Storyporting - Rainer Nübel - E-Book

Storyporting E-Book

Rainer Nübel

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Beschreibung

Storytelling hat seine Stärken u. a. in der anschaulichen Vermittlung von Erfahrungswissen. Doch in der öffentlichen Kommunikation werden Narrative zunehmend manipulativ missbraucht. Dieses Buch liefert die Storyporting-Methode: Seriöses Storytelling konvergiert mit evidenzbasiertem Reporting, woraus eine Kommunikationsform entsteht, die subjektive Wahrnehmung und Analyse verbindet und daraus lösungsorientierte Konzepte entwickelt. Praxisbeispiele und Tools zeigen die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten des Storyportings, etwa bei Änderungsprozessen in Unternehmen, Kommunen und Organisationen. Das Buch richtet sich an Lehrende, Studierende, Funktionsträger:innen aus Wirtschaft, Politik, Verwaltung, Medien und Bildung sowie an interessierte Bürger:innen.

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Rainer Nübel / Susanne Doppler

Storyporting

Wie aus Storytelling und Reporting eine konstruktive Kommunikationsform entsteht

Mit Gastbeiträgen von Lia Hiller und Burkhard Schmidt

UVK Verlag · München

Umschlagabbildung: © Johnny Greig · iStock

Autorenfoto Rainer Nübel: © Hochschule Fresenius Heidelberg

Autorenfoto Susanne Doppler: © Hochschule Fresenius Heidelberg

 

DOI: https://doi.org/10.24053/9783739881201

 

© UVK Verlag 2022— ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISBN 978-3-7398-3120-6 (Print)

ISBN 978-3-7398-0578-8 (ePub)

Inhalt

Vorwort1 Heldenreisen, Erfahrungs- und Erfolgsstorys, Performance-​Geschichten und der Clash der Narrative: Eine Bestandsaufnahme zum Einsatz von Storytelling1.1 Fiktionales Erzählen in Filmen und SerienFilm trifft JournalismusKonvergenz und PartizipationDie Heldenreise als narratives GrundmusterKritik am Heldenreisen-​ModellStruktur des doppelten Weges: Individuum und Gemeinschaft1.2 Medienpsychologische PerspektiveStimmungsmanagement und SensationslustIdentifizierung mit Story-​Figuren1.3 Storytelling in der KonfliktberatungKonnex von Emotion und Ratio1.4 Kommunikationswettbewerb in Werbung und MarketingGolden Circle: Das Warum in Werbestorys1.5 Storytelling im Kontext von Events und im TourismusStorytelling und EventsStorytelling und OrientierungCo-​Kreation und DramaturgieFiktionales StorytellingNon-​fiktionales StorytellingFaktenbasiertes Storytelling und InformationsdesignBiografische StorysProduktbezogene StorysStorytelling im RaumUnternehmensbezogene StorysStorytelling im Hospitality-KontextKonstruiertes Reality-​StorytellingVerkürztes Reality-​Storytelling1.6 Faktuales Storytelling in den InformationsmedienStruktur der NachrichtDie Reportage als journalistisches StorytellingQualitätskriterien im journalistischen ErzählenAffinitäten zur HeldenreiseRisiken der ReportageFeature, Report, InterviewScrollytelling und user generated contentWenn Meinung als Fakt rezipiert wirdDie Relotius-​Affäre und der Grundverdacht des ManipulativenGrenze zwischen Fiktion und Nichtfiktion bei filmischen DokumentationenVertrauensprobleme der InformationsmedienVermittlung eines negativen WeltbildesKonstruktiver Journalismus1.7 Narration in der UnternehmenskommunikationLearning historiesKollektive Reflexion und ZugehörigkeitsgefühlErfahrungsgeschichten in GroßunternehmenStrategisches Storytelling in der FinanzwirtschaftNarration im Kosten-​Nutzen-​KontextEmotionales Involvement und IdentifizierungNarratives IdentitätsmanagementWenn das faktische Handeln dem Unternehmensnarrativ widerspricht1.8 Behördennarrative und ihre strategischen WirkungsmusterDas von Medien übernommene Narrativ der ‚Dönermorde‘1.9 Politisches StorytellingGerhard Schröder bei der Elbeflut: ‚Alles wird gut‘Angela Merkels „Wir schaffen das“Zukunftsnarrative und StorylisteningDie Totalausleuchtung des AlltagsStrategische Verkürzung von NarrativenMit Gegennarrativen gegen Extremismus?Trumps Tabubrüche: Manipulativer Einsatz von Narrativen1.10 Clash der Narrative in sozialen MedienEmpathie, Hatespeech: Die Ambilanz im DigitalenGefühlte WahrheitEmotional ansteckende Geschichten‚Singularitätswettbewerbe‘ um die AufmerksamkeitGegennarrative zum PerformancezwangUtopie der ‚redaktionellen Gesellschaft‘1.11 Narrative Ansätze in Bildung und WissenschaftAus Erfahrungsgeschichten lernenNarrative Ansätze in Psychologie und MedizinStorytelling in der Nachhaltigkeitskommunikation1.12 Trends im StorytellingErzählen als Kunstform1.13 SWOT-​AnalyseChancen erkennen, Stärken nutzen, Schwächen und Risiken minimierenForschungsfrage2 Storyporting als konzeptionelle map für ein Kommunikationsprinzip erwünschter Konvergenz2.1 Herausforderungen der VUCA-​Welt2.2 Partizipation: Konvergenz von top down und bottom up2.3 Annäherung von Narration und sachlich-​nüchterner Analyse2.4 Das BANI-​Framework für die Zeit des Chaos2.5 Ressourcenfixierung und Weltbezug2.6 Narrative Empathie trifft ökonomisches Prinzip2.7 Analyse der Ressourcensituation als Basis eines Nachhaltigkeitsnarrativs2.8 Das Primat des Besonderen in der ‚Gesellschaft der Singularitäten‘2.9 Digitale Affektkultur der Extreme2.10 Polaritäten in der Gegenwartsgesellschaft2.11 Verbindendes in der Verschiedenheit2.12 Der kommunikative Klimawandel2.13 Storyporting: Storytelling und Reporting2.14 Das Allgemeine im Besonderen, das Besondere im Allgemeinen2.15 Zwischen Nicht-​mehr und Noch-​nicht3 Die Storyporting-​Methode3.1 Erste Stufe: Narration – Storytelling und -listening3.2 Zweite Stufe: Reporting3.3 Dritte Stufe: Storyporting4 Anwendungsbeispiele, Tools und Formate4.1 Zukunftscamps und -werkstätten mit der Storyporting-​MethodeWie wollen, sollen und werden wir in Zukunft leben und arbeiten?4.2 Die Storyporting-Line4.3 Lernen als Recherche4.4 Der mediale Storyport und das etwas andere Talkshow-​FormatStorylistening zu Beginn der Talkrunde4.5 Der Kommunal- und Regional-​Talk | Lia Hiller4.6 Storyporting im sozialen Bereich4.7 Unite EuropeChallenge Europa als Filmformat4.8 Storyporting und szenisches Spiel: „Play, plan & perform“ | Lia Hiller4.9 Aufbrechen mit Kompetenz und Persönlichkeit4.10 Die Nachhaltigkeits- und Transformationsshow5 Die Verortung von Storyporting in der wissenschaftlichen Methodik | Burkhard Schmidt5.1 Methodisches Verständnis des Mixed-​Methods-​Ansatzes5.2 Einordnung von Storyporting im Mixed-​Methods-​AnsatzNachwortÜber die Autor:innenLiteraturRegister

Vorwort

Gibt man den Begriff ‚Storytelling‘ bei Google ein, werden um die 100 Millionen Ergebnisse angezeigt. Die Methode der narrativen Darstellung und Vermittlung von Erfahrungswissen, Informationen, Themen, Ereignissen oder auch Produkten hat in Deutschland und international Hochkonjunktur, insbesondere im Bereich der Unternehmenskommunikation, speziell im Marketing, sowie in den sozialen Medien. Zahlreiche Fachbücher und Praxisratgeber empfehlen Storytelling, weil es Emotionen, Involvement, Identifizierung, recognition, Persuasion und schließlich Kaufinteresse stärker zu evozieren scheint als die nüchtern-​sachliche, datenzentrierte oder auf Argumente setzende Darstellung (z. B. Müller 2014, S. 9–17).

