Sternstunden - Peter Neumann - E-Book

Sternstunden E-Book

Peter Neumann

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Beschreibung

Die Geschichte eines philosophischen Aufbruchs

Mit den Ideen der Französischen Revolution gerät nicht nur das alte Europa ins Wanken. Eine ganze Generation von Dichtern und Philosophen beschließt, die Welt neu zu denken. Die führenden Köpfe – darunter die Brüder Schlegel mit ihren Frauen, der Philosoph Schelling und der Dichter Novalis – treffen sich in Jena, um eine »Republik der freien Geister« zu errichten. Sie stellen gesellschaftliche Traditionen infrage und revolutionieren zugleich auch unser Verständnis von Freiheit und Wirklichkeit – bis heute. Leidenschaftlich erzählt Peter Neumann von dieser ungewöhnlichen Denkerkommune, die den geistigen Aufbruch in die Moderne vorbereitete.

Das Buch ist 2018 unter dem Titel »Jena 1800« beim Siedler Verlag erschienen. Enthält zahlreiche Abbildungen.

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Seitenzahl: 299

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Jena 1800: Mit den Ideen der Französischen Revolution geraten nicht nur die politischen Verhältnisse in Europa ins Wanken. Von den Ideen Immanuel Kants beflügelt, beschließt eine Gruppe von jungen Dichtern und Philosophen, die Welt neu zu denken. Dorothea und Friedrich Schlegel, dessen Bruder Wilhelm und seine Frau Caroline, der Philosoph Schelling und die Dichter Novalis und Clemens Brentano – sie alle treffen sich im thüringischen Jena, um die großen Themen der Zeit zu erörtern. Dabei stellen sie nicht nur gesellschaftliche Konventionen in Frage, sie revolutionieren mit ihrem Blick auf das Individuum und die Natur zugleich auch unser Verständnis von Freiheit und Wirklichkeit – bis heute.

Peter Neumann gelingt es meisterhaft, diese Sternstunde der europäischen Geistesgeschichte zum Leuchten zu bringen. Und wir werden Zeuge, wie hier, im Kreise der Schlegels, ein neues Denken den Beginn der Moderne einläutet.

Der Autor:

Peter Neumann, geboren 1987, lebt als freier Schriftsteller in Weimar und lehrt Philosophie mit Schwerpunkt Deutscher Idealismus an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

PETER NEUMANN

Sternstunden

Jena 1800

und der Aufbruch

in die Moderne

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Die deutsche Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Jena 1800. Die Republik der freien Geister« im Siedler Verlag, München.

© 2018 für die deutsche Originalausgabe by Siedler Verlag, München,

Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Pantheon Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagabbildung: Joseph Roux, Ansicht der Stadt Jena vom Rasenmühlberg (Ausschnitt), ca. 1810, Radierung, Goethe National Museum, Weimar/Bridgeman Images

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-26017-0V001

www.pantheon-verlag.de

Inhalt

Der Morgen danach

Erster Teil

Die unvollendete Revolution

Im Auge des Sturms:

Eine Philosophie erfasst den Kontinent

Das Wagnis der Freiheit:

Madame Böhmer probt den Aufstand

Mit besten Grüßen, Ihre Außenwelt:

Fichte, Schelling und das Ich

Großes Theater:

Die Zeit auf der Probe

Dresdner Kunstpause:

In den Armen der Madonna

Zweiter Teil

Das geschenkte Jahr

Schönstes Chaos:

Lucinde oder die Vermessenheit der Liebe

Das eingebildete Subjekt:

Fichte vor dem Gesetz

Dienstbare Geister:

Einmal zum Mond und zurück

Schlegeln und geschlegelt werden:

Literarische Teufeleien

Der Alte vom Berg:

Im Paradies mit Goethe

Intermezzo:

Das vertagte Jahrhundert

Geschichte wird gemacht:

Schiller und der Sturm auf die Salana

Ärger mit den Evangelisten:

Novalis und die Religion der Zukunft

Herrscher ohne Reich:

Die Familie der herrlichen Verbannten

Dritter Teil

Der rastlose Weltgeist

Gemüsegärtner und Gelehrte:

Spekulationen über dem Abgrund

Bleischwere Zeiten:

Schelling unter Beschuss

Hegel und die Nussknacker:

Philosophie ist kein Studentenfutter

Kant in fünfzehn Minuten:

Germaine de Staël lässt bitten

Neuland bestellen:

Im Bergwerk der Poesie

Am Vorabend

*

Lebenswege:

Was aus ihnen wurde

Zeittafel:

Chronik der Ereignisse

Anmerkungen:

Ausflüge in die Umgebung

Literatur:

Grundlegendes, Abseitiges, Weiterführendes

Bildnachweis

Der Morgen danach

Die Erde zittert. In den Häusern klirren die Fensterscheiben. Dumpf, aber deutlich sind sie von überall zu hören: die Kanonen. Der Angriff kommt von Süden. Auf einen stärkeren folgt ein schwächerer Knall, nach und nach geht das Getöse in ein Rollen über, als würden ganze Batterien aufeinander abgeschossen. Die preußischen Vorposten bei Maua und Winzerla sind bereits erobert, der Rest hat sich nach Norden zurückgezogen.

Mit den Kleidern am Leib liegt man auf den Betten und horcht. Totenstill ist es jetzt in der Stadt. Jederzeit kann es Feueralarm geben, jederzeit können die Glocken wieder anfangen zu schrillen. Die meisten bleiben ruhig in ihren Häusern, lugen hier und da hinaus. Alle horchen mit Furcht auf das, was als Nächstes geschehen wird.

