Bye Bye, Jack - Anni Deckner - E-Book
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Anni Deckner

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Beschreibung

Ein bewegender Roman über das Leben im Deutschland der Nachkriegszeit, den Mut einer jungen Frau und eine Liebe, die Jahrzehnte überdauert. Eigentlich wollte die Ärztin Christine mit der Silvesternacht 2013 einen Neuanfang besiegeln, als sich ihre Vergangenheit in ihr Leben drängt. Es ist ihre Jugendliebe, die plötzlich vor ihr steht: Jack, der britische Offizier, mit dem sie ihr Leben teilen wollte – bis das Schicksal für die beiden einen anderen Weg einschlug … Nordfriesland, 1960: Stiefvater Hans führt ein strenges Regiment, und Christine leidet unter seinen Gewaltausbrüchen. Allein ihre Tante weiß um ihre Not und ist Christines einziger Lichtblick – bis sie Jack kennenlernt. Mit ihm erlebt sie, wie leicht das Leben sein kann. Beide beschließen, einen Neubeginn zu wagen, doch mit Stiefvater Hans kommt es zu einem folgenschweren Eklat, der das Liebespaar für immer entzweien soll. Christine muss lernen, sich als Frau alleine durchzuschlagen, und obwohl sie ihr Leben erfolgreich meistert, ist da diese Sehnsucht nach Jack, die nie ganz versiegen will. Doch reicht die Erinnerung an eine verlorene Liebe für eine gemeinsame Zukunft?  

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Bye Bye, Jack

Anni Deckner

Die Flügel kann man ihnen brechen, aber nie den Willen, wieder aufzustehen.

Für die Frauen dieser Welt, die ihre Kindheit nie leben durften und trotzdem immer wieder aufgestanden sind.

Ihr seid toll!!!

Jahreswechsel

2013

Nach langem Zögern hatte ich mich entschieden, mein zurückgezogenes Leben aufzugeben. Außerhalb meiner Tätigkeit als Chirurgin in einer Klinik hatte ich immer in selbst gewählter Abgeschiedenheit gelebt, doch meiner Tochter Sophie war das nie genug gewesen. Schließlich hatte ich mich ihr zuliebe dazu durchgerungen, mein Verhalten grundlegend zu ändern. In dieser Silvesternacht hätte ein neuer Abschnitt in meinem Leben anfangen sollen, im Leben der erfolgreichen Ärztin Christine Seidel. Doch es war alles anders gekommen.

Das Jahr 2014 war noch blutjung gewesen, so wie ich damals, da hatte ich ihn entdeckt.

Jack.

Ich sah ihn, kurz bevor das Büfett eröffnet wurde. Der Schock traf mich schwer. Dabei hatte ich erwartet, dass die Zeit diese Wunden geheilt hätte. Zumindest hatte ich gehofft, dass der Schmerz abgeklungen wäre. Die Silvesterparty auf dem Gutshof des reichen Jörn Petersen hatte ich nutzen wollen, um diese Gefühle ein für alle Mal hinter mir zu lassen. Ich dachte, ich hätte ein Alter erreicht, in dem ich endlich mit alldem abschießen konnte.

Jörn hatte mich angefleht, den Silvesterabend mit ihm zu verbringen. Sophie, unterstützt von meiner Enkelin Lia, hatte mich dazu gebracht, zuzusagen. Jörn war erfreut gewesen, dass seine jahrelange Umwerbung von Erfolg gekrönt schien. Doch obwohl ich zu seiner Feier erschien, hatte ich ihm bei meiner Ankunft erneut deutlich gemacht, dass unsere Beziehung nie über eine Freundschaft hinausgehen würde. Er hatte meine Worte mit einem enttäuschten Gesichtsausdruck und einem kurzen Nicken akzeptiert.

Ich hatte trotzdem ein schlechtes Gewissen. Er war ein Mensch, den man lieben musste. Aber ich liebte ihn eben nur als einen Freund, der mir kein Herzklopfen bereitete. Bis zu diesem Tag war ich ohnehin der Meinung gewesen, dass ich längst in einem Alter war, in dem Schmetterlinge und Herzklopfen keine Rolle mehr spielten. Ich war der Ansicht, als Herzchirurgin wären mir inzwischen alle Krankheiten bekannt, die dieses lebenswichtige Organ befallen konnten. Doch an diesem Abend wurde ich eines Besseren belehrt.

Für gewöhnlich blieb ich am Jahreswechsel in meiner an einem See gelegenen Penthouse-Wohnung am Stadtrand von Hannover. Ich verabscheute rauschende Partys, bei denen der Alkohol in Strömen floss, die Frauen kicherten und die Männer balzten bis zum Umfallen. Bei denen abzusehen war, wie das endete. Die einzige Frage war dann: Wer wachte am nächsten Morgen neben wem auf? Etwas, das mich nicht interessierte. Ich hatte Jahre der selbst gewählten Entbehrungen, der Sehnsucht und der Tränen hinter mir. Erst vor Kurzem hatte ich entschieden, ein neues Leben zu beginnen.

Der Entschluss war letzten Monat gefallen, nachdem ich einem Baby das Leben gerettet hatte. Die Kollegen hatten den Fall Sissi längst aufgegeben, sie hielten einen weiteren Eingriff nach drei fehlgeschlagenen Operationen für waghalsig. Der kleine Körper hatte die neuen Herzklappen bei jedem früheren Versuch abgestoßen. Aber meine geschickten Hände hatten das Unmögliche geschafft: Sissi durfte weiterleben. Die dankbaren Eltern konnten das Baby bald mit nach Hause nehmen und freuten sich auf eine glückliche, unbeschwerte Zukunft mit ihrem Kind. Ihre Freudentränen, gepaart mit ausgelassenem Lachen, hatten mich so bewegt, dass auch ich beschloss, einen Neustart zu riskieren. Ich war kurz vor dem Ruhestand, meine Zeit als Chirurgin so gut wie vorbei. Vielleicht war nun der richtige Zeitpunkt gekommen, etwas anderes zu beginnen. Nur aus diesem Grund war ich entgegen meinen Gewohnheiten Jörns Einladung zur Party gefolgt.

Ich hatte nicht erwartet, dass gleich der erste Versuch, mein Leben zu ändern, reibungslos funktionieren würde – aber musste er denn ausgerechnet so enden? Jack war hier!