In der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Narration und Storytelling wird häufig auf den anthropologischen Aspekt verwiesen, dass Menschen sich schon immer Geschichten erzählt haben, um Informationen auszutauschen, Erfahrungen und Traditionen weiterzugeben oder einfach um sich gegenseitig zu unterhalten (z. B. Müller 2020, S. 18ff.; Thier 2017, S. 3 u. 9.). Dass Menschen, soziale Gruppen und ganze Nationen Narrative haben und auch brauchen, um (Lebens-)Sinn und Identität zu generieren, gilt als unbestritten. Für den Soziologen Hartmut Rosa etwa sind soziale Gemeinschaften „Resonanzgemeinschaften“, weil sie „die gleichen Resonanzräume bewohnen“ (Rosa 2016, S. 267). Dies seien sie vor allem als „Narrationsgemeinschaften, die über ein gemeinsames, Resonanzen erzeugendes und steuerndes Geschichtenrepertoire verfügen“ (ebd.) Storytelling-​Forscher Michael Müller ist der Überzeugung, große Massen erreiche man „mit Narrativen und Geschichten, die auf Resonanz stoßen“ (Müller 2020, S. 15).

Anschaulich und emotional erzählte Geschichten mit interessanten Protagonist:innen, starkem Spannungsbogen, einem Prozess der Veränderung und am Ende gelösten Konflikten gelten weithin als wirkungsvoller als die rein sachlich-​logische Darstellung. Der Einsatz von Storytelling gerade im Unternehmenskontext wird daher inzwischen selbst zur Aufbereitung von Daten (Nussbaumer Knaflic 2015) und für Bereiche wie Controlling und Rechnungswesen empfohlen, die bisher eindeutig oder ausschließlich vom Reporting, der nüchternen Darstellung von Daten und Kennzahlen, dominiert waren (z. B. Langmann Consulting & Training o. J.). Storys, so wird häufig argumentiert, nehmen die Rezipierenden mit auf eine (Helden-)Reise in zunehmend komplexer gewordene Realitäten, aktivieren deren Selbsterfahrung und erzeugen Identifizierung und Akzeptanz. All dies kann gerade heute von großer Bedeutung sein, in dieser Zeit des tiefgreifenden Wandels, von dem sämtliche gesellschaftliche Funktionsbereiche, alle Berufsfelder und Menschen betroffen sind und der bei vielen Unsicherheit und auch Ängste auslöst. Als größter Treiber dieser Transformation gilt die Digitalisierung, doch es sind u. a. auch die weitergehende Globalisierung, demografische, politische, sozioökonomische und kulturelle Entwicklungen zu berücksichtigen sowie auch und besonders der Wandel der öffentlichen Kommunikation.

Gerade in diesem essenziellen Kontext tritt freilich ein großes Aber in den Fokus: Storytelling steht immer stärker unter dem Verdacht des Manipulativen. Im medialen Bereich ist es u. a. die Relotius-​Affäre um erfundene bzw. gefälschte Reportagen, die das Misstrauen gegen das publizistisch-​professionelle Erzählen verstärkt und das sowieso schon zunehmend gestörte Verhältnis zwischen Medien und Publikum (Weischenberg 2018; Wolf 2015) weiter beeinträchtigt hat. Dass mit Storytelling Menschen stark beeinflusst werden können, stellen seriöse Forschende nicht in Zweifel (z. B. Müller 2020; Thier 2017; Prinzing 2015). Doch häufig werden fast im selben Atemzug die Vorzüge und Chancen von Storytelling beschworen, häufig verbunden mit dem Hinweis auf das scheinbar größere Wirkungspotenzial von erzählten Geschichten. Dabei hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend gezeigt, dass strategisch-​manipulativ eingesetzte oder häufig auch bewusst verkürzte Narrative Bevölkerungen spalten, Radikalismus und demokratiefeindliche Tendenzen befördern können. Besonders evident wurde dies in der Amtszeit des US-​Präsidenten Donald Trump, der mit rassistisch konnotierten Narrativen wie „Make America great again“ oder dem Narrativ eines gänzlich unbewiesenen Wahlbetrugs solche Spaltungswirkungen evoziert hat. Auch in Deutschland setzen populistische Gruppierungen verkürzte oder lügenhafte Narrative verstärkt und nicht selten wirkungsvoll für demokratiefeindliche Propagandazwecke ein.

Hinzu kommen Hatespeech-​Narrative in sozialen Medien und die evidente Zunahme von Verschwörungsgeschichten, die laut einer 2021 erschienenen Studie im Kontext der Coronapandemie weiter forciert wurde (Schüler et al. 2021). Gleichzeitig führt die ausgeprägt narrative Performance-​Kultur in sozialen Medien, mit immer neuen geposteten Erfolgs- oder Aufreger-​Storys, zu einem „endlosen Aufmerksamkeits- und Valorisierungswettbewerb“ (Reckwitz 2018, S. 179), unter dem nicht wenige User:innen zunehmend leiden. Negative Erfahrungen, etwa des Scheiterns oder der Krise, werden nach der Analyse des Soziologen Andreas Reckwitz in der heutigen digitalen Affekt- bzw. Positivkultur unterdrückt oder vermieden. Einzigartig, singulär sein zu sollen in diesem Aufmerksamkeitswettbewerb generiert einen „Profilierungszwang, der zugleich ein Originalitäts-, Kreativitäts- und Erlebniszwang ist“ (Reckwitz 2018, S. 266).

Darüber hinaus ist die in nicht wenigen Fachbüchern und Praxisratgebern formulierte Euphorie, was die scheinbar deutlich größeren Wirkungspotenziale narrativer Darstellungsformen gegenüber nichtnarrativen angeht, nur bedingt angebracht und daher mit Vorsicht zu genießen. Dies lässt sich aus Metastudien ableiten, in denen jeweils eine größere Anzahl publizierter Studien zu kognitiven, emotionalen oder evaluativen und motivational-​konativen Wirkungen des Storytellings analysiert wurden. Der Leipziger Kommunikationsforscher Felix Frey hat 2014 einen solchen systematischen Forschungsüberblick vorgelegt, in dem er 70 Studien aus 55 Publikationen analysiert hat (Frey 2014, S. 120–192). Der überwiegende Teil (75 Prozent) der Studien stammt aus den USA (ebd., S. 141). Die untersuchten Studien waren in den allermeisten Fällen (74 Prozent) in einem kommunikationswissenschaftlichen Anwendungskontext realisiert worden, u. a. in den Bereichen Werbung, Journalismus, politische Kommunikation und Gesundheitskommunikation. Studierende machten mit 70 Prozent in den Studien den überwiegenden Teil der Proband:innen aus (ebd.).