Bald schon werden Schüsse der französischen Patrouillen durch die engen Gassen hallen. Eine ganz neue Welt wird sich vor den Bürgern auftun. Szenen, die sie niemals für möglich gehalten hätten. Wo gerade noch Vorlesungen über Logik und Metaphysik gehalten wurden, Studenten sich über die Vorzüge des einen oder anderen philosophischen Systems stritten, man über Literatur und Kunst, Natur- und Geschichtsphilosophie diskutierte, werden in den ersten Stunden des 13. Oktober 1806 hungrige Soldaten mit Fackeln in den Händen durch die Straßen streifen. Nur wer sich ruhig verhält, wer einigermaßen Französisch spricht und von Feindlichkeiten absieht, wird von den Plünderungen und Brandschatzungen verschont bleiben. Johlen und Toben in allen Gassen. Schon um zehn Uhr werden die meisten Häuser geplündert sein. Geld, Golduhren, Silberbesteck. Und Wein – Wein gibt es hier in der Gegend mehr als genug. Ouvrez la porte! Wer dem nicht freiwillig nachkommt, dem wird die Tür kurzerhand aufgebrochen werden. Nur nicht die Fensterläden öffnen. Notfalls werden die Soldaten auch die Scheiben einschlagen, um einzudringen, sie werden vor nichts zurückschrecken. Eins, zwei, Räuberleiter. Und schon sind sie drin.

Noch am Vormittag werden die ersten regulären Truppen, von Marschmusik begleitet, durch das Neutor im Süden einrücken und für Ordnung sorgen, die Generäle und Offiziere, mit ihren hohen Federbüschen, stattlich und elegant. Ruhig wird es dann auf den Straßen wieder sein, nachdem auch die heimischen Lumpensammler, das Gesindel und die Trickbetrüger, das, was die Franzosen in den Häusern zurückgelassen haben, zu ihrer Beute gemacht haben. Trügerisch ruhig. Denn was werden soll, wer weiß das schon so genau in diesen Stunden, in denen jeder um sein Hab und Gut, ums Leben fürchten muss, Stunden der Unsicherheit und Angst, in denen Weltgeschichte und Weltgeist aufeinanderprallen. Es liegt Krieg in der Luft. Und Krieg wird es geben. Hier in Jena soll sich alles entscheiden.

Erster Teil

Die unvollendete Revolution

Im Auge des Sturms:

Eine Philosophie erfasst den Kontinent

In der Leutragasse 5 ist der Abend angebrochen. Für gewöhnlich ist jeder tagsüber auf seinem Zimmer, arbeitet, schreibt. Jetzt, zu vorgerückter Stunde, versammelt man sich um das kleine Sofa im Salon, direkt neben dem Ofen: Fritz und Wilhelm, Caroline und Dorothea, Schelling, Novalis und Tieck. Tee wird gereicht, Käse, eingelegter Hering, Kartoffeln, was vom Mittag übrig ist. Schelling greift immer wieder in den Topf mit sauren Gurken. Die Ersparnisse sind so gut wie aufgebraucht, Geld kommt durchs Schreiben nicht viel rein. Aber das ist gerade nicht so wichtig, man soupiert und philosophiert, lernt Italienisch. Dante steht auf dem Plan, La Divina Commedia, Fritz versteht sich meisterlich darauf. Wenn er Dante vorträgt, beginnen seine Augen zu leuchten, glätten sich seine ebenmäßigen Gesichtszüge, die sonst, seit es mit dem zweiten Teil der Lucinde nicht vorangehen will, angestrengt in Falten liegen. Über dem Rezitieren vergisst er fast das Essen.

Während die Lucinde auf ihre Fortsetzung wartet – der erste Teil ist vor einem halben Jahr, zur Ostermesse 1799, erschienen –, sitzt Schelling schon an einem großen Gedicht über die Natur. Das Gedicht aller Gedichte soll es sein, nichts Besonderes mehr enthalten, zumindest nichts, das als Besonderes in Erscheinung tritt; ein absolutes Lehrgedicht, ein spekulatives Epos soll es werden, sein einziger Inhalt: die unbedingte Form. Ganz für sich arbeitet er daran. Aber das hier ist Jena, und Jena ist natürlich zu klein, als dass man unbemerkt vor sich hin brödeln könnte. Am Tisch weiß jeder, was Schelling so treibt.

Gerade erst ist sein Erster Entwurf zu einem System der Naturphilosophie erschienen – und schon in aller Munde. In literarischen Journalen wird er dafür heftig attackiert, in Jena liegen die Studenten ihm zu Füßen. Schelling eckt an, gibt sich geheimnisvoll, selbst unter seinen Freunden gilt er als ein Buch mit sieben Siegeln. Wenn man ihn sieht, wie er mittags, tief über den Tisch gebeugt, die Suppe löffelt, könnte man denken, man habe einen Feldherrn vor sich, einen französischen General vielleicht, nicht einen großen Philosophen. Schelling will weder so recht zum Katheder passen noch in die literarische Welt: echter Granit.

Nur eine ist für seine Art empfänglich: Caroline. Die ist wieder mächtig beschäftigt mit ihm – und er mit ihr, der fast zwölf Jahre älteren. Erst neulich hat er ihr, ganz heimlich, eine schwarze Feder an den Hut gesteckt. Verblüfft war sie. Schwarze Feder, das bedeutet Zauber, Magie, Geheimnis … Schelling macht ihr vor versammelter Runde derart schamlos den Hof, dass Novalis, der das Schauspiel aus den Augenwinkeln beobachtet, schon einen Skandal heraufziehen sieht, rabenschwarze Gewitterwolken. Irgendwas ist da jedenfalls, was sie an ihm fasziniert. Vielleicht seine Sprödigkeit, vielleicht seine Originalität. Keine sechs Minuten sind sie zusammen, schon gibt es Zank. Er ist das weit und breit Interessanteste, was ihr seit Wilhelm untergekommen ist.

Wilhelm und Caroline, das weiß man in der Stadt und im Haus, halten nicht viel vom heiligen Sakrament der Ehe. Sie leben mehr als gute Freunde zusammen, nicht wie zwei, die einander für immer die Treue versprochen haben. Wie es scheint, besteht die Ehe nur noch auf dem Papier, eine Ehe auf Zeit. Caroline kümmert es nicht, was die Leute reden. Soll man sich in der Stadt doch das Maul zerreißen. Sie ist daran gewöhnt.

Caroline gibt die souveräne Gastgeberin, lässt sich von Schelling umgarnen, schaut zu, wie Wilhelm seinerseits mit Dorothea flirtet. Und alle so durcheinander. Ein Affentheater, findet zumindest Tieck. Aber keiner will darüber ein Wort verlieren, auch er nicht. Wenn draußen schon die Welt mit jedem Tag ein bisschen mehr in sich zerfällt, muss man wenigstens hier, im engsten Kreis, zusammenstehen.

*

Die Revolution ist vorbei, Napoleon Bonaparte hat sie beendet. Mit einem ausgeklügelten Staatsstreich hat er sich an die Spitze der noch jungen Republik katapultiert und führt jetzt als Erster Konsul von Paris aus die Geschicke des Landes. Das Ancien Régime ist endgültig passé. Auch der Papst in Rom, Pius VI., hat das Zeitliche gesegnet. Schon seit Februar 1798, nach der Eroberung des Kirchenstaates durch französische Truppen, saß er in der Zitadelle von Valence, und dort ist er nun in Gefangenschaft gestorben. Eine Zäsur hat sich ereignet, ohne Frage. Die Macht des Papsttums, die über Jahrhunderte hinweg für Stabilität in Europa sorgte, liegt am Boden. Nie ist die Zukunft derart ungewiss gewesen, es scheint, als sei sie immer schon vorbei, bevor sie überhaupt gekommen ist. Ein Riss geht mitten durch die Zeit.

Auch die Landesherren sind in Alarmbereitschaft. Sie fürchten, die demokratische Schwärmerei könnte überschwappen, von den Studenten auf die einfachen Leute und Handwerker, dann auf die Bauern, Dienstboten und Tagelöhner. In Paris hat sich ein Volk selbst das Gesetz gegeben, es hat sich von der Klasse befreit, die es in Fesseln hielt, und ist bis zum Äußersten gegangen – selbst das Schafott hat es nicht gescheut.

Der Herzog in Weimar achtet genau darauf, welcher Gelehrte welche Vorlesung hält, welche Kollegbögen zirkulieren und was wie an die Öffentlichkeit gerät. Der in Jena viel beschworenen Geistesfreiheit werden von Weimar aus die Zügel angelegt. Schon der leiseste Versuch, sich mit der Revolution gemein zu machen, wird geahndet. Fichte ist erst in diesem Sommer von der Universität entlassen worden. ›Atheismus‹ lautete der Vorwurf, ein bloßer Vorwand. Dem Herzog war Fichte von Anfang an ein Dorn im Auge. Schon damals, als er mit Goethe vor dem französisch besetzten Mainz lag und über die Berufung des Mannes, der zwar als Thronerbe Kants, zugleich jedoch als Revolutionssympathisant galt, nach Jena beratschlagt hatte.

Das sind nur einige der Streitsachen, die im November 1799 das Herzogtum Sachsen-Weimar elektrisieren. Freiheit ist das Losungswort dieser Tage, Autonomie. Fehlt nur ein tragfähiger Grund, auf dem man sie errichten kann. Nackte Gewalt, das hat sich in Paris gezeigt, führt nicht zum Ziel. Die Revolution hat ihre Kinder verschlungen und ist gescheitert. Was aber kann freier sein als die Freiheit des Denkens und die Freiheit der Kunst? Philosophie und Literatur statt politischem Aktionismus und revolutionärem Tamtam. Der Weg zur lang ersehnten politischen Freiheit, er führt durch das Nadelöhr der philosophischen Reflexion und der poetischen Einbildungskraft. Sie allein können die Gräben überbrücken, sie allein können den Weg in diese neue, noch völlig unbestimmte Zeit bahnen. Hinter das neue Jahrhundert, das auf der Schwelle steht, kann niemand zurück. Während in Paris die Revolution für beendet erklärt wird, soll sie in Jena erst beginnen.

*

November 1799: Da ist Jena so etwas wie der geistig-kulturelle Mittelpunkt Deutschlands. Nicht einmal fünftausend Einwohner zählt die Stadt, beinahe ein Fünftel davon Studenten, eine mittlere Universitäts-, Gewerbe- und Handelsstadt im Herzogtum Sachsen-Weimar, im Talkessel gelegen, zwischen steilen Hängen aus Muschelkalk. Ein mittelalterliches Ensemble, das kaum über die alte Stadtgrenze hinausreicht. Im Norden die sonnigen, von Burgruinen gesäumten Berghänge, die im Herbst voll schwerem Wein stehen, im Süden weitläufige Parkauen, in denen sich im Sommer badefreudige Studenten tummeln. Man kennt sich. Die Leutra schlängelt sich an den Gärten außerhalb der Stadtmauer entlang, ein dünner Silberfaden, der zweimal pro Woche durch die schmalen Gassen geleitet wird und den Unrat des Alltags mitnimmt, den Inhalt der Nachttöpfe, die man frühmorgens aus den Fenstern auf die Straße kippt, bis sich alles schließlich in die Saale ergießt.

Seit 1558 steht hier die »Salana«, ursprünglich als Ersatz für die elf Jahre zuvor im Schmalkaldischen Krieg verloren gegangene Universität Wittenberg gegründet, in einem ehemaligen Dominikanerkloster. Deutsche Provinz, möchte man meinen, ein verfilztes Nest aus Studenten, Professoren und Philistern. An den drei großen, von Ost nach West verlaufenden Straßen – im Norden die Johannis-, im Süden die Kollegien-, dazwischen die Leutragasse – stehen mitunter recht imposante Gebäude, viele davon Professorenhäuser, halb Gelehrtenwohnung, halb Vorlesungssaal, weitervererbt seit Generationen. In den Gassen dazwischen aber hält sich der Muff. Während das benachbarte Weimar, der Musenhof der Herzoginmutter Anna Amalia, auf einer Hochebene liegt und zu allen Seiten hin Platz bietet, stoßen hier die Gegenstände sich im Raum. Sonnenlicht, das nur in die obersten Etagen dringt. Spitzgiebel, die sich nach hinten beugen, andere, die drohen, nach vorn zu fallen.

