Streuner - Auf der Suche nach Hoparion - Rüdiger Bertram - E-Book

Streuner - Auf der Suche nach Hoparion E-Book

Rüdiger Bertram

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Regel Nummer eins: Hunde sind gefährlich. Es gibt keine Ausnahmen. Regel Nummer zwei: Überlebe!

Nach dem TAG hat sich alles verändert. Die Welt ist zu einer grauen Wüste geworden, in der wilde Hunderudel die Herrschaft übernommen haben. Doch Judith und ihr kleiner Bruder Abi haben einen Traum. Ihr Ziel ist Hoparion, der Ort, an dem es genug Wasser und Nahrung für alle gibt und Menschen und Hunde friedlich zusammenleben. Zumindest hat ihnen das ihr Vater erzählt. Doch der Weg dorthin ist weit und überall lauern Gefahren. Um nicht von wilden Hunden überrascht zu werden, schlafen die Kinder auf Bäumen. Als sie eines Tages von einem Rudel angegriffen werden, sind es ausgerechnet die Hunde Nipper, Dash und Stubby, die ihnen helfen. Zusammen mit Bilkis, der jungen Kriegerin, machen sich die sechs Streuner auf den Weg nach Hoparion. Aber ihr Zusammenhalt wird auf eine harte Probe gestellt, denn nicht nur Bilkis und der alte Stubby haben vor den anderen gefährliche Geheimnisse.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 282

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Rüdiger Bertram

Auf der Suche nach Hoparion

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2021 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Almut Schmidt

Umschlagillustration und -gestaltung: Melanie Korte

Vignette: shutterstock.com (Vectorcarrot)

aw · Herstellung: bo

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24878-9V001www.cbj-verlag.de

Für J., die so gerne einen Hund hätte

1

Erste Regel: Hunde sind gefährlich. Alle.Zweite Regel: Halte dich fern von ihnen.Dritte Regel: Überlebe.

Das hat Paps uns immer gesagt, morgens, mittags und abends sogar zwei Mal. Wir mussten es dann wiederholen wie ein Gebet. Dabei hatte Paps früher selbst einen Hund, als er noch klein war. Ich habe Fotos von ihm und Susi gesehen. Sie war so ein braun-weißer Mischling mit abgeknickten Ohren. Die sah richtig süß aus. Paps hatte mir ihr Bild in seiner Cloud gezeigt.

Das war vor dem TAG gewesen.

Klar.

Jetzt ist danach und die Cloud existiert nicht mehr. Vor dem TAG war mir gar nicht klar gewesen, wofür man alles Strom braucht. Sogar für Erinnerungen. Ich besitze kein einziges Foto von meinem Vater, überhaupt keines von meiner ganzen Familie, und langsam, ganz langsam vergesse ich, wie sie alle aussahen.

Außer bei meinem Bruder Abrogast natürlich. Abro läuft ja neben mir.

»Judith! Nicht so schnell. Ich kann nicht mehr. Wann sind wir denn endlich da?«

»Wir müssen nur noch einen Baum finden, auf dem wir heute Nacht schlafen können.«

Bäume sind sicher. Hunde kommen da nicht rauf. Zumindest habe ich noch keinen gesehen, der das geschafft hätte. Und ich habe schon viele gesehen. Nach dem TAG mehr als vorher.

Manchmal denke ich, es ist gut, dass nicht die Katzen die Macht übernommen haben. Vor denen wäre man nicht mal auf Bäumen sicher.

Wo sind eigentlich die Katzen? Ob die Hunde …

»Jetzt sag schon, wie weit müssen wir noch?« Abro tun die Füße weh und müde ist er auch.

Mir geht es genauso, aber das darf ich mir nicht anmerken lassen. Ich bin die Ältere, ich bin für ihn verantwortlich. Das hat Paps gesagt, bevor er …

»Gib mir deinen Rucksack.«

Abro zögert. Er weiß, dass ich mindestens genauso erschöpft bin wie er.