Im Gesamtergebnis stieß Frey zwar auf einige belastbare Studien, die Effekte narrativer Darstellungsmodi auf die (kurzfristige) Erinnerung und auch Einstellungen sowie für Wirkungen auf Intentionen belegen (Frey 2014, S. 165). Doch wenn, so führt Frey kritisch aus, eine bestimmte Tendenz feststellbar sei, lägen fast immer auch gegenteilige Befunde sowie Studien ohne statistisch abgesicherte Ergebnisse vor (ebd., S. 166). Tendenzielle Belege oder Hinweise, allerdings mit eingeschränkter Aussagekraft, fand er in folgenden Bereichen:

„Narrative Kommunikate scheinen im Vergleich zu nicht oder weniger narrativen mehr Aufmerksamkeit zu generieren, eher holistisch verarbeitet zu werden, die Vorstellungstätigkeit bei der Rezeption stärker anzuregen und (auf der Basis von objektiven Maßen wie Lesezeiten) verständlicher zu sein. Sie werden als lebhafter und realistischer eingeschätzt, steigern die Selbstwirksamkeitserwartung der Rezipienten bezüglich eines thematisierten Themas, werden tendenziell kurz- und mittelfristig besser erinnert und haben intensiveres Erleben spezifischer Emotionen während der Rezeption zur Folge als nicht narrative Botschaften“ (Frey 2014, S. 166).

Frey stellte aber auch negative Effekte narrativer Kommunikation fest: Demnach werden narrative Botschaften als weniger informativ wahrgenommen und mittelfristig schlechter bewertet als nichtnarrative (Frey 2014, S. 166f.). Keine Über- oder Unterlegenheit narrativer Kommunikation könne für die subjektiv wahrgenommene Verständlichkeit, für botschaftskonforme Überzeugungsänderungen und den kurzfristig erhobenen Wissenserwerb konstatiert werden. Denn: Signifikante Befunde in beide Richtungen hielten sich die Waage (ebd., S. 167). Der Kommunikationsforscher hält ein Mehr an methodisch hochwertigen Studien für notwendig, besonders wichtig seien jedoch stärker theoretisch-​konzeptionell ausgerichtete Arbeiten (ebd., S. 171).

Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Ettl-​Huber et al. (2019) in einer Analyse von 62 wissenschaftlichen Beiträgen zur Wirkungsforschung von Storytelling, in denen 76 Einzelstudien durchgeführt worden waren. Demnach weisen 37 Beiträge methodische Mängel auf. So waren z. B. bei fast der Hälfte der 76 Einzelstudien ausschließlich Schüler:innen oder Studierende die Proband:innen, entsprechende Aussagen konnten also nur auf diese eine, junge Zielgruppe und nicht in Bezug auf die Gesamtbevölkerung getroffen werden (Ettl-​Huber 2019, S. 38).

Die stärksten Effekte konnten laut dieser Metastudie bei Verständlichkeit, Überzeugungskraft/Handeln und Erinnerung bewiesen werden. Glaubwürdigkeit zeigt demnach neben einem starken Effekt auch drei mittlere Effekte (Ettl-​Huber et al. 2019, S. 37). Dass die meisten starken Effekte für die Emotionalisierung festgestellt werden konnten, bedeute nicht, dass damit in Marketingkommunikation, PR und Journalismus bereits eine relevante Wirkung beschrieben werde. „Denn eine emotionalisierte LeserInnenschaft bedeutet noch kein kaufendes oder zustimmendes Publikum“ (ebd.). Ettl-​Huber et al. weisen zudem auf zwei „eher ernüchternde Ergebnisse zur Wirkung von Storytelling“ (ebd., S. 38) hin. Erstens wurden unter den analysierten Beiträgen 28 kleine, 7 mittlere und 15 starke Effekte konstatiert – in der deutlichen Mehrzahl handelt es sich also um kleine Effekte (ebd.). Und: Ein bebilderter Beitrag oder Bewegtbildbeiträge „erzielen, zumindest was die Wirkungsdimension Interesse betrifft, die stärkere Wirkung als die beste Story“ (ebd.).

Ähnlich ernüchternd fallen zentrale Ergebnisse einer systematischen Untersuchung zu Wahrnehmungen und zur Wirkung von Nachhaltigkeitsgeschichten von 2017 bis 2020 an der Leuphana Universität Lüneburg aus. Die Nachhaltigkeitsstory hatte im Vergleich zu klassischen Berichten „weder eine positive Wirkung auf das situative Interesse noch auf die umweltschutzbezogenen und konsumbezogenen Handlungsabsichten der jungen Erwachsenen“ (Sundermann 2020).

All diese geschilderten Sachverhalte, Entwicklungen und Faktoren lassen die Entwicklung einer alternativen bzw. neuen Kommunikations- und Darstellungsform, in der die Stärken des Storytellings genutzt und die beschriebenen Risiken vermieden werden, sinnvoll und notwendig erscheinen. Darin liegen der Impetus und die Programmatik dieses Buches. Im Fokus steht dabei zentral die Frage: Wie können ein Kommunikationsprinzip sowie eine Methode zur Darstellung und Vermittlung von Erfahrungswissen, Sachverhalten oder auch Produkten aussehen, welche die Stärken und die sich ergebenden Chancen des Storytellings nutzen, die Schwächen ausgleichen sowie die Risiken reduzieren – und dabei den zentralen Herausforderungen der (digitalen) Transformation gerecht werden? Das Buch liefert dazu die Storyporting-​Methode als eine Möglichkeit bzw. als einen zu diskutierenden Vorschlag: Seriöses Storytelling konvergiert mit evidenzbasiertem, ethikgeleitetem und zukunftsorientiertem Reporting, woraus eine Kommunikationsform entsteht, die u. a. subjektive Wahrnehmung und Analyse sowie Emotion und Kognition verbindet.

Ausgangspunkt und Grundlage für die Methodenentwicklung ist eine ausführliche literaturbasierte Bestandsaufnahme zum Einsatz des Storytellings in verschiedenen Bereichen, darunter Unternehmens- und Behördenkommunikation, Marketing, Events, klassische und soziale Medien, politische und Nachhaltigkeitskommunikation. Sie mündet in eine SWOT-​Analyse (→ Kapitel 1). Wissend darum, dass der Begriff des Narrativs wie auch des Storytellings teilweise inflationär verwendet wird (Müller 2020, S. 25) und es sowohl in der Wissenschaft als auch in der Kommunikationspraxis kein einheitliches Begriffsverständnis gibt (Prinzing 2015, S. 13), folgen wir dabei maßgeblich dem Diktum von Früh und Frey: Erzählen ist grundsätzlich eine „funktionale Kulturtechnik“ (Früh/Frey 2014, S. 9), die unter dem Oberbegriff ,Verständigung‘ oder ,Kommunikation‘ zusammenzufassen ist (ebd., S. 9f.).

„Narration ist also eine bestimmte Art der Verständigung bzw. Kommunikation. Je nach Gegenstand und Ziel der Verständigung haben sich deshalb diverse Varianten des Narrativen herausgebildet, bei denen die narrative Grundfunktion durch einzelne Spezifika zu prototypischen Definitionen diversifiziert wird“ (Früh/Frey 2014, S. 10).

Eine solche prototypische Definition, die uns sinnvoll auf verschiedene Einsatzfelder anwendbar erscheint, liegt darin, dass Storytelling eine Methode ist, um Informationen, Sachverhalte, Aussagen, Ereignisse und auch Erfahrungswissen erzählend, damit „dramaturgisch konstruiert“ (Prinzing 2015, S. 14), statt in nüchtern-​darstellender bzw. nachrichtlicher Form zu vermitteln. Mitberücksichtigt wird das von Ettl-​Huber erarbeitete und auf Erzähltextanalysen von Lahn und Meister basierende Storytelling-​Elemente-​Repertoire von Thema, Handlung, Figur, Zeit, Raum, Erzählinstanz, Rede und Stil (Ettl-​Huber 2019, S. 28; Ettl-​Huber 2014, S. 16; Lahn/Meister 2013, S. 204). Die narrative Grundstruktur lässt sich wiederum mit Müller, in Rückgriff auf die Poetik von Aristoteles, so fassen: Ausgangszustand – Transformation, durch ein Ereignis ausgelöst – Endzustand (Müller 2020, S. 23).

Aus der Bestandsaufnahme und der SWOT-​Analyse zum Einsatz von Storytelling sowie dem anschließenden makroperspektivischen Blick auf gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische sowie kommunikative Strukturfaktoren und Entwicklungen wird im → Kapitel 2 Storyporting als Kommunikationsprinzip erwünschter Konvergenz abgeleitet – insbesondere vor dem Hintergrund stark polarisierender Tendenzen und des „kommunikativen Klimawandels“ (Pörksen/Schulz von Thun 2020, S. 16) in der heutigen digitalen Gesellschaft. Daraus wiederum wird in → Kapitel 3 Storyporting als dreistufige Kommunikations- und Darstellungsmethode entwickelt. An zahlreichen Anwendungsbereichen, neuen Tools und Formaten werden die konkreten Einsatzmöglichkeiten des Storyportings dargestellt, u. a. im Kontext von Zukunftscamps in Unternehmen/Organisationen und nachhaltiger Entwicklung, als Lerntool, neuem Talkshow-​Format oder als szenisches Spiel von Transformationsprozessen (→ Kapitel 4). Schließlich geht es um Überlegungen dazu, wie Storyporting in der wissenschaftlichen Methodik verortet werden kann (→ Kapitel 5).

Da die Frage adäquater Kommunikation, gerade im zeitaktuellen Kontext der (digitalen) Transformation, von grundsätzlicher Relevanz ist, richtet sich dieses Buch an Lehrende, Studierende und Schüler:innen, aber insbesondere auch an Funktionsträger:innen aus Wirtschaft, Politik, Verwaltung, Bildung, Wissenschaft, Medien, Kultur und Sport sowie an interessierte Bürger:innen. Wir wünschen allen Leser:innen eine möglichst anregende Lektüre, die zu einer regen Diskussion und auch kritischen Gegenrede motivieren mag.

1Heldenreisen, Erfahrungs- und Erfolgsstorys, Performance-​Geschichten und der Clash der Narrative: Eine Bestandsaufnahme zum Einsatz von Storytelling

Überblick | Das erwartet Sie in diesem Kapitel

In welchen Bereichen wird Storytelling eingesetzt, warum und wie geschieht dies? Diese Bestandsaufnahme zum Einsatz narrativer Konzepte und Tools soll neben den jeweiligen strategischen Zielsetzungen und Wirkungsmustern sowohl Stärken und Chancen als auch Schwächen sowie Risiken des Storytellings beleuchten, um ein möglichst differenziertes Gesamtbild zu erarbeiten. Am Ende des Kapitels erfolgt daher eine SWOT-​Analyse.

Die Beschäftigung mit den Einsatzfeldern von Storytelling als Methode der narrativen Darstellung von Sachverhalten, Ereignissen oder Entwicklungen erfordert die trennende Kategorisierung in fiktionale und faktuale Erzählung (Müller 2019, S. 136f.). Gleichzeitig gilt es auch, den Blick darauf zu richten, wo und in welcher Form beide Bereiche Schnittstellen aufweisen oder sich miteinander verbinden bzw. ineinanderfließen.

1.1Fiktionales Erzählen in Filmen und Serien

Romane, Theaterstücke, Kino- und Fernsehfilme oder Serien stehen typischerweise für die fiktionale NarrationNarrationfiktionale. Romanautor:innen und Drehbuchschreiber:innen haben die Lizenz zur Erfindung jeglicher nur denkbaren oder imaginären Figuren, Handlungen und Welten. Sie sind nicht an realitäre Räume und Zeiten gebunden, können die unglaublichsten Dinge und kühnsten Utopien schildern. Doch sehr häufig beinhalten fiktionale Texte Bezüge zu realen Orten, historischen Zeiträumen oder Sachverhalten. Und insbesondere in der Rezeption des fiktionalen StorytellingStorytellingfiktionaless kommen Aspekte des Faktualen zum Tragen: Rezipient:innen erwarten meist nicht nur Kohärenz, Verständlichkeit und Logik, sondern fordern nicht selten, dass auch erfundene Geschichten ,realistisch‘ sein sollen.

Tatort-Drehbuchautor:innen kennen dies. Wenn sie in einem – fiktiven – Mordfall die TV-​Kommissar:innen mit Strategien und Methoden jenseits des professionellen Polizeialltags ermitteln lassen, lässt die Kritik an den Macher:innen der ARD-​Krimikultserie nicht lange auf sich warten: „viel zu unrealistisch.“ Inzwischen werden nach Ausstrahlung der Krimis Fakten-​Checks zu deren Realitätsgehalt publiziert. Wahrgenommene Widersprüche zwischen der fiktiven Erzählwelt und der selbst erlebten oder empirisch nachprüfbaren Welt des Faktualen können bei Rezipient:innen also kognitive DissonanzenDissonanzenkognitive auslösen.

Weichen Inhalte eines Spielfilms von gesellschaftlich-​konventionellen Denkmustern, Realitätsdarstellungen, Frames, brain scripts und Narrativen ab, kann die evozierte Dissonanz sogar hochpolitisch konnotiert sein. Fast schon zu einer Staatsaffäre wuchs sich 2017 die Stuttgarter Tatort-Folge „Der rote Schatten“ aus. Regisseur Dominik Graf hatte nicht nur zeitgeschichtliche Dokumente zum RAF-​Terror im Jahr des ‚Deutschen Herbstes‘ 1977 in den Krimi eingebaut. Vielmehr hatte er die in linken Kreisen lange ventilierte Spekulation, das Führungstrio um Andreas Baader habe im Stammheimer Hochsicherheitstrakt nicht Selbstmord begangen, sondern sei von einem Mordkommando umgebracht worden, szenisch durchgespielt. Selbst Bundespräsident Frank-​Walter Steinmeier sah sich damals, nachdem die Bild-Zeitung bereits großbuchstabig die Skandalisierungsmaschine angeworfen hatte, zu einer staatlich-​offiziösen Kritik an einer fiktionalen Krimiserie veranlasst: Der Tatort habe „die Märtyrerlegende vom Justizmord an den Häftlingen“ wiederaufleben lassen (Körte 2017).