Im Gegensatz zu den Dozenten ist es den Studenten verboten, außerhalb der Stadtmauern zu wohnen. Auch deshalb ist alles so eng, gedrungen, bleibt kein Platz zum Atmen. Gegen die schmierigen Wände, die Wanzen und Mäuse, die sich im Bettstroh eingenistet haben, hilft kein Mittel. Und doch zieht dieses Städtchen alle an, die Rang und Namen haben oder hoffen, selber einmal Rang und Namen zu erlangen. Hier, ist bald in ganz Europa zu vernehmen, sei die eigentliche Residenz des Geistes. Platons Akademie, sie steht jetzt an der Saale.

Johann Gottlieb Fichte ist seit 1794 da, ein glühender Anhänger der neuen, der kritischen Philosophie. Von Königsberg aus hat Kant nicht weniger als ein philosophisches Erdbeben ausgelöst. Die Kritik der reinen Vernunft, 1781 in Riga erschienen, ist das Werk der Stunde. Kant will die Philosophie auf ein sicheres Fundament stellen. Was wir von den Gegenständen erkennen können, hängt von den Formen unseres Verstandes und den Formen unserer Anschauung ab, und die Formen unserer Anschauung sind Raum und Zeit. Wie die Dinge an sich sein mögen, davon, sagt Kant, können wir nichts wissen. Der Umfang unserer Erkenntnis ist begrenzt.

Kants Vernunftkritik erschüttert die Geisteswelt. Von nun an ist Schluss mit allen metaphysischen Gottesbeweisen. Gottes Existenz lässt sich weder bestätigen noch widerlegen. Über die letzten Fragen nach Welt, Seele, Gott, nach Freiheit und Unsterblichkeit ist mit Sicherheit nur zu sagen, dass der Mensch, der sie sich unaufhörlich stellt, keine Antwort darauf finden wird. Moses Mendelssohn, der Anfang der Achtzigerjahre das Geschehen von Berlin aus verfolgt, nennt Kant den »Alleszermalmer«.

Doch verstaubt das Buch zunächst in den Regalen. Erst in Jena erhält es, Ende der Achtzigerjahre, die Aufmerksamkeit, die ihm gebührt, hier wird es gelesen, diskutiert und kommentiert, hier beginnt – zeitgleich mit der großen Revolution, die sich einige Hunderte Kilometer entfernt in Paris ereignet – sein Siegeszug über den Kontinent.

Wie eine Druckwelle erfasst das kritische Denken den europäischen Kontinent und stürzt den Geist in eine Krise, aus der er sich nur selbst befreien kann. »Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen«, lautet die Maxime Kants. Kein gebildeter Mensch kann dahinter nun zurück. Es gibt keine Inseln ewiger Wahrheiten, auch keine unschuldige Wissenschaft in der Abgeschiedenheit ehrwürdiger Universitäten mehr. Was dort, in Paris, die politische, die reale Revolution umwälzt, hebt hier die philosophische, die ideale Revolution gewaltsam aus den Angeln: Die alten Überzeugungssysteme gelten nicht mehr. Kant ist die neue Zeit. Und Fichte ihr Messias.

Seit Fichte in Jena ist, strömen Studenten aus allen Himmelsrichtungen herbei: Norweger, Schweden, Schweizer, Ungarn, Griechen – auch Franzosen; die sind entweder aus dem Land der Revolution geflohen oder wollen ebendiese weitertragen und finden in ihm, Fichte, gerade den Theoretiker der politischen Selbstbestimmung. Der Mensch hat keinen anderen Herren über sich, folgt keinem anderen Gesetz als demjenigen, das er sich selbst als Vernunftwesen gegeben hat.

Mit seiner Religionsschrift war Fichte über Nacht berühmt geworden. Man hatte sie für die fehlende vierte Kritik gehalten. Vier Fragen, so hatte Kant gesagt, markieren das Feld der Philosophie: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Im Grunde sei es sogar nur eine, weil die ersten drei Fragen in der letzten aufgingen. Mit seinen drei großen Kritiken hatte er das Feld dessen, was die Philosophie leisten könne, abgesteckt, sich unter anderem zu erkenntnistheoretischen, moralischen und ästhetischen Themen geäußert. Um die Philosophie auf ein sicheres Fundament zu stellen, hatte er die Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Erkenntnis aufgezeigt, er hatte die Ethik aus den Prinzipien der reinen Vernunft entwickelt, und er hatte erklärt, wieso es für den Menschen – ein zugleich sinnliches und geistiges Wesen – überhaupt Freiheit geben kann, obwohl doch die Welt nur als von Notwendigkeit und Naturgesetzen beherrscht zu denken ist. Bisher hatte Kant es allerdings versäumt, zu Fragen der Religion und dem, was zu hoffen sei, Stellung zu beziehen.

Der anonym veröffentlichte Versuch einer Kritik aller Offenbarung, so schien es, musste der Abschluss des kritischen Unternehmens sein. Abwegig war die Vermutung nicht: Fichte glaubt ganz im Sinne Kants zu denken. Seine Verehrung für Kant ist so groß, dass er und seine Frau Johanna nicht lange zögern, ihren Sohn, als es soweit ist, auf den Namen Immanuel zu taufen. Immanuel Hermann, um genau zu sein. Ja, Fichte behauptete standhaft, der kleine Immanuel sei dem großartigen wie aus dem Gesicht geschnitten. Fichte hatte sich schließlich als Verfasser der Offenbarungsschrift entpuppt und war von Goethe an die Universität berufen worden.

