Position inne und diente anderen Menschen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Er gehörte also nicht zu den Leitern, die der Meinung sind und waren:

„Wenn ich Leiter bin, dann kann ich kommandieren.“

Nein, Stephanas war anders. Jesus war sein Vorbild und er wollte nicht hinter ihm, sondern neben ihm stehen. So, wie Paulus es vorgeschlagen hatte.

Stephanas erntete nicht nur Lob von seinen Mitmenschen für das, was er machte. Aber er war jemand, der Gott mit seinem Verhalten Ehre gab. Er war jemand, dem man für sein Verhalten hätte Respekt und Anerkennung zollen müssen.

Sicherlich wurde Stephanas von vielen Menschen geschätzt, aber von manchen auch nicht. Aber das störte ihn nicht, denn er sah sich als Person, die von Jesus in eine leitende Position eingesetzt worden war.

Genau das schätzten die Ärzte, die die Stephanas-Klinik gründeten an Stephanas und deswegen benannten sie ihre Klinik nach ihm.

Vielleicht war das der Grund, warum Wallkingen ab 2003 in „Stephanasville“ umbenannt wurde.

Zwei

Dass Stephanasville seine Tücken und Schwächen hatte, merkte Constanze Monday, als sie 2007 dorthin zog. Sie hatte vorher in einem anderen Landkreis gewohnt, in einer Kleinstadt, in der sie sich wohlfühlte, in der sie willkommen war. Einer Kleinstadt, die alle Leute so nahm, wie sie waren.

Dort hatte sie in einer Maschinenfabrik gearbeitet, in einem Job, den sie liebte. Export und Fremdsprachen – ja, das waren ihre Passionen, und denen konnte sie in diesem Job frönen. Allerdings fehlte zum persönlichen Glück noch ein Mann. Einer, der ihr gefiel, wohnte in Stephanasville. Er hieß Rainer.

Constanze liebte und heiratete ihn. Sie zog zu ihm nach Stephanasville.

Neue Ärzte suchen, sich eingewöhnen, einen neuen Job suchen – das fand Constanze nicht ungewöhnlich – und das würde sie nach ihrem Umzug nach Stephanasville auch meistern. Schwieriger war es jedoch, Freunde zu finden. Stephanasville war eine eingeschworene Gemeinschaft – und „Neubürger“ waren bei vielen Menschen nicht willkommen.

Auch bei den beiden großen Kirchen nicht. Vor Jahren war Constanze aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Aber nun war sie bereit, wieder dort einzutreten. Wenn sie dort willkommen war.

Um das herauszufinden, suchte sie einen Hauskreis.

Hauskreise – oder auch Hausbibelkreise – sind Gruppen von Menschen, die sich in bestimmten Zeitabständen treffen, um in der Bibel zu lesen, ein Buch der Bibel oder einen Predigttext zu besprechen. Man pflegt dort Gemeinschaft, tauscht sich über geistliche Inhalte aus und lernt sich so besser kennen.

Genau solch einen Kreis wollte Constanze mit ihrem Mann in Stephanasville besuchen und sie freute sich darauf.

Drei

Ratlos stand Constanze an einem Samstagabend im August 2007 vor ihrem Kleiderschrank und begutachtete ihre Garderobe. Was nur sollte sie heute Abend anziehen? Heute wollte sie ihr Mann Rainer mitnehmen in einen Hausbibelkreis in Stephanasville - zum ersten Mal.

“Britta hat diesen Hausbibelkreis in den höchsten Tönen gepriesen. Anscheinend nimmt man dort gerade ein christliches Arbeitsbuch zum Thema ‚Beziehungen’ durch“, pries Rainer den Hausbibelkreis an, während seine Augen leuchteten wie frisch polierte Aquamarine. “Die Leute dort sind riesig nett, ich kenne einige schon seit mindestens zwanzig Jahren.“

Sie glaubte ihm. Denn sie war neu in Stephanasville. Es wurde Zeit, Menschen kennen zu lernen, sich einen Bekanntenkreis aufzubauen. Warum nicht mit einem Hausbibelkreis anfangen? Immerhin war Constanze bereits seit elf Jahren entschiedene Christin, und sie lechzte danach, neben dem sonntäglichen Kirchenbesuch auch mit einigen “Mitstreitern im Glauben” über die Bibel zu diskutieren - vielleicht neue Anstöße mitzunehmen für die kommende Woche.

Sie betrachtete gedankenverloren ihre Fingernägel. Sollte sie diese mit ihrem Weißchromnagellack anstreichen - der neueste Schrei?

Sie verwarf diesen Gedanken. Als Christin sollte man dezent auftreten - das hatte schon Pastor Blaufuss aus der evangelischmethodistischen Kirche in ihrem vorherigen Wohnort gepredigt. Also: sittsam und gut angezogen sein, aber nicht zu viel Haut zeigen und nicht zu grell schminken!

Deshalb ließ sie die Nägel blassrosa, wie sie von Natur aus waren.

Nachdem sie sich für eine dezent blau-verwaschene Jeans und ein saloppes giftgrünes T-Shirt mit der Aufschrift “Wer Jesus nicht kennt, der pennt” entschieden hatte, bürstete sie ihre glatten kastanienbraunen Haare durch und flocht sie zu einem braven Zopf.

So war auch ihre Mutter während ihrer Jugendzeit im Ostsudetenland herumgelaufen, erinnerte sie sich vage.

Rainer hatte sich ebenfalls schon fertig angezogen. Er trug eine Jeanshose, die ganz oben am linken Hosenbein etwas durchgescheuert war und nach einer Reparatur schrie. Jedoch liebte Rainer diese Jeanshose heiß und innig und wollte sie wegen dieses kleinen Schönheitsfehlers nicht in den Altkleidercontainer werfen oder als Missionsspende für bedürftige Christen in Südamerika weggeben. Deshalb ließ er sich auch Zeit mit der Reparatur.

Ihm schwebte ein hübsches Aufbügelmotiv vor, das den Defekt vertuschen konnte. Aber ein solches Aufbügelmotiv konnte man in Stephanasville in keinem Laden kaufen - dazu musste man schon in die nächstgrößere Stadt fahren.

“Okay - ich bin soweit!”, lächelte Constanze und strahlte ihren Gatten voller Zärtlichkeit an.

Sein T-Shirt mit den grün-weißen Streifen gefiel ihr nicht. Außerdem hätte man es bügeln sollen. Aber sie wollte ihm seine gute Laune nicht verderben.

Gemeinsam liefen sie zu ihrem Auto - dem 16-Jahre-alten “Opel Ascona” - leider ohne KAT und deswegen mit hohen Steuern behaftet. Aber etwas Besseres konnten sie sich gerade nicht leisten. Zum Glück kostete der Besuch des Hausbibelkreises nichts.

“Es wird dir dort bestimmt gefallen!”, betonte Rainer noch einmal und küsste Constanze innig auf den Mund. Er küsste sie gerne, besonders im Gesicht, da ihre Haut dort so weich und rein war und weil er gerne seine Liebe zeigte.

Sie glaubte ihm. Aber sie wusste noch nicht, dass dieser Hausbibelkreis keine Seele hatte.

Vier

Staunend betrat Constanze an diesem Abend das schmucke Einfamilienhaus im Eukalyptusweg in Stephanasville. Rainer folgte ihr.

Schräg gegenüber durch das große Fenster im Wohnzimmer konnte man eindeutig die Umrisse der Friedhofskapelle ausmachen.

Ab und zu war ein vorbeifahrender Zug zu hören - entweder in Richtung der Landeshauptstadt oder aus dieser Stadt kommend. Allerdings konnte man sich schnell an diese Geräuschkulisse gewöhnen - erstaunt bemerkte Constanze, wie schnell sie im Laufe des Abends das Rattern des Zuges nicht mehr als störend empfand.

Dafür gab es andere Geräuschquellen, die sich als störend und lästig herausstellen sollten.

“Setzt euch hierhin!”, lächelte die Gastgeberin. Im Laufe des Abends hörte Constanze, dass es sich hier um die „sagenhafte“ Senta Funzel handelte. Senta, eine anmutige, aber etwas farblose Erscheinung mit langen Beinen, die sie in blauen Röhrenjeans versteckt hatte. Senta trug grundsätzlich keine Röcke, weil sie diese nicht mochte.

Ihr Oberkörper steckte in einer Karobluse aus den 1990er-Jahren. Sentas kurz geschnittene, schon mit einigen Silbersträhnen durchwebte schwarze Haare saßen im trendigen Bürsten-look auf ihrem Kopf.

Constanze sagte zur Begrüßung nichts außer einem hörbaren “Guten Abend!” Sie war auch bereit, mehr über sich zu erzählen, wenn das gewünscht war. Eine Antwort auf ihren Gruß bekam sie jedoch nicht.

Senta schien sie geflissentlich zu übersehen. Sie war nicht einmal interessiert, den Namen der “Neuen” im heutigen Hausbibelkreis herauszufinden. Wahrscheinlich genügte es, dass sie in Begleitung von Rainer aufgetaucht war. Rainer war in Stephanasville geboren und zur Schule gegangen. Jeder hier kannte ihn.

‚Aha, das ist also Rainers Frau‘, dachte Senta vielleicht und ließ es bei diesem Gedanken bewenden.

Weitere Personen tauchten auf. Eine kühle Blonde, deren Haare eindeutig gefärbt waren. Eine fetzige Brille klebte auf ihrer Stupsnase wie angenagelt.

Ihr folgte eine weitere blonde Dame, allerdings etwas zu kräftig. Jedoch schien sich diese sich nicht um ihr Gewicht zu scheren, sondern lachte lauthals über einen Witz, den ihre Begleiterin zum Besten gab:

„Gröl, grööööl, gacker, gacker!“

Die beiden schienen sich schon seit Jahrzehnten zu kennen und klebten zusammen wie siamesische Zwillinge.

Ansprechend wirkten diese gackernden Hühner, die wie Frauen aussahen, nicht, konstatierte Constanze. Aber nach ihrer Meinung über Anwesende fragte niemand.

Ein Herr erschien. Schwarzes Haar, randlose Brille, er trug ein weißes Hemd, schwarze Hosen und Krawatte.

Er wirkte exotisch in dieser Runde, die vorwiegend aus Frauen bestand.

„Ist das Wolf Funzel?“

„Ja, das ist er!“, antwortete Rainer lächelnd, während er sich mit einer der siamesischen Zwillingsfrauen unterhielt. Es ging um gemeinsame Bekannte. Bekannte, die Constanze nicht kannte – aber danach fragte niemand. Sie fühlte sich hier nicht willkommen.

Auf einmal klingelte es wieder an der Haustür. Constanze merkte schon am lauten Gackern, dass es sich hier nur um Frauen handeln konnte.

„Gröl, grööööl, gacker, gacker!“

Als „Gänse“ hätte Constanzes Vater diese Frauen bezeichnet. Und Constanze fand, dass er recht hatte.

Drei weitere Damen erschienen - zwei mit braunen Haaren und Brille, eine mit Afrolook und einer Gitarre.

Für Constanze waren das alles nur Gesichter. Niemand hielt es angebracht, zu Constanze zu gehen und sie als Neuankömmling zu begrüßen oder sich ihr wenigstens vorzustellen.

Nein, sie waren mit sich selbst beschäftigt. Plauderten und lachten.

„Gröl, grööööl, gacker, gacker, gacker!“

Herzlichkeit sah anders aus. Wo war Constanze hier nur gelandet? Und das war wirklich der heißgeliebte Hausbibelkreis, von dem Rainer so schwärmte? Lag hier nicht ein Irrtum vor?