Gerhard Baum, der in der ‚bleiernen‘ Zeit der RAF-​Morde an Generalbundesanwalt Siegfried Buback, Arbeitgeberpräsident Hanns-​Martin Schleyer und anderen Repräsentanten des Staates Bundesinnenminister war, warf dem Tatort-Regisseur vor, „die unerträgliche Vermischung von Realität und Fiktion“ sei „unverantwortlich“ (Körte 2017). Dies löste wiederum im Feuilleton deutscher Medien Erregung aus. „Was Baum unerträglich findet, man muss leider so trivial werden, ist das Prinzip fiktionalen Erzählens in Literatur, Film und Theater“, schrieb Peter Körte in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (ebd.). „Dass er es so unerträglich findet, mag auch damit zu tun haben, dass Graf ein unausgesprochenes Bilderverbot übertreten hat. Zu sehen, wie die Häftlinge getötet werden, hat eine größere Wucht, als würde lediglich darüber gesprochen“ (ebd.). Man solle trotzdem das Durchspielen von Möglichkeiten nicht mit einer These verwechseln (ebd.). Und der Kulturjournalist gab zu bedenken:

„Wenn die empörten Kritiker im staatstragenden Ton warnen, nach Ansicht des Films werde man die Tötung für die amtliche Version der Wahrheit halten, dann erklären sie implizit das Publikum für unfähig zu begreifen, was sie selbst natürlich durchschaut haben; es treibt sie dabei weniger die Sorge um fatale Auswirkungen auf das politische Bewusstsein der Nation als die Angst um ihre Deutungshoheit, die sie mit Filmen wie dem ‚Baader-​Meinhof-​Komplex‘ durchgesetzt glauben. Für diese Hegemonie ist Grafs Verfahren natürlich ein Affront, weil auch die immergleichen RAF-​Bilder, die zirkulieren, nun konkurrieren müssen mit neuen“ (Körte 2017).

Reflexion | Was denken Sie?

Wie realistisch sollen oder dürfen fiktive Filme sein?

Dieses Fallbeispiel zeigt exemplarisch, wie stark die Wirkung von Narrativen in einem fiktionalen Genre auf das Verständnis oder die Konstruktion von Realität im faktualen Kontext sein kann.

Film trifft Journalismus

Fundierte und intensive Recherche, so der Tenor in der Filmbranche, gehört zwingend zum Handwerkszeug von Drehbuchautor:innen oder Regisseur:innen. Sie wird von Funktions- und Entscheidungsträger:innen im Film- und Fernsehgeschäft zunehmend eingefordert. Ein Drehbuch für einen ‚schwäbischen Krimi‘ abzuliefern, in dem sich das Schwäbische lediglich darin finde, dass der Kommissar regelmäßig Maultaschen verzehre, erfülle den Rechercheauftrag in keiner Weise, monierte 2015 die damalige Filmchefin des Südwestrundfunks (SWR), Martina Zöllner, im Rahmen der Veranstaltungsreihe Facts & Fiction, bei der sich Journalist:innen und Drehbuchautor:innen regelmäßig austauschten. An der renommierten Filmakademie Baden-​Württemberg in Ludwigsburg sind Recherche-​Kurse für Studierende aller Sparten der Filmproduktion seit längerem fester Bestandteil des Curriculums. Häufig werden sie von Journalist:innen gehalten.

Es ist nicht das einzige Terrain, auf dem Erzähler:innen fiktionaler Geschichten zunehmend mit Faktenvermittler:innen in Kontakt treten. Die verstärkte Kooperation von Filmmanagement und Nachrichtenmedien zeichnet sich sogar als medialer Branchentrend ab. Im August 2020 gab Constantin Film die exklusive Zusammenarbeit mit der Süddeutschen Zeitung (SZ) bekannt. Konkret gehe es darum, dass SZ-​Autor:innen Produzent:innen und Drehbuchautor:innen bei verschiedenen Filmprojekten beraten. Die neue Partnerschaft sei „ein gelungenes Beispiel dafür, dass sich journalistische Stoffe in unterschiedlichen Formaten, von Print bis Bewegtbild, erzählen lassen“ (Constantin Film 2020).

Als erstes Projekt, so wurde angekündigt, arbeiten Constantin Film und Süddeutsche Zeitung an einer High-​End-Dokumentation über die Loveparade – von der anfänglichen Erfolgsgeschichte in Berlin bis zur Katastrophe in Duisburg im Jahr 2010. Thematisiert werde auch „der daraus resultierende, emotionale Impact, den dieses Unglück noch heute auf alle Beteiligten und die Gesellschaft hat“ (Constantin Film 2020). Zudem sei eine neue fiktionale TV-​Movie-​Reihe mit dem Titel German Crime geplant, in der spektakuläre deutsche Kriminalfälle der vergangenen 30 Jahre neu erzählt werden sollen, mit bislang unbekannten Hintergründen, die sich aus SZ-​Recherchen ergeben hätten (ebd.).

Die werbende Programmatik, die Oliver Berben als Constantin-​Film-​Vorstand für TV, Entertainment und digitale Medien in diesem Kontext formulierte, zielt stark auf die Schnittstellen von fiktionalem und faktualem Storytelling: „Das wahre Leben schreibt vielfach die besten Geschichten. Daraus fakten-​basierte zeitgemäß und hochwertig produzierte Formate zu erschaffen, die die Zuschauer nicht nur unterhalten, sondern auch informieren, darauf freuen wir uns sehr“ (Constantin Film 2020).

Das große, spartenreiche Medienhaus Bertelsmann verfolgt eine ähnliche Cross-​over-​StrategieCross-​over-​Strategie: Unter dem Dach der Bertelsmann Content Alliance, so verkündete der Gütersloher Konzern im Oktober 2020, werden der Streaming-​Anbieter TVNow, das im Hamburger Verlag Gruner + Jahr erscheinende True-​Crime-Magazin stern Crime und die Ufa Show & Factual exklusiv den Kriminalfall des sogenannten ‚Maskenmanns‘ verfilmen (UFA 2020; ots 2020).

KonvergenzKonvergenz und PartizipationPartizipation

Beide Vorgänge lassen sich als Reaktion von Medienunternehmen auf die großen Herausforderungen deuten, die sich aus der TransformationTransformation, dem großen Wandel in allen Funktionsbereichen der Gesellschaft, ergeben. Als deren größter Treiber gilt die DigitalisierungDigitalisierung. Im technologischen und auch marktspezifischen Kontext hat sie zuvor getrennte Segmente, wie z. B. Telekommunikation und Medien, sich annähern und teilweise auch bereits zusammenwachsen lassen. So agiert Telekom, in analogen Zeiten ein klassischer Telefonieanbieter, inzwischen auch als Medienunternehmen mit einem digitalen Nachrichtenangebot (t-​online.de), das mit Online-​Portalen von Printverlagen wie dem Spiegel konkurriert. Die Time-​Branche (Telekommunikationsunternehmen, Informationstechnik-​Unternehmen, Medienunternehmen, Unterhaltungselektronik-​Unternehmen) verliert zunehmend ihre Konturen. „Es entstehen innovative Dienstleistungen, die Konzepte aus verschiedenen Bereichen übernehmen“ (Beyer/Carl 2012, S. 127).

