Sternstunden der Wahrheit -  - E-Book

Sternstunden der Wahrheit E-Book

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Beschreibung

Warum sachlich, wenn es persönlich geht. Warum recherchieren, wenn man schreiben kann. Warum beweisen, wenn man behaupten kann. Und: Die ›Wahrheit‹ weiß immer, wie weit sie zu weit gehen kann. Rare Ausnahmen bestätigen auch hier allemal die Regel. Der vorliegende Sammelband mit Texten aus den letzten zehn Jahren ist eindrücklicher Beweis für die Wahrheit der genannten Grundsätze, vielmehr: der Beweis für die Wahrheit der ›Wahrheit‹. Mit Beiträgen von: Rob Alef, Christian Bartel, Archi W. Bechlenberg, Bernhard Becker, F.W. Bernstein, Björn Blaschke, Thomas C. Breuer, Mathias Broeckers, Silke Burmester, Eugen Egner, Susanne Fischer, Arno Frank, Pia Frankenberg, Gerald Fricke, Joachim Frisch, Colin Goldner, Dieter Grönling, Thomas Gsella, Uli Hannemann, Barbara Häusler, Albert Hefele, Volker Heise, Eckhard Henscheid, Gerhard Henschel, Jochen Herdieckerhoff, Jochen Kaiser, Wladimir Kaminer, Harald Keller, Rüdiger Kind, Peter Köhler, Tanja Kokoska, Hans-Hermann Kotte, Elmar Kraushaar, Tanja Küddelsmann, Hartmut El Kurdi, Stefan Kuzmany, Christian Maintz, René Martens, Bernd Müllender, André Paris, Kathrin Passig, Klaus Pawlowski, Ilke S. Prick, Michael Quasthoff, Georg Raabe, Anke Richter, Michael Ringel, Carola Rönneburg, Jürgen Roth, Michael Rudolf, Heike Runge, Michael Sailer, Frank Schäfer, Christian Y. Schmidt, Oliver Maria Schmitt, Joachim Schulz, Kay Sokolowski, Ralf Sotschek, Corinna Stegemann, Ulrike Stöhring, Ira Strübel, Matthias Thieme, Fritz Tietz, Mark-Stefan Tietze, Tom, Horst Tomayer, Jan Ullrich, Reinhard Umbach, Rudolf Walther, Mathias Wedel, Karl Wegmann, Rayk Wieland, Klaus Wittmann, Tom Wolf, Dietrich zur Nedden, Jenni Zylka.

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Seitenzahl: 446

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Ringel

Sternstunden der Wahrheit

Michael Ringel (Hrsg.)

Sternstunden der Wahrheit

Michael Ringel

wurde 1961 in Moers geboren und lebt seit 1982 in Berlin. Seit dem Jahr 2000 ist er Redakteur der Wahrheit-Seite in der »taz«. Seit seinem Studium der Germanistik und Publizistik an der Freien Universität Berlin hat er sich mit allen Formen der Komik und des Humors beschäftigt. Seit Jahren beschäftigt sich Ringel auch mit dem Thema »Listen« und hat dazu mehrere Bücher herausgegeben.

© 2009 Oktober Verlag, Münster

Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung

des Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster

www.oktoberverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Anh Nguyen

Umschlag: Linna Grage und Anh Nguyen

unter Verwendung einer Zeichnung von ©Tom

Herstellung: Monsenstein und Vannerdat

ISBN: 978-3-938568-85-9

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Deutsch & Dichtung

Wahre Schreibtische: ©Tom

Li-La-Lyrik in der Leitung – Heike Runge / Michael Ringel

Bild Welt – Dietrich zur Nedden

Der Welt schönstes Wort

Das Gebot der Wahrheit – Michael Ringel

Wehes Prusten – Thomas Gsella

Montagskolumne: Meinhard Rohr zur Lage der Nation im Spiegel seines Wissens

Montagskolumne: Meinhard Rohr zur Lage der Nation im Spiegel seines Wissens

Gurke des Tages

Schon jetzt gewählt: Das dümmste Wort des Jahres

Das Tabu ist zurück – Harald Keller

Rechschreibschwäche: Bedauerlicher Vorfall in der Warheit

Das muss er sein: der Reinbringer

Elternbesuch – Kathrin Passig

Das Streiflicht: Heute ausnahmsweise auf der Wahrheit-Seite

Das Wetter: Aus dem Nähkästchen – Peter Köhler

Deutschland besackenhack! – Peter Köhler

Stirn ermüdet, Herz vergletschert – Gerhard Henschel

Gurke des Tages

Sommer des Scheidewegs – Michael Ringel

Wenn alle Stricke reißen … – Tom Wolf

Deutsch-chinesische Probleme: Merkel telefoniert mit Wen

Das Wahrheit-Märchen: Der kleine Blindtext und die schöne Fee

Das Sommerloch – Klaus Pawlowski

Berührungsangst mit Schleim – Gerhard Henschel

Essen & Trinken

Wahre Schreibtische: Michael Rudolf

Esst mehr deutsche Schäferhunde! – Karl Wegmann

Grill-Hendl – was denn sonst – Eckhard Henscheid

Nachthunger: Irisches Bäuchlein wohl gefüllt

Schluss mit dem Cornflakesterror – Ralf Sotscheck

Herzlichen Glückwunsch: Bekotzte Teppichfliese wird dreißig

Avantgarde der Leidenschaft – Wladimir Kaminer

Talking Food – Ilke S. Prick

Mein Freund ist Fleischer – Hans-Hermann Kotte

Gammelrochen und andere essbare Biowaffen – Hartmut El Kurdi

Bier, Chips und Pornos

Bier, Chips und Pornos (2)

Brechreiz beim debilen Bäcker – Joachim Frisch

Don Camillo und seine Spelunke – Ralf Sotscheck

Alfredissimo auf einem Bein – Rob Alef

Die zehn Gebote des Frankfurter Allgemeinen Küchenmoses – Rudolf Walther

Deckweiß hilft: das Missgeschick, das ©Tom das Bild und dem Redakteur fast das Essen versaute

Roland Koch aufgegessen – Michael Ringel

40.000 Jahre Durst

Das Wetter: das Fußpils

Feinde & Freunde

Wahre Schreibtische: Corinna Stegemann

Xavier Naidoo: Der dümmste Refrain des Jahres

Das Wetter: Wenzel im Knast

Hollywood: Joseph Fischers Leben wird verfilmt

Hollywood: Joseph Fischers Leben wird tatsächlich verfilmt

Bild Deutsch kann schreiben

Ernst Hubertys Scheitel – Gerald Fricke

Der Penis-Prozess: Das Urteil

Aus dem Reich des lieben Führers: »Hunde, wir haben die Zukunft« – Arno Frank, Stefan Kuzmany, Michael Ringel, Corinna Stegemann

Saddam, tamm, tamm – Björn Blaschke

Goodbye, alte Rotzbremse – André Paris

Der Fürst des Feuilletons – Michael Ringel

Kreuzritter ohne Pferd – Mathias Bröckers

Lieber Hans-Ulrich Jörges,

Hitlers hungrige Helfer – Tanja Kokoska

Zimtsternsüß klingen die Geigen – Bernd Müllender

Das Rollkommando Gottes – Michael Quasthoff

Gurke des Tages

Der homosexuelle Mann … und sein angeblich dunkles Geheimnis – Elmar Kraushaar

Joseph Fischer: Fast kommt es zur Katastrophe

Nina Ruge: Bekenntnisse eines Backfischs – Hartmut El Kurdi

Aus dem Reich des lieben Papstes: »Auf, lasst uns nach Hause gehen!« – Michael Ringel, Carola Rönneburg, Corinna Stegemann

Gurke des Tages

Gurke des Tages

Gurke des Tages

Hartmut Engler lebt

Gurke des Tages

Gurke des Tages

Polens neue Kartoffel – Peter Köhler

Liebe Kartoffel,

Nein, Kai Diekmann!

Von einer, die auszog, das pure Gruseln zu lernen – Corinna Stegemann

Feierabend in Pjöngjang – Reinhard Umbach

Truth Medal für True Metal – Corinna Stegemann

Der Staatsfeind Nummer eins – Michael Ringel

Die Schleimplage – Christian Maintz

Hinaus aus Hamburg mit den Schuften! – Gerhard Henschel

Bushido gegen die Wahrheit – Michael Ringel

Der Schlosshund Gottes – Carola Rönneburg

Der Stumpfkopf – Jürgen Roth

Dem Nasenhornbesinger zum 63. – Christian Maintz

Korvettenkapitän Iglo – Michael Ringel

Feuerwasser & Rauchwaren

Wahre Schreibtische: Ralf Sotscheck

Der Fidel und seine Frau – Archi W. Bechlenberg

Bier sind Papst – Dietmar Bartz, Helmut Höge, Judith Luig, Barbara Bollwahn, Michael Ringel, Beate Willms, Frank Ketterer, Philipp Gessler, Edith Kresta, Jörn Kabisch, Arno Frank

Der Amboss im Kopf – Michael Quasthoff

Der einsame Zecher – Jan Kaiser

Tod eines Automaten

Weltkulturerbe Raucherecke – Fritz Tietz

»Ich war voll auf Pille« – Kay Sokolowsky

Schwabinger Krawall: Ausgehungert – Michael Sailer

Hirn aus Holz, Herz aus Stein – Peter Köhler

Razzia bei der Putztruppe – Ralf Sotscheck

Das Wiesnrad – Michael Sailer

Verpisst euch, Gesundheitler! – Jürgen Roth

Flucht nach Asch – Michael Quasthoff

Lust & Liebe

Wahre Schreibtische: Ilke S. Prick

Der Jörg will eh bloß kuscheln – Jochen Herdieckerhoff

Herr und Sklave – Matthias Thieme

Das Wetter: Küster voll Hass

Ist Bin Laden schwul? – René Martens

Schnarönkulor! – Jan Kaiser

Bild-Zeitung: Der Neun-Zentimeter-Artikel

Die letzten Rituale: Das Fest der Männertitten

Intra-uterine Navigation – Ilke S. Prick

Deutsche Frauen: Immer die Ruhe weg

Gurke des Tages

Vom Stamme Untenrum

Gurke des Tages

Das unerklärliche Universum der Ganzkörpertierkostümträger – Jenni Zylka

Einsam im November – Georg Raabe

Spaniens Nationalhymne: unverständliche Aufregung

Attacke, Mädels! – Horst Tomayer

Phänomene im Alltag: Das Frauenschwanken beim Essen im Gehen

Begrüßungsschal der Liebe – Silke Burmester

Orte & Unorte

Wahre Schreibtische: Anke Richter

Nichts ist, wie es in Jordanien einst war – Björn Blaschke

Freitag, 14 Uhr. Unter Geiern – Oliver Maria Schmitt

Vernichtet Sylt!

Die Buchmessenwoche der Wahrheit: Litorales Litauen

Wussten Sie schon …?

Die Buchmessenwoche der Wahrheit: Marodierende Litauer

Bad hair days in New York – Pia Frankenberg

Im Terrorzug nach Nirgendwo – Hartmut El Kurdi

Das irische Busfahrplanspiel – Ralf Sotscheck

Bloß keine Eile … – Klaus Wittmann

Unter Tanzteebeuteln – Jürgen Roth

Der lange Marsch in klein – Christian Y. Schmidt

Der dreimal überfahrene Onkel – Ralf Sotscheck

Im Reich des Lungerns – Uli Hannemann

Neues aus Neuseeland: Krokodilstränen bei Königs – Anke Richter

Wir sind das Volksfest! – Christian Bartel

Neues aus Neuseeland: Die Rache der Delfine – Anke Richter

Zwölf Stunden Scheine zählen – Rüdiger Kind

Sport & Mord

Wahre Schreibtische: Fritz Tietz

Der Lottogeschichtenerzähler – Fritz Tietz

Ausschreibung für den Arachnoschnapp – Carola Rönneburg

Brutale Wattebäuschchen – Ira Strübel

Der älteste Fußballwitz der Welt: Pointentod nach Umbenennung

Eröffnungstag – Georg Raabe

Knetball Ömer wurde ermordet

Obacht – beim Hammerwerfen! – Albert Hefele

Schwuchteln, Schlampen, Sch… – Susanne Fischer

Ab 2006 erlaubt: Handys in Flugzeugen

Sommerfest mit Magnum – Joachim Schulz

Gurke des Tages

Ein lappenfreier Sommer – Hartmut El Kurdi

Die Lust am Umlegen – Frank Schäfer

Günter Netzer, Pausenschreck – Klaus Pawlowski

Tod & Teufel

Wahre Schreibtische: Michael Ringel

Sag mir, wo die Ohren sind – Rayk Wieland

Nach dem Frühstück ins Bett – Kathrin Passig

Taliban nach Seevetal – Fritz Tietz

Rühmlich – Thomas Gsella

Gurke des Tages

Die schwärzeste Witwe

Huber Bubba – Michael Rudolf

Gesichter glühten im Wind – Mathias Wedel

Herbert Reinecker ist tot: Sein letzter Dialog

Gurke des Tages

Tod überwunden

Im Bunker ist die Hölle los – Christian Bartel

Der Papst und die gestohlenen Anekdoten – Michael Ringel

Der Papst und die Hanutas – Michael Ringel

Zwei Finger für ein Halleluja – Michael Ringel

Walter Kempowski ist tot: sein letzter Dialog

Rentnerin gegen Herrgott: ein ungleicher Kampf

Wahn & Witz

Wahre Schreibtische: Tom Wolf

Eised en Kundwert

Mutters Geburtstag – Michael Rudolf

Volvo und Vulva – Heike Runge

Warten auf das Happyend – Susanne Fischer

Die Badezimmerkachel als Geißel der Menschheit – Barbara Häusler

Selbstverpflichtung: Ergänzung der Wahrheit-Grundsätze

Bin Laden: »Bin scheißen!«

Die Wahrheit gibt 20 Prozent Rabatt

Leser im Rabatt-Fieber

Text wieder aufgetaucht

Einbruch bei Ablachwerten – Fritz Tietz

Komisches Scheitern an Schaubildern – Michael Ringel

Arme Karikaturisten: Murschetz und Gulbransson

Zur Ruhe kommen mit Freund Birnbaum – Jan Ullrich

Bei Anruf Ohrenterror – Rayk Wieland

Die Sichtbarmachung in der ausgestorbenen Gegend – Eugen Egner

0,8 Promille Humor – Kay Sokolowsky

Gurke des Tages

Die guten Seiten der Finanzkrise: Wahrheit kauft Island

Wesen & Unwesen

Wahre Schreibtische: Dieter Grönling

Wie ich einmal den Papst kennen lernte – Corinna Stegemann

TÜV-Wettbewerb: Idiotentest sucht neuen Namen

Die Leiden der Brotspinne – Bernhard Becker

Das Gärtlein der Frau Wallert – Horst Tomayer

Atmosphäre unter Null – Dietrich zur Nedden

Das Wetter: Das Versehen

Gurke des Tages: Kollateralschaden Yeti

Goldfarbene Phalli in der hohlen Hand – Colin Goldner

Die heimliche Invasion – Volker Heise

Mutti hält 48 Prozent von Martin – Tanja Küddelsmann

Fluch über die Fichte – Michael Rudolf

Vorbild Wilde – Reinhard Umbach

Ein Hoch der Pappel – F.W. Bernstein

Gartenzwergentführungen: Stoppt die Terroristen!

Er liebte das Brausen der Hörner – Rob Alef

Lektionen in Schwyzerdütsch, Anfängerkurs – Susanne Fischer

Das Wetter: Rhabarberchen

Mittwochs nie – dringende Warnung vor einem Fitness-Papst – Ulrike Stöhring

Künstler bei der Arbeit – Frank Schäfer

Der Schüttler von Schöneberg

Die lautesten Journalisten der Welt: Medienredakteure! – Jenni Zylka

Tom Buhrow: sein dunkles Geheimnis ist gelüftet

Diktatur des Proletariats – Carola Rönneburg

Der Zweite Januar – Thomas C. Breuer

Bosse im Blaumann – Mark-Stefan Tietze

Der Tod des Dr. Besserwiss – Michael Ringel

Die Wahrheit-Autoren

Vorwort

Du kannst wählen zwischen Wahrheit und Ruhe,

aber beides zugleich kannst du nicht haben.

Ralph Waldo Emerson

Vom Wahrsagen lässt sich wohl leben,

aber nicht vom Wahrheit sagen.

Georg Christoph Lichtenberg

Die Wahrheit wird 18. Endlich erwachsen! Da sie 1991 das Licht der Welt erblickte, wird die Wahrheit im Jahr 2009 volljährig. Endlich darf sie alles tun: den Führerschein machen, an Wahlen teilnehmen, Pornos gucken ... Aber will sie das überhaupt? Erwachsen werden? Seriös, solide, schnarchlangweilig? Wie ihre Feinde? Die beschimpfen die Wahrheit gern als »Kinderseite« der taz und merken nicht, dass sie eine der ältesten Strategien aller Ernstler gegen die Kraft des Humors verwenden – die Diminuierung: Was man anders nicht beseitigen kann, soll wenigstens verniedlicht werden. Doch dafür ist die Wahrheit zu sperrig. Niedlich ist sie nur, wenn es um Tiere geht, die liebt sie über alles. Denn Tiere sind humaner als Menschen und jenen Kindern und Narren verwandt, die ja bekanntlich stets die Wahrheit sagen. Außerdem ist die Wahrheit immer wieder von Tieren gerettet worden, wenn die Ticker leer waren und nur wenige Agenturmeldungen hereinrauschten. Dann erschien plötzlich kurz vor Redaktionsschluss wie einst Flipper oder Lassie irgendein Elch oder Bär im Nachrichtendschungel, und durch das Wahrheit-Büro gellte der erleichterte Ruf: »Endlich eine Bärenmeldung!« Und die Wahrheit-Seite wurde zur Verblüffung aller Beteiligten erneut pünktlich fertig.

Zumindest bietet der wie die meisten Jubiläen an den Haaren herbeigezogene Anlass die Möglichkeit, zurückzuschauen auf das, was die Wahrheit in den vergangenen Jahren der Weltöffentlichkeit präsentiert hat. Und eine Entwicklung lässt sich tatsächlich ablesen. Parallel zur Globalisierung ist die Wahrheit internationaler geworden. Hat sie sich in den Neunzigerjahren um öde Orte gekümmert, die meist in der deutschen Provinz lagen, schaut sie heute schon mal in Neuseeland vorbei, um zu erfahren, was auf der anderen Seite der Erde los ist.

Für diesen Sammelband wurden vor allem Wahrheit-Artikel aus den letzten rund zehn Jahren ausgewählt. Denn seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist der Herausgeber dieses Buchs amtierender Wahrheit-Redakteur und verantwortet damit den Charakter der Seite. Außerdem sind satirische Texte zeitgebunden, bei manchen weiter zurückliegenden Ereignissen wären heute schon erhebliche Erklärungen der Hintergründe für die Leser nötig. Auf einen Fußnotenapparat wollten wir aber verzichten. Damit sollen sich künftige Generationen von Germanisten beschäftigen. Die Texte mögen lieber für sich selbst sprechen und zeigen, dass die Wahrheit zwar ein Teil einer Tageszeitung ist, oft aber über das aktuelle Tagesgeschäft hinausweist.