Constanze beobachtete Rainer, der links neben ihr in einem lilafarbenen Liederbuch blätterte und angestrengt nach einem erbaulichen Liedtitel suchte. Ihn schien es nicht zu stören, dass die Teilnehmer des Hausbibelkreises Constanze bisher weitgehend ignorierten.

Alle hatten sich um einen runden Tisch platziert. Verschlüsse von Mineralwasserflaschen zischten laut, als sie geöffnet wurden. Prickelndes Mineralwasser floss in einige Gläser und wurde von den Teilnehmern mit fruchtigem Orangensaft oder Apfelsaft verfeinert oder auch nicht.

“Wer hat einen Liedwunsch?” Senta lächelte und entblößte dabei ihre etwas gelblichen Zähne.

“Nummer 3.878!”, meldete sich Rainer.

“In welchem Liederbuch steht das?”, fragte irritiert die afrolockige Dame, die hektisch ihre Gitarre stimmte und ihr ein paar schräge Töne entlockte. Sie klangen, als ob eine Katze ihren Schwanz eingeklemmt hatte.

“Das Lied heißt: ‘Jesus, du bist das Ölfeld in meinem geistigen Leben’ und steht im lilafarbenen Liederbuch!”, antwortete Rainer gehorsam. “Wenn du es nicht spielen kannst, suche ich gerne ein anderes Lied aus, Thusnelda! Das ist kein Problem!”

Aha, Thusnelda hieß also die afro-lockige Dame, bemerkte Constanze erleichtert. Immerhin eine Information mehr!

“Ich kann dieses Lied spielen!”, meinte Thusnelda und bemühte sich, ihre Gitarre mit ohrenbetäubendem Klimpern in die richtige Tonlage zu bringen. “Gut - probieren wir, dieses Lied zu singen!”

Fast alle stimmten in das Lied ein.

Alle – außer Constanze. Sie war erleichtert. Sie musste nicht mitsingen und tat es auch nicht. Erstens kannte sie das Lied nicht zweitens wusste sie deswegen nicht, wie man es sang. Aber war Gott es nicht egal, ob man falsch oder richtig sang? – Hauptsache, aus vollem Herzen.

Endlich herrschte Ruhe in dem geschmackvoll mit Antiquitäten eingerichtete Wohnzimmer, als der letzte Ton des Liedes verhallt war. Hektisch blätterten alle in einem von drei Liederbüchern, die “Jesus zur Ehre”, Band 4, Band 5 und Band 6, hießen.

Diese Liederbücher lagen in mehrfacher Ausfertigung auf dem Tisch.

Constanze wusste nicht, ob sie sich bemerkbar machen und in dieser bisher so kühlen Runde einen Liedwunsch äußern sollte.

“Nummer 8.973 aus dem grünen Liederbuch!”, meldete sich eine der bebrillten blonden Damen und nahm Constanze somit die Entscheidung ab.

Bevor Thusnelda wieder fragte, ob sie dieses Lied spielen konnte oder nicht, schaute sie lieber selbst nach. Beim zu hektischen Blättern fiel ihr allerdings das grüne Liederbuch auf den Boden. Mit knallrotem Kopf fischte sie es unter den etwas dicken Beinen der anderen bebrillten Blonden hervor, fiel dabei fast vom Stuhl und suchte dann nach Nummer 8.973 - einem Lied mit dem Titel “Du hast mich aus der Regentonne meiner Eintönigkeit gerissen, oh Herr!”

Auch hier sang Constanze nicht mit, denn sie kannte dieses Lied nicht.

“Entschuldigung, aber ich kenne dieses Lied nicht!”, protestierte Thusnelda. “Außerdem ist es gespickt mit zu vielen ‘DIS’ und ‘FIS’ - diese Töne sind sehr schwer zu spielen!”

“Aber ich kenne das Lied!”, widersprach eine der blonden siamesischen Zwillinge und fing an zu lachen.

„Gröl, gröööl, gacker, gacker!“

Dann sagte sie:

“Das Lied ist sooo toll! Ich habe es auf der Brasilien-Freizeit vor sechsdreiviertel Jahren gesungen! Warum wollt ihr dieses Lied nicht lernen?”