Diese Konvergenz wird in der wirtschaftswissenschaftlichen Fachliteratur primär als Annäherung im technisch- und produktspezifischen (gemeinsame Anwendung digitaler Technologien auf Systeme und Netze; Inhalte werden dadurch anpassbar), ökonomischen (medienübergreifendes Agieren von Medienunternehmen, um neue Kundenpotenziale zu generieren) oder marktspezifischen Kontext adressiert (Beyer/Carl 2012, S. 125ff.; Wirtz 2019, S. 65f; Rockenhäuser 1999). Sie zeigt sich, wie die beiden Vorgänge verdeutlichen, auch horizontal in der Kreation von Content, dem core asset eines jeden Medienunternehmens (Wirtz 2019, S. 37–40). Und Storys bilden wiederum ein wichtiges Content-​Segment.

Aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive relevant ist der Umstand, dass sich im Zuge der Konvergenz, konkret mit der gemeinsamen Plattform, auch die Grenzen der Mediengattungen zunehmend verwischen (Mast 2012, S. 32). Die wirtschaftliche Dimension der medialen Konvergenz verdeutlicht Mast am „triple play, bei dem Unternehmen den Kunden Internet, Telekommunikation und Rundfunk aus einer Hand anbieten“ (ebd.). Kritischer Erfolgsfaktor seien die Inhalte, die über die Plattformen und Kanäle den Kund:innen zugänglich gemacht werden können (ebd.).

Zudem verändern Innovationen in der Informations- und Kommunikationstechnologie die Nutzungsgewohnheiten des Publikums und ermöglichen neue Medienformate (Wirtz 2019, S. 3). Aus den in analogen Medienzeiten weitgehend passiven Rezipient:innen sind aktive Prosument:innenProsument geworden, die erwarten, dass ihre individuellen Bedürfnisse befriedigt werden, und die mitreden, teilweise auch aktiv am Mediengeschehen teilhaben wollen. Netflix steht in diesem Kontext für einen weiteren Trend im Storytelling-​Geschäft: Der Streaming-​Anbieter nahm 2019 neue interaktive Titel wie „Du gegen die Wildnis“ ins Programm, in denen die Zuschauer den Lauf der Geschichte bestimmen können (Handelsblatt 2020). Das US-​Medienunternehmen setzt also auf das Digitalisierungsparadigma der Partizipation.

Die Heldenreise als narratives Grundmuster

Bei allen transformationsbedingten Neuerungen und Entwicklungen im Filmbereich scheinen die Grundstrukturen des fiktionalen Storytellings derweil gleichzubleiben und in gewisser Weise archetypisch zu sein. In Gesprächen, Vorträgen oder Workshops zu ihrem Metier verweisen Drehbuchautor:innen häufig auf dieselben oder zumindest sehr ähnliche Regeln, mit denen sie arbeiten: Authentisch zu sein, lautet eine Regel, eine Geschichte bzw. Handlung aus den Figuren heraus zu schildern, eine andere. Dies bedeutet, sich in die erfundenen Figuren hineinzudenken, ihre mögliche Biografie, ihre Entwicklungen, Gedanken, Gefühle, Sehnsüchte oder auch Abgründe kohärent zu konstruieren und die möglichen Beweggründe für das, was sie tun, auszuloten. „Wenn ich eine Figur einen Mord begehen lasse“, erzählte etwa Jürgen Werner im Dezember 2020 vor Studierenden in Heidelberg, „versuche ich mich zuvor in sie hineinzuversetzen und frage mich: warum tue ich das, geschieht es aus Rache, habe ich ein Sohn-​Vater-​Problem, oder welches andere Motiv habe ich?“

Für Werner, der Drehbücher sowohl für den Tatort als auch für die ZDF-​Romantikserie Traumschiff schreibt, ist es zudem besonders wichtig, die ersten Szenenfolgen in beiden Genres so zu setzen und zu arrangieren, dass sich die Rezipient:innen ‚wohlfühlen‘. Er meint damit, dass das Publikum Situationen, Figuren und Zusammenhänge antrifft, die ihm vertraut sind. Man könnte auch sagen: die einer bekannten Ordnung entsprechen. Dazu dienen StereotypenStereotypen. Das David-​Goliath-​Prinzip gehört dazu. Jürgen Werner führt in diesem Kontext gerne die Figur des zerknautschten und notorisch unterschätzten Kommissars Columbo aus der gleichnamigen US-​Krimiserie an. Dass Columbo am Anfang heillos überfordert und linkisch wirkt, am Ende aber den Mordfall auf seine eigene knitze Weise lösen wird, weiß das Publikum nach den ersten Folgen. „Das ist nicht langweilig“, sagt Werner, „vielmehr will das Publikum wissen, wie Columbo es schafft.“ Gängige Erzähltricks, gerade in Krimis, sind auch der Einsatz des ‚roten Herings‘ als Handlungselement, bei dem die Erwartungen der Rezipient:innen bewusst in die falsche Richtung gelenkt werden und Überraschung evoziert wird, wenn die falsche Fährte evident wird, oder die überraschende Wendung, der Plot-​Twist.

Sprechen Drehbuchautor:innen darüber, wie sie erzählen, welchen Mustern sie folgen, fällt meist ein Schlüsselbegriff des filmischen Storytellings: hero’s journey – die HeldenreiseHeldenreise. Grundlage des im Filmbereich mitunter fast schon zu einem Erzählgesetz mutierten Modells sind die Forschungen des US-​amerikanischen Literaturwissenschaftlers Joseph Campbell in den 1950er-​Jahren zu Märchen, Mythen und modernen Erzählungen. Aus seiner Analyse Der Heros in tausend Gestalten leitete er die Heldenfahrt als Grundstruktur des Geschichtenerzählens ab, die der Hollywood-​Berater, Film-​Dozent und Autor Christopher Vogler Ende der 1990er-​Jahre in seinem Buch Die Odyssee des Drehbuchschreibers in leichten Abänderungen auf den Film übertrug. Bekannte Filmemacher wie George Lucas, Steven Spielberg oder Francis Ford Coppola ließen sich von Campells Modell sehr stark inspirieren oder es zeigen sich in ihren Arbeiten Einflüsse davon (Vogler 2018, S. 35 u. 41).

Die Ausgangssituation der zyklisch strukturierten Heldenreise liegt darin, dass der Held sich in seiner gewohnten alltäglichen Welt befindet, von der aus er in „eine andersartige, neue und fremde Welt“ (Vogler 2018, S. 48) aufbricht. Wenn der Held dann den ‚Ruf des Abenteuers‘ erhält, Stadium zwei, wird er „mit einem Problem konfrontiert; er steht vor einer Herausforderung oder muss sich auf ein Abenteuer einlassen“ (ebd., S. 49). Zunächst weigert sich der Held, dem Ruf des Abenteuers zu folgen, Stadium drei. In dieser Situation begegnet er einem Mentor. Daraufhin überschreitet er die erste Schwelle, nimmt das Abenteuer an und begibt sich „zum ersten Mal völlig in die besondere Welt seiner Geschichte“ (ebd., S. 52). Für Vogler geht die Geschichte im Grunde erst mit diesem fünften Stadium richtig los, er verweist in diesem Kontext auf die gängige Drei-​Akt-​Struktur von Filmen: „Im ersten geht es um die Entscheidung des Helden zu handeln, im zweiten um die Handlung selbst und im dritten um die Konsequenzen, die daraus entstehen“ (ebd., S. 52f.).

Jetzt steht der Held vor Prüfungen und Bewährungsproben, er findet Verbündete, stößt aber auch auf Feinde. Besonders häufig scheinen Kneipen oder Bars die Schauplätze dieses sechsten Stadiums zu sein (Vogler 2018, S. 53f.). Dann betritt der Held einen gefährlichen Ort, er dringt im siebten Stadium der hero’s journey ‚zur tiefsten Höhle‘ vor, wo große Gefahr droht (ebd., S. 55). Bei der ‚entscheidenden Prüfung‘, dem achten Stadium, muss der Held „seine größte Angst bezwingen; ihm steht der Kampf auf Leben und Tod mit einer feindlichen Macht bevor“ (ebd., S. 56). Nach dem erfolgreichen Bestehen der entscheidenden Prüfung bekommt er seine Belohnung – „den Schatz, um dessentwillen er aufgebrochen war“ (ebd., S. 57). Dabei kann es sich laut Vogler um eine spezielle Waffe, einen symbolisch-essenziellen Gegenstand oder aber um erworbenes Wissen und Erfahrung handeln (ebd., S. 57f.).

Mit dem anschließenden ‚Rückweg‘, dem zehnten Stadium, beginnt in Voglers Dramaturgie der filmischen Heldenreise der dritte Akt, in dem sich der Held „den Konsequenzen stellen muss, die sich aus seiner Begegnung mit den dunklen Mächten in der entscheidenden Prüfung ergeben haben“ (Vogler 2018, S. 59). Verfolgungsszenen resultieren daraus, gleichzeitig fasst der Held in diesem Stadium der Handlung die Entscheidung, in seine gewohnte Welt zurückzukehren. Bevor er dort ankommt, verändert durch die erlebten Abenteuer und Herausforderungen, muss er in einer letzten Prüfung seine ‚Auferstehung‘ erleben, d. h. er muss in diesem elften Stadium beweisen, „dass er seine Lektionen aus der entscheidenden Prüfung auch wirklich gelernt hat“ (ebd., S. 60). Schließlich kehrt der Held in seine alltägliche Welt zurück – mit einem erworbenen Elixier, einem Schatz oder neuem Wissen.

Nach diesem Grundmuster des Mythos, davon ist Vogler überzeugt, „lässt sich der schlichteste Comic genauso entwickeln wie das anspruchsvollste Drama“ (Vogler 2018, S. 64). Die Reise des Helden sei eine sehr flexible Vorlage, die „endlose Variationen“ (ebd.) erlaube, ohne dabei ihre ursprüngliche Magie zu verlieren, betont der Filmexperte und scheint damit präventiv die Kritik ausräumen zu wollen, dass der Ansatz (allzu) hermetisch oder dogmatisch sein könnte. Es gebe auch Geschichten, in denen der Held eine Reise nach innen antrete (ebd., S. 46). Das Grundmuster gilt demnach auch für das Genre der Romantikfilme. „Die Abenteuer solcher Reisen des Gefühls“, so Vogler, „nehmen das Publikum gefangen und machen eine Geschichte lesens-, hörens- und sehenswert“ (ebd.). Gute Geschichten vermitteln den Rezipient:innen demnach das Gefühl, „etwas Neues über das Leben oder über uns selbst gelernt zu haben“ (ebd., S. 30). Dies bedeutet, dass Storys einerseits die Selbsterfahrung von Menschen abrufen und andererseits neue oder andere Facetten des Lebens vergegenwärtigen, damit das Erfahrungspotenzial erweitern.

Die Wirkung und Reichweite dieses Heldenreisen-​Modells sind beachtlich. Wie Vogler im Vorwort der 2018 erschienenen Ausgabe seines Buches schreibt, „ziehen nicht mehr nur Autoren aller Provenienzen und Genres die Odyssee bei ihrer Arbeit heran, sondern auch Lehrer, Psychologen, Werbeleute, Strafvollzugsexperten, Mythenforscher und Wissenschaftler, die sich mit der Popkultur beschäftigen“ (Vogler 2018, S. 12). Der Hollywood-​Berater hat auf seinen Vortragsreisen allerdings festgestellt, dass der Begriff ‚Held‘ nicht überall auf Akzeptanz stößt. Die deutsche Kultur hat nach seiner Wahrnehmung ein sehr ambivalentes Verhältnis dazu, was er historisch begründet. Der Nationalsozialismus und der deutsche Militarismus hätten die Symbole des Heldenmythos für ihre Zwecke missbraucht, indem sie damit Unterwerfung, Entmenschlichung und Zerstörung beschworen hätten. Nach 1945, im Kontext der Reorganisation kultureller Werte, legte man nach Voglers Darstellung keinen Wert auf die Idee des Helden (ebd., S. 20f.).

„Leidenschaftslose, kühle Anti-​Helden entsprechen dem derzeit in Deutschland vorherrschenden Geschmack eher; ein Anklang von unsentimentalem Realismus wird hier deutlich bevorzugt, obgleich auch ein gewisser Hang zum Romantizismus und ein Faible für Fantasy spürbar sind“ (Vogler 2018, S. 20f.).

Kritik am HeldenreiseHeldenreiseKritikn-​Modell

Kritik an der ‚Odyssee‘ regte sich u. a. dahingehend, dass die lineare Erzähltechnik der Heldenreise mit der Digitalisierung und den daraus entstandenen interaktiven und nichtlinearen Formen obsolet geworden sei. Die neue Art des Erzählens, so gibt Vogler Hauptinhalte dieser Kritik wieder und spricht dabei den Aspekt des user generated contentuser generated content  an, würde es möglich machen, dass die Menschen endlich ihre eigenen Geschichten erzählen können – mit jeder beliebigen Abfolge der Ereignisse oder etwa von Punkt zu Punkt springend (Vogler 2018, S. 23). Vogler konzediert, dass digitale Technologie und nichtlineares Denken „aufregende neue Möglichkeiten geschaffen haben“ (ebd., S. 23), meint aber, dass sich gerade die Reise des Helden für Computerspiele und interaktive Formen bestens eigne (ebd., S. 24). Und Vogler formuliert, mit einigem Pathos, seine Grundüberzeugung: „In allen Zeiten werden sich Menschen mit Vergnügen der Trance des Erzählens hingeben oder sich selbst von einem meisterhaften Geschichtenweber durch eine Erzählung führen lassen“ (ebd., S. 23).

Revolutioniert durch digitale Spiele, hat sich das Storytelling in der digitalen Welt völlig verändert und es bahnt sich eine vollkommen neue Form des Erzählens an. Zum einen durch die bereits erwähnte InteraktivitätInteraktivität, die wie in vielen medialen Bereichen auch Einzug hält im digitalen StorytellingStorytellingdigitales, zum anderen dadurch, dass auch Autor:innen in digitalen Welten frei davon sind, sich „physikalischen Gesetzen unterwerfen zu müssen, Anatomie zu studieren oder bekannte Konflikte aufzugreifen“ (Lochner 2014, S. 11). Entsprechend folgt das Storytelling in virtuellen Welten neuen erzählerischen Gesetzmäßigkeiten, als wir es von Büchern und Filmen kennen. Interaktive Erzählschemata in parallelen Handlungssträngen lösen herkömmliche dramaturgische Plot-​Szenarien ab (ebd., S. 18).