Bevor das neue Jahr von den übrigen Gästen begrüßt wurde, flüchtete ich auf die Dachterrasse des Anwesens. Die schmerzvollen Erinnerungen schnürten mir die Kehle zu. Wie brodelnde Milch in einem Kochtopf drängten sie an die Oberfläche, um mich zu verbrennen. Ich schauderte. Nach einem Nahtoderlebnis berichteten Menschen oft, dass ihr Leben wie ein Film vor ihrem inneren Auge abgelaufen sei. Ich hatte mir das nie vorstellen können. Bis zum heutigen Abend.

Während die anderen unten ausgelassen feierten, lief vor meinem inneren Auge im rasanten Tempo mein Leben ab. Von den Misshandlungen meines Stiefvaters bis zu den steifen Interaktionen mit meiner Mutter, der es nie gelungen war, mir Zuneigung zu schenken. Erst viel später hatte ich begriffen, dass auch sie von einer quälenden Angst gefangen gewesen war. Nicht zuletzt erlebte ich erneut den ersten Kuss von Jack, der sogar nach Jahrzehnten meine Haut zum Kribbeln brachte.

Bald würde ich meinen siebzigsten Geburtstag feiern. Ein Alter, das mir, zugegeben, niemand ansah. Für diesen Abend hatte ich meine schlanke Figur in ein hautenges, bodenlanges Kleid gesteckt. Auf schwarzem Tuch blitzten Glitzersteinchen mit den Feuerwerksexplosionen und Sternen am Himmel um die Wette. Ein leichtes Make-up verdeckte die Narben in meinem Gesicht, die nie gänzlich verschwinden würden, aber über die Jahre verblasst waren. Für die Party hatte ich meine langen Haare, deren Rot nicht mehr natürlichen Ursprungs war, zu einer Hochsteckfrisur drapiert, die sich nun allmählich auflöste. Strähne für Strähne fielen sie der Schwerkraft zum Opfer.

Ich schloss die Lider, dabei erschien Jacks Gesicht deutlich vor mir. Älter war er geworden, aber er hatte nie besser ausgesehen. Fast erschreckend gut. Doch mir waren auch seine traurigen Augen aufgefallen.

Wie konnte er nur hier auftauchen? Warum war ich nicht vorgewarnt worden? Warum zum Teufel hatte ich diese Nacht nicht wie sonst in meiner Wohnung am See verbracht? Für mich war klar: Ich würde mich so lange auf der nördlichen Dachterrasse verstecken, bis der letzte Gast gegangen war. Auf keinen Fall wollte ich ein weiteres Treffen mit ihm riskieren. Er hatte mich vorhin nicht erkannt, dazu war unsere Begegnung zu flüchtig gewesen. Unsere Blicke hatten sich getroffen, als er sich kurz von einer Unterhaltung abgewandt hatte. Doch ich würde ihn unter Tausenden wiedererkennen.

Während die anderen Gäste sich auf der Westseite im Erdgeschoss dem Feuerwerk widmeten und den Gastgeber für die Pyrotechnik lobten, die sich ihnen am Nachthimmel bot, verharrte ich allein auf der noch weihnachtlich geschmückten Dachterrasse. Leider hatte ich meinen Mantel an der Garderobe gelassen. Die Kälte kroch mir bis in die Knochen. Ich zitterte. Noch vor einigen Tagen waren die Temperaturen im zweistelligen Bereich gewesen. Doch ausgerechnet heute, da ich hier draußen stand, hatte der Frost eingesetzt.

»Selbst schuld, warum hast du dich auch dazu überreden lassen, herzukommen«, schimpfte ich leise. Ich schlang die Arme um meine Schultern. Für einen Moment glaubte ich, etwas Wärme zu spüren. Leider hielt der Eindruck nicht lange an. Allein der Gedanke, dass Jack hier war, ließ mich wieder erschaudern.

Ich zuckte zusammen, als ich hinter mir Schritte hörte.

»Mamilein, hier steckst du! Ich habe dich überall gesucht.«

Verstohlen wischte ich mir mit dem Handrücken die Tränen fort. Mit einem Lächeln sah ich meiner Tochter entgegen.

Sophie war das komplette Gegenteil von mir. Mit ihren langen blonden Haaren wirkte sie wie ein Engel. Sie erkundete die Welt mit ihren strahlend blauen Augen, als ob es nie etwas Schöneres gegeben hätte. Ihre unbekümmerte Art zog jeden in ihren Bann. Ja, ich hatte bei meiner Tochter alles richtig gemacht. Die eigene schwere Zeit hatte ich vor ihr verborgen. Sie kannte keinen Hunger, keine Not und keinen Mangel an Zuneigung. Ich liebte mein Kind so sehr, dass es nahezu schmerzte. Ich hatte alles unternommen, damit Sophie nie die Schmach zu spüren bekam, die in der Nachkriegszeit solchen Kindern wie ihr zuteilwurde: Besatzungskindern. Was für eine furchtbare Bezeichnung. Es war nicht immer leicht gewesen, aber ich hatte alles getan, um ihre Herkunft zu verbergen – auch vor ihr selbst.

Ich wandte mich ihr zu und umarmte mein Kind liebevoll.

»Frohes neues Jahr, Schatz.« Ich gab ihr einen Kuss direkt auf den Mund.

»Warum bist du allein hier draußen? Jörn ist schon ganz verzweifelt, weil er dich nicht findet. Er möchte mit dir in das neue Jahr tanzen.«

Jörn! Er hatte die Hoffnung offenbar immer noch nicht aufgegeben. Doch es war mir einfach nicht möglich, ihn in mein Herz zu lassen. Ich bemühte mich um einen unbekümmerten Tonfall.

»Ach du lieber Himmel, mir tun die Füße weh. Daran, die Tanzfläche zu bohnern, ist wirklich nicht mehr zu denken.« Ich lachte verhalten. Als Nächstes musste ich Sophie bitten, niemandem zu verraten, wo ich mich aufhielt. Aber wie sollte ich ihr das erklären? Ich belog meine Tochter nicht gern, aber die Wahrheit war keine Option.

»Mir ist nicht gut«, erklärte ich schließlich. Es war nicht mal geschwindelt. »Bitte verrate mein Versteck niemandem, ich möchte meine Ruhe haben.«

Sophie löste sich aus unserer Umarmung und sah mich prüfend an. »Bist du krank?«

»Nein, so würde ich es nicht bezeichnen. Bitte sorg dich nicht.«

»Natürlich sorge ich mich, was denn sonst?« Sophies Stimme klang verärgert.

Ich lachte etwas gequält. »Wer ist hier die Ärztin? Du oder ich?«

»Wer ist hier die Unvernünftige, die ohne Mantel in der Kälte steht? Du oder ich?«

»Du bist auch hier«, erinnerte ich sie.

»Ach Mama! Lass diese Spielchen, ich bin kein Kind mehr. Mir kannst du nichts vormachen.«

Ja, den Kinderschuhen war Sophie längst entwachsen. Im Sommer feierte sie ihren zweiundfünfzigsten Geburtstag und war inzwischen selbst Mutter einer entzückenden Tochter. Dazu hatte ich dank ihr einen Sohn bekommen, meinen Schwiegersohn. Anfangs hatte ich Bedenken gehabt, ob er der passende Partner für Sophie wäre, aber inzwischen wusste ich, dass mein Kind glücklich mit ihm war. Meiner Enkelin war er ein liebevoller Vater. Zweiundzwanzig Jahre waren seit Sophies Hochzeit mit Georg vergangen. Mich verwunderte es immer wieder, dass sie nie ein Ehetief durchlitten hatten. Wer, wenn nicht ich wusste, wie schmerzhaft Liebe sein konnte? Doch ich war froh, dass Sophie eine Liebe ohne Leiden kennenlernen durfte.

Nun war sie allerdings stur und ließ sich nicht von etwas abbringen, das sie sich in den Kopf gesetzt hatte, vor allem wenn es um mich ging. Nach kurzer Überlegung traf ich eine Entscheidung. Vielsagend sah ich Sophie an, und sie schaute verunsichert zurück. Ich überwand mich, die Worte rasch auszusprechen. Sophie hatte mir oft Fragen nach ihrem Vater gestellt, ich hatte mir vor ein paar Tagen vorgenommen, ihr mein Leben zu erzählen. Es würde mir nicht leichtfallen, aber das gehörte nun dazu, ein neues Leben zu beginnen. Obwohl mir diese Entscheidung bereits leidtat. Jack war hier. Mein Herz war schwer. Doch ich musste Sophie dazu bringen, mich nicht zu verraten, und zog ein Ass aus dem Ärmel.

»Ich verspreche dir, deine Fragen nach meiner Vergangenheit zu beantworten, aber bitte lass mir heute meine Ruhe und vergiss, dass du mich hier oben gefunden hast. Bitte.«

Sophies Augen weiteten sich. Mein Leben warf für sie viele Fragen auf, die ich bisher nie beantwortet hatte. So hatte sie oft nach meinen Eltern gefragt und auch nach ihrem eigenen Vater. Ich wusste, dass sie keine Ruhe geben würde, bis sie alles erfuhr. Vielleicht war diese Zeit jetzt gekommen, nun gab es kein Zurück für mich.

»Das hört sich verlockend an, auch wenn ich dich gern mit Jörn tanzen gesehen hätte.« Sophie schmunzelte.

»Wo treibt Lia sich heute Nacht eigentlich rum?« Fragend schaute ich meine Tochter an. Als Lia klein war, hatte sie Silvester immer mit mir gefeiert. Wir hatten Schach gespielt oder andere Brettspiele, ferngesehen und Chips geknabbert, die Sophie ihrem Kind nur an besonderen Tagen erlaubte. Doch die Zeiten mit Oma gehörten längst der Vergangenheit an. Lia war vor einigen Wochen zwanzig Jahre alt geworden. Nun feierte sie ihre eigenen Partys.

»Sie hat mir nichts verraten, du kennst sie doch.« Sophie zuckte hilflos mit den Schultern.

»Sie ist erwachsen«, erwiderte ich. Gedankenverloren schaute ich sie an. »Ich frage mich immer wieder, wo die Zeit geblieben ist. Mir ist, als ob es erst gestern gewesen wäre, dass sie mit mir die Shows der Öffentlich-Rechtlichen verfolgt hat und stets meinte, wenn sie groß ist …«

»… wird sie Sängerin«, vervollständigte Sophie meinen angefangenen Satz und lachte auf. »Letztendlich ist aus ihr eine singende Medizinstudentin geworden. Auch nicht schlecht.« Sie wandte sich zum Gehen, sagte aber noch: »Ich verrate dich nicht, aber ich werde dich an dein Versprechen erinnern. Du kommst mir nicht so leicht davon.« Fröhlich winkend verließ sie die Dachterrasse.

Langsam wandte ich mich ab und sah auf den parkähnlichen Garten hinaus, den Jörn liebevoll pflegte. Meine Mundwinkel zuckten. Wie hatte Sophie es ausgedrückt?

Eine singende Medizinstudentin.

Meine Enkelin war in die Fußstapfen ihrer Oma getreten. Lia war eine hervorragende Schülerin gewesen und nun eine der fleißigsten Studenten ihres Jahrgangs. Das war zumindest meine Meinung. Da einer von Lias Dozenten ein alter Studienfreund von mir war, war ich immer auf dem Laufenden über ihre Leistungen, ohne dass sie etwas davon ahnte. Ich war unglaublich stolz auf Lia. Und auf Sophie.

Die Liebe und das Vertrauen meiner Tochter und Enkelin – mehr konnte ich mir für meinen Lebensabend nicht wünschen. Es wurde Zeit, dass ich ihnen die Wahrheit erzählte. Schließlich hatten sie ein Recht darauf. Ein wenig fürchtete ich mich jedoch vor dem Schmerz, der dabei meine Seele aufwühlen würde.

Ich reckte den Hals, als ich hörte, wie unter mir Leute das Anwesen verließen. Es hatte den Anschein, dass sie reichlich Alkohol intus hatten. Als einer aus der Gruppe zu mir hochschaute, wich ich einen Schritt vom Geländer zurück und schloss die Augen.

Jack. Nach all der Zeit hatte er nichts von seiner Wirkung auf mich eingebüßt. Müsste sie mit beinahe siebzig Jahren nicht verstaubt sein, die Sehnsucht? Das Verlangen? Warum klopfte mein Herz immer noch wild in der Brust, sobald ich an ihn dachte oder er gar in der Nähe war? Offenbar heilte die Zeit doch nicht alle Wunden. Oder warum war mir der Boden unter den Füßen abhandengekommen?

Meine Hand tastete meine rechte Gesichtshälfte ab. Ja, der Schmerz war nicht nur sichtbar geblieben, er hatte auch meine Seele für immer zerstört. Ich spürte es bis in mein Innerstes. Doch ich wusste, dass ich nicht undankbar sein durfte. Immerhin hatte ich Sophie und Lia Wurzeln geben können, obwohl ich selbst nie das Gefühl gehabt hatte, eigene zu besitzen. Die beiden und Georg waren meine Familie. Das war unbezahlbar.

Ich war erleichtert, als ich endlich die Dachterrasse verlassen, unbemerkt in mein Auto steigen und nach Hause fahren konnte. Mein Herz schlug bei dem Gedanken an Jack bis zum Hals. Er war hier, in Deutschland!

Warum tust du mir das an?

Tränen rollten über mein Gesicht. Ich wischte sie nicht fort. Wie Feuer brannten sie sich bis zu meinem Dekolleté hinunter. Ich hatte mir fest vorgenommen, diese Lebensgeschichte hinter mir zu lassen, doch das Schicksal hatte offenbar etwas anderes für mich bestimmt.

Zu Hause angekommen, betrat ich das Wohnzimmer, ohne die Lampe einzuschalten. Das Licht der Straßenlaternen fiel von draußen ein und erhellte sanft den Raum. Ich klappte den Laptop auf. Die erste Nacht des neuen Jahres gehörte meiner Geschichte.

Den Schweinen eine Zukunft

1949

Konzentriert ging ich neben meinem Stiefvater her, leichte Schweißperlen hatten sich auf meiner Oberlippe gebildet. Mit beiden Händen umklammerte ich eine Porzellanschüssel, in der meine Mutter die Kartoffeln vom Vortag aufgehoben hatte. Jeder Schritt wurde begleitet von Angst und Unsicherheit. Mit meinen kurzen Beinen hatte ich Mühe, mit meinem Stiefvater mitzuhalten, doch ich hütete mich davor, zurückzufallen.

Hans Seidel war ein kräftiger Mann, dessen kantiges Gesicht immer grimmig und zornig wirkte, auch bei guter Laune. Die kleinen grauen Augen waren stets auf der Suche nach Fehlern, die mir passierten. Die schmalen Lippen verzogen sich nur selten zu einem Lächeln, vor allem in meiner Gegenwart. Das Einzige, was ihm Freude bereitete, waren die Schweine. Sie wurden bei uns verwöhnt und reichlich versorgt, denn ihr Fleisch war unentbehrlich. Auch die Kartoffeln in der Schüssel waren für sie gedacht. Meine großen blauen Augen blickten abwechselnd von der Schüssel zu meinem Stiefvater. Ich musste mich konzentrieren, damit mir kein Missgeschick passierte. Eine zerbrochene Porzellanschüssel hätte die ganze Wut meines Vaters auf mich gezogen, und die Vorstellung bereitete mir mächtige Angst.

Die Schweine bekamen genug zu essen, bei uns Menschen sah das anders aus. Die Lebensmittel waren knapp und meist sehr teuer. Der enorme Bevölkerungszuwachs durch Flüchtlinge machte das Leben auf dem Land nach dem Krieg nicht einfacher. Die zahlreichen Flüchtlingslager reichten für die Unterbringung der heimatlosen Seelen bei Weitem nicht aus. Die meisten von ihnen wurden zwangsweise in Wohnungen und Häusern der Einwohner einquartiert. Das unfreiwillige Zusammenleben gestaltete sich oft schwierig. Die Raumnot sowie die gemeinsame Nutzung von Bad und Küche führten regelmäßig zu Streit.

Wir hatten einmal einen polnischen Flüchtling zugewiesen bekommen. Hans Seidel hatte ihn sofort wieder auf die Straße gesetzt. Er beschimpfte den verschüchterten jungen Mann als ›Pollak‹. Doch die Ortspolizei sorgte dafür, dass der Junge wieder bei uns einzog. Ich war damals zwar noch sehr klein, sah in ihm aber eine Art Verbündeten, da er von meinem Stiefvater mit der Gerte geschlagen und zu den Schweinen gesperrt wurde. Sobald mir die Gelegenheit günstig erschien, stibitzte ich eine Scheibe Brot und brachte sie ihm. Ich erinnere mich noch gut an seine dunklen Augen, die mich anlächelten.

Er hatte nichts dabei außer dem, was er am Leibe trug. Während der Abwesenheit meines Stiefvaters reparierte meine Mutter die fadenscheinige Kleidung des Jungen und schob ihm warme Wollunterhosen zu, die sie abends strickte, bevor es Schlafenszeit wurde. Mein Stiefvater schlug ihn windelweich, sobald er einen Fehler machte. Im Gegenzug blieb ich verschont. Ich wusste nicht, ob es recht war, dass ich froh darüber war, ich schämte mich meiner Gedanken, wollte aber trotzdem nicht an seiner statt sein.

Eines Tages war er dann verschwunden. Ich vermisste ihn sehr. Wir hatten eine unausgesprochene Vereinbarung getroffen: zu überleben. Wie mein Stiefvater es hinbekommen hatte, danach keine Flüchtlinge mehr aufnehmen zu müssen, erfuhr ich nie.

Meine Mutter hatte mir schon sehr früh erklärt, dass mein leiblicher Vater im Krieg gefallen war. Leider hatte ich ihn nie kennengelernt. Hans bestand darauf, von mir mit ›Papa‹ angesprochen zu werden. Daran hielt ich mich wohlweislich, denn die Strafen seiner großen Pranken kannte ich auch mit fünf Jahren nur zu gut. Ihm waren besonders meine roten Haare ein Dorn im Auge. Er beschimpfte mich als durchtriebene Hexe. Nicht nur einmal wünschte ich mir blonde Haare, in der Annahme, Hans wäre dann nicht so gemein zu mir. Warum nur hatte Gott mich nicht hübscher geschaffen? Ich war überzeugt, dass mein Stiefvater dann umgänglicher gewesen wäre.

Auf dem Weg zum Stall ignorierte Hans mich. Er nannte mich immer nur ›der Balg‹, meinen Namen benutzte er so gut wie nie. ›Der Balg muss härter angefasst werden‹ – diese abfälligen Worte prägten meine Kindheit. Ich spürte den Hass meines Stiefvaters beinahe körperlich, auch wenn er mich gerade nicht schlug. Dabei wurden seine grauen Augen fast schwarz vor Wut. Ich wusste nicht, wovor ich mich mehr fürchten musste: vor den brutalen Schlägen oder seinen schwarzen Augen. Schnell fand ich heraus, dass er, wenn ich ihm in die Augen starrte, nur noch wütender auf mich wurde und die Prügel intensivierte.

Im Stall angekommen, stieg mir ein ekelhafter Gestank in die Nase. Ich mochte den Geruch der Schweine nicht. Er blieb hartnäckig in meinen Haaren und Kleidern hängen und verfolgte mich für den Rest des Tages. Meine Tante Gretel, die wenige Kilometer von uns entfernt in Struckum lebte, beklagte sich oft darüber, dass ihre Nichte roch wie ein Schweinestall. Sie selbst benutzte teures Parfüm und war stets modern gekleidet. Ich himmelte sie an, wenn sie uns besuchte.

Hans trat an den Trog der Schweine und grinste bei ihrem Anblick. Ein Zeichen seiner guten Laune. Ein wichtiger Umstand, den ich schnell einzuordnen verstand. Ich versuchte so wenig wie möglich zu atmen. Zum einen, damit Hans mich nicht beachtete, zum anderen auch, um den Gestank besser zu ertragen. Ich reckte mein spitzes Kinn, um besser sehen zu können. Die behaarten, fleischigen Hände meines Vaters schubberten liebevoll die Rücken der Borstentiere. Obwohl ich Schweine nicht leiden konnte, wünschte ich mir an manchen Tagen, mit den Tieren tauschen zu können. Denn sie bekamen Streicheleinheiten, die ich sehnsuchtsvoll vermisste. Meine Mutter gab mir manchmal die Zuwendungen, die eine Fünfjährige brauchte, aber nur wenn Hans nicht in der Nähe war.

›Du verweichlichst das Kind, Anna‹, sagte er, wenn er es mitbekam. ›Wie soll sie denn so eines Tages ihr Leben meistern?‹ Schnell hatte ich herausgefunden, dass meine Mutter ihn ebenso fürchtete wie ich.

Ich hielt meinen Lockenkopf schief und beobachtete neidisch die Streicheleinheiten, die Hans den Schweinen nahezu ehrfürchtig zuteilwerden ließ. Im Dorf nannten die Leute ihn ›Nazischwein‹. Damals hatte ich keine Ahnung, was das bedeutete. Vielleicht war ein Nazischwein gut zu Schweinen? Ich wollte nie ein Nazischwein werden. Ich mochte diese Tiere nun mal nicht und meinen Stiefvater auch nicht. Doch das durfte ich ihn auf keinen Fall spüren lassen.

Ich reichte ihm die Schüssel, damit er den Inhalt über die Brüstung auskippen konnte. Dann gab er sie mir zurück.

»Bring sie zu deiner Mutter in die Küche. Aber …«, er hob mahnend den Zeigefinger, »nicht fallen lassen, sonst setzt es was.«

Konzentriert übernahm ich erneut die Verantwortung für das gute Porzellan. Hans legte die Hand auf meinen Rücken und schob mich Richtung Stalltür. Bei seiner Berührung erstarrte ich augenblicklich und zog sicherheitshalber den Kopf ein. Meine Nerven vibrierten vor lauter Anspannung. Trotz größter Vorsicht war mir erst vor einigen Tagen ein Teller zerbrochen. Ich hatte es nicht geschafft, ihn in der Hand zu behalten, als ich die Stiefel auszog. Die Erinnerung daran, was nach dem Unglück geschehen war, war noch sehr lebendig. Bei jedem Schritt auf dem Schotterweg bebten meine Füße, während ich wie ein Mantra in meinen Gedanken aufsagte: Nicht hinfallen, nicht hinfallen.

Meine Mutter schrubbte den grauen Betonfußboden in der Küche gründlich mehrmals am Tag. Damit sie nicht so viel Arbeit hatte, durfte nur Hans mit Stallstiefeln die Küche betreten. Das verstand ich natürlich. Denn die Hände meiner Mutter waren vom vielen Putzen rot und rissig. Dieses Mal stellte ich das wertvolle Porzellan auf der Stufe am Eingang ab, bevor ich die Stiefel auszog.

Meine Mutter, Anna, lächelte, als sie mich kommen sah. In ihren Augen schimmerten Tränen der Rührung, weil ich es dieses Mal nicht vergeigt, sondern die Schüssel heil in die Küche gebracht hatte. Ich durfte sie nur mit dem Vornamen ansprechen, für die damalige Zeit ungewöhnlich. Aber meine Mutter wollte das so. Später erst erfuhr ich den Grund: Ihr war es unangenehm, dass sie mich ohne einen Vater auf die Welt gebracht hatte. Ich war zwar kein uneheliches Kind, aber dennoch nicht erwünscht. Ob es vielleicht anders gewesen wäre, wenn mein Stiefvater mich liebevoller angenommen hätte?

»Sehr gut, Christine, danke.« Anna nahm die Schüssel entgegen. Sie streckte die linke Hand aus, als wollte sie ihrer Tochter über den süßen Lockenkopf streicheln. Doch dann schloss sie schnell die Finger zur Faust und zog die Hand wieder zurück.

Als ihr Mann, mein leiblicher Vater, nicht aus dem Krieg heimgekehrt war, hatte die schwangere Anna allein vor der schweren Arbeit auf dem Hof gestanden. Mit der Hilfsbereitschaft der umliegenden Höfe der Köge hatte sie nicht gerechnet. Denn der verlorene Krieg hatte bei jedem Elend und Trostlosigkeit hinterlassen. Trotzdem hatte Anna auf sie zählen können. Sie halfen ihr bei der schweren Geburt des Babys und versorgten die junge Mutter anschließend im Kindbett. Ein Jahr lang trug Anna Trauerkleidung und gab die Hoffnung auf eine Heimkehr meines Vaters nicht auf. Bis ihre Schwester Gretel meinte, sie hätte lange genug gewartet.