Blauer Frack, rotes Halstuch, gelbe Beinkleider, dunkle Strümpfe: Auch Schiller sieht man durch die Straßen eilen. Wenn es dem Hofrat seine Gesundheit denn erlaubt und er nicht wieder, von einem neuen Krankheitsschub gelähmt – Krämpfe, die es ihm unmöglich machen, das Haus zu verlassen –, ans Bett gefesselt ist. Die Zeiten, in denen er sich seinen Weg durch die Menge bahnen musste, weil die ganze Stadt in Aufruhr war, wenn er sich zeigte, sind vorbei.

Seinen Zusammenbruch vor fast acht Jahren hat er bis heute nicht wirklich überwunden. Die Arbeit ist seitdem nicht weniger geworden. Gerade hat er eine Trilogie zu Ende gebracht, ein gewaltiges Drama über den Dreißigjährigen Krieg: Wallenstein. Wenn Goethe in Jena zu Besuch ist, hockt er ständig bei ihm. Schiller hat die Einfahrt vor dem Gartenhaus, in dem er die Sommermonate verbringt, oftmals bis in den Oktober, sogar in den November hinein, eigens vergrößern lassen für die Kutsche des Dichterfürsten, das »Fahrhäuschen«, wie Goethe es liebevoll nennt. Gemeinsam brüten Geheimrat und Hofrat über Poesie und Philosophie, Naturforschung und Politik. Mittlerweile gibt es sogar Umzugspläne, die der Herzog unterstützt: Schiller möchte in Weimar, ganz in der Nähe des Theaters und des Freundes sein.

Schiller ist lange vor Fichte nach Jena gekommen, nur wenige Wochen vor dem Sturm auf die Bastille hielt er in dem Haus, in dem er nun mit seiner Frau Charlotte, Lolo, und den Kindern wohnt, seine Antrittsvorlesung, an zwei Abenden hintereinander. Der Hörsaal, das Griesbach’sche Auditorium – mit vierhundert Plätzen der größte der Stadt –, war zum Bersten voll.

Auch Schiller hat Kant studiert. Insbesondere die Kritik der Urteilskraft, die 1790 erscheint. Das freie Spiel der Erkenntniskräfte, das Kant darin beschreibt, ist für Schiller zum Zentrum seiner Idee von einer ästhetischen Erziehung des Menschen geworden. Wie Einbildungskraft und Verstand in der ästhetischen Anschauung in Wechselwirkung miteinander treten und der Begriff die Anschauung dabei umspielen muss, um sie erfassen zu können. Für Schiller befreit die Kunst den Menschen von der Herrschaft des bloßen Begriffs, zerschlägt die Fesseln der blinden Notwendigkeit. Nur da, wo der Mensch spielt, ist er ganz frei.

Kant ist in Jena allgegenwärtig. Der Kantianismus wird zu einer regelrechten Mode. Kommilitonen werfen mit Begriffen um sich, die sie nicht verstehen, bauen Systeme, während sie noch schülerhaft mit dem Degen klirren, waghalsige Konstruktionen, von denen sie wissen, dass sie beim leisesten Hauch von Kritik in sich zusammenfallen werden. Kopfgeburten. Spekulative Sätze, die sich schwer wie Mühlräder um sich selber drehen. Hauptsache, man gehört dazu. Studenten aller Fakultäten treiben sich bei den Philosophen herum. Wen kümmert das leidige Brotstudium, wenn man sich mit Kant, Fichte und Schiller in die Stratosphäre des Geistes schrauben kann.

Und nun ist im letztem Jahr ein neuer Professor berufen worden: Schelling. Er soll das kritische Denken noch radikaler betreiben als seine Vorgänger. Die Philosophie sei längst nicht am Ende, so lautet sein Credo. Er hält es für grundfalsch, die letzten Fragen aus dem Land des kritischen Denkens zu verbannen. Die Resultate sind da, nur die Prämissen fehlen.

Schelling eilt sein Ruf voraus. Während er sich in Dresden aufgehalten hatte, um den letzten Sommer vor seinem Amtsantritt in Jena mit den beiden Schlegel-Brüdern, Wilhelm und Fritz, mit Caroline, Novalis und Fichte zu verbringen, war er schon auf dem besten Weg, zum neuen Thronerben der kritischen Philosophie aufzusteigen. Und kaum in Jena angekommen, bringt er alles durcheinander.

Das Wagnis der Freiheit:

Madame Böhmer probt den Aufstand

Man erzählt sich noch viel über sie, hier auf den Straßen in Jena, hinter vorgehaltener Hand, wenn sie über den Markt schlendert. Immer dienstags, donnerstags und samstags, während sich die Bäuerinnen ahnungslos zwischen ihren Körben, Wagen und Buden die Beine in den Bauch stehen und ihre Stimmen über den Platz donnern: Frisches Obst! Frisches Gemüse! Man erzählt sich, Caroline Schlegel habe mit den Jakobinern unter einer Decke gesteckt, damals in Mainz, an der Seite des berühmten Naturforschers und Reiseschriftstellers Georg Forster, als die Stadt, von französischen Revolutionstruppen erobert, kurzerhand zur Republik ausgerufen worden war. Eine Revolution von unten. Die erste Republik auf deutschem Boden.

Die Zeit in Mainz ist auch an Caroline nicht spurlos vorübergegangen. Sie hat am eigenen Leib erfahren, was es heißt, von einer enthusiastischen Zuschauerin der Revolution zur verfolgten Parteigängerin zu werden. Sie kennt den Moment, in dem das eigene Leben aus der Bahn gerät, sich die Ereignisse überschlagen und alles auf dem Spiel steht. Sie weiß, wie es ist, wenn nur die rettende Hand eines Freundes einen Menschen vor dem Abgrund bewahren kann, der ihn in Wirklichkeit schon verschlungen hat. Ihr Name zeugt von dem Schicksalsweg, der jetzt zu ihr gehört: Dorothea Caroline Albertine, geborene Michaelis, verwitwete Böhmer, wiederverheiratete Schlegel.