»Geht schon«, antwortet er tapfer.

»Da vorne, siehst du den?« Ich zeige auf einen Baum, der einsam in der aschigen Ebene vor uns steht. Gar nicht weit entfernt davon liegt ein Wäldchen. Genauso blätterlos, aber gefährlicher. Wer weiß, was sich da alles versteckt hält.

»Der aussieht wie ein Mann, der seine Arme in die Luft streckt?«

»Genau der«, antworte ich. »Auf dem werden wir übernachten.«

»Aber der ist ja noch ewig weit weg«, mault Abro.

»Ist er nicht, das weißt du doch.«

Seit dem TAG ist irgendetwas mit dem Licht. Dinge scheinen weiter entfernt zu sein, als sie sind. Bei dem Baum da vorne ist das praktisch, sonst nicht so. Wenn man ein Rudel Hunde entdeckt, sind die schon viel näher, als man denkt. Da hat man weniger Zeit für den Duft. Der Duft hat auch einen Namen, aber den habe ich vergessen. Paps hat ihn mir gesagt, aber das ist schon so lange her. Wahrscheinlich ist es noch gar nicht so lange, sondern kommt mir nur so vor. Das ist wie mit den Entfernungen.

Der Duft ist so eine Art Parfüm, nur in richtig übel. Er riecht ganz grauenhaft. Aber wenn man ihn aufträgt, können einen die Hunde nicht wittern. Der Gestank überdeckt alles, was nach Mensch riecht. Wir besitzen noch eine halbe Flasche davon, eine kleine, und es ist das Wertvollste, was wir besitzen. Außer vielleicht …

»Haben wir eigentlich noch Strom?«, will Abrogast wissen.

»Klar«, antworte ich, obwohl ich weiß, dass unser letzter Akku fast leer ist.

»Darf ich dann heute Abend was hören?«

»Aber nur kurz«, verspreche ich und hoffe, dass er zu müde ist, um sich später noch daran zu erinnern. Wir brauchen den Strom. Wenn wir keinen mehr haben, müssen wir einen neuen Akku kaufen. Dazu müssen wir Menschen treffen und die sind nicht besser als Hunde. Vielleicht sogar schlimmer. Menschen könnten auch anders. Bei denen ist es ganz allein ihre Entscheidung, ob sie gut oder böse sind.

Die meisten sind es nicht.

Hunde folgen nur ihren Instinkten: Angst, Hunger, Durst und so. Die können gar nicht anders, da darf man ihnen keinen Vorwurf machen. Manchmal würde ich das auch gerne können: nicht so viel denken, einfach machen.

Drei sind ein verdammt kleines Rudel. Falsch. Drei sind gar kein Rudel. Drei Hunde sind nur drei Hunde. Mehr nicht. Und das ist wenig, viel zu wenig.

Stubby liegt zusammengerollt unter einem der Bäume. Schlägt immer wieder mit der Vorderpfote aus. Als würde er im Traum ein Kaninchen jagen. Oder über eine Wiese toben. Wahrscheinlich rennt er einem Stock hinterher, den jemand für ihn geworfen hat. Irgendwann mal.

Lange her.

Stubby ist ein Lieber. Fast zu lieb. Clever ist er nicht. Hätte sich sonst längst einem Rudel angeschlossen. Einem richtigen. Wäre sicherer für ihn. Aber ich mag ihn. Und: Drei Hunde sind besser als zwei.

Dash ist klüger. Frage mich nur: Warum bleibt sie? Könnte sich jedem Rudel anschließen. Sieht gut aus und ist kräftig. Würde es schaffen. Trotzdem ist sie bei uns. Vielleicht, weil wir aus demselben Wurf stammen und beide dieselbe Mutter haben.

Das verbindet.

Irgendwie.

Ein bisschen.

Dash liegt etwas abseits. Sieht aus, als würde sie schlafen. Täuscht aber. Sehe ich am Zucken ihrer Nase. Ist wach und passt auf. Bereit, jederzeit Alarm zu schