Stöckelschuh oder Gummistiefel - Anni Deckner - E-Book
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Stöckelschuh oder Gummistiefel E-Book

Anni Deckner

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Beschreibung

Magische Momente auf Sylt  Lena ist erfolgreiche Architektin, lebt in Hamburg und führt eine solide Beziehung mit dem Anwalt Paul. Als dieser ihr auch noch einen Antrag macht, hat Lena alles, was sie je wollte.  Das Glück ist jedoch von kurzer Dauer, denn ihr verstorbener Vater hat Lena und ihrer Schwester Fee den Familienhof auf Sylt vermacht, den Fee betreibt. Das Problem: Lena muss für ein Jahr dort wohnen und mitarbeiten, sonst wird der Hof verkauft. Lena kann Fee nicht im Stich lassen und beschließt, für einen Probemonat auf Sylt zu bleiben. Sicherlich wird sie in dieser Zeit eine Lösung finden, die es ihr ermöglicht, in ihr altes Leben zurückzukehren. Doch die Nordseeinsel entfaltet schnell ihre Magie und erinnert Lena an all die Dinge, die ihr in ihrem scheinbar perfekten Leben in Hamburg gefehlt haben. Und dann ist da auch noch Matteo, der dem Gefühlschaos die Krone aufsetzt.  Schon bald steht Lena vor der Frage, vor der sie für lange Zeit die Augen verschlossen hat: Ist das, was sie will, tatsächlich auch das, was sie im Leben braucht? Der neue Sommerroman von Erfolgsautorin Anni Deckner über Neuanfänge, Liebe und das Nordsee-Feeling, das nur Sylt bietet!

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Stöckelschuh oder Gummistiefel

Anni Deckner

Zweisamkeit

»Schönes Wochenende, Frau Hansen. Kommen Sie erholt am Montag zurück.« Wellenkamp zwinkerte ihr wohlwollend zu.

»Danke, wünsche ich Ihnen auch.« Lena lächelte. Sie freute sich auf das Wochenende mit Paul. Er hatte am Mittwoch so geheimnisvoll getan. Er habe eine Überraschung, die er ihr am Samstag eröffnen wolle. Lena liebte und hasste Überraschungen in gleichem Maße. Sie war aufgeregt und konnte kaum erwarten zu erfahren, was Paul für Nachrichten hatte.

»Übrigens ein fabelhafter Auftrag, den Sie da an Land gezogen haben«, lobte das Vorstandsmitglied sie und grinste.

»Danke. Ich hoffe, dass alles so klappt, wie ich es mir vorstelle«, räumte Lena ein. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde sie unsicher. Sie war die Jüngste im Team, und noch dazu hatte sie die Prokura der Firma inne. Doch sie hatte gespürt, dass nicht alle im Team von ihrem Projekt überzeugt waren.

»Frau Hansen, bisher hatten Sie stets den richtigen Riecher. Auch hier werden Sie Erfolg haben«, meinte Wellenkamp.

Lena grinste. »Ich weiß.«

»Bis dann.« Wellenkamp betrat den Fahrstuhl, dessen Tür sich leise hinter ihm schloss.

»Puh, endlich fertig für heute«, murmelte Lena erleichtert und stieß einen tiefen Seufzer aus. Die Macht der Gewohnheit zwang sie, ihr Büro noch einmal aufzusuchen und nach dem Rechten zu schauen. Lenas Pflichtbewusstsein ihren Kunden und Kollegen gegenüber hatte sie wie immer fest im Griff. Nachdem sie einen vergessenen Aktenordner weggeräumt hatte, verschloss sie die Tür ihres Büros. Plötzlich trieb eine innere Unruhe sie dazu, das Gebäude zu verlassen.

Im Gehen löste sie ihre Hochsteckfrisur. Ihre blonden Haare fielen in weichen Wellen über die Schultern. Sie rubbelte ihre Kopfhaut, die zu kribbeln begann. Als ob auch ihre Haare dem Wochenende freudig entgegensähen. Wie auf der Flucht vor einem Flächenbrand lief sie schneller durch die Flure. Sie hatte es eilig, hinauszukommen und die letzten warmen Sonnenstrahlen auf der Haut zu spüren. Es blieb zu hoffen, dass auch Paul den Absprung ins Wochenende rechtzeitig schaffte. Wenn er in einen Fall vertieft war, musste Lena damit rechnen, dass er die Kanzlei erst spät, nach Einbruch der Dunkelheit, verließ.

Sie hatten nichts Großes geplant, doch es durfte romantisch werden, hatte Paul angekündigt. Ein Besuch im Sushi-Restaurant am Hamburger Berg gehörte in jedem Fall dazu. Lena machte sich nicht viel aus rohem Fisch, aber Paul zuliebe nahm sie das gern auf sich. Später ein Spaziergang an der Alster entlang, danach vielleicht ein Absacker in einer beliebten Bar.

Lena grinste. Sie hätte auch nichts dagegen, wenn sie die zweieinhalb Tage im Bett verbrachten. Paul besaß eine Wohnung mit Blick auf die Elbe. Dorthin lenkte Lena nun ihren Wagen. Ihre Schwester Fee meinte immer, sie würde die Nordsee vermissen, müsste sie in der Hansestadt leben. Lena lächelte dann jedes Mal. Hamburg war doch über die Elbe mit der Nordsee verbunden. Was wollte man mehr? Hier pulsierte außerdem das Leben, und darauf wollte Lena nicht verzichten.

Sie nahm den Fahrstuhl hinauf zu Pauls Wohnung. Mit Stöckelschuhen war es ihr zu beschwerlich, die Treppe in den zweiten Stock hochzugehen. Turnschuhe trug sie nur auf ihren regelmäßigen Joggingrunden, die sie in den Sommermonaten sehr früh, vor Arbeitsbeginn, unternahm. Während der Fahrstuhl mit einem leisen Surren emporsauste, holte sie die Schlüssel aus ihrer Handtasche. Die Wohnung war mit modernen weißen Möbeln eingerichtet, die Lena eine Spur zu steril vorkamen. Doch Paul legte großen Wert auf Eleganz. Eines der wenigen Dinge, bei dem sie sich nicht einig waren. Die Schuhe mit den mörderischen Absätzen ließ Lena im Flur stehen. Dann ging sie ins Wohnzimmer, um sich einen Aperol Spritz zu gönnen. Sozusagen als Auftakt zu einem unvergesslichen Wochenende mit Paul. So hatte er es zumindest genannt, als er die Einladung dazu ausgesprochen hatte.

Ihr Herz klopfte aufgeregt, als sie von der Tür her ein Schlüsselrasseln vernahm. Paul und sie waren nunmehr seit fünf Jahren ein Paar, doch dieses Kribbeln im Bauch hielt bei Lena weiterhin an. Glücklich ging sie ihm entgegen. Mit bereits gelockerter Krawatte erschien Paul in Wochenendstimmung.

»Guten Abend, meine Schönheit. Großartig, dass du schon da bist.«

Lena musste lachen. »Wie ungewöhnlich, dass du schon da bist. Mit so viel Pünktlichkeit habe ich wirklich nicht gerechnet.«

»Du bist unmöglich«, knurrte Paul und mimte den Beleidigten. Dann zog er sie jedoch zu sich heran und küsste sie voller Leidenschaft. Er war einen Kopf größer als Lena, sodass sie sich dazu auf Zehenspitzen stellen musste. Paul hob sie hoch und trug sie ins Wohnzimmer zum Sofa. Lena schluckte. Er wirkte außerordentlich feierlich. Sein Blick ließ sie nicht los. Was hatte er vor? Sie schmiegte ihre Wange an seine, doch Paul schob sie ein wenig von sich.

»Heirate mich«, bat er ohne lange Vorrede und lächelte sie an.

Lena schluckte erneut. Die Ehe hatte nie zu ihren Zukunftsplänen gehört. Sie war immer der Meinung gewesen, dass Paul ähnlich dachte. Offenbar hatte sie sich getäuscht.

»Aber Paul!« Ihr Blick schweifte hektisch hin und her. Es fiel ihr schwer, Paul in die Augen zu sehen. Sie wollte ihn nicht abweisen und damit vor den Kopf stoßen. Durfte sie seinen Antrag einfach so ablehnen? Würde ihre bisher intakte Beziehung darunter leiden?

Sie atmete tief ein und aus.

»Ja«, kam schließlich über ihre Lippen, und sie fiel ihm um den Hals. Er war sichtlich überglücklich. Lena hatte den Antrag angenommen, ohne weiter darüber nachzudenken. Sie war erstaunt, wie gut es sich anfühlte. Sie würden heiraten. Lena lachte ausgelassen. Ja, es war richtig. Was sich so anfühlte, konnte nicht falsch sein. Glücklich schmiegte sie ihren Körper an Paul.

Morgenstunde auf der Insel

Mit einem Kaffeebecher in den Händen schlenderte Felizitas Hansen nach getaner Arbeit über den Hof. Sie lächelte zufrieden, hatte sie doch das morgendliche Pensum von dem, was im Betrieb anfiel, geschafft. Die Pferde grasten entspannt auf der Hauskoppel, die Gänse hatten Futter erhalten, und die Kälber tummelten sich ausgelassen, verspielt und frech auf der Wiese, die dem Offenstall angrenzte. Sie besaß nur noch Rinder zur Aufzucht, von den Milchkühen hatte sie sich trennen müssen, da der Ertrag sich nicht mehr für ihren Betrieb gelohnt hatte. Obwohl der Tag, an dem die Kühe abtransportiert worden waren, Fee sehr geschmerzt hatte, genoss sie inzwischen den Vorteil, nicht mehr jeden Morgen früher als früh aus den Federn zu müssen.

Arbeit gab es auf ihrem Biohof ohnehin genug. Es war ein langer Weg gewesen, alle Auflagen zu erfüllen, die für das Siegel ›Bio‹ vonnöten waren. Mittlerweile jedoch hatte sie sich den Respekt der wenigen Landwirte auf Sylt erworben und war zu einer der beliebtesten Versorgerinnen der Umgebung geworden. Nachdem ihr Papa verstorben war, hatte sie das alleinige Sagen über die Belange des Betriebs. Einiges war für sie inzwischen leichter geworden, doch er fehlte ihr immer noch überall. Die Gespräche am Mittagstisch vermisste sie ebenso wie die Streitigkeiten. Still war es geworden, seit er nicht mehr da war. Sie vermisste ihn und ihre Mutter, die nur zwei Jahre vor ihm gegangen war. Aber Fee war bereit für die Zukunft, auch ohne ihre Eltern.

Da gab es noch ihre ältere Schwester, die in Hamburg lebte und arbeitete. Für die Landwirtschaft hatte Lena nie etwas übriggehabt. Damit war auch klar, wer den Hof weiterführen würde. So hoffte Fee jedenfalls. Die Testamentseröffnung stand noch aus.

Fee sah an sich herunter und musste grinsen. Ob es angemessen war, zu diesem Anlass in Arbeitskombi und Gummistiefeln zu erscheinen? Lena würde in Grund und Boden versinken. Der Spaß wäre es eigentlich wert.

»Moin Fee, schon in Kaffeekränzchenlaune?«

Sie wandte sich verwundert um, denn sie hatte niemanden kommen hören. Dann entdeckte sie ihn.

»Moin Hauke, so früh schon unterwegs?«

Hauke war der Tierarzt auf Sylt und Fees heimlicher Schwarm. Seine stahlblauen Augen zwinkerten ihr vertraut zu.

»Ich habe gehört, du bist seit einiger Zeit stolze Pferdebesitzerin. Herzlichen Glückwunsch.«

Fee freute sich, dass die Nachricht bei Hauke angekommen war. Natürlich wünschte sie sich, dass ihre Tiere gesund waren, aber Hauke war auf dem Hof trotzdem gern gesehen.

»Und ob! Sie sind einfach traumhaft. Möchtest du sie begrüßen?«

Hauke zögerte und zog sein Handy hervor. Es folgte ein kurzes Gespräch, dann legte er auf.

»Wenn alle gesund sind, würde ich das gern ein andermal nachholen. Mir ist eben ein Notfall ins Netz geflattert.« Achselzuckend schaute er Fee an.

»Alles fit, ich möchte dich auch ungern in der Funktion als Veterinär bei mir sehen. Das fehlte mir gerade noch. Von den Kosten ganz zu schweigen, die mir momentan wehtun würden.« Fee lachte unsicher. »Aber schön, dass du vorbeigekommen bist, ohne dass ich dich gerufen habe. Jederzeit wieder.«

»Klar, wir holen das nach. Aber dann nehme ich auch so einen Becher mit Wachmacher.«

»Versau es dir nicht mit dem Notfall«, scherzte Fee und lachte. »Bis dann, Hauke.«

Er hatte sein Auto vorn am Gatter der Hauskoppel geparkt. Fee starrte ihm nach, auch als er bereits eingestiegen war.

Was für ein heißer Typ, dachte sie verträumt. Nun hatte sie nicht erfahren, warum er vorbeigekommen war.

Während Hauke den Jeep startete, kribbelte es in ihrer Magengegend. Sie hielt den Kopf schief, um den Wagen auch nach der letzten Biegung sehen zu können. Doch vergeblich. Lediglich die Auspuffgeräusche des Sechszylinders klangen eine Weile nach.

Reiß dich zusammen, Fee Hansen.

Sie schüttelte den Traum von einem Kerl aus ihren Gedanken und sah auf die Uhr. Zu Lebzeiten ihres Vaters hätte sie jetzt damit begonnen, das Mittagessen vorzubereiten. Er hatte großen Wert darauf gelegt, die Mahlzeiten pünktlich einzunehmen. Fee hatte nie Verständnis dafür gehabt. Sie mochte es gar nicht, wenn der Hunger auf Uhrzeiten beschränkt sein sollte. Doch inzwischen hatte auch sie diese Gewohnheit übernommen. Nach einem arbeitsreichen Vormittag verlangte der Körper eben nach Nahrung.

Jedoch war die Auswahl an Speisen nicht sehr groß. Oft genügte ihr ein Sandwich oder ein Teller Suppe. Statt sich aufwendig Essen zu machen, nutzte sie die Pausen lieber, um an den Strand zu gehen. Dort lag sie dann in den Dünen, ließ die Sonne ihre Haut erwärmen und beobachtete das Meer mit all den Facetten, die es zu bieten hatte. Die Nordsee sah, je nach Witterung, an jedem Tag anders aus.

Es kam aber auch vor, dass Fee einschlief. Sie träumte dabei meist von einem Tierarzt, der ihre Gedanken selbst im wachen Zustand beherrschte. Doch sie ahnte, dass Hauke für immer ein Traum bleiben würde. Denn er hatte ihr gegenüber bisher nie etwas anderes gezeigt als freundliche Zurückhaltung.

Sie seufzte sehnsuchtsvoll. Sie brauchte jetzt eine Ablenkung. Entschlossen verzichtete sie auf ein Mittagessen, holte das Putzzeug aus dem Stall und lief zur Weide.

»Mädels und Jungs, heute ist Wellness angesagt«, lockte sie die Pferde und lachte. Der vielversprechende Hengst trottete schnaufend auf sie zu. Fee plante, mit ihm eine Zucht aufzubauen. Doch ob das klappen würde, stand in den Sternen. Dazu fehlten der Landwirtin noch die nötigen finanziellen Mittel.

Warten auf Lena

Fee sah nervös auf ihre Armbanduhr. Wo blieb Lena nur? Ein ungutes Gefühl stieg in Fee auf und knabberte an ihrem ohnehin angeschlagenen Nervenkostüm. Ursprünglich hatte sie ihre Schwester am Abend vorher erwartet. Aber das war typisch für Lena. Der Notartermin war um neun Uhr. Fee kannte die Zugverbindungen auswendig. Laut Fahrplan liefen um diese Zeit keine Züge ein, von einer Fähre aus Dänemark ganz zu schweigen. Lena war es zuzutrauen, dass sie mit einem Flugzeug am Strand landete und auf Stöckelschuhen durch den feinen Sand stelzte. Doch sie würde kaum einen Piloten finden, der für sie eine saftige Strafe in Kauf nahm.

Es nützte nichts, Fee würde allein nach Westerland fahren und hoffen müssen, dort auf ihre Schwester zu treffen. Fees sonst so leuchtend grüne Augen verfinsterten sich. Was, wenn Lena den Termin vergessen hatte? Das war eher unwahrscheinlich. Ihre ältere Schwester war nie unpünktlich. Das gehörte für sie zum guten Ton.

Fee beschloss, sich keine Sorgen zu machen. Das ungute Gefühl bezüglich der Testamentseröffnung blieb dennoch. Sie schaute zurück auf den Hof. Ihre Zukunft, ihr liebstes Hobby und ihr Beruf zugleich. Fee lächelte. Wer hatte sonst schon das Glück, dass seine Leidenschaft gleichzeitig auch der Brotjob war? Doch warum ihr verstorbener Vater so einen Aufstand um das Testament geplant hatte, entzog sich der Kenntnis der Schwestern.

In letzter Minute stürmte Fee in die Kanzlei des Notars und meldete sich ein wenig außer Atem bei der Sekretärin an. Frau Hahn sah sie erstaunt an.

»Frau Hansen, ist Ihre Schwester nicht dabei? Dann sind wir nicht befugt, mit der Eröffnung des letzten Willens Ihres Vaters anzufangen.«

Fee wurde von Verzweiflung erfasst. Wie konnte Lena ihr das antun?

»Ich hatte gehofft, dass Lena hier wäre.«

Frau Hahn schüttelte den Kopf. Mit ihrer Kurzhaarfrisur wirkte das ein wenig ungelenk. Doch an der Tatsache, dass Lena nicht da war, änderte sich dadurch nichts. Fee hatte für gewöhnlich einen leicht gehässigen Spruch auf den Lippen, wenn sie mit der Hahn zu tun hatte. Aber heute hielt sie es für besser, darauf zu verzichten.

Hinter ihr wurde eine Tür kraftvoll geöffnet, und Fee zuckte zusammen.

»Guten Morgen«, dröhnte die dunkle Stimme Dr. Steinbachs, »die Hansen-Frauen bitte.«

Fee sah den Notar, den sie seit ihrer Jugend kannte, aus weit aufgerissenen Augen an.

»Meine Schwester ist bislang nicht eingetroffen«, meinte sie entschuldigend, »aber ich denke, sie wird jeden Augenblick hereinschneien.«

»In Ordnung, dann warten wir gern einige Minuten, aber kommen Sie doch näher.« An Frau Hahn gewandt fügte er hinzu: »Schicken Sie Lena Hansen bitte sofort herein, sobald sie erscheint.«

Die Sekretärin nickte stumm und widmete sich ihrer Arbeit.

»Steht im Testament meines Vaters etwas Ungewöhnliches?« Fees Versuche, vorab zu erfahren, was sie erwartete, scheiterten an der Verschwiegenheit des Notars.

»Wir warten auf Ihre Schwester«, entgegnete Dr. Steinbach in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Eine halbe Stunde später fand Fee sich auf der Straße wieder. Lena hatte sie versetzt, und der Termin bei Dr. Steinbach war vorbei, ohne Testamentseröffnung. Fee vermochte nicht einzuordnen, warum sie weinte. War es vor Wut, Enttäuschung oder der Sorge, welcher Wille ihres Vaters aus dem Testament hervorgehen mochte? Heute würde sie es jedenfalls nicht mehr erfahren.

Fee ließ sich auf der Steintreppe vor dem Anwaltsgebäude nieder und vergrub ihr Gesicht in den Handflächen.

»Lena, du blöde Kuh«, wimmerte sie vor sich hin.

»Hallo Fee, wer hat dir denn den Tag verhagelt?«

Fee sah auf und blickte direkt in Matteos braune Augen, die stets etwas spöttisch wirkten. Er nahm neben ihr Platz und legte den rechten Arm um ihre Schultern.

»Nicht weinen«, raunte er, »das passt nicht zu meiner unbekümmerten kleinen Felizitas.«

Fee war früher unsterblich verliebt in Matteo gewesen, doch so ging es den meisten Insulanerinnen irgendwann einmal. Seit Langem waren die beiden zwar befreundet, aber nicht mehr. Fees Herz schlug inzwischen für den Inseltierarzt, auch wenn sie es gut verborgen hielt. Die Männer standen nicht gerade Schlange, um sie näher kennenzulernen, denn Fees lose Zunge war auf der ganzen Insel gefürchtet.

Fee richtete sich zu ihrer vollen Größe von einem Meter fünfundsechzig auf und stampfte wütend mit dem Fuß. »Ich bin unsagbar sauer auf meine Schwester«, stieß sie hervor. »Sie hat einen wichtigen Termin verpasst.«

Nachdem Matteo erfahren hatte, was genau geschehen war, zog er Fee an sich und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Kleines, du hast doch einen neuen Termin für morgen bekommen. Pfeif deine Schwester her, und du wirst sehen, alles wird zu deiner Zufriedenheit geregelt.«

Fee nickte, dabei tupfte sie sich ihre Augen trocken. Unvermittelt strahlte sie Matteo an. »Kommst du mit an den Strand?«

Matteos Mundwinkel zuckten. »Ich wüsste nicht, was ich lieber tun würde.«

Lachend nahm er Fee an die Hand und führte sie fort vom alten Gebäude des Notars. Fee blieb jedoch gleich wieder stehen und entzog ihm ihre Hand.

»Ich muss erst bei meiner Schwester anrufen.«

Eilig holte sie ihr Handy hervor und wählte Lenas Telefonnummer.

Flug zur Insel

 

 

Lena Hansen ging im Besprechungszimmer auf und ab. Ihre schlanke Figur steckte wie immer in einem perfekt sitzenden Hosenanzug aus hochwertiger Seide. Lena liebte vornehmlich im Sommer das geschmeidige Gefühl von kühler Seide auf der Haut. Ihre langen blonden Haare hatte sie kunstvoll zu einer Hochsteckfrisur zusammengebunden. Das Klacken ihrer mörderisch hohen Absätze unterstrich ihre Worte und hallte von den Wänden wider.

Aus dem Augenwinkel sah sie Klemens zusammenzucken. Er kämpfte mal wieder mit dem Sekundenschlaf. Sie behielt ihn unter Beobachtung, genauso wie ihre anderen Mitarbeiter. Klemens kam langsam zu sich, kaute dabei an einem Bleistift herum. Ein deutliches Zeichen, dass er Lena am liebsten widersprechen würde, es aber sein ließ, weil sein Hirn in einer Wodkawolke schwebte, wie seine Gesichtszüge verrieten. Lena kannte ihn seit vier Jahren, daher duldete sie seine morgendliche Unkonzentriertheit. Sie wusste, dass sich seine Aufmerksamkeit in der nächsten Stunde bessern würde, spätestens dann, wenn er den ersten Kaffee getrunken hatte.

Klemens war einer der besten Mitarbeiter im Architekturbüro Brauer, dessen Prokura Lena seit einigen Jahren innehatte. Jeden Monat landete ein schwindelerregendes Gehalt auf ihrem Konto, das sie kaum auszugeben schaffte. Dazu fehlte ihr die nötige Freizeit. Dass ihr Team überwiegend aus Männern bestand, störte sie inzwischen nicht mehr. Anfangs war es nicht leicht gewesen, aber nach und nach hatten die männlichen Kollegen die Entscheidung des Vorstands, sie als neue Leitung einzustellen, akzeptiert.

Eigentlich war alles wie immer. Leider litt auch Lena an Konzentrationsstörungen. Paul hatte ihr am Wochenende den Heiratsantrag gemacht, den sie trotz ihres Zögerns angenommen hatte. Jetzt vermisste sie ihre rechte Hand, Betty, umso mehr. Die hatte einen frühen Arzttermin und fehlte somit in der heutigen Morgenrunde. Betty war stets gut vorbereitet und hellwach. Wenn Lena den Faden verlor, so selten das auch vorkam, schob Betty ihr sofort die passenden Unterlagen hin. Doch an diesem Morgen war Lena ganz auf sich allein gestellt.

Erik und Marvin steckten die Köpfe zusammen und flüsterten etwas. Lena blieb stehen und zog verärgert ihre perfekt in Form gebrachten Augenbrauen hoch.

»Darf ich kurz zu Ende bringen, was ich euch zu sagen habe?« Die Köpfe schnellten auseinander. »Danke schön.« Sie lächelte in die Runde, dabei glänzten ihre blauen Augen mit der Morgensonne um die Wette.

Doch sie verstummte erneut, als ihr Handy mit einem schrillen Ton ihre Aufmerksamkeit forderte. Schon am Klingelton erkannte sie, dass es Fee war, die versuchte, sie zu erreichen. Das bedeutete erfahrungsgemäß, dass etwas vorgefallen sein musste. Ihre Schwester rief für gewöhnlich nie am Morgen an.

Genau genommen telefonierten die Geschwister nur an den Wochenenden miteinander. Sie hatten wenige Gemeinsamkeiten, außer dass sie einander liebten, wie es Schwestern eben taten. Seit ihre Eltern nicht mehr lebten, waren sie enger aneinandergerückt – aber nur gefühlsmäßig, nicht räumlich. Fee wohnte weiterhin auf Sylt, und Lena war in der Großstadt Hamburg heimisch. Sie schätzte die Anonymität der Hansestadt. Die Nordseeinsel war ihr im Laufe des Erwachsenwerdens zu klein erschienen.

Lena entschuldigte sich für einen Moment und entfernte sich aus dem Besprechungsraum.

»Fee«, murmelte sie hektisch in den Hörer, »was gibt es so Wichtiges? Ich befinde mich mitten in der Teambesprechung.« Sie bemühte sich gar nicht erst, den vorwurfsvollen Klang ihrer Stimme zu verbergen.

Doch als sie ihre Schwester am anderen Ende der Leitung laut schluchzen hörte, stockte Lena der Atem. Fee war keine Heulsuse, das waren sie beide nicht. Lena vermutete sofort ein Unglück. Aber wen es betreffen sollte, war ihr schleierhaft. Während Fee sich sammelte, wischte Lena einen imaginären Fussel von ihrem Blazer und ging dabei im Flur auf und ab.

»Du hast die Testamentseröffnung vergessen!«, empörte sich ihre Schwester schließlich. Ihr Tränenfluss schien versiegt.

Lena verwandelte sich mit einem Schlag von der Geschäftsfrau in das personalisierte schlechte Gewissen. Verdammt, sie hatte den Termin wirklich vergessen. Oder etwa verdrängt? Im Grunde war ihr gleichgültig, was in dem Testament ihres vor wenigen Wochen verstorbenen Vaters stand. Fee würde mit Leib und Seele den Hof weiterführen, daran hatte es nie Zweifel gegeben. Bei Gott, Lena hatte kein Interesse daran, bis zu den Knien im Mist zu stecken, Rindern und Schafen den Rücken zu kraulen und mit den Hühnern aufzustehen. Dies war von jeher die Leidenschaft ihrer Schwester gewesen, nicht ihre.

»Ähm, Fee, das tut mir leid, wie kann ich das wiedergutmachen?«

Die Landwirtin schnaubte verächtlich. »Beweg deinen Hintern hierher und erfüll den letzten Willen unseres Vaters.«

»Der da wäre?« Lena schluckte. In diesem Streitgespräch mit ihrer Schwester an den Altbauern erinnert zu werden, schmerzte. Sie hatte ihren Vater geliebt. Er war stets für seine ungleichen Töchter da gewesen und hatte die unterschiedlichen Mädchen auf Händen getragen.

»Dr. Steinbach hat die Eröffnung des Testaments auf morgen um neun Uhr verschoben. Den Inhalt kenne ich immer noch nicht. Aber wir können uns glücklich schätzen, dass es diese zweite Möglichkeit in so kurzer Zeit gibt. Bitte, sei einmal rechtzeitig da.«

»Klar, versprochen«, erwiderte Lena. »Das gehört zu meiner Jobbeschreibung: Pünktlichkeit.« Sie war nahezu beleidigt, dass Fee ihr unterstellte, nicht pünktlich zu sein, doch gleichermaßen war ihr bewusst, dass sie hier etwas vergeigt hatte, das für die Zukunft ihrer Schwester überaus wichtig war. »Entschuldige, Kleines, ich leg am besten auf. Ich habe hier in Hamburg einiges zu organisieren, bevor ich abreise.«

Fee schien beruhigt.

»Fahr vorsichtig, bis dann«, flüsterte sie und unterbrach die Verbindung.

Lena hielt den Hörer weiterhin ans Ohr gepresst und starrte aus dem Fenster im fünften Stock. Früher war es ihr nicht möglich gewesen, sich dieser Fensterfront zu nähern. Sie litt unter Höhenangst und war bei der Aussicht in Schweiß ausgebrochen. Inzwischen hatte sich die Angst ein bisschen gebessert.

Fieberhaft legte sich Lena in ihrem Kopf einen Plan zurecht, der sie für die nächsten vierundzwanzig Stunden in der Firma abkömmlich machte. Klemens musste aus seiner Lethargie aufgerüttelt werden. Er würde während ihrer Abwesenheit der wichtigste Mann sein. Es war immer wieder überraschend, aber Lena wusste, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Die größte Herausforderung würde Paul werden. Sie waren heute Abend im Kempinski verabredet, um über ihre Verlobungsfeier zu reden. Lena wollte eine Feier im kleinen Rahmen, Paul dagegen zog in Erwägung, die halbe Stadt zu einem ›schlichten Imbiss‹ einzuladen und die Verlobung zu verkünden. Hier war das letzte Wort nicht gesprochen. Doch diese Diskussion mussten sie nun verschieben.

Sie seufzte, steckte das Handy weg und riss die Tür zum Tagungsraum auf.

»Klemens, hör mir bitte genau zu.« Er zuckte zusammen und richtete sich auf. Offenbar machte ihm ihr Tonfall den Ernst der Lage schlagartig bewusst. »Ich muss wegen einer Familienangelegenheit nach Hause reisen.«

Gleichzeitig klemmte sie sich den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter. Da Betty immer noch abwesend war, rief sie die Chefsekretärin des Vorstands an. »Ich brauche schnell einen Flieger, der mich nach Sylt bringt. – Es ist mir egal, was Sie bekommen, es ist dringend. – Danke.«

Lena beendete das Gespräch und legte den Hörer beiseite.

»Was ist mit dem Meeting der Geschäftsführung?«, fragte Klemens. »Kann ich dich bis dahin zurückerwarten?« Sorgenfalten bildeten sich auf seiner Stirn.

Lena blätterte in ihrem Kalender.

»Das ist erst übermorgen. Bis dahin bin ich längst zurück. Bereitet aber bitte alles Nötige vor, nur für den Fall der Fälle«, erwiderte Lena und zwinkerte in die Runde. Jeder der Mitarbeiter hielt jetzt einen Stift bereit und machte sich Notizen in einem Block mit dem Logo der Firma, für die sie arbeiteten. Lena war zufrieden. Sie konnte sich auf ihr Team verlassen. Hier würde alles nach Plan ablaufen. Sie musste sich keine Sorgen machen.

Fünf Minuten später betrat Lena ihr Büro, erledigte zwei Telefonate mit den Vorstandsmitgliedern und rief im Anschluss Paul an.

»Schnecke, du willst doch nicht unser Essen für heute absagen?« Lenas Verlobter hatte einen Riecher für anstehenden Ärger oder in diesem Fall Planänderungen, die er nicht ausstehen konnte. Lena stockte.

»Ähm … leider doch«, gestand sie zerknirscht. Sie schilderte ihm ihre Gründe und vernahm ein leises Lachen am anderen Ende der Leitung.

»Du vergisst Termine? Seit wann denn das?«

Lena sah ihre Chance gekommen.

»Seit ich nur noch unsere Verlobung im Kopf habe«, schmeichelte sie ihrem Freund. Sie wusste genau, wie sie ihm den Wind aus den Segeln nehmen konnte. Aber auch andersherum hatte Paul sie in seinen liebevollen Fängen. Die selbstbewusste Geschäftsfrau Lena Hansen schmolz dahin, wenn Paul in ihrer Nähe war.

»Du Schleimerin«, konterte er und lachte wieder. »Wann kommst du zurück?«

»Ich bin spätestens morgen Abend wieder da. Untätig auf der Insel rumhängen ist nicht mein Ding, mir wächst die Arbeit ohnehin schon über den Kopf.«

»Schnecke, du solltest etwas kürzertreten.«

Lena seufzte. Dieses Thema wurde öfter zwischen ihnen diskutiert. Doch Lena liebte ihre Arbeit und hatte nicht vor, irgendetwas daran zu ändern. Der Weg zur Führungsposition in der Abteilung für Großbaustellen war steinig gewesen. Niemals gäbe Lena sie nun auf. Sie kannte Pauls Meinung dazu nur zu gut. Aber hier blieb sie hart.

»Schatz, ich muss mich beeilen. Sei bitte nicht traurig, wir sprechen ein anderes Mal weiter.« Anstatt auf eine Antwort zu warten, unterbrach sie die Verbindung. Sie sollte sich langsam sputen, der Flieger war gebucht und würde nicht auf sie warten.

Lena verließ das Bürogebäude und sah zum Himmel auf. Die Julisonne brannte erbarmungslos auf sie herunter. Abgase schwängerten die Großstadtluft, kein Windzug verschaffte Linderung. Die Aussicht auf eine frische Nordseebrise kam Lena gerade ganz recht, obwohl ihr Zeitfenster knapp war.

Ein Taxi brachte sie zu ihrem Haus in Nienstedten. Rasch stopfte sie die nötigen Sachen in den Kulturbeutel. Eine Reisetasche würde genügen. Sie nahm keine Wechselklamotten mit, schließlich würde sie nach dem Notartermin, spätestens morgen früh, wieder heimfliegen. Handtücher würde sie sicher von ihrer Schwester bekommen. Fast hätte sie die Unterwäsche vergessen. Sie griff in die oberste Schublade der Kommode und stopfte wahllos einige Teile in die Tasche.

Nachdem sie den Reißverschluss zugezogen hatte, eilte sie zur Straße, wo das Taxi auf sie wartete. Sie wies den Fahrer an, sie zum Sportflugplatz zu bringen. Endlich hatte sie ein paar Augenblicke Zeit, in sich zu kehren, zu entspannen und die Lider zu schließen. Sie lächelte vor sich hin. Das hatte sie doch wieder ausgezeichnet hinbekommen. Alle waren mit Arbeit und Aufträgen versorgt, und sie war auf dem Weg nach Sylt. Gar nicht mal so übel. Lena freute sich auf ihre kleine Schwester und die Meeresbrise der Insel.

Nachdem sie den Flugplatz erreicht hatte, wurde sie gleich zur Landebahn begleitet. Gedanklich lobte sie die Sekretärin, die für sie die Buchung erledigt hatte. Aber was war das? Lena fand sich vor einem Hubschrauber wieder. Flugzeuge waren schlimm genug, in diesem Ungetüm würde sie umkommen vor Angst.

»Ist das Ihr Ernst? Ich hatte eine Maschine erwartet, die mich nach Sylt fliegt, aber …«

»Das wird sie, steigen Sie ein«, kommandierte ein braungebrannter Schönling mit typischer Fliegersonnenbrille. Dann grinste er Lena an. Dabei blitzte eine weiße Zahnreihe auf, die unmöglich natürlicher Herkunft sein konnte. Er schob sich die Brille auf den Kopf und reichte Lena die Hand.

»Freut mich, dass wir zusammen in die Luft gehen. Mein Name ist Matteo Schwarz. Du bist Lena, nehme ich an?«

Lena wich etwas zurück, verwirrt von den tiefbraunen Augen ihres Piloten und der Offenheit, mit der er sie begrüßte. Warum duzte er sie auf einmal?

»Korrekt, Lena Hansen. Haben Sie nicht ein Flugzeug, mit dem Sie mich nach Sylt bringen können?«

Matteo verzog die vollen Lippen zu einem schiefen Grinsen. »Angst vor der großen Hummel?«

Das wurde Lena jetzt zu blöd. Sie wollte diesem ungehobelten Piloten ihre Furcht auf keinen Fall eingestehen.

»Nein, wie kommen Sie darauf?« Sie hoffte, er sah ihre Halsschlagader nicht, die wie wild pochte.

Umständlich kletterte sie ins Cockpit, ließ sich in den Sitz fallen und schloss für einige Sekunden die Augen. Himmel, warum hatte sie nur den Neun-Uhr-Termin in Westerland vergessen? Hätte sie sich daran erinnert, wäre sie am Vortag in aller Ruhe mit dem Wagen hingefahren. Fee hatte sie vor zwei Wochen angerufen und ihr den Termin mitgeteilt. Doch sie hatten lange telefoniert und Lena im Anschluss vergessen, eine Eintragung in ihrem Kalender vorzunehmen. Das hatte sie nun davon.

Matteo Schwarz schwang seinen muskulösen Körper ebenfalls auf den Sitz. Er schenkte ihr wieder dieses strahlende Lächeln, das zugegebenermaßen nicht spurlos an Lena vorbeiging. Sie krauste die Stirn und sah stur geradeaus. Der sollte sich mal nichts einbilden. Sein Aftershave gefiel ihr trotzdem.

»Wie ich hörte, darf ich dich morgen Abend wieder abholen?«

Lena nickte zaghaft.

»Gegenwärtig erst mal nach Sylt bitte«, erwiderte sie rau.

»Jawohl, Lady«, murmelte er. Offenbar genervt, weil Lena weiterhin spröde und unverbindlich blieb.

Die Hummel stieg langsam in Richtung Himmel. Lena hatte unvermittelt das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Matteo erkannte die Situation sofort und reichte ihr eine Plastiktüte.

»Nicht ausflippen, Lena, atme in die Tüte, langsam und gleichmäßig«, befahl er sanft.

Lena gehorchte, und innerhalb weniger Sekunden bekam sie besser Luft. Fragend schaute sie zu ihm hinüber. Matteo zuckte mit den Schultern und grinste wieder. Das konnte er offenbar am besten.

»Woher …?«, hob Lena an.

»Ich habe so meine Erfahrungen«, erklärte er. Nach ihrem Dafürhalten eine Spur zu machohaft.

»Verstehe, danke. Mir geht’s besser.« Gespielt gleichgültig sah sie aus dem Fenster und zerknüllte die lebensrettende Tüte in ihren Händen. Der Hubschrauber stieg weiter in die Höhe, allmählich rebellierte auch Lenas Magen.

»Wir haben die Flughöhe gleich erreicht«, meinte Matteo. Dabei klang er leicht besorgt. Was Lena gleichermaßen missfiel wie auch beruhigte. Sie nickte ihm zu.

So ein Aufschneider. Aber glücklicherweise beherrscht er dieses Monstrum.

Lena schaute zu ihren Füßen. Sie hätte doch lieber sportliche Schuhe anziehen sollen. In der Eile hatte sie nicht darüber nachgedacht. Zu dumm. Dass Matteo ihrem Blick folgte und beim Sichten der Stöckelschuhe sein gekonntes Grinsen parat hatte, bestärkte sie in ihrer Reue. Sie freute sich darauf, ihn nach der Landung erst einmal los zu sein. Hoffentlich ergab sich dann eine andere Möglichkeit, aufs Festland zurückzukommen.

Ihre Nerven beruhigten sich zunehmend, während sie über das Wattenmeer flogen. Die Vorfreude auf ihre Heimat legte sich wie ein schützender Mantel um ihre Schultern. Sie hatte völlig vergessen, wie sehr sie die Insel doch liebte, auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, dort zu leben. Sie brauchte den Puls der Stadt, die Freiheit, überall hinzukommen, ohne erst zu überlegen, wann der nächste Autozug fuhr oder wie ein Flugzeug zu ergattern war. Fee war da aus anderem Holz geschnitzt. Sie war mit der Insel und ihren Einwohnern verwachsen und befreundet. Das war sie schon als Kind gewesen. Es hatte nie ernsthaft die Frage im Raum gestanden, wer den Hof übernehmen sollte. Für die Stadtfrau Lena war das gar keine Option gewesen. Würde es auch nie werden.

Doch nun hüpfte ihr Herz vor Freude, denn unter sich entdeckte sie die Weiden und den Hof der Hansens.

»Schau, dort vor der Holzscheune kannst du landen!«

Matteo schnaubte.

»Aber dafür haben wir keine Landeerlaubnis. Ich darf hier nicht runter!«, brüllte er gegen den Lärm seiner Maschine an.

»Ich erteile sie dir!«, rief sie zurück. Jetzt war sie an der Reihe, zu grinsen.

Matteo versuchte es noch einmal. »Die Eigentümerin wird mich töten, wenn ich …«

»Keine Sorge, ich lasse dich am Leben.«

»Die Wiese gehört dir?«

Ohne es zu bemerken, hatte Lena sich auf ein vertrautes Du eingelassen. Sie nickte.

»Könnte man sagen«, gab sie ihm zu verstehen.

»Wie du meinst, aber die Strafe bezahle ich nicht.«

»Angsthase«, flötete Lena übermütig und bedauerte nun doch, dass sich die Reise mit Matteo dem Ende näherte. Die Wortgefechte waren irgendwie erfrischend.

Sanft setzte er zur Landung an. Die Büsche und Gräser duckten sich im Wind der Rotorblätter. Matteo wies mit dem Zeigefinger nach links.

»Da scheint aber jemand anderer Meinung zu sein. Sicher, dass ich hier runterkann?«

Lena reckte den Hals und lächelte. »Das ist meine Schwester, sie freut sich halt, dass ich komme.«

Fee Hansen ruderte mit den Armen und versuchte die Hummel zu verscheuchen.

»Freude habe ich zwar anders in Erinnerung, aber meinetwegen«, kommentierte Matteo, dabei verschwieg er, dass er Fee kannte.

Hühner flatterten auf und versuchten sich in Deckung zu bringen, als der Hubschrauber auf die Wiese aufsetzte. Lena öffnete den Anschnallgurt, als ihre Schwester auch schon die Tür aufriss.

»Seid ihr von allen guten Geistern verlassen? Wie könnt ihr es wagen, hier zu landen?«

Lena starrte ihre Schwester verwundert an. »Was hast du denn mit der ollen Wiese? Die geht doch nicht kaputt, nur weil …«

Fee hörte ihr gar nicht zu. Sie stemmte die Fäuste in die Hüften und blitzte wütend den Piloten an.

»Fee, er kann nichts dafür …«, versuchte Lena ihre Schwester zu beruhigen.

»Warum nicht, hat er keinen Flugschein? Da lernt man solche Sachen bekanntlich. Matteo, von dir hätte ich mir mehr Rücksicht gewünscht. Du kennst doch die Gegebenheiten meiner Wiese.« Ihre Augen funkelten verärgert. »Die sollte morgen gemäht werden. Die kostbaren Kräuter darauf sind wichtige Nahrungszusätze für meine Tiere. Jetzt ist alles platt.«

Lena schüttelte ungläubig den Kopf. »Dann wartest du eben ein paar Tage.« Matteo warf sie einen verärgerten Blick zu. »Du hättest ruhig erwähnen können, dass du meine Schwester kennst.«

Fee raufte sich ihre Mähne. »Das Wetter soll umschlagen, dann ist nix mit Mähen. Mann, warum hat Papa nicht darauf bestanden, dass du zumindest die Grundlagen der Futtergewinnung erlernst?«

Lena zog ihre Schwester an sich und küsste ihre Wangen. »Schätzchen, weil ich mit Heu und Kräutern keine Wolkenkratzer bauen kann.«

Schmollend ließ Fee zu, dass Lena sie in die Arme nahm. »Mensch, womit habe ich nur diese Verwandtschaft verdient?«

Doch sie versöhnten sich rasch. Fee kicherte schon wieder, als sie einander losließen.

An Matteo gewandt rief sie: »Nun hau schon ab und lass meine Hühner leben!«

Sie zeigte mit dem Finger in den Himmel. Matteo salutierte und warf die Hummel an.

»Ganz schön von sich eingenommen, der Typ«, knurrte Lena und hakte sich bei Fee ein.

Gleich darauf musste Lena jedoch einsehen, dass in Stöckelschuhen über die Wiese zu stapfen ein schwieriges Unterfangen war. Sie blieb stehen, um ihre Füße zu erlösen und barfuß weiterzulaufen. Fee legte währenddessen lachend den Kopf in den Nacken.

»Wenn du nicht auf ihn abfährst, bist du eine Ausnahme unter den Frauen hier«, meinte sie vergnügt.

Erstaunt sah Lena ihre Schwester an, die Schuhe in der Hand.

»Stehst du etwa auf ihn?« Dabei gab sie vor, die aufsteigende Röte auf Fees Wangen nicht zu bemerken.

»Nein, aber wir hätten fast mal was miteinander angefangen. Ich musste jedoch passen, weil ich mich in jemand anderes verliebt habe.«

»Du hast einen Freund?« Lena war erfreut. Sie hatte nie einen Mann an der Seite ihrer Schwester vermutet.

»Nee, nee, beruhige dich mal wieder. Ich gehöre zu den unglücklich Verliebten.« Fee schaute auf Lenas Füße. »Ich sehe übrigens schwarz für deine …«

Lena wandte sich schnell um, noch ehe Fee zu Ende gesprochen hatte. »Was, er kommt uns nach?«

Sofort bemerkte sie ihren Irrtum und fühlte sich peinlich berührt. Hitze stieg in ihre Wangen. Da erwähnte ihre Schwester bloß die Farbe Schwarz, und schon dachte Lena an Matteo. Ärgerlich, dass ihre Hormone ihr so einen Streich spielten. Und völlig fehl am Platz, nachdem sie erst am Wochenende der Hochzeit mit Paul zugestimmt hatte.

Fee sah sie belustigt an und schüttelte den Kopf, ersparte ihr aber einen Kommentar. Offenbar war deutlich genug, wie unangenehm Lena ihre Reaktion war.

»Ich sehe schwarz für deine zarten Treter, wollte ich sagen«, murmelte Fee und grinste.

Die ungleichen Frauen gingen über den Hof. Feine Steine bohrten sich in Lenas Fußsohlen, sodass sie leicht zu humpeln begann. Schließlich blieb sie stehen und sah sich um, nicht weil sie die neue Scheune betrachten wollte, sondern um ihren Füßen eine kurze Pause zu gönnen. Ihr Blick fiel auf die Gänse, die am Zaun verharrten und den Besuch kritisch beäugten. Ihr Kreischen war weithin zu hören.

»Komm, lass uns ins Haus hineingehen«, forderte Fee sie auf. Lena folgte ihr gedankenverloren ins Innere.

»Seit wann hast du Gänse auf dem Hof? Die machen ja einen Heidenlärm.«

»Besser als jeder Hofhund. Wenn ich die freilassen würde, würden sie Besuchern Beine machen.« Fee lachte erheitert. »Nur kurz vor Weihnachten wird es stiller auf dem Hansen-Hof.«

Lena rümpfte die Nase. »Wie gemein. Die armen Dinger.«

»Alle biologisch aufgezogen. So eine Gans bringt leicht und locker zweihundert Euro ein, je nach Gewicht.« Fee sagte das nicht ohne Stolz. Lena merkte deutlich, wie viel Freude ihrer Schwester die Arbeit mit den Tieren bereitete. Auch wenn sie später im Bräter landeten. Bei Fee hatten es alle Tiere gut, bis zu dem Tag, an dem sie dick genug für den Verkauf waren.

»Aber du hattest doch so viele Hühner? Was ist aus ihnen geworden?«

»Die letzten hätte Matteo eben fast umgebracht«, erwiderte Fee spitz.

»Na ja, wenn du sie da draußen frei rumlaufen lässt, musst du dich nicht über so was wundern«, verteidigte Lena ihre Zustimmung zur Landung.

Fee steuerte kommentarlos auf die Küche zu.

»Ich war es leid, hinter jedem Ei herzulaufen. Seit sie draußen unterwegs sind, legen sie ihre Eier immer an denselben Stellen ab. Für den Eigenverbrauch langt es.« Fee zuckte mit den Schultern. »Leben und leben lassen.« Sie wandte sich im Flur Lena zu. »Kaffee?«

»Oh ja, das wäre genau das Richtige. Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, welchen zu trinken. Heute war alles viel hektischer als sonst.«

»Oh, eine Runde Mitleid für die verlorene Tochter. Nun kannst du dich ja etwas erholen«, lästerte Fee ungerührt.

Lena seufzte genervt. Fee hatte nie Verständnis für ihren Beruf aufbringen können, aber dass sie es nicht einmal versuchte, schmerzte Lena doch. Darin waren sich ihre Eltern und Fee stets einig gewesen.

»Dann vertritt mich mal für ein paar Tage«, maulte sie, als sie die Küche erreichten. Sie bereute es sofort, weil sie Fees Reaktion auf die Worte schon kommen sah.

»Binde mir ruhig auf die Nase, dass du mich für zu blöd hältst, deinen Job zu machen!«, fuhr Fee sie an.

Lena holte tief Luft, um nicht wütend zu werden. Fee stellte ihr Licht immer unter den Scheffel, dabei hatte sie studiert und war eine erfahrene Landwirtin. Aus Lenas Sicht war sie die perfekte Tochter ihrer Eltern gewesen. Aber die Hansen-Mädchen standen nun mal in Konkurrenz zueinander. Das war schon so, seit sie Kinder waren, ohne dass es überhaupt nötig gewesen wäre.

»Kleines, ich wäre ungeeignet, deinen zu machen«, konterte sie sanft und zog ihre Schwester an sich. »Ich bin beeindruckt davon, was du hier auf die Beine gestellt hast. Nur dass ich nicht dafür gemacht bin. So wie du in der Großstadt eingehen würdest wie eine Primel in der Mittagssonne.«

Fee blieb betroffen stehen, die Kaffeedose in der Hand. »Entschuldige bitte, es war nicht so gemeint.«

»Doch, war es, aber das ist okay.« Lena küsste Fee auf die Stirn. »Nun drück endlich den verdammten Knopf der Kaffeemaschine, ich komme um vor Durst!«