Über die Alltagsarbeit hinaus wollte die Wahrheit immer auch einen Einblick geben in das Handwerk der Komik, wie Satiren, Glossen, Fakes, Anekdoten, Grotesken oder Nonsens-Texte funktionieren. Ein guter Wahrheit-Text muss immer auch ein humorkritisches Element besitzen und zumindest durchscheinen lassen, welche Schule des Humors der Autor besucht hat. Und da der Wahrheit-Redakteur während seiner Schulzeit zuviel Dozirin eingeträufelt bekam, hat er der Wahrheit sogar ein Programm gegeben. Demnach hat die Wahrheit, wie es in ihrer Selbstdarstellung heißt, drei Grundsätze: »Warum sachlich, wenn es persönlich geht«, »Warum recherchieren, wenn man schreiben kann«, »Warum beweisen, wenn man behaupten kann«.

Neben dieser hammerhart ironischen Programmatik gibt es allerdings einen sehr ernsthaften Grundsatz: Die Wahrheit schlägt nie auf Schwächere ein. Die Frage ist nur: Was sind Schwächere? Sind das auch all die Religiösen, die nicht nur die Wahrheit, sondern alle vernünftigen Menschen dauernd einschränken wollen, weil sie sich schwer verletzt fühlen, wenn man ihre Religion verspottet. Da bleiben Konflikte nicht aus, wie zum Beispiel im Jahr 2001, als die Wahrheit einen Scherzreim über Allahs Arsch druckte. Als Reaktion gab es 13.000 Leserbriefe aus aller Welt, Drohanrufe in der Redaktion, Unterschriftenlisten in Moscheen und eine Titelgeschichte im türkischen Boulevardblatt Hürriyet. Wenn’s der Wahrheitfindung dient. Die Muslime hatten einfach nicht verstanden, dass es uns eine Ehre war, sie zu verspotten. Statt sie auszugrenzen, werden Muslime nämlich von der Wahrheit genauso behandelt wie andere Gläubige. Damit Komik entlarvend wirkt, müssen Regeln verletzt werden. Vor allem jene Regeln, die angeblich von einer höheren Macht aufgestellt wurden und in deren Auftrag Glaubensritter anderen Menschen etwas wegnehmen oder verbieten wollen.

Aber nicht nur religiöser Wahn treibt seine Blüten. Auch Politiker können einen mullahartigen Eifer entwickeln. Wie die Grünen, deren Sprecher im Jahr 2001 die taz vom Parteitag verbannte, weil die Wahrheit zu ihrem zehnten Geburtstag die Seite eins der taz übernahm und zu einem Riesenfoto der Grünen-Chefin Claudia Roth im bunten Abendkleid titelte: »Die Gurke des Jahres«. Mit dem beeindruckenden Titel schaffte die Wahrheit es das erste Mal in die »Tagesschau«.

Ein weiteres Mal gelangte die Wahrheit im Jahr 2006 mit der »Kartoffel-Affäre« in die Nachrichten. Peter Köhler schrieb in seiner Reihe »Schurken, die die Welt beherrschen wollen« über den polnischen Präsidenten Lech Kaczynski. Die Warschauer Spaßbremse fühlte sich derart angegriffen, dass die Satire mit dem Titel »Polens neue Kartoffel« zur Staatsaffäre wurde und zu diplomatischen Verwicklungen führte. Kaczynski ließ mit der offiziellen Begründung, dass er Bauchgrimmen habe, ein deutschfranzösisch-polnisches Treffen auf höchster Ebene ausfallen und verlangte vom deutschen Außenminister, dass er sich für die Wahrheit-Satire entschuldigte. Dem Autor Peter Köhler und den verantwortlichen taz-Redakteuren wurden von der polnischen Justiz rechtliche Konsequenzen angedroht, da der Tatbestand der Beleidigung eines Staatsoberhaupts erfüllt worden sei. Halb belustigt, halb fassungslos griffen Medien aus aller Welt die »Kartoffel-Affäre« auf. Ein Jahr später wurde das Verfahren stillschweigend eingestellt.

Die Wahrheit hat einige Gerichtsprozesse überstanden – meist als Sieger. Manchmal aber auch nicht. Deshalb gibt es Artikel, die leider aus rechtlichen Gründen in diesem Buch nicht mehr veröffentlicht werden dürfen, wie zum Beispiel die Satire von Gerhard Henschel mit dem Titel »Sex-Schock! Penis kaputt?« (8.5.2002). Darin wurde behauptet, dass der Chefredakteur der Bild-Zeitung, Kai Diekmann, eine Penisverlängerung an sich habe vornehmen lassen. Diekmann verklagte daraufhin die taz. Im sogenannten Penis-Prozess wurde der taz gerichtlich untersagt, den Artikel noch einmal zu veröffentlichen. Allerdings erhielt Diekmann auch nicht das von ihm geforderte Schmerzensgeld, da er in seiner exponierten Stellung als Chefredakteur der Bild-Zeitung mehr Kritik erdulden müsse als andere Personen des öffentlichen Lebens, wie das Gericht urteilte. Damit schrieb die Wahrheit zumindest Medienrechtsgeschichte. Der Bild-Chefredakteur aber bekannte später in einem Interview, dass der »Penis-Prozess« die größte Dummheit seines Lebens gewesen sei.

Bei soviel öffentlich wirksamen Kontroversen blieben Konflikte innerhalb der taz nicht aus. Und selbstverständlich hat die Wahrheit auch Fehler gemacht. Einmal handelte sie sich eine Rüge des Deutschen Presserats ein, auf die sie nicht stolz ist. Denn auf der Wahrheit-Seite wurde eine Todesanzeige verspottet, und der Wahrheit war nicht klar, wie weit sie zu weit gegangen ist. Aber legen wir über all den Ärger mit der taz-Chefredaktion, mit taz-Kollegen oder mit taz-Lesern lieber das Schweigen des Mäntelchens der Geschichte. Sonst würde der Rahmen dieses Buchs gesprengt.

Bedauerlicherweise kann hier einiges nicht gezeigt werden, das wesentlich für die Wahrheit ist. An erster Stelle sind da die einzigartigen Cartoonstreifen von ©Tom: der touché, den ©Tom seit nunmehr 18 Jahren täglich außer sonntags frisch zeichnet. ©Tom ist damit neben Ralf Sotscheck, der ebenfalls seit 18 Jahren dabei ist und jeden Montag seine Kolumne auf der Seite veröffentlicht, der beständigste Mitarbeiter der Wahrheit. Hier können nur zwei touché stellvertretend für ©Toms unglaublich konstante Komik abgebildet werden. Auch fehlen hier die regelmäßigen Cartoons und Zeichnungen von Rattelschneck oder Ari Plikat oder Anna Zimmermann, die immer wieder die Wahrheit-Seite zieren.

Nicht vergessen werden darf an dieser Stelle ein Element der Wahrheit, das manchmal arg am Rande steht und viel zu wenig gewürdigt wird, obwohl es seine treuen Fans hat: das samstägliche Rätsel »wahrhaftig und verborgen«, das Ulrich Danielowski beharrlich für die Wahrheit produziert und mit Fragen spickt, die schon manchen Kopf zum Rauchen gebracht haben.

Auch nicht wiedergegeben werden können all die vielen Fotogeschichten der vergangenen Jahre: So zeigte die Wahrheit zum Beispiel »weltexklusiv: Jacques Chirac nackt auf dem Balkon« (31.8.2001). Sie präsentierte »Die Achsel des Bösen« (7.2.2002). Eine ganze Boulevardseite widmete die Wahrheit einem schockierenden Bericht: »Effe spannt Kanzler Frau aus – Deutschland geschockt« (6.5.2003). Sie begrüßte den Kokainfreund Christoph Daum mit Fotos von berühmten Koksern: »Willkommen im Klub« (13.6.2003). Die Wahrheit fragte nach dem Tod von Johannes Paul II.: »Wer wird der nächste Papst?« und bot Kim Jong Il, Marcel Reich-Ranicki, Alice Schwarzer, Fernandel, Mel Gibson und Erwin Teufel als Nachfolger an. Während des Streits um die Mohammed-Karikaturen bildete die Wahrheit eine Woche lang den »Mohammed des Tages« ab: von Mohamed Zidan bis Muhammad Ali (7.-11.2.2006). Nach dem Ende der Fußballweltmeisterschaft 2006 enthüllte die Wahrheit »das schwarze Loch nach der WM« (10.7.2006). Und während der Europameisterschaft 2008 bewies sie mit den Flaggen von Ländern wie »Badvorlegistan« oder »Leopardien«, die in deutschen Städten aus Fenstern und von Balkonen hingen, dass nicht jedes Land Europameister werden kann (20.6.2008).

Nicht annähernd gewürdigt werden können hier die Aktivitäten des Wahrheitklubs, dessen bekannteste Mitglieder wohl Harry Rowohlt und die Hartmetaller von Manowar sind. Mit seinen rund 1.300 Mitgliedern steht der Vorstand das Jahr über im regen Austausch, und zweimal jährlich tagt der Vorstand öffentlich: auf der Leipziger und auf der Frankfurter Buchmesse. Berühmt-berüchtigt sind ©Toms Spiele für Wahrheitklubmitglieder, die offenbar alles mitmachen, solange es nur der Klubdevise dient: »ridentum dicere verum«. Lachend die Wahrheit sagen.

Im Rahmen des Wahrheitklubtreffens wird zudem der wahrscheinlich wichtigste Journalistenpreis Deutschlands verliehen: Der »Jieper-Preis«. Er handelt sich um einen Unterbring-Wettbewerb, denn alle Jahre wieder müssen Journalisten einen denkwürdigen Satz in einer Zeitung oder einer Zeitschrift unterbringen, um die Auszeichnung zu erhalten. Im Jahr 2000 lautete der Satz: »Wer Jieper hat, muss schmackofatzen«, und die FAZ gewann als Preis den stets ausgelobten Gran Duque d’Alba oder »die Große Ente«, wie der Brandy auch in der Wahrheit genannt wird. Im Jahr 2004 gewann erstaunlicherweise erneut die FAZ, der Unterbring-Satz hieß – weil Arabien Partnerland der Frankfurter Buchmesse war – »Wer kalift, muss mutaboren«. Im Jahr 2006 sollte in Anlehnung an die »Kartoffel-Affäre« der Satz »Beim Wullacken niemals mit dem Mottek wackeln« untergebracht werden. Erstmals ging der »Jieper-Preis« an einen Verlag, den Umschau-Verlag in Neustadt, der in dem Kochbuch »Kartoffeln« die Affäre aufgriff und den Satz prominent erwähnte. Im Jahr 2008 gewann den Jieper-Preis schließlich das Berliner Stadtmagazin Zitty, das den Satz »Wer einmal mit Obama pennt, gehört schon zum Establishment« als Aufmacherfoto der Titelgeschichte präsentierte.

Wie also eine Ordnung hineinbringen in all die wild sprießenden Geschichten und Themen der Wahrheit? Aber will man das überhaupt? Alles ordnen und rubrifizieren? Die Lösung kam aus der Wahrheit selbst. Im Jahr 2006 hatte der Wahrheit-Spezialist Dieter Grönling eine kleine Serie entwickelt: die »wahren Schreibtische«. Gezeigt wurden die Schreibtische von Wahrheit-Redakteuren und -Autoren. Wie es im Vorspann hieß: »Jeder Koch hat seine Mise en place, seine eigene Art, in der Küche den persönlichen Arbeitsplatz einzurichten mit Gewürzen und Kochgeräten und allerlei Dingen, die zum Gelingen eines Gerichts notwendig sind. Auch Autoren und Schriftsteller inszenieren ihre Schreibtische nach sehr eigenen Vorstellungen. Die Wahrheit hat sich an den Arbeitsplätzen ihrer Köche umgesehen.« Deshalb beginnt jedes Kapitel mit dem Foto eines Schreibtischs, an dem ein Wahrheit-Autor arbeitet. Und was er dabei auf seiner Arbeitsfläche vorfindet, wird im Begleittext erklärt.

Wir haben also versucht, die Wahrheit in zehn verschiedene Kapitel zu fassen. Da die Wahrheit sich aber nicht so leicht einordnen lässt, entzieht sich mancher Text einer Kategorisierung. So sind einige Kapitel umfangreicher geworden als andere, etwa jenes über »Feinde & Freunde«. In 18 Jahren sammeln sich da einige an – vor allem Feinde. Einige Geschichten und Figuren wandern durch verschiedene Kapitel. Wir konnten es nicht verhindern und lassen sie munter herumgeistern. Was wiederum ein paar Wahrheit-Autoren nicht mehr dürfen. Bedauerlicherweise mussten sich in den vergangenen Jahren einige Mitarbeiter von der Wahrheit verabschieden, da sie die wichtigste Spielregel der Wahrheit nicht akzeptieren wollten: Man muss immer wissen, wie weit man zu weit gehen kann. Solchen Spielverderbern können wir auch in dieser Anthologie kein Forum bieten und rufen ihnen lieber ein fröhliches »Hasta la vista, baby!« nach.

Der größte Verlust, den die Wahrheit je erlitten hat, war der Tod von Michael Rudolf, der sich im Jahr 2007 das Leben nahm. Seit Mitte der Neunzigerjahre hatte der Bier-, Pilz- und Humorkenner für die Wahrheit geschrieben und »war einer der wenigen ernst zu nehmenden Ostautoren des deutschen Humors«, wie es in seinem Nachruf auf der Wahrheit-Seite hieß. Ihm ist ein großartiges Buch gewidmet, das zur einen Hälfte aus seinen Texten und zur anderen Hälfte aus Artikeln von Wahrheit-Autoren über Michael Rudolf besteht: »Der Mann mit den neunhundertneunundneunzig Gesichtern« (Oktober Verlag, 2008).

Damit soll zum Schluss all jenen gedankt werden, die an der Wahrheit mitgearbeitet haben oder noch mitwirken – insbesondere allen Wahrheit-Redakteuren, die in den vergangenen 18 Jahren die Wahrheit aufgebaut und geprägt haben. Stellvertretend für sie sei Corinna Stegemann hervorgehoben, die auch schon ein paar Jährchen tapfer alles mitmacht, was auf die Wahrheit zukommt. Ein besonderer Dank geht auch an alle Wahrheit-Autoren, ohne deren Fähigkeiten die Seite nicht wäre, was sie ist.

Die Wahrheit ist, wie es in der Selbstbeschreibung heißt, die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Arbeiten wir daran, dass die eine oder andere Wahrheit hinzukommt.

Michael Ringel, im Januar 2009

Deutsch & Dichtung

Wahre Schreibtische: ©Tom – oder Streifen mit Geheimtusche und Ratzefummelkrümelbeseitigungspinsel

Auf diesem leeren Blatt (1) soll er entstehen, der Touché für morgen. Bislang hat ©Tom zwar noch nicht mal eine Idee, aber der rettende Einfall wird schon noch kommen. Da ist er ganz sicher. Zur Not hilft ein Werkzeug, das wie eine Nasenschablone (2) aussieht, und wenn die Idee nicht von alleine kommt, hilft mitunter der Blick nach draußen (3) auf den wunderbaren Alltag. Für die Stunde danach liegt das Arbeitsgerät der Betriebssportgruppe (4) schon in Reichweite.

Doch nun muss der Mann mit den schwarz befleckten Fingern erst einmal überprüfen, ob noch genug von der nach streng gehüteter Rezeptur selbst hergestellten Geheimtusche (5) für den Kolbenfüller nebst Deckweiß für das Tilgen von Ausrutschern vorrätig ist. Das Krümelmonster (6) bewacht das Fläschchenensemble mit einer Tim-&-Struppi-Rakete. Der große Spiegel (7) erfüllt indes gleich mehrere Funktionen. Durch einen Blick in denselben kann ©Tom sofort überprüfen, ob ein Witz funktioniert: Wenn der Zeichner lacht, ist er gelungen. Auch beim Finden der richtigen Mimik hilft der Spiegel. Soll eine Figur mal traurig oder wütend gucken, ist das eigene Gesicht die beste Vorlage. Bemerkenswertes Wunder der Physik: Der Name der Zeichners (8) erscheint im Spiegel nicht seitenverkehrt.

Kein Computer und keine Bücherstapel stören diesen streng funktionalen und leicht geschrägten Arbeitsplatz. Das ist erfrischend, wenngleich auch hier ein paar Bücher herumliegen (9). Aber das ist bloß Schleichwerbung: Die Ziegelmauer, obenauf ganz zufällig der neuste Ziegel, ist geschicktes Product-Placement als Hinweis auf die soeben erschienene neue ©Tom-Sammlung mit 500 feinen Streifen. Wie schon 3.500 Streifen zuvor wurden auch diese mit dem Paginierstempel (10) archivgerecht durchnumeriert. Wichtigstes Utensil an jedem Zeichentisch ist jedoch der Ratzefummelkrümelbeseitigungspinsel (11). Der alte Käpt’n Haddock (»Heulende Hagel und Höllengranaten!«, 12) muss jetzt in die Ecke, denn nun soll ein neuer Touché entstehen. Es sei denn, Anette ruft an (13) und hält ©Tom mal wieder von der Arbeit ab. Aber auch zehn Minuten vor Redaktionsschluss wird ein Blick in das Ideen-Notizbuch (14) den Streifen stets retten.

Li-La-Lyrik in der Leitung

Unverlangt eingesandte Gedichte sind der Traum jedes Zeitungsredakteurs. Ein Kampfbericht zwischen reisendem Poeten und Reim-Weiterverarbeitungsstelle

Ein Anruf kurz vor Produktionsschluss in der Redaktion.

Redakteur: »Ja.«

Anrufer: »Erdmann hier.«

»Ja, und?«

»Ich hatte Ihnen da kürzlich was zugeschickt.«

»Ja, und?«

»Ein Gedicht.«

»Ja, und?«

»Ich wollte mal fragen ...«

»Im Moment ...«

»... ob Sie schon dazu gekommen sind, es zu lesen?«

Die Hand des Redakteurs ertastet den Karton mit den

»Unverlangt eingesandten Gedichten«:

»Gedichte, sagen Sie ...«

»Ich hatte was geschrieben.«

Der Redakteur wühlt verzweifelt in der Gedichtekiste:

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Ich hatte Ihnen da eine Auswahl politisch-satirischer, aber auch unterhaltsamer Gedichte geschickt. Ich bin

doch da bei der Unterhaltungsseite?«

»Ja ... äh, nein.«

»Sie drucken doch Gedichte?«

»Nein.«

»Sie drucken KEINE Gedichte?«

»Doch, schon.«

»Na, also!«

»Aber nur selten.«

»Dann können Sie doch meine Gedichte drucken. Oder gibt es da ein politisches Problem?«

»Nein, nein.«

Der Redakteur zieht einen Stoß Papiere aus dem Karton.

»Ich denke da zum Beispiel an mein Antikriegsgedicht: Die Bundeswehr im Kosovo / froh wie der Mops im Paletot ...«

»Ja, nun.«

»... Mörder sind Soldaten / Und werfen Handgranaten.«

»Das ist jetzt selbstverständlich ein bisschen spät.«

»Das kann ich Ihnen im Handumdrehen aktualisieren.

Gar kein Problem!«

Der Redakteur legt die Papiere wieder in die Gedichtekiste:

»Es ist jetzt leider kurz vor Produktionsschluss.«

»Aber finden Sie nicht, dass es wichtig ist?«

»Nun, ja.«

»Ich glaube, es wäre gerade wichtig für IHRE Zeitung.«

»Ja, schon.«

»Oder ist Ihnen das zu scharf? Ich habe dem Krieg mit spitzer Feder einen Spiegel vorgehalten.«

Der Redakteur schiebt die Gedichtekiste zur Seite:

»Herr Erdmann, das ist Ihnen sicher auch gelungen.«

»Es gefällt Ihnen also?«

»Mmh.«

»Dann wird es also gedruckt?«

»Ich kann das leider jetzt nicht entscheiden. Es ist kurz vor Redaktionsschluss.«

»Ich finde es aber sehr gut.«

»Das freut mich.«

Der Redakteur klappt den Kistendeckel zu:

»Jetzt muss ich aber wirklich Schluss machen.«

»Und was ja sonst so in Ihrer Zeitung gedruckt wird ...«

»Ach, ja?«

»Wissen Sie, eine kleine Auswahl meiner Gedichte ist ja auch schon in einem Bielefelder Stadtmagazin erschienen.«

»Ja?«

»Im Herbst werden sie dann in Buchform herauskommen

...«

»Ja, und?«

»... der Verlagschef und ich finden, dass sie vorher einem überregionalen Publikum bekannt gemacht werden sollten.«

»Unbedingt!«

»Schön, dass wir endlich ins Geschäft kommen.«

»Ääh ...«

»Und ich hätte da gerade im Moment auch noch ein topaktuelles Gedicht zur Hand.«

»Ja, dann faxen oder mailen Sie mir das doch zu.«

»Das ist jetzt schlecht.«

»Wieso?«

»Weil ich im Moment mit dem Motorrad unterwegs bin.«

»Oh.«

»Ich dachte, ich könnte Ihnen das jetzt vorlesen.«

»Das ist jetzt schlecht.«

»Dann geht es schneller und könnte morgen im Blatt sein.«

»Schicken Sie es einfach her.«

»Ja, dann versuche ich das mal an der Tankstelle.«

»Tun Sie das.«

»Also, dann bis später.«

Heike Runge / Michael Ringel (30.3.2000)

Bild Welt

Was ist das eigentlich

für eine Welt

in der ein Artikel

auf der ersten Seite der Bild-Zeitung

mit dem Satz beginnt

»Was ist das eigentlich

für eine Welt«

Dietrich zur Nedden (27.7.2000)

Der Welt schönstes Wort

So weich, so warm, so wundervoll: Brandgansmauser

Brandgansmauser – was für ein wunderschönes, weiches, warmes Wort. Das darf man den Lesern nicht vorenthalten. Brandgansmauser – das klingt wie In-weichen-Kissenausschlafen-Dürfen. Brandgansmauser – das muss man sich einfach auf der Zunge zergehen lassen. Im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer sammeln sich zurzeit Zehntausende von Brandgänsen. Sie brandgansmausern vor der Küste Dithmarschens, das heißt, sie wechseln ihr Federkleid und können darum eine Zeit lang nicht fliegen. »Stilles Spektakel« nennen die Vogelkundler die Brandgansmauser, bei der 90 Prozent des europäischen Bestandes dieser Art im schleswig-holsteinischen Wattenmeer zusammenkommen. Ein »stilles Spektakel« – wie lieb. Genau wie »Ausschlafen«: Das ist ja auch immer wieder ein sehr gern veranstaltetes »stilles Spektakel«.

(2.8.2000)

Das Gebot der Wahrheit

Die sieben Todsünden des Schreibens – gewidmet dem unverlangt einsendenden Autor

Du aber, Autor, der du Texte unverlangt einsendest, höre! Und höre dem Gerechten gut zu! Denn es gibt derer sieben Todsünden, die den Verlust des Gnadenstandes nach sich ziehen. Und wisse, die Todsünde hat drei Merkmale: Du versündigst dich in einer wichtigen Angelegenheit, dem Schreiben für die Wahrheit; du bist dir der Sündenhaftigkeit deines falschen Schreibens bewusst; und du willigst voll ein in dein sündiges Schreiben. Deshalb, unverlangter Autor, tue Buße und erkenne die sieben Todsünden, wie sie dir in mahnenden Worten aufgezeigt werden. Du sollst nicht schreiben über dieses und jenes:

I. Kinder

Die Wahrheit soll eine Seite sein, die da ist für jeden Menschen. Für niemanden darf sie zu hoch und für niemanden zu einfach erscheinen. Wenn du dies ernsthaft erkennen konntest, bist du ein Kind der Komik, und Humor wohnt in dir. Lass aber kein Kind in deinen Texten wohnen. Denn Kinder berühren dich und verwirren deinen Geist, wenn du sie betrachtest. Sei selbst das Kind und gewinne die Distanz zurück, die Komik braucht, um zu sein.

II. Friseure

Es gibt viele niedere Gewerke. Und deren eines ist das der Friseure und Barbiere. Es kann dort die Gegenwart des Geistes nicht vorhanden sein. Erhebe dich nicht über jene, die sich allein mit dem Äußeren des Kopfes befassen. Ihre Späße sind nur Späße in ihren schlichten Räumen.

III. Handwerker

Der Humorist ist ganz anders als der Handwerker. Seit Urväterzeiten ist der Handwerker ein miserabler und lauter Gesell. Alles ist über ihn geschrieben, und so machst du dich gemein mit ihm. Also wisse: Kein Handwerker irgendeines Handwerks soll mehr in dir gefunden werden.

IV. Supermärkte

Allein gelassen mit deinen Gedanken und deiner Wortarbeit siehst du deine Verlassenheit erst, wenn du die Stille deiner Klause verlässt und körperliche Nahrung suchst. Im Supermarkt ist es laut und buntfarben. Dort werken einfache Menschen. Ein Zusammenstoß mit ihnen mag dir am Ort selbst ein Spaß sein. Später ist der Spaß vergangen.

V. Kollegen

Oft treibt es dich nicht in die Welt. Doch liest du meist von ihr. Und von Kollegen, deren Einsamkeit ähnlich groß ist. Wenn du aber reist, dich vergnügst und eben sie triffst, schreibe nicht über ihre Erscheinung, ihr Verhalten und ihre Trunksucht am Wirtstisch. Niemand mag von eurer Freude und eurem Zwist ein Wort wissen. Eure Namen sollen sich allein unter euren Texten auszeichnen, nicht darin.

VI. Fernseh

Ein Hort der Entspannung ist das Fernseh. Das wirkliche Leben ist es nicht. Greife kein Ereignis aus dem Fernseh auf und siehe darin einen Anlass zu schreiben über das Ereignis selbst und deine Erfahrungen damit. Erlebe es selbst und gehe hinaus auf den Marktplatz, in ein Wirtshaus oder an einen fremden Ort. Kenne das Fremde. Das Fremde aber ist nicht das Fernseh. Es ist das Naheliegende. Das Naheliegende jedoch ist nie komisch.

VII. Internet

Glaubst du, das Internet böte Komisches aus der Welt? Dann glaubst du an das Falsche. Denn die Neuigkeiten werden nicht komischer durch den Weg, auf dem sie dich ereilen. Es wohnt längst in dir, wenn du es noch suchst. Finde das Komische in dir selbst und deinen Worten.

Siehe, wenn du diese Gebote befolgst, erlangst du den Zustand der Gnade und wirst in einer nicht fernen Zeit zum verlangt einsendenden Autor. Und siehe auch, Autor, dass diese Gebote nur für dich gelten und nicht für andere, die längst für die Wahrheit schreiben. Denn das hat der Gerechte in seiner unendlichen Weisheit für immer entschieden. In Ewigkeit. Amen.

Michael »Moses« Ringel (6.2.2001)

Wehes Prusten

Einmal schrieb ich ein Gedicht,

las es schließlich durch und dachte:

»Ei wie lustig! Ist es nicht?«,

dachte ich und schrie und lachte

mich kaputt, haha!, und rollte

auf den Boden, lachte weiter,

schrie, weil’s gar nicht enden wollte:

»Hihihi! Achgott, wie heiter!«,

rollte, kugelte durchs Zimmer,

knallte gegen Tisch und Stühle,

das tat weh und wurde schlimmer:

Heiterkeit und Schmerzgefühle

küssten sich, der Tisch fiel polternd

auf den prustend frohen Deppen,

welcher so, sich selber folternd,

anfing, sich zur Tür zu schleppen,

wo er lachte, weinte, lachte,

als das Marmorkanapee

ihm auf Bauch und Schädel krachte –

hihi, aua, tat das weh!

Thomas Gsella (23.8.2001)

Montagskolumne: Meinhard Rohr zur Lage der Nation im Spiegel seines Wissens

Namensvettern können zu einem Problem, einer Belastung, einem Knackpunkt werden. Oft werde ich, Meinhard Rohr, zum Beispiel mit Reinhard Mohr oder Reinhard Mohn verwechselt. Der eine ist Spiegel-Redakteur, der andere Bertelsmann-Chef, ich hingegen gehörte früher leider zu den Linken. Für jeden meiner montäglichen Kommentare zur Lage der Nation erhalte ich ein Honorar, ein Salär, einen Obolus. Jetzt aber hat die Honorarabteilung der taz die mir zustehenden 19,38 Euro an Reinhard Mohr überwiesen. Zum Glück nicht an Reinhard Mohn. Geld hat der Groß-, Schwer- und Stark-Industrielle genug. Wie es um Reinhard Mohr steht, weiß ich nicht, hungern, dürsten und knapsen wird er wohl nicht. Dafür sieht man ihn zu oft in Berlin-Mitte durch die Bars, Cafés und Restaurants flanieren, wo er mit der erfahrenen Nase des Feuilletonisten dem Zeitgeist ein Schnäppchen schlägt. Manchmal sogar ein Rad. Auf dem Laufsteg der Neuen Mitte. Wo jeder Spaß mindestens 19,38 Euro kostet. Diese Kolumne erscheint in loser, aber leider häufiger Folge.

(26.8.2002)

Montagskolumne: Meinhard Rohr zur Lage der Nation im Spiegel seines Wissens

Ich bin sprach-, stimm- und schreiblos. Und werde es auch in Zukunft sein. Nach den entsetzlichen, schockierenden und bestürzenden Ereignissen der vergangenen Woche bin ich wie gelähmt. Kein Wort, kein Satz, kein Gedanke kommt mir über die Lippen. Manche mögen dies als Erfolg eines terroristischen Anschlags werten, aber nichts kann mehr so sein, wie ich war. Das Ende der Großdenkergesellschaft ist da. Wie schon einmal das Ende der Geschichte gekommen war und das Ende der Linken, denen ich leider früher auch angehörte. Als Reflex auf das grauenhafte Geschehen wird eine neue Zeit der Leichtigkeit und Wertfreiheit aufziehen, die Menschen wollen vergessen, die Gesellschaft will die Untiefen ausloten. Meine Welt wird dies nicht sein. Ich gehe da d’accord mit dem großen Analytiker Peter Scholl-Latour, der das Ende der Denkgesellschaft laut einläutete. Ich verabschiede mich deshalb heute, an diesem Montag, Monday und Lundi, für immer von meinen treuen Lesern. Gott bless you.

Diese Kolumne erschien in loser, aber leider häufiger Folge.

(17.9.2001)

Gurke des Tages

Seit Jahren wettern wir gegen das von vielen Journalisten verwendete, dummdeutsche Wörtchen »zunehmend«. Genützt hat es nichts. Was auch wieder sein Gutes hat. Können wir uns doch stets aufs Neue an meisterlich geklöppelten Widersprüchen erfreuen. Wie gestern bei einer Meldung der Nachrichtenagentur AFP: »Deutsche verzichten zunehmend auf Abführmittel«, heißt es in einer Nachricht. Besser als die Franzmann-Agentur kann man ein Oxymoron nicht mehr ausdrücken.

(2.10.2001)

Schon jetzt gewählt: Das dümmste Wort des Jahres

Beim soeben ins Leben gerufenen Wahrheit-Wettbewerb »Das dümmste Wort des Jahres« steht der Sieger seit gestern fest. Geschaffen wurde das Spitzensprachgebilde von der im Neologismus-Sport erfahrenen Nachrichtenagentur dpa, die mit ihren Wortneuschöpfungen schon viele Auszeichnungen (»Gurke des Tages«) von der Wahrheit erhalten hat. Doch am Donnerstag gelang der Deutschen Presse Agentur ein Coup, der den bisherigen Favoriten Agence France Press (AFP) frühzeitig im Jahr vom Siegerpodest stürzte. Denn dpa meldete gestern: In dem Ruhrstädtchen Wetter liege am Sonntag das »Mountainbike-Mekka«. Mountainbike-Mekka! Bitte jetzt das »Mountainbike-Mekka« mit den Sprechwerkzeugen herstellen. Aaaah, dieser Klang, diese Alliterationen, dieser vollkommene Dumpfsinn, der sofort schöne Bilder entstehen lässt: Mountainbiker in weißen Gewändern umrunden die nicht würfelförmige, sondern radrunde Kaaba in Wetter-Mekka. Da kann man nicht meckern und wird der dpa den wohl verdienten Preis gern zusprechen.

(9.8.2002)

Das Tabu ist zurück

Eine dringend notwendige Warnung vor einem drohenden Wort-Revival

Noch lässt sich nichts Definitives sagen, aber die Zeichen mehren sich in einem Maße, dass wohl von einem Menetekel gesprochen werden darf: Das Tabu ist wieder da!

In Deutschlands bedrückendsten Stunden, den momentan von windigen Geschäftemachern wieder als schwer en vogue angedienten Achtzigerjahren, hatte das Tabu Konjunktur. Nicht von ungefähr war es der Kommerzsender RTL, der jenes dunkle Jahrzehnt zur Show verniedlichte und hernach, mit Pressemitteilung vom 6. August 2002, auch das Tabu wieder ins Spiel brachte. Mit der Macht des Marktfürers nämlich wird RTL im Herbst den Versuch unternehmen, mit Hilfe und im Zuge des Fernsehfilms »Sektion – Die Sprache der Toten« »das Thema ›Sektion‹ (medizinischer Ausdruck für Leichenöffnung) zu enttabuisieren.« Enttabuisieren! Was, weil es sich um einen so genannten Hintertürpilotfilm handelt, der leider viel zu oft eine Serie nach sich zieht, über kurz oder lang noch üble Folgen haben wird.

Die erste ließ prompt nicht lange auf sich warten. Am 21. August 2002 nahm wiederum bei RTL der Parteienforscher Professor Peter Lösche das Unwort in den Mund, als er wissenschaftlich fundiert orakelnd unkte, dass jede kommende Regierung egal welcher Couleur dem Volke bittere Pillen verabreichen werde, auch wenn diese ungeschönte Wahrheit zu Wahlkampfzeiten einem, na?, genau: Tabu unterliege.

Der beinahe so beliebte wie beleibte Schwerdenkerdarsteller Dieter Pfaff hieb mit mächtiger Pranke in dieselbe Kerbe, wenn man der FAZ vom 23. August 2002 Glauben schenken darf. Was an dieser Stelle ausnahmsweise geschehen soll, auch wenn unsereins nichts zu verschenken hat. So aber schrieb die FAZ: »›Natürlich hat Fitz geholfen‹, sagt Dieter Pfaff an einem regnerischen Morgen in Baden-Baden, wo sich der Schauspieler gerade anschickt, mit seiner neuen Rolle ›das Tabu zu brechen‹.«

Diskret verschweigt die Autorin die näheren Umstände des waghalsigen Experiments. Nahm Pfaff tüchtig Anlauf, als er aufs Tabu losstürmte? Genügte ihm sein gewichtiges Auftreten? Langte er mit bloßen Händen zu? Wer’s weiß, gebe Bescheid.

Nachgeborene werden vielleicht fragen, was es überhaupt auf sich habe mit dem Tabu, und ihnen soll Antwort zuteil werden. Führende Figur der Anti-Tabu-Bewegung der Achtzigerjahre war einwandfrei Sina Aline Geissler, die Muse aller aktuellen Bekenntnis-Talkshows, die sich in Büchern wie »Immer, wenn ich mich verführe. Weibliche Selbstbefriedigung – ein Tabu wird gebrochen« ein Tabu nach dem anderen vornahm und es mitleidlos zwischen ihren masturbationsgestählten Fingern zerquetschte. Und Tabus lauerten überall. »Das Tabu des bestimmten Artikels« beispielsweise, beschrieben 1985 in System ubw – Zeitschrift für klassische Psychoanalyse. Auch »Der Tod in der Astrologie. Das Tabu-Thema astrologischer Todeskonstellationen in neuem Licht« wurde fachgerecht tranchiert. Vorwitzig registrierten Hans Filbinger und Konsorten 1986 via Buchtitel: »Die Medien – das letzte Tabu der offenen Gesellschaft«. Irrtum, meine Herren – zehn Jahre später erschien das »Handbuch Grundschule und Computer« mit der vielsagenden Unterzeile: »Vom Tabu zur Alltagspraxis«.

Ende der Neunzigerjahre dann schien das Tabu zeitweilig von der Ausrottung bedroht, doch haben sich die Bestände unterdessen nicht nur prächtig erholt, sie könnten gar im Begriff sein, sich erneut zur Plage auszuweiten. Sicherlich ist es verfrüht, Katastrophenalarm auszurufen, doch für eine vorsichtige Warnung ist hinlänglich Anlass gegeben. Sage hinterher bloß niemand, er habe es nicht gewusst.

Harald Keller (28.8.2002)

Rechschreibschwäche: Bedauerlicher Vorfall in der Warheit

Am frühhen Morgen passierte es. In der Warheit ereignete sich ein schwerer Anfall von Rechschreibschwäche. Verstöhrt berürte der betrofene Wahrheit-Redaktör die Tasten, aber der Text wolte und wollte nich die korekte Form annehmen. Besohrgte Kollegen eilten herbei, konnten aber auch nich helfen. Erste eilig eingeleitete Gegenmaßnamen zeigten keinerlei Wirkunk. Im Gägenteil: Die Feler lißen nicht nach, sondarn namen tsu. Auch ein Anruv bei der Düden-Redaktion ergahb nur kurzfristig eine Besserun. Bereits wenihge Minuten speter herrschte wieder der Felerteufel. »Wir müßßen die Uhrsache finden, den Auslöser für den Anvall«, schlusfolgerte eine chlaue Kolegin und sah sich die Tikkermeldungen an, die der Wahreit-Redaktör zuletztz geläsen hatte. »Da!«, rief die Kollegin und verwies auf eine Meldung der Nachichtenagentür AP:

»Lese-Rechschreib-Schwäche. Das ist kein lebenslanges Schicksal«. – »Das ist der Grund: Rechschreibschwäche!«, jubelte die clevere Kollegin, und sobald sie das Wort aussprach, war der Schwächeanfall sofort forbei.

(26.4.2003)

Das muss er sein: der Reinbringer

Normalerweise kann man die Bild-Zeitung nicht abonnieren. Doch die Wahrheit ist im Besitz eines der raren Bild-Abonnements und bekommt täglich das Blut-und-Sperma-Blatt von der anderen Seite der Berliner Kochstraße. Feindbeobachtung ist schließlich wichtig. Aus unerklärlichen postalischen Vertriebsgründen landet die Bild jedoch jeden Morgen im Nachbarbüro des taz-mag. Wir haben uns inzwischen daran gewöhnt, und auch den Kollegen Reinhard Krause scheint es Tag für Tag mehr zu amüsieren, dass er uns das Fischeinwickelblatt hereinreicht. Wir allerdings denken stets an Robert Gernhardts Gedicht »Deutung eines allegorischen Gemäldes«. Gernhardt beschreibt fünf Personen auf einem Gemälde, die jeweils für etwas stehen: Tod, Pest, Leid, Hass. Und der fünfte? »Der fünfte bringt stumm Wein herein / das wird der Weinreinbringer sein«. Tod, Pest, Leid, Hass bringt die Bild, aber im Gegensatz zum Weinreinbringer ist der Bild-Reinbringer nicht stumm. Ja, mittlerweile sind wir jeden Morgen gespannt, wie er die heutige Schlagzeile kommentieren wird: »Sie ziehen Michelle Hunzikers ›Wunderhexe‹ schon den 15. Tag!« oder »Als Frau ist Bärbel Schäfer sehr verletzt – nur als Frau!« oder »Uschi Glas – muss die sich nackig machen mit 59?« Eigentlich brauchen wir die Bild überhaupt nicht mehr, allein der Kommentar des Reinbringers bringt’s.

(18.7.2003)

Elternbesuch

Hier war früher mal die Mauer,

Wo, das weiß ich nicht genauer.

Links die Römer, rechts die Goten,

Drübersteigen war verboten.

Das ist die Weser, äh, die Spree,

Die fließt hier in den Bodensee.

Im Reichstag, da zur linken Hand,

Ist Rosa Luxemburg verbrannt.

Und das dahinter, nein, davor,

das ist das Brandenburger Tor.

Das steht hier schon seit letztem Jahr,

Weiß auch nicht, was da vorher war.

Die goldne Kuppel hinten links

Gehört zum Dom, ach nein, zum Dings,

Ich glaub, es heißt Schloss Sanssouci,

So weit im Osten war ich nie.

Das oben auf dem Kreuzberg? Klar:

Das ist der Pergamonaltar.

Die halbe Kirche? Keine Ahnung,

Vielleicht für irgendwas als Mahnung.

Jetzt habt ihr einen Überblick.

Da geht der Zug! Kommt gut zurück!

Kathrin Passig (19.5.2004)

Das Streiflicht: Heute ausnahmsweise auf der Wahrheit-Seite

Eigentlich ist es ein Fall für das »Streiflicht« in der Süddeutschen Zeitung, jene immer leicht verschnarcht daherkommende Glosse auf Seite eins, die gern ein zeitloses Thema auf die aktuelle Lage herunterbricht und in gebildeter Form Adam und Eva, Athen und Rom, Stock und Stein herbeizitiert. Oft werden die Sprache und ihre Blüten in gelehrtem Tonfalle behandelt. Und deshalb ist es fast sicher, dass einer der Schreiber des »Streiflichts« die gestrige Meldung der Nachrichtenagentur dpa aus Rom gelesen hat. Spätestens in drei Tagen werden wir also etwas über das rhetorische Stilmittel der »Metonymie« erfahren, ist doch das folgende dpa-Zitat wie geschaffen für einen abschweifenden Exkurs über die ars rhetorica: »Historische Statuen in Rom durch Vandalen schwer beschädigt«. Wie bitte?, wird sich das »Streiflicht« fragen, die Vandalen sind wieder in Rom? In der Ewigen Stadt, die sie im Jahr 455 n. Chr. unter Führung ihres Königs Geiserich in Schutt und Asche legten? Nein, es handelt sich lediglich um eine Metonymie, wenn nicht um ein Appellativum, bei dem ein Gattungsbegriff durch einen Eigennamen umschrieben wird wie »Casanova« für »großer Liebhaber«. Hier ist es das Volk der Vandalen, die seit dem späten Mittelalter als Inbegriff für Zerstörer und Plünderer gelten und sich in der dpa-Meldung sozusagen selbst eingeholt haben. Aber, liebes »Streiflicht«, das kannst du doch viel schöner und vor allem viel länger erklären. Wir warten …

(16.7.2004)

Das Wetter: Aus dem Nähkästchen

Schlechtes Essen ist gut, man isst dann nicht so viel. / Das kleine r ist der Wasserhahn des Alphabets. / Schnokelig abgolzen ist leicht, aber golzig abschnokeln ist schwer. / Eigene Gedanken kann man nicht kaufen, das ist meine Meinung! / Auf einem anderen Stern sieht das Blau fast ein wenig rot aus. / Eine Pampfel, die nicht pampfelt, ist nicht mehr als eine Pumpfel. / Die Zeit immer schön flach halten! / In einer fremden Wohnung wundert man sich jedes Mal, dass jemand darin leben kann. / Dass der Wille frei ist, kann man sich an manchen Tagen hundertmal sagen. / Das ganze Leben ist Grxmpfd. / Ich mag mich täuschen, aber die Löwen sehen nicht aus, als ob sie oft zum Frisör gingen. / Wirf nicht mit der Katze nach dem Hund!

Peter Köhler (27.7.2004)

Deutschland besackenhack!

Patriotismus wir brauchen für unser sehr schönes deutsches Vaterland

Dem Vaterland ist not. Der Heimat droht kaputt. Das Volk hat schlapp, den Staat ist schief, des Wirtschaft tut ab. Deutschland geht auf dem Rücken, meinen alle schwer. Die Auguren haben dunkel. Ist die Nation noch retten machen?, fragen Eierköpfe voll. Das muss anders!, ruft die Politik aus dem Mund fürwahr, wenn wir uns nur wollen! Mit wir geht es uns voran!, weist sie in die Zukunft vorn.

Doch wem oder was sind wir?, so macht wie seit tausend Äonen die deutsche Frage sich offen. Sind wir überhaupt wie uns? Wo sind wir wiehalb? Wen wollen wir wogegen wowauf? Welchem wessen wir uns wadumm? Indes: Dem allen ist letzthalb pinkelegal. Wenn wir uns nur wieder mögen möchten wollen, wie uns lieben zu können allen verheißen gemusst ist! Deutschenpflege, das ist der Gebot den Stunden. Dem Deutschen tut das Deutsche ob. Hoch das Heimatstolz empor! Des Vaterland hinauf!

Zwar mit schiefen Augen äugt die Welt auf Deutschland in Europi Mittelloch. Deutschland Sauertopf gepanzerstark, dass Hitlerbrand Teutonenstrull dem Nachbarfell verohrenzieht, des dünkt das Ausland allenthalbs. Doch dem ist jetzt der Buckel da! Mit vollem Strotz steht Deutschlands Trutz auf gutem Recht im eignen Beritt, traun anfür und sapperlot: Mit Wanderklang im Dirndlsegen zur Schützenkrone voll Kindergnade, keine andere Zunge kann auf solche Gebarung gehörig sein. Das Waldesglück dem Alpengold im Hallighimmel, kein fremdes Ohr kann hochgejodel aufgewagnert besserwiss! Potztausend Weihnachtskeks und Nudelheit! Oh Kegelmacht Gemütsamkeit! Eiderdaus Regelgut und Sauberzack! Fürhold, dem deutschen Sprachen ist Wundersinn. Schöner den Lippen nie klingelt, was den Schmalzlappen niemals verzwickt: Wurstklammerhaus, Wiesenbuchlitze, Körperbrockenfass, Geburtsverbackensbilderbaum, Ofenrolle, Dackelhut, Gedankenbeutel – solcher Besitz mögte dem Vaterland behilflich sein wollen, um die Bewandtnis zu besitzen, dessen es in seiner Befugnis so bedarf.

Daran wachse das Vaterland strocks! Das Heimat ist die Krone des Lorbeer, den Palmen der Welt. Des hat das Auge warm! Und siehe, des Freuden Eimer macht Deutschland gnadenüber. Das Volk wird wieder ganz. Dem Land steht es heil. Das Macht ist der Einheit um den Freiheit willen übergut, dessen ist normal. Dem Miesegram hinweggefeg! So wird Deutschland hynkelbart bestechenschritt der Zukunft gegen.

Damit hat nun alles für und für: Dem Vaterland steht das Heimat gern, dessen ist jetzt futtenklar. Darum Deutschland lieb von allen schnoppelhoppel sackenhack! Dahalb hätschelweis vermögensbroll von allerseits. Sonst derverstalten mopfenblut, dass deutsch bestiefelgau gehodenfest! Verstrappen die Knursch, verstrappen die Mursch: o so verstrappen!! Wüllewoll bestraffenstucken strückenstocken heileweil zerweltenhock verknüppelsau: gewaffenwurz vererbenwack zerfrotzenpotsch! Jawulz!

Peter Köhler (13.1.2005)

Stirn ermüdet, Herz vergletschert

Die Wahrheit schreibt den offiziellen Rolf-Hochhuth-Preis für gequirlten Quark aus

»Greller Mittag, graues Zimmer / Stirn ermüdet, Herz vergletschert / eingestuft du, ›aus‹-gewertet / Sommer Phrasen Schlußverkauf.« So fängt ein Gedicht des Lyrikers Rolf Hochhuth an, und so geht es weiter: »Vor dem Fenster ›Wirklichkeiten‹ / die sich lärmend selbst erzeugen / Wegwerf-Ware wie wir selbst / Müllplatz der Big Dollar Words.« Und noch ‘ne Strophe: »Schnittpunkt Börse, Ämter-Kehricht / Mandarine der Konzerne / – du dazwischen ortlos zappelnd / Köder von ZK und Wallstreet.«

Rolf Hochhuth ist, wie soll man sagen, zwar weltberühmt, aber nicht eben einer der Hellsten, und im Sonnenschein seiner Berühmtheit dichtet er seit Jahrzehnten so vor sich hin: »Zu entnervt, um nur zu fragen / wer dich kreiselt und verschleißt / ferngelenkt nach einem Kursbuch / dessen Chiffren niemand kennt.« In einem hochnotpeinlichen, an den Spiegel gerichteten Leserbriefgedicht über den Holocaust hat Hochhuth sich kürzlich abermals als Lyriker in Erinnerung gebracht, und wenn nicht alles täuscht, ist es höchste Eisenbahn, den Rolf-Hochhuth-Preis für gequirlten Quark auszuschreiben, im Geiste des Meisters, der einst gedichtet hat: »Friede, Gesundheit sind Zonen / des Neides, der Rachsucht, der Gier. / Erfolge, Schönheit, Applaus / locken Unfälle, Krankheiten, Frauen / und Politik an wie ein Vampir, // Der, was Familien erbauen, / leersaugt oder wegschleppt als Beute. / Wer kann sich dem Schicksal entziehen? / Lebe! – doch wisse auch heute: / Bett und Tisch sind nur jedem geliehen.«

Irgendwie zum Ausdruck bringen wollen hatte Hochhuth in diesem Gedicht vermutlich, dass Bett und Tisch »jedem nur geliehen« seien, opferte diesen ohnehin kargen Gedanken jedoch dem selbst verordneten Rumpeldipumpel-Rhythmus, und so kam es zu dem sonderbaren Ratschlag, man solle sich merken, dass Bett und Tisch nicht etwa uns allen geliehen worden seien, sondern »nur jedem«, also eben doch uns allen.

Und auch der Rest ist Quark, der sich als Gesellschaftskritik spreizt: Denn wen möchte Hochhuth anklagen, wenn es nach seiner eigenen Aussage die Erfolge, die Schönheit und der Applaus sind, die in Vampirgestalt die Unfälle, die Krankheiten, die Frauen, die Politik und das von den Familien Erbaute anlocken, leersaugen oder wegschleppen? Die Erfolge, die Schönheit und den Applaus?

Höchste Zeit, den Rolf-Hochhuth-Preis für gequirlten Quark auszuschreiben. Darum bewerben kann sich jeder, der bis zum 1. September 2005 ein mehrstrophiges, möglichst schlecht gereimtes und möglichst holperiges Gedicht über irgendein zeitgeschichtliches oder sozialpolitisches Sujet an folgende Adresse einschickt: Die Wahrheit, taz – die tageszeitung, Kochstraße 18, 10969 Berlin, Stichwort: »Quark«.

Dotiert ist der Rolf-Hochhuth-Preis für gequirlten Quark mit neun Euro 99 und 250 Gramm Kräuterquark, und verliehen wird er der glücklichen Gewinnerin oder dem glücklichen Gewinner am Stand der taz auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Alleiniger Juror ist Gerhard Henschel. Der bekannte Lobredner Oliver Maria Schmitt wird die Laudatio halten.

Also dichten Sie bitte. So gequirlt wie der olle Hochhuth! Können Sie das?

Gerhard Henschel (19.5.2005)

Gurke des Tages

Bei Wirtschaftsjournalisten fragt man sich manchmal, was dröger ist: ihr Thema oder sie selbst. Dabei bemühen sich Wirtschaftsjournalisten immer um eine lebendige, farbige und metaphernreiche Sprache. Und schreiben über »Lufthansa-Aktien im Steigflug«. Oder melden wie gestern die Ticker-Sherpas der Nachrichtenagentur AP: »Deutscher Automarkt nimmt Fahrt auf.« Wie sieht das wohl aus, wenn ein ganzer Markt Fahrt aufnimmt? Und wo fährt der Markt dann bloß hin? Sicher dorthin, wo die wilden Metaphern wachsen.

(15.6.2005)

Sommer des Scheidewegs

Neues von der beliebtesten Weggabelung der Welt: Dichtes Gedränge im Juni

Alle paar Wochen schauen wir uns am Scheideweg um, was so los ist und wer neu eingetroffen ist an der beliebtesten Wegkreuzung der Welt. Und üblicherweise schreiben wir dann einen kleinen Monatsbericht, der oben auf der Wahrheit-Seite seinen Platz findet. Doch in diesem Sommer ist alles anders. Wahlen stehen an, eine Krise soll stattfinden – und als Resultat ist der gute alte Scheideweg so überfüllt wie lange nicht mehr.

Dabei beginnt es recht harmlos mit einem Kommentar des europapolitischen Sprechers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Peter Hintze, zur Ablehnung der EU-Verfassung in den Niederlanden: »Europa am Scheideweg«, meldet der in seiner Fraktion »Pfarrer Baldrian« genannte Hintze am 2. Juni den oft und gern am Scheideweg gesehenen Gast Europa, der von den übrigen Scheidewegelagerern mit lautem Hallo begrüßt wird. Zu denen beispielsweise der FC St. Pauli und der KFC Uerdingen zählen, wie dpa am 6. Juni entdeckt: »Auf Grund ihrer finanziellen Schieflage stehen der FC St. Pauli und der KFC Uerdingen nach dieser Saison am Scheideweg.« Schieflagen haben schon öfter an den Scheideweg geführt. Es verwundert daher nur wenig, dass wieder einmal der Dauergast Irak am Scheideweg eintrifft, wie der designierte US-Botschafter in Bagdad, Zalmay Khalilzad, am 7. Juni bemerkt: »Der Irak steht am Scheideweg.«

Doch jetzt kommt es ganz schlagzeilendick: »System am Scheideweg«, betitelt Die Welt am 11. Juni eine Beilage. Steht tatsächlich das ganze Schweinesystem am Scheideweg? Nein, zum Glück handelt es sich nur um das Gesundheitssystem, das zwar enorm viel Platz beansprucht, aber zumindest etwas Raum für andere Bewohner lässt.

Der auch dringend notwendig ist. Denn am 14. Juni treffen die ganz dicken Brieftaschen ein: »Deutsche Banken am Scheideweg«, titelt die Süddeutsche Zeitung. Inzwischen gibt es ein heftiges Geschiebe um den verbliebenen Restplatz am Scheideweg, mit den Banken jedoch sind wenigstens alle Sorgen ums Geld am Scheideweg verflogen.

Dass dann mit Beginn des Confed-Cups »Rehhagels EM-Helden am Scheideweg« auftauchen, wie dpa am 17. Juni berichtet, irritiert längst niemanden mehr. Die griechischen Defensivfußballer sind eine echte Bereicherung in der mittlerweile Schulter an Schulter an der Kreuzung ausharrenden Masse. Tore durch die Griechen fallen allerdings nur wenige.

Dann kommt Deutschland! Wie immer mit aller Wucht und mit der designierten Kanzlerin Angela Merkel, die der FAZ am 24. Juni ein Interview gibt, das die alten Frankfurter Zeitungshasen munter auf die Seite eins nageln: »Deutschland steht am Scheideweg«, brüllt die Schlagzeile hinaus, und allen bereits am Scheideweg Eingetroffenen bleibt nun doch die Luft weg. Das dicke Deutschland auch noch, geht ein Stöhnen durch die Reihen, und erstmals ist ein leichter Widerwille zu spüren: Man könne doch nicht jeden an den Scheideweg lassen, und wenn schon, dann lieber die CDU-Kandidatin allein. Grimmig skandieren die Scheideweg-Bewohner: »Merkel an den Scheideweg!«

Genützt hat es nichts. Aber wir beobachten die beliebte Weggablung weiter, und demnächst werden wir dann auf eine ganz besondere rhetorische Leistung eingehen: »Das ist ein erster Schritt in die richtige Richtung.« Gibt es auch erste Schritte in die falsche Richtung? Wahrscheinlich nur am Scheideweg.

Michael Ringel (6.7.2005)

Wenn alle Stricke reißen …

Die Literatur des Landes Gordien ist reich an überaus verwickelten Problemen

»Tertium non datur«, heißt es am Schluss von »Tao«, dem neuesten Roman von Literaturnobelpreisträger Ronato Kentzo, der damit seine unstillbare Hassliebe zum eigenen Land zur Sprache bringt: Man kann Gordien abgöttisch lieben oder es in die Hölle wünschen – eine dritte Möglichkeit gibt es nicht.

Zum ersten Mal wird in diesem Jahr Gordien und seine Literatur auf der Frankfurter Buchmesse vertreten sein. Das gab am vergangenen Dienstag der Börsenverein des Deutschen Buchhandels bekannt und begrüßte zugleich den »starken Geschäftsstrang, der zwischen Frankfurt und Gordo geknüpft worden ist«. Und niemand repräsentiert den typisch gordischen Geschäftssinn so wie Ronato Kentzo.

Kentzos Beziehung zu Gordien gleicht der seiner ewigen Hauptfigur Ombert Ecu. Ecu, Olympiaberichterstatter und glückloser Verfasser historischer Sportromane, der seit »Gjorcje è Tisku« (dt. »Der Knoten im Taschentuch«, Ullstein, 1997) Leser auf der ganzen Welt bezaubert, liebt die Schönheiten des Landes: die kühlen Sundischen Wälder, die heißblütigen Gordierinnen, die Strecke der Transgordischen Eisenbahn und die glorreiche olympische Vergangenheit der »Kordeln« – wie die Gordier sich selbst nennen.

Im Telefongespräch mit dem Autor dieses Textes sagte Kentzo, der wegen eines endlos-verworrenen Strafprozesses