Eine schicksalhafte Begegnung mit Hans veränderte alles. Damit ihre Tochter nicht ohne Vater aufwuchs, heiratete Anna ihn bald darauf. Seither mieden die meisten der Nachbarhöfe ihre kleine Familie. Der Krieg war zwar zu Ende, aber in Annas Leben herrschte er weiter. Ockholm hatte gerade mal dreihundert Einwohner und war zum größten Teil landwirtschaftlich strukturiert. Jeder kannte hier jeden – und alle kannten meinen Stiefvater. Ehemals eine Halligsiedlung, war Ockholm inzwischen zu einem kleinen Friesendorf geworden, in unmittelbarer Nähe zur Nordsee. Lediglich ein Bäcker, ein Kaufmann und ein Schuster rundeten das Dorfleben ab. Die alte Backsteinkirche, die den Krieg ohne Schäden überstanden hatte, war aus dem sechzehnten Jahrhundert und wurde zu einer Pilgerstätte gläubiger Christen.

Es gab viele Kinder, mit denen ich hätte spielen können, aber mein Stiefvater erlaubte mir keinen Kontakt zu ihnen. Stattdessen half ich meiner Mutter bei der Gartenarbeit, so gut wie Fünfjährige dazu eben in der Lage waren. Ich lernte dadurch die Schätze der Natur lieben. Die Bienen auf der Wiese hinter dem Haus waren meine Freunde. Einmal war mir sogar eine Maus in die Schürzentasche gekrabbelt. Freudig hatte ich sie mit nach Hause genommen, weil das Fell des Tieres so wunderbar weich und seidig war. Leider kroch es jedoch aus seinem Versteck und wurde von Hans entdeckt. Er zertrat die kleine Feldmaus einfach mit seinen großen Stiefeln.

Es war für mich ein böser Schock gewesen, wie das entseelte Tier auf dem Küchenboden zappelte und die letzten Atemzüge aus dem Mausekörper entwichen. Lange erschien das Bild in meinen Träumen, aus denen ich weinend und untröstlich erwachte. Ich suchte dann Schutz unter der Bettdecke, weil niemand mein Schluchzen hören wollte. So verbrachte ich einen Großteil der Nächte. Allein, traurig und ungeliebt. Die Angst vor dem gewalttätigen Stiefvater ließ mich zu einem Menschenkind werden, dessen Leben bereits in den ersten Jahren seiner Existenz beendet schien.

Der erste Schultag

Wenige Wochen nach meinem sechsten Geburtstag wurde ich in der Grundschule Ockholms eingeschult. Es war das erste Mal, dass ich ein neues Kleid erhielt. Anna fuhr mit mir extra in die Kreisstadt Husum, um einzukaufen. Nagelneue Schuhe, eine schneeweiße Strumpfhose und ein dunkelblaues Kleid durfte ich hinterher mein Eigen nennen. Neugierig erkundigte ich mich, wofür ich diese Sachen bekäme.

»Du gehst ab morgen in die Schule«, lautete Annas knappe Antwort. Ich wusste nicht, was das für mich bedeutete. Da ich nie einen Kindergarten besucht hatte, kannte ich mich in solchen Dingen nicht aus. Bedeutete das etwa, dass ich weggeschickt wurde? Eine leise Hoffnung keimte bei dieser Vorstellung in mir auf, denn ich fürchtete mich nicht davor, mein Zuhause zu verlassen. Schlimmer konnte es nicht werden. Ich streckte die Brust heraus und atmete tief ein und aus. Bald schon würde ich keine Angst mehr haben müssen.

»Brauche ich dann nicht noch mehr Kleider?«, fragte ich naiv. Wir liefen gerade zum Busbahnhof, als Anna sich forsch zu mir umwandte und mir ins Gesicht schlug.

»Was erlaubst du dir, du undankbares Kind?« Ihre Augen funkelten wütend.

Schützend legte ich den Arm über meinen Kopf. Anna hatte noch nie die Hand gegen mich erhoben. Umso mehr verunsicherte diese Reaktion mich nun. Tränen rannen über meine Wangen. Ich war nicht in der Lage, sie aufzuhalten. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, warum ich nur so ein unerträgliches Kind war. Längst war ich der Überzeugung, dass ich selbst schuld daran war, dass ich so oft geschlagen und beschimpft wurde. Ich zermarterte mir regelmäßig den Kopf, wie ich mich bloß ändern könnte, um meinen Eltern zu gefallen.

Wir liefen weiter zum Busbahnhof, der sich nahe dem Marktplatz in der Roten Pforte befand. Jede Menge Menschen warteten dort bereits auf ihren Linienbus. Anna verlangsamte die Schritte, obwohl der Bus nach Ockholm schon zur Abfahrt bereit schien.

»Wir nehmen den nächsten«, meinte sie. Es wäre immer noch Zeit gewesen, den Bus zu erwischen, aber Anna hatte offenbar etwas anderes im Sinn.

Sie führte mich über die Straße und sah dem Bus hinterher. Die nächste Gelegenheit, nach Hause zu fahren, war erst in einer Stunde. Der Wind trocknete mein tränennasses Gesicht, das zu brennen begann. Ich rieb meine vor Schmerzen pochende Wange, während ich mich mit gesenktem Blick neben Anna stellte. Sie suchte etwas in ihrer Handtasche. Eine Zigarette kam zum Vorschein, die sie mit zitternden, unsicheren Fingern anzündete. Ich riss meine Augen auf und sah zu ihr hoch. Anna zog daran, als ob sie nie etwas Besseres geschmeckt hätte. Als sie meinen verwunderten Blick bemerkte, funkelte sie mich wütend an.

»Wenn du deinem Vater davon erzählst, bist du tot.«

Dann bin ich tot?

Ich hätte mich nicht gefürchtet, wenn sie gedroht hätte, mich wegzuschicken. Aber tot sein? Das wollte ich mir nicht vorstellen. Rasch schüttelte ich meinen Lockenkopf. Angst schnürte mir die Kehle zu. Kein Sterbenswörtchen würde über meine Lippen kommen. Schließlich hatte ich Pläne für meine Zukunft. Wünsche, ein besseres Leben zu führen, ohne meine Peiniger.

»Ich verrate nichts«, schwor ich hektisch. Anna richtete ihren Blick ins Leere und zog weiter an ihrer Zigarette. Zwischen ihren Knien hielt sie die Tüte mit meinen Anziehsachen. Ich hatte Durst, aber ich wagte nicht, nach einer Brause zu fragen, die im Kiosk nebenan zum Verkauf angeboten wurde. Während wir auf den nächsten Bus warteten, rauchte Anna drei weitere Glimmstängel. Dann fuhr endlich der von mir ersehnte Bus vor.

Unterwegs starrte ich aus dem Fenster und ließ die Landschaft an mir vorbeisausen. Ich zuckte zusammen, als Anna mich anstieß und aufforderte auszusteigen.

Am Morgen meiner Einschulung musste ich meinem Vater das neu erworbene Kleid vorführen. Ängstlich trat ich vor ihn hin und drehte mich nach seiner Aufforderung im Kreis. Missbilligend betrachtete er mich, und mir lief eine Gänsehaut über den Rücken.

»Viel Geld für etwas, das dich nicht unbedingt hübscher macht«, brummte er abfällig. Nun, dass ich hässlich war, wusste ich inzwischen. Der liebe Gott war in dieser Hinsicht nicht gerade großzügig mit mir umgegangen. Vielleicht war das der Grund, weshalb mein Stiefvater mich verachtete? Eine Tatsache, die ich mit sechs Jahren nicht ändern konnte, sondern nur hinnahm. Aber wenn ich es richtig verstanden hatte, würde ich dieses Haus verlassen, um in eine Schule zu gehen. Für den Augenblick fasste ich Mut.

Überrascht stellte ich fest, dass die Schule nur einige Straßen von unserem Hof entfernt war. Viele Kinder in meinem Alter riefen aufgeregt durch die Klassenräume. Jedes trug eine bunte Schultüte mit Glitzeraufklebern und Schleifen. Meine war aus Zeitungspapier zusammengerollt, und der Inhalt bestand aus Obst, das meine Mutter im Garten gesammelt hatte. Aber das störte mich nicht weiter, bedeutete doch mein erster Schultag, dass ich nicht mehr im Haus meiner Eltern wohnen musste. Dachte ich.

Ich fühlte mich glücklich. Meine Lehrerin Fräulein Dankward schien zwar sehr streng, aber ich glaubte, mich nicht fürchten zu müssen. Die Eltern kamen der Aufforderung nach und verließen das Klassenzimmer. Innerlich jubelte ich. Denn von nun an würde ich keine Schläge aushalten müssen.

Wie vom Blitz getroffen hockte ich wenig später in der Schulbank, als die Lehrerin verkündete, dass der erste Unterrichtstag beendet sei und wir nun nach Hause gehen dürften. Was hatte das zu bedeuten? Ich verstand die Welt nicht mehr. Morgen durfte ich wiederkommen? Es dauerte eine Weile, bis ich begriff. Die Schule fand nur vormittags statt und war nicht mein neues Heim.

Mit hängendem Kopf ging ich zu Fuß zum Hof meiner Eltern, zurück zu meiner Folterkammer. Die Riemen meines Tornisters gruben sich in meine Schultern. Ich trug eine Last, die nicht nur der Tasche zuzuschreiben war, eine seelische Pein, die ich kaum zu bewältigen vermochte. Mir wurde klar, welch langer Weg noch vor mir lag.

Ach, wäre ich doch schon erwachsen.

Mit schleppenden Schritten schlich ich nach Hause. Schon beim Betreten der Hofzufahrt überkam mich ein beklemmendes Gefühl. Dann hörte ich ein schrilles Quietschen. Ich beschleunigte meine Schritte, mein Herz schlug alarmiert in der Brust. Was ging hier vor? Die Geräusche wurden lauter, dann verstummten sie abrupt. Ich rannte um das Stallgebäude herum und erstarrte. Mein Stiefvater schlachtete die Kaninchen. Ohne sie vorher zu betäuben, stach er sie mit dem Messer nieder, sodass sie qualvoll verenden mussten. Er stand in einer großen Blutlache.

»Nein!«, schrie ich. »Nicht meinen Felix!« Panisch rannte ich zu den Boxen, in denen die Tiere untergebracht waren. Alle waren leer.

Ich zuckte zusammen, als mein Stiefvater plötzlich hinter mir stand. Instinktiv hielt ich mir zum Schutz beide Arme über den Kopf.

»Hab ich dir nicht gesagt, du sollst dich nicht an die Viecher gewöhnen? Die gehören nun mal in den Kochtopf.«

Als ich mich umwandte und in seine bösen Augen schaute, zuckte mein Körper krampfartig. Ich konnte mich nicht beruhigen, in meiner Wut schrie ich ihn an: »Du Mörder!«

Für meinen geliebten Felix legte ich mich sogar mit ihm an, doch sollte ich meinen Ausbruch bald bereuen. Mein Stiefvater lachte höhnisch. Er schüttelte mich brutal, bis ich in den Dreck fiel. Dann zog er den Gürtel aus seiner Hose. Die Sorge um mein schönes Kleid verflüchtigte sich in dem Moment, als der Gürtel meinen Körper traf.

»Dir werde ich schon noch Benehmen einprügeln, und dein Felix brutzelt im Ofen.« Er sprach abgehackt und musste zwischendurch Luft holen, um den Gürtel durch die Luft sausen zu lassen, der ein weiteres Mal erbarmungslos auf meinem zitternden Leib landete. »Du hast dein neues Kleid schmutzig gemacht«, grölte er und holte wieder aus.

Er ließ erst von mir ab, als ich mein Gesicht leise wimmernd in den Dreck drückte. Ich fragte mich, ob ich ihm von Annas Zigaretten erzählen sollte. Ich wäre in diesem Moment sowieso am liebsten gestorben. Doch dann hörte ich, wie er seinen Ledergürtel zurück in die Hosenschlaufen schob. Ich hatte es geschafft. Er war fertig.

Oh, wie sehr ich ihn hasste. Eines Tages würde ich diese Rechnung begleichen, nahm ich mir vor. Nie zuvor hatte ich mich gegen meinen Stiefvater erhoben, und ich schwor mir, es nie wieder zu versuchen. Unsere Nutztiere würde ich von nun an links liegen lassen, damit mein Herz nicht noch mal vor Trauer brach. Ich schlich mich ins Haus, dort entledigte ich mich meiner verschmutzten Kleidung und verzog mich in meine Kammer. Die Striemen am Rücken brannten höllisch. Diese Zeugen einer unglücklichen Kindheit würden mich lebenslang begleiten.

Anna steckte den Kopf zur Tür herein. Mit ihrem Blick bedeutete sie mir, dass ich dem Mittagessen besser nicht fernbleiben sollte. Kraftlos krabbelte ich aus dem Bett, als es so weit war. Ich wusste, dass der schwarze Tag noch nicht vorbei war. Felix stand in Form eines Bratens auf dem Küchentisch. Mein Stiefvater würde mich zwingen, davon zu essen. Wie ich ihn doch hasste.