Noch immer gilt Caroline in Jena als die »berühmte Mdme Böhmer«, die »als Clubbistin mit auf dem Königstein saß«, sie wird argwöhnisch beäugt, als Ausgestoßene behandelt, nicht nur von Karl August Böttiger, dem umtriebigen Publizisten aus Weimar, der für Klatsch und Tratsch wie diesen jederzeit die Ohren gespitzt hat. Erst neulich hat sie auf dem Markt zwei Frauen plappern hören, während sie gerade dabei war, einen Hut anzuprobieren, mit breiter Krempe. Gut stand er ihr, er sollte Schelling gefallen. Im Spiegel hat sie die beiden aus dem Augenwinkel beobachtet, wie sie da, verstohlen hinter ihrem Rücken, mit dem Finger auf sie zeigten. Gerede, das sich in einer Kleinstadt wie dieser nicht vermeiden lässt.

Königstein: Wenn Caroline diesen Namen hört, durchfahren sie die Schrecken jener Tage, als man sie auf der Festung im Taunus gefangen hielt, nachdem ihr Versuch, im April 1793 aus Mainz nach Gotha, zur befreundeten Familie Gotter zu fliehen, misslungen war. Ein preußischer Vorposten hatte sie wenige Kilometer hinter Oppenheim, südöstlich von Mainz, angehalten, visitiert und – nach einem kurzen Blick in den Pass – ins Hauptquartier nach Frankfurt gebracht. Der Name Böhmer war bei den Behörden bekannt. Carolines Schwager Georg Wilhelm hatte eng mit General Custine, dem Anführer der Revolution, zusammengearbeitet. Verhasste Demokraten. Das Reisegepäck wurde konfisziert. Vom Hauptquartier ging es direkt in Haft. Statt der Freiheitsbäume, die man während der Revolutionszeit aufgestellt hat, eine dunkle Zelle. Dabei war Mainz für Caroline die so lang ersehnte Unterbrechung eines allzu beschränkten Lebens gewesen.

Johann David Michaelis, ihr Vater, ist ein hoch angesehener Theologe und Orientialist an der altehrwürdigen Universität zu Göttingen, Hochburg der deutschen Aufklärung; Goethe hätte für sein Leben gern bei ihm studiert. Michaelis bewohnt eines der prächtigsten Häuser der Stadt, in der Prinzenstraße, gleich gegenüber dem Kollegien- und Bibliotheksgebäude. Hier, in der gelehrten Welt, in Gesellschaft all der Koryphäen, die bei ihrem Vater zu Gast sind, wächst Caroline auf. Ständig gilt es, die Form zu wahren.

Kurz vor ihrem einundzwanzigsten Geburtstag wird sie mit dem zehn Jahre älteren Amts- und Bergarzt Johann Franz Wilhelm Böhmer verheiratet und folgt ihm nach Clausthal in den Oberharz. Ein Jahr später, 1785, wird ihre Tochter Auguste geboren. Caroline stellt ihre eigene Entdeckerlust zurück. Die Rollen sind klar verteilt.

Vier Jahre nach der Hochzeit erliegt ihr Mann einer Infektion. Therese, das zweite Kind, ist mittlerweile geboren, ein weiteres unterwegs. Caroline sieht keinen anderen Ausweg, als nach Göttingen zurückzukehren. Es fühlt sich falsch an, aber was soll sie denn in Clausthal, wo es kaum mehr als Lehrkurse für Berg- und Hüttenleute gibt?

Viel Zeit zur Besinnung bleibt ihr nicht. Erst stirbt ihr Söhnchen Wilhelm, wenige Wochen nach der Geburt, dann Therese. Als auch ihr Vater stirbt, fasst sie den Entschluss, nach Mainz zu gehen. Mit dem Rücken zur Wand bleibt nur die Flucht nach vorne.

Sie kennt ein paar Leute in Mainz, darunter Forster, der an der dortigen Universität eine Stelle als Oberbibliothekar bekleidet, und dessen Frau Therese, Tochter des Altertumswissenschaftler Christian Gottlob Heyne. In Göttingen gehörten sie mit Meta Forkel, Dorothea Schlözer und Philippine Engelhardt zu einer Gruppe von Professorentöchtern, die endlich selbst akademisch und literarisch tätig werden wollten, Aufsätze und Gedichte schrieben. Schon damals galt: Raus aus den engen Gässchen, Französisch, Englisch, Italienisch, Shakespeare, Hume, Goldoni, fort mit all den unseligen Teeabenden! Sie weiß um die republikanische Gesinnung Forsters. Eine Ahnung, wie gefährlich Mainz werden könnte, hat Caroline nicht, als sie aus Göttingen aufbricht. Aufstand statt Anstand.

Dass das Wagnis der Freiheit mit Gefangenschaft und Sicherheitsverwahrung enden würde, hätte sie nie für möglich gehalten. Vom Krieg, wenn er denn kommen sollte, hatte sie sich eine Belebung erhofft – eine Erneuerung dieser verknöcherten Zeit: Caroline wollte ihren Enkelkindern davon erzählen können, wie sie eine Belagerung erlebt, wie man einem geistlichen Herrn auf dem Marktplatz die lange Nase abgeschnitten hätte.

*

Beinahe ist sie froh darüber, dass Auguste bei ihr im Gefängnis ist. Gustel ist zwar noch ein Kind, aber immerhin kann Caroline sich ihr anvertrauen, wenn sie nicht weiterweiß. Und das kommt oft vor, öfter, als ihr lieb ist. Die Zustände auf Königstein sind verheerend. Eine Zelle mit sieben Inhaftierten. Zudem ist Caroline schwanger. Nicht von Forster – auch wenn Therese und die halbe Welt versuchen, ihr ein Verhältnis mit ihm anzudichten –, nein, viel schlimmer: von einem jungen Besatzungsoffizier, ausgerechnet der Neffe und Adjutant des Generals Ervoil d’Oyré, der das Ruder von Custine übernommen hat. Und während aus der Ferne die alliierten Geschütze dröhnen, verwünscht sie ihren Übermut in jener freiheitstrunkenen Ballnacht am Tag der Eroberung.