“Ja, kannst du das Lied auch auf der Gitarre begleiten, Klothilde?”, fragte Thusnelda und riss ihre großen blauen Augen erstaunt auf.

Aha – Klothilde hieß die eine Hälfte der “siamesischen Zwillinge”! Und - anscheinend nahm sie gerne an christlichen Freizeiten im Ausland teil.

Immerhin war das jetzt die zweite Information über diesen Hausbibelkreis für Constanze nach einer halben Stunde! Warum sickerten alle Informationen so spärlich durch? Warum benahm man sich gegenüber neuen Teilnehmern so unhöflich und nicht herzlich und christlich? Warum gab es keine Begrüßung und keine Vorstellungsrunde, in der man wie selbstverständlich Grundinformationen über sich selbst preisgab?

Zeichnete nicht das einen guten Hausbibelkreis aus und bot eine Grundlage zu einer guten Beziehung untereinander und gelungenem geistlichen Wachstum?

Aber Constanze wusste nicht genau, was einen guten Hausbibelkreis auszeichnete. Diese Gruppe bei Familie Funzel schien kein guter Hausbibelkreis zu sein, denn Constanze fühlte sich immer schlechter, je länger sie hier war.

Constanze schimpfte mit sich selbst. Man sollte nicht voreilig mit Kanonen auf Spatzen schießen. Das steht zwar so nicht in der Bibel, aber Jesus hatte sicher etwas Ähnliches gesagt, auch wenn Constanze sich an eine solche Bibelstelle auf Anhieb gar nicht erinnerte. Immerhin wurde sie als Jugendliche konfirmiert – und einige Glaubensgrundlagen kannte sie schon noch.

‚Sicherlich wird dieser Hausbibelkreis beim nächsten Mal vor Warmherzigkeit erblühen und alle meine Erwartungen erfüllen!‘, dachte Constanze fast schon spöttisch. Hatte nicht Rainer gesagt, dass alle Leute in dieser Runde entschiedene Christen seien?

Constanze bezweifelte jedoch immer mehr, dass sie lange diese Treffen besuchen würde.

Während Constanzes tiefgreifender Gedankengänge über den Sinn einer Vorstellungsrunde und eines herzlichen Willkommens neuer Besucher eines Hausbibelkreises hatte Thusnelda ihre Gitarre aus brasilianischem Buchenholz vorsichtig Klothilde umgehängt. Beherzt klimperte diese drauflos und versuchte, mit ihrer chorerprobten Sopranstimme die Gesangsrunde durch das Lied zu leiten. Dank der vielen “DIS” und “FIS” jedoch klang der Gesang eher wie Katzenjammer nach einer lange durchgezechten Nacht, und Constanze begann zu verstehen, warum Thusnelda es abgelehnt hatte, dieses Lied zu begleiten.

Man sang noch weitere Titel, zum Beispiel “Jesus, mein Fels in der Brandung” oder “Jesus, nur mit dir will ich meine Sandburg bauen”.

Endlich - nach fast einer Stunde Gesang - kramten alle Teilnehmer ihre Bibeln und ein Heft für Bibelkreise hervor, mit dessen Hilfe eine zentrale christliche Frage, nämlich “Beziehungen - sind wir eine Gemeinschaft oder sind wir eher gemein?”, geklärt werden sollte. Dieses Heft hatte Klothilde für alle in der hiesigen Buchhandlung bestellt und zum günstigen Preis von 5,99 Euro an alle Teilnehmer weiterverkauft.

An alle Teilnehmer? Ja, denn Constanze und Rainer teilten sich ein Heft.

Das erste Kapitel dieses Arbeitsheftes “Beziehungen - sind wir eine Gemeinschaft oder sind wir eher gemein?” befasste sich mit dem Beginn menschlichen Lebens auf dem Planeten Erde. Dem Beginn des menschlichen Lebens, wie ihn Gott, der Herr, geplant und durchgeführt hat, und nicht so, wie ihn die Darwinisten mit ihrer Evolutionslehre angeblich bewiesen haben.

“Schlagen wir einfach das erste Kapitel auf!”, schlug Senta vor, und ihr Mundgeruch waberte zu Constanze herüber. Warum merkte Senta das nicht und warum unternahm sie nichts dagegen?

Als Mit-Inhaberin dieser schmucken Eigentumswohnung in Bahnhofsnähe und als Gastgeberin war es für Senta selbstverständlich, Wortführerin zu sein.

“Wie ihr seht, fangen wir heute mit einem neuen Heft an. Einem Heft über Beziehungen. Ich hoffe doch, dass ihr alle nach dem Durcharbeiten der sieben Lektionen gestärkt und neu ermutigt alle Prüfungen im Leben bestehen könnt!”

Einige der Anwesenden kicherten.

„Gröl, gröööl, gacker, gacker!“

Constanze fand, dass in diesem Hausbibelkreis zu viel gelacht, gegrölt und gegackert wurde.

Was waren das nur für merkwürdige Leute? Es machte ihnen Spaß, Theater zu spielen, um arglose Leute „auf den Arm zu nehmen“.

Nach dem Durcharbeiten des ersten Kapitels dieses Heftes über Beziehungen würde man sich dem „eigentlichen Zweck“ dieses Abends widmen! Tratschen und klatschen – und über andere Leute, die nicht da waren, herziehen! Das hatte man sich schon vorgenommen, das war eine klare Sache!

Aber jetzt blickte Wolf die Kichernden strafend an. Man wollte die Rolle des „Hausbibelkreises“ doch anständig spielen – oder? Stille senkte sich wieder über die antiken Möbel, über die betretenen Gesichter der Anwesenden. Niemand getraute sich, etwas zu sagen. Oder niemand wollte etwas sagen.

Senta räusperte sich, denn nun hatte sie den Faden verloren. Aber wozu gab es denn clevere Arbeitshefte für Hausbibelkreise?

“Wenn ihr die Seite sechs aufschlagt, wird als Bibeltext erster Mose zwei, die Verse 18 bis 25, vorgeschlagen. Vielleicht solltet ihr diesen Text einfach lesen. Danach fahren wir fort, wie es in dem Arbeitsheft beschrieben ist!”

Erleichtert fuhr sich Senta durch ihre kurzen Haare, ließ wieder etwas Jauchengrubenmundgeruch in den Raum fahren, klimperte mit ihren 28 Armreifen in verschiedenen Gold- und Silbertönen und nippte geräuschlos an ihrem Glas “Autobahn- Quelle, das Mineralwasser mit dem leichten Geruch nach Motoröl”.

Constanze und Rainer beugten sich interessiert über das Arbeitsheft “Beziehungen - sind wir eine Gemeinschaft oder sind wir eher gemein?” Dabei fiel Constanze auf, dass Senta und Wolf das im Heft vorgeschlagene Anfangsritual geflissentlich übersprungen hatten.

Dort stand: “Erzählen Sie zur Einstimmung auf diese Lektion, was Sie heute erlebt haben!”

Constanze hätte einiges zu sagen gehabt - ihr Vater litt gerade an Gürtelrose, und sie hatte heute schon mit ihm telefoniert. Auch während des Einkaufens in Stephanasville hatte sie viel erlebt - ebenso später während des Spaziergangs in der Angebersiedlung, einem Stadtteil von Stephanasville.

Warum erzählte niemand aus der Runde seinen persönlichen Samstag?

Aber die anderen wollten nichts berichten. Lieber gackerten, grölten und kicherten sie.

„Gröl, gröööl, gacker, gacker!“

Constanze konnte dieses blöde Gelächter und Gegacker schon nicht mehr hören.

“Hat jemand eine Bemerkung zu den soeben verinnerlichten Bibelversen zu machen?”, schaltete sich Wolf mit seiner wohlklingenden Stimme in die Stille ein.

“Es geht um die Erschaffung von Mann und Frau - durch Gott!”, bemerkte Thusnelda geistesgegenwärtig und strich sich durch ihre Haare.

“Ja, genau!” Wolf lächelte entwaffnend. “Und diese Geschichte ist uns hinreichend bekannt. In unserer Lektion jedoch geht es um Beziehungen! Hier handelt es sich um eine der ersten Beziehungen bei Menschen - die zwischen Mann und Frau!”

‘Dämliches Geschwätz!’, schoss es Constanze durch ihre Gedanken. ‚Das merkt doch ein Kleinkind, dass es hier um Mann und Frau geht!‘

Britta, die sich Constanze ebenfalls nicht vorgestellt hatte, kicherte jetzt. Sie hatte die Gabe, gut zuzuhören und immer an der richtigen Stelle zu kichern. Ihr Lachen war nicht nur schrecklich, sondern furchtbar. So, als ob sie geistig hohl wäre. Constanze bezeichnete es als „Müllgrölen“.

Diesmal kicherte Britta über die Beziehungen zwischen Mann und Frau.

Constanze fand Britta rein optisch hübsch – aber mit ihrem Lachen konnte sie jeden Mann vergraulen! Vielleicht war sie deswegen Single.

“Ich schlage vor, ihr kümmert euch jetzt um die Fragen eins bis sieben auf Seite acht. Danach gehen wir zur Gruppenarbeit über!” Senta Funzel beugte sich ernst über ihr Heft, einige andere folgten ihrem Beispiel, wieder andere lachten und kicherten:

„Gröl, grööööl, gacker, gacker!“

Sie hatten gerade über ihre Nachbarn und den Schornsteinfeger gelästert.

Dieser Hausbibelkreis schien nur aus Gelächter, Ignoranz, Unhöflichkeit, flachen Bemerkungen und tiefem Schweigen zu bestehen, stellte Constanze fest. Wenn diese Leute tatsächlich Mitglieder der evangelischen Kirche waren, dann wollte sie – Constanze – nie mehr ein Mitglied der evangelischen Kirche werden!

Sie versuchte, sich auf die gestellten Fragen eins bis sieben zu konzentrieren.

“Stellen Sie sich vor, Sie müssten die Erschaffung Adams und Evas in einem Kinofilm festhalten. Welche der folgenden bekannten Schauspieler würden Sie für die Hauptrollen vorschlagen?”, las sie die Frage Nummer eins. Interessanterweise waren gleich einige Beispiele bekannter Namen angegeben, die man ankreuzen konnte.

Constanze beschäftigte sich mit der Männerliste. Ingolf Drückt? Nein, er erschien ihr als Adam zu aufgedreht!

Auch Arnold Schwarzwurzel schien nicht geeignet, den Adam zu spielen, obwohl er tolle Muskeln hatte.

Wie war es mit Jürgen neben der Schrippe, Ben Freilauf, Kevin Most oder Herwart Garfunkel? Der letztere war eindeutig zu alt für die Rolle - er könnte eher Abraham spielen. Ben Freilauf von einer Nachrichtensendung aus den öffentlich-rechtlichen Kanälen kannte Constanze zu wenig. Auch Kevin Rost war schon zu alt.

Schließlich entschied sich Constanze für Victor Prof und setzte in das Kästchen rechts neben seinem Namen ein Kreuz. Richard Teer war auch eine gute Wahl, aber auch er war schon zu alt.

Welche der angegebenen Damen war für die Rolle der Eva geeignet? Romy Streifer und Ruth Versteck schieden aus - sie würden höchstens in die Rolle von Evas Mutter passen. Auch Nastassja Schuhbindski, Meryl Sprüh und Inge Barbieritski gefielen Constanze als Eva-Darstellerinnen nicht.

Schließlich entschied sie sich für Keira Broadski, den Superstar aus den Vereinigten Staaten, die bereits schon in “Schwarzer Geier” und “Alles, was wir naschen mussten” gute Hauptrollen gespielt hatte.