Struktur des doppelten Weges: Individuum und Gemeinschaft

Obwohl Vogler in seiner Darstellung der Heldenreise als Story-​Grundmuster wiederholt beispielhaft die Artussage anführt, wo die tiefste Höhle (Stadium sieben) die Gralskapelle sei, bleibt unberücksichtigt, dass die deutsche Artusforschung seit den 1970er-​Jahren eine andere Struktur ausgemacht hat: die des doppelten Weges. Nach der Analyse mehrerer Mediävisten ‚funktionieren‘ mittelalterliche Artusromane wie der Erec von Hartmann von Aue so: Der aus seiner alltäglichen Welt aufbrechende Held gewinnt nach erfolgreich gemeisterten Herausforderungen sowie der Gewinnung einer Frau persönlichen Ruhm und Ehre und wird von Artus an dessen Hof aufgenommen. Doch plötzlich wird der Held mit eigener Schuld, dem Bewusstsein eigenen Versagens oder einer Schuldzuweisung konfrontiert – das zuvor erreichte ideale Stadium ist gebrochen, verloren gegangen. Daraus ergibt sich für den Helden die Notwendigkeit, noch einmal loszuziehen – auf einen zweiten Weg, eine zweite Abenteuerreise. Auf diesem zweiten Weg geht es nicht mehr nur darum, die persönliche Idealität zu beweisen, sondern vielmehr darum, sich in den Dienst der sozialen Gemeinschaft zu stellen und Hilfsbedürftigen zu helfen. Hat der Held auch diese im Vergleich zum ersten Weg schwierigeren Abenteuer erfolgreich gemeistert, kehrt er ein zweites Mal an den Artushof zurück, jetzt im bleibenden Besitz der vollständigen Ehre und Macht (Mertens 2007; Haug 1990; Ruh 1977).

Zwar gibt es in der literaturwissenschaftlichen Mittelalterforschung inzwischen auch Kritik an diesem Modell, u. a. an seiner Dogmatik (Schmidt 1999), doch gilt die Doppelwegstruktur bis heute als ein wesensbestimmendes Merkmal dieser historisch-​spezifischen Form des fiktionalen StorytellingStorytellingfiktionaless. Interessant ist sie auch und besonders deshalb, weil sie das handelnde Subjekt, den Helden, zunächst im individuell-​ethischen und dann, auf dem zweiten Weg, im sozial- oder systemethischen Kontext positioniert. Gerade vor dem Hintergrund ethischer, sozialpsychologischer sowie narratologischer Aspekte könnte ein solches Modell auch für das Storytelling in unserer postmodernpostmodernen Zeit relevant sein. Jedenfalls ließe sich ein impliziter Bezug zum SozialkonstruktivismusSozialkonstruktivismus herstellen, der davon ausgeht, dass Menschen Wirklichkeit zum einen individuell und zum anderen sozial konstruieren und die damit geschaffenen Wahrheiten innerhalb von Kulturen, Gesellschaften und sozialen Segmenten geteilt werden (Gergen 2002).

1.2Medienpsychologische Perspektive

Aus der Perspektive der MedienpsychologieMedienpsychologie ist wiederum die Frage relevant, warum Menschen bestimmte TV- oder Kinofilme bzw. Genres auswählen und rezipieren. Der Uses-​And-​Gratifications-​Ansatz geht davon aus, dass Menschen Medien und deren Narrative nutzen, um bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen. Die aktive Medienselektion und -rezeption erfolgt demnach immer funktional und dient der Erreichung gewünschter Wirkungen. Wichtig sind dabei das Informations- und Unterhaltungsbedürfnis. Die GratifikationGratifikation stellt die Befriedigung und Motive einer Person dar (Batinic/Appel 2008, S. 113f.). Spielfilme und andere Medien können ablenken oder nützlich sein für persönliche Beziehungen, indem man z. B. mit anderen über Filminhalte sprechen kann oder glaubt, mit den Protagonist:innen bzw. Held:innen soziale Beziehungen aufzubauen. Sie können aber auch helfen, eine eigene Identität zu entwickeln oder die eigenen sowie andere Unwahrheiten zu verstehen (ebd., S. 157).

Die Entscheidung zur Nutzung eines bestimmten Medienangebots hängt nach diesem Ansatz zum einen von Persönlichkeitsmerkmalen wie Extraversion, Ängstlichkeit oder Offenheit für Erfahrungen ab, zum anderen von den momentanen Befindlichkeiten und Bedürfnissen. Letzteres kann, als affektives Bedürfnis, die Ablenkung von eigenen Problemen durch das stellvertretende Erleben nicht erfüllter Wünsche (emotional release) sein, damit auch ein eskapistisches Bedürfnis, aber auch die Identifikation mit den Helden und deren Lebensstil (wishful thinking) oder, als kognitives Bedürfnis, die Suche nach Anregungen für das eigene Leben (advice) aus anderen, erzählten Lebensgeschichten (Batinic/Appel 2008, S. 113f.). Der soziale Kontext einer Medien- oder Filmwahl, so lautet eine Kritik an diesem Ansatz, wird dabei kaum berücksichtigt (ebd., S. 116).

StimmungsmanagementStimmungsmanagement und SensationslustSensationslust

Ausgehend von der generellen These, dass es im Fernsehverhalten zwei entgegengesetzte Motive gibt, nämlich Entspannung und Abbau von Stress auf der einen, die Suche nach Aktivation und Aufregung auf der anderen Seite, wurden zwei verfeinerte Ansätze zur Medienselektion und -nutzung entwickelt: Nach der vom US-​Forscher Dolf Zillmann in den 1980er-​Jahren erarbeiteten Mood-​Management-​TheorieMood-​Management-​Theorie wählen Menschen TV-​Angebote so aus, dass ihr erwünschter emotionaler Zustand erreicht wird. Damit nehmen sie aktiv Einfluss auf ihren aktuellen Stimmungszustand. Ziel der Medienauswahl ist demnach die Herstellung eines positiven Gefühlszustands und die Minimierung von aversiven Gefühlen. Dieser Prozess erfolgt automatisiert und ist weitgehend frei von willentlicher Steuerung. Positive Erfahrungen führen jedoch dazu, dass auch künftig eine solche Auswahl getroffen wird. Menschen betreiben demnach aktives Stimmungsmanagement. Wählen sie traurige Filminhalte aus, etwa die Titanic-​Tragödie, verbindet sich das Erleben medialer Trauer mit positiver Selbstattribution – man spricht sich z. B. die Fähigkeit zur Empathie selbst zu (Batinic/Appel 2008, S. 116ff.).

Der andere Ansatz adressiert das sensation seeking als wichtiges Motiv der Medienwahl und -nutzung. Sensationslust wird dabei als Persönlichkeitsmerkmal gesehen. Der amerikanische Psychologe Marvin Zuckerman hat in seinen langjährigen Forschungen zum sensation seeking vier Komponenten ausgemacht: die Suche nach dem Nervenkitzel (thrill and adventure seeking), nach Lebenserfahrungen, die über die bisherigen hinausgehen (experience seeking), die Suche nach ‚enthemmten‘ sozialen Stimuli (disinhibition seeking) und die Vermeidung von Langeweile (boredom susceptibility). Spannung wird positiv erlebt und führt zu einer positiven Bewertung des entsprechenden Filmes, wie Untersuchungen zur Wirkung von Filmen zeigen. Sensation seeker bevorzugen Action-, Abenteuer-, Horror- und Erotikfilme sowie im Musikbereich Hardrock (Batinic/Appel 2008, S. 160f. u. 118).

Im Kontext der affektiven Medienwirkungen spielt gerade bei fiktionalen Medienprodukten wie Filmen oder Fernsehserien das Mitfühlen und Mitfiebern der Rezipient:innen mit den Protagonist:innen oder, in der Terminologie der hero’s journey