Die Schule wurde von da an mein Lichtblick. Ich begriff sehr schnell, wie wichtig Bildung war, um mich von meinen Eltern unabhängig zu machen. Zur Überraschung aller kam ich bestens im Unterricht zurecht und freute mich auf die Vormittage im Klassenraum. Mein Ziel behielt ich fest im Blick: mein Zuhause zu verlassen und nie wieder zurückkehren zu müssen.

Neujahrsmorgen

2014

 

 

Müde rieb ich mir die Augen. Sie brannten und tränten leicht von der Nacht am Laptop. Ich streckte meine Glieder und klappte entschlossen den Rechner zu. Wie an jedem Neujahrsmorgen wollten Sophie und Lia auch heute zum Frühstück vorbeikommen. Ich blinzelte zur Uhr. Gleich zehn Uhr, in einer halben Stunde würden die Kinder da sein. Erstaunt stellte ich fest, dass ich die ganze Nacht geschrieben hatte. Ich strich leicht über den Deckel des PCs.

»Nun gut, ich schreibe wohl gerade meine Memoiren«, sagte ich zu mir selbst. »Auch eine Lösung für den bevorstehenden Ruhestand.«

Ob Sophie wohl so lange warten würde, bis ich damit fertig war? Ein langes Leben lag hinter mir, gespickt mit etlichen Tiefen und wenigen Höhepunkten. Und ich wünschte mir noch viele weitere Jahre, so viel war sicher. Schöne Jahre, so wie die Zeit mit Jack. Versonnen starrte ich auf den PC.

Er war wirklich auf der Party gewesen. Ob er wohl auch noch an mich dachte? Oder hatte er nach all den vergeblichen Versuchen, mich zu finden, irgendwann aufgegeben? Wem gehörte nun die grenzenlose Liebe, zu der nur er fähig zu sein schien?

Mit der flachen Hand strich ich über meine Nasenspitze. Bei unserer zweiten Begegnung hatte er mich dort berührt. Ich musste an seine leuchtenden Augen denken, die mich sofort in ihren Bann gezogen hatten. Unvergesslich. Ich lächelte beseelt. Das war ewig her, aber mein Herz klopfte immer noch schneller, wenn ich daran dachte.

Steif vom stundenlangen Sitzen raffte ich mich auf. Ich musste mich beeilen, wenn ich mit den Vorbereitungen für das Frühstück fertig werden wollte, ehe die Kinder kamen. Rasch putzte ich die Zähne und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Das musste fürs Erste genügen. Ich schlüpfte aus dem Ballkleid und tauschte es gegen einen Hausanzug ein. Der rosa-graue Stoff schmeichelte meiner Haut.

Als Nächstes startete ich die Kaffeemaschine. Der Wachmacher war an diesem Morgen besonders wichtig. Ich hatte zwar früher in der Notfallchirurgie regelmäßig Nächte ohne Schlaf überstanden, aber das war lange her. Wann hatte ich zuletzt eine Nacht durchgemacht? Mir fiel nur diese eine besondere Nacht ein – in der Jack mir zeigte, wie es war, geliebt zu werden.

Mist, ich durfte nicht mehr an ihn denken! Warum nur war er auf dieser Party gewesen? Ich schüttelte die Gedanken an ihn ab. Das hatte in der Vergangenheit doch auch funktioniert. Ich musste mich nur konzentrieren und nicht verrückt machen.

Meine sonst so ruhigen Finger zitterten, als ich die Wurstplatte vorbereitete. Sophie liebte Salami, deswegen legte ich reichlich davon auf den Teller. Lia war eher die Käsetante. Ich zuckte zusammen, als die Türglocke schellte, dann beeilte ich mich, den Türöffner zu betätigen. Das musste Sophie sein. Sie nahm wie jedes Mal die Treppe, weil sie keine Fahrstühle mochte. Jeden Moment musste auch meine Enkelin läuten. Sicherlich hatte Lia einen Bärenhunger im Gepäck, wie immer nach Partys.

Sophies Schuhe kündigten sie mit lautem Klacken an. Gegen die Tür gelehnt sah ich ihr entgegen. Die Stufen zum dritten Stock zu nehmen fiel auch meiner Tochter nicht leicht. Mit hochroten Wangen und offenem Mund blieb sie vor mir stehen.

»Puh, warum suchst du dir nicht eine Erdgeschosswohnung? Diese Treppen …«

Ich küsste meine Tochter liebevoll auf die Wangen. »Ich mag keine Erdgeschosswohnungen, das weißt du doch. Warum nimmst du nicht den Fahrstuhl?«

Grinsend gab ich den Weg frei, und Sophie trat schnaufend ein.

»Ah, es duftet nach frischen Brötchen. Wie herrlich. Ich vermute, dass wir heute auf Lia verzichten müssen.« Sophie wirkte enttäuscht. »Ich glaube, sie hat einen über den Durst getrunken.«

Stirnrunzelnd sah ich sie an. »Lia?«, wiederholte ich gedehnt. Das war untypisch für meine Enkelin. »Hat sie irgendwelche Sorgen?«

»Ach was, ich vermute eher, dass sie verliebt ist.« Sophie kicherte.

»Das würde mich für sie freuen, aber muss sie deshalb so dem Alkohol zusprechen? So etwas passt nicht zu ihr.« Nachdenklich fuhr ich mit der Hand durch mein dichtes Haar.

»Mama, lass uns von anderen Dingen reden, mir bereitet das auch Kummer.« Sophie schälte sich aus ihrem Mantel und warf ihn achtlos auf die Garderobenbank. Mein Blick folgte dem fliegenden Kleidungsstück, doch ich ließ es dort liegen. Sophie war eben Sophie. Lange hatte ich versucht, ihren Ordnungssinn zu wecken. Doch alle Bemühungen dahingehend waren erfolglos gewesen. Inzwischen hätte mir sogar etwas gefehlt, wenn es anders gewesen wäre.

»Trotzdem schade.« Ich verbarg meine Enttäuschung nicht, war ich doch für mein Leben gern Oma, mit allem, was dazugehörte.

»Aber ist es heute nicht sogar besser, dass wir unter uns sind?« Sophie sah mich herausfordernd an.