“Lasst uns unsere Ergebnisse vergleichen!”, unterbrach Senta mit ihrer sanften Radiostimme jegliche konstruktiven Gedanken. Ihr Mundgeruch war stärker geworden und roch fürchterlich. Sie sollte sich wirklich die Zähne putzen!

Constanze schüttelte sich. Aber das merkte niemand.

“Ich bin aber gerade erst bei Frage zwei!”, protestierte Klothilde und blickte entsetzt zu ihrer “Busenfreundin”, dem bisher für Constanze namenlosen siamesischen Zwilling.

Wie auf Kommando echote der “Zwilling”:

“Ja, ich bin auch noch nicht fertig!” Fast schon liebevoll drückte sie die Hand von Klothilde.

“Ich bin auch erst bei Frage drei!”, meinte Thusnelda beleidigt und fuhr sich in einer hektischen Handbewegung durch ihren Afro-Look.

Würde es die Sendung “Was bin ich?” – das heitere Berufe-Raten - noch geben, wäre diese Handbewegung gut genug, um den Beruf einer Friseuse zu versinnbildlichen. Ja, Thusnelda könnte Friseuse sein, schoss es Constanze durch den Kopf. Gepflegt genug sah sie aus.

“Ich habe noch eine Pizza im Ofen stehen!”, verriet Senta. “Wenn wir so lange zur Beantwortung von ein paar läppischen Fragen brauchen, trocknet die Pizza aus und wird ungenießbar! Also - gehen wir die Fragen miteinander rasch durch!”

Die anderen ließen sich überzeugen. Die Aussicht auf leckere Pizza mit oder ohne Salami, mit oder ohne vier verschiedene Käsesorten, mit oder ohne Artischocken, mit oder ohne Thunfisch ließ jegliche Einwände verstummen.

Beherzt glitten alle Teilnehmer des heutigen Treffens aus ihrer gemütlichen Erholungshaltung und setzten sich aufrecht auf ihre Plätze. Wieder zischten Sprudelverschlüsse, und Mineralwasser gluckerte in Gläser.

Britta schaffte es sogar, voller Enthusiasmus den halben Tisch unter Wasser zu setzen, als sie, nachdem sie den Apfelsaft eingegossen hatte, zu viel und zu schnell Mineralwasser hinterher goss. Entschuldigend blickte sie in die Runde aller seelenlosen Gesichter und sprang anschließend auf, um in Sentas hochmoderner Küche nach einem Wischlappen zu suchen.

Als Adam-Darsteller in Frage eins hatten sich fast alle für Arnold Schwarzwurzel entschieden, weil sie dessen muskulösen Körperbau so erotisch fanden.

Als Eva-Darstellerin hatten sich beinahe alle Damen in der Runde für Julia Toaster entschieden, weil diese Schauspielerin jung und hübsch war und den Frauentyp verkörperte, der im Moment gerade angesagt war.

Britta, die sich Constanze nicht vorgestellt hatte, kicherte. Sie hatte die Gabe, gut zuzuhören und immer an der richtigen Stelle zu kichern. Constanze mochte Brittas Lachen nicht. Diesmal kicherte Britta über Arnold Schwarzwurzel und seinen tollen Körperbau.

„Gröl, gröööööl, gacker, gacker!“

Constanze ging dieses Kichern auf die Nerven, aber sie sagte es nicht.

Die Besprechung der dritten Frage war ebenfalls in weniger als einer Minute erledigt. “Wo fanden Sie während Ihrer Schulzeit Ihr persönliches Paradies? - Im Klassenzimmer, vor dem Kühlschrank in der elterlichen Küche, während des Religionsunterrichtes, in der evangelischen Kirche, im Chemiesaal, im elterlichen Auto?”

Komischerweise hatten sich die meisten für das elterliche Auto entschieden (wo man die erste Liebe gevögelt hatte oder sich vögeln ließ) oder die Nähe des Kühlschrankes – erstaunlicherweise hatte niemand die evangelische Kirche oder den Religionsunterricht angegeben!