Caroline fühlt sich nicht schuldig, keineswegs, nichts ist dran an den Vorwürfen, die man gegen sie erhebt: Kollaboration mit den Franzosen. Niemals hätte sie Auguste in eine solche Gefahr gebracht. Und hätte sie getan, was man ihr vorwirft, sie würde sich dazu bekennen. Forster ist indessen in Paris gelandet. Unterstützung, welcher Art auch immer, kann sie von ihm nicht erwarten. Caroline sieht sich als politische Geisel.

Die Gefängnistage sind lang. Caroline spürt, wie die Zeit zum absoluten Stillstand kommt. Zu viel hat sie gesehen, fürchterliche Szenen: Häftlinge, die zu Tode geprügelt werden, ohne dass man sie verhört oder ihnen gar den Prozess gemacht hätte. Einmal verlässt sie für drei Wochen nicht das Bett. Aber Gustel ist da. Um ihretwillen gilt es durchzuhalten.

In ihrer Verzweiflung hofft sie auf eine Kaution. Noch ist niemand bereit, sie zu hinterlegen. Selbst Goethe, der einflussreiche Geheimrat und Minister, den sie einst schwärmerisch in ihrem Göttinger Elternhaus begrüßt und erst letzten August in Mainz wiedergesehen hat – von Politik hatte man bei diesem Treffen lieber geschwiegen –, kann ihr nicht helfen. Entweder es naht bald Rettung, oder sie muss über diesen Zuständen zugrunde gehen. Absolute Freiheit oder absolute Tyrannei, das war die von Forster ausgegebene Losung, die sie nach Mainz gelockt hatte. Daran hat sich nichts geändert. Unablässig prasselt das Feuer der Alliierten auf Mainz nieder.

*

Seit dem letzten Jahr toben die Revolutionskriege in Europa, überall wimmelt es von Franzosen. Österreich, Preußen und verbündete Kleinstaaten machen mobil, um die in Frankreich grassierende, wie ein gefährlicher Virus um sich greifende »Freiheitsinfluenza« zu bekämpfen. Bis nach Mainz ist die Revolution vorgedrungen. Wenn man jetzt nicht einschreitet, kann es schon morgen zu spät sein.

Das Establishment im alten Reich reagiert fast hysterisch auf die politischen Ereignisse in Mainz. Überall wittert man Revolutionsgefahr. Als der Kurfürst, Friedrich Karl Joseph von Erthal, aus seiner eigenen Stadt fliehen muss, lässt er das Wappen, das auf der Wagentür prangt, kurzerhand auskratzen. Sein ehemaliger Leibarzt Georg Wedekind ist zu den Revolutionären übergelaufen. Sicher ist sicher. Herrscher von Gottes Gnaden, vom Hof gejagt von Volkes Zorn.

Ende Mai 1793 stoßen der Weimarer Herzog Carl August und sein Minister zu den alliierten Truppen. Preußische und österreichische Einheiten belagern jetzt die Stadt, auch sächsische, hessische sowie pfalzbayrische Kontingente unter dem Oberbefehl des preußischen Generals Friedrich Adolf von Kalckreuth. Die Stellungen der Franzosen sind nicht unvorteilhaft.

Richard Earlom, Die Plünderung des königlichen Kellers 1792, Schabkunst­blatt nach einem Gemälde von Johann Josef Zoffany, 1795 (Ausschnitt)

Wie schon auf dem Feldzug im vorigen Herbst begleitet Goethe seinen Herzog in den Krieg. Damals, in der Campagne, hatten sich die Alliierten geschlagen geben müssen. Das darf sich nicht wiederholen. Bis zum entscheidenden Angriff gegen die Republik vertreibt sich Goethe die Zeit mit Studien zur Farbenlehre, Studien, die er für den Feldzug unterbrechen musste. Die Natur ist geduldig, anders als die Geschichte. Kein Mensch kann wissen, was als Nächstes geschieht, welches Ereignis über dieses oder jenes Leben hereinbricht. Während die Geschichte stets auf dem Sprung ist, gilt für die Betrachtung der Natur: Sie macht keine Sprünge, auch wenn sie im ständigen Übergang begriffen ist, auch wenn keine Gestalt der anderen gleicht. Goethe setzt der Ereignishaftigkeit der Geschichte die Stetigkeit der Natur entgegen – ein Akt der Selbstbehauptung inmitten einer an allen Enden lose gewordenen Zeit.

Wenn sich die Gelegenheit bietet, geht der Herzog ihm zur Hand. Heilsame Ablenkung. Carl August, der das Revolutionsgeschehen in Paris anfangs wie so viele Beobachter begrüßt hat – »Augenzeuge« wollte er werden –, befürchtet, der Ungeist der Revolution könne jederzeit auf Deutschland überspringen, ganze Landstriche verwüsten. So weit ist Mainz von Weimar nicht entfernt. Hätten Österreich, Preußen und Russland sich nicht bereits kräftig gegen den Strom der Geschichte gestemmt, die Unruhen wären wohl schon in mehreren Regionen Deutschlands ausgebrochen. Gott sei Dank haben die großen Mächte unermüdlich ein Gegengift gegen die Anarchie verspritzt, aber die Krankheit wird schlimmer und schlimmer.

Zu Hause, im Herzogtum Sachsen-Weimar, muss man die Zügel ebenfalls wieder etwas straffer ziehen. Nichts darf den Frieden stören. Erst im letzten Jahr hat der Jurist Gottlieb Heinrich Hufeland eine Vorlesung über die soeben von der Nationalversammlung in Paris verabschiedete französische Verfassung halten wollen. Aber wenn auf einen Verlass ist, dann auf Regierungsrat Voigt – Hufeland lenkte ein, mit der Regierung wollte er es sich nicht verscherzen. Carl August weiß aber auch, dass nicht alle Gelehrten in Jena und Weimar so fügsam sind. Er vertraut nur den engsten Freunden.

In diesen aufrührerischen Zeiten ist Goethe seinem Herzog mal wieder um einen Schritt voraus. Als es darum geht, die Nachfolge Reinholds zu klären, eines überzeugten Kantianers, hat er seine Fühler bereits nach dem Philosophen Johann Gottlieb Fichte ausgestreckt, einem eingefleischten Demokraten, wie man weiß, ein Mann, dem sein Ruf als Revolutionssympathisant vorauseilt.

Fichte, Kants Thronerben, zu berufen liegt aus fachlichen Gründen nahe. Er wäre ein unvergleichlicher Gewinn für die Universität, ein Magnet für Studenten aus ganz Europa. Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten heißt die Schrift, mit der Fichte vor Kurzem für Aufsehen gesorgt hat, nicht zuletzt in Weimar; Wieland hat überschwängliche Worte für Fichte gefunden, für den ›anonymen‹ Verfasser einer Rezension in der Allgemeinen Literatur-Zeitung hingegen ist Fichte ein »gar zu erbärmlicher Kerl«. Ein klareres Bekenntnis zu den Ideen der Revolution in Frankreich als dasjenige Fichtes kann man sich jedenfalls in diesen Tag kaum denken. Ein ›deutscher Jakobiner‹, und Goethe versucht ihn nach Jena zu holen. Auch das noch.

Nicht zuletzt um solche Dinge hat man sich im Feldlager vor Mainz zu kümmern, während der Sommer über die Rheinhöhen hereinbricht und die alliierten Truppen zwischen zerfetzten Weinstöcken campieren, auf zertretenen, abgemähten Feldern – den Bauern hat man befohlen, sie niederzusensen, damit sich die französischen Soldaten nicht im Schutz der Ähren heranpirschen können –, und täglich, stündlich weitere Schreckensnachrichten von Verwundeten und Toten erwarten, ohne Aussicht darauf, dass sich in der nächsten Zeit etwas an diesem Zustand ändern könnte. Die Tage sind staubig und heiß, die Nächte himmlisch. Unbehagen macht sich unter den Regimentern breit; die Zeit treibt im Kreis um die nicht vorhandenen Stunden. Nicht einmal wer die Augen schließt, kann noch Schmetterlinge über honigduftende Blumen flattern sehen.

Am 18. Juni beginnt die Bombardierung. Man schießt Tag und Nacht. Kirchen, Türme, ganze Gassen brennen. Gut vier Monate nach Gründung der Mainzer Republik, am 23. Juli, erobern Österreich, Preußen und ihre Verbündeten die Stadt schließlich zurück. Forsters Befürchtung, dass die Deutschen, dieses rohe, arme, ungebildete Volk, zu keiner Revolution fähig sei, hat sich auf ganzer Linie bestätigt. Als Goethe und der Herzog durch die ausgebombten Straßen reiten, ziehen schmale Rauchfäden über die Dächer.

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Caroline kommt über Umwege frei. Zuletzt war sie nach Kronberg verlegt worden, ein kleines Städtchen, eine Stunde von Königstein entfernt, wo sie zwar jederzeit an die frische Luft gehen konnte, aber nach wie vor eine Gefangene war. Erst ihr jüngster Bruder Philipp hatte über eine ihm nahestehende Freundin mit guten Kontakten zum preußischen König ihre Freilassung erwirkt. Endlich. Raus aus der schneidenden Luft.

Entlassen und aller Ehren beraubt, gesundheitlich zerrüttet, vertraut sie sich August Wilhelm Schlegel an. Als Student in Göttingen hatte er vergeblich um die Tochter aus angesehenem Hause geworben; damals hat sie ihn – im Moment seiner größten Zuneigung – von sich gestoßen, ignoriert und tief gekränkt. Jetzt nutzt er seine zweite Chance.

Wilhelm, der über Carolines Schicksal Bescheid weiß, reist direkt von Holland nach Frankfurt. Ihr Gepäck, das bei der Festnahme konfisziert wurde, hat Caroline zurückbekommen, das Geld hat man einbehalten. Mit nichts steht sie da. Wilhelm schenkt der Gefallenen, Verfemten seinen Namen. Den Sohn, den sie noch im sächsischen Lucka zur Welt bringt, unter unerträglichen Schmerzen, lässt sie bei Pflegeeltern zurück. Wilhelm Julius wird nur anderthalb Jahre alt.

Nahtlos an die Heirat im Sommer 1796 schließt sich für Caroline und Wilhelm der Umzug nach Jena an. Auf ausdrückliche Einladung Schillers, der Wilhelm für sich und sein Zeitschriftenprojekt Die Horen gewinnen möchte. Das Leben scheint wieder in ruhigeren Bahnen zu verlaufen. Zunächst wohnt man beim Kaufmann Beyer am Markt, auch einen kleinen Garten vor den Toren der Stadt haben sie gepachtet. Wilhelm hatte ihr zwar weiße Vorhänge versprochen, in Wahrheit hängen ein paar graue Lappen vor den Fenstern, das Haus ist schmuddelig und klein, aber fürs Erste reicht’s. Wie hatte Wilhelm noch vor Kurzem diese schöne Passage bei Romeo und Julia übersetzt? »Kein steinern Bollwerk kann der Liebe wehren. / Und Liebe wagt, was irgend Liebe kann.« Ein Königreich für einen Balkon.

Im Herbst dann der Umzug in ein Hinterhofkarree in der Leutragasse, eine der besseren Adressen. Es gehört zum Döderlein’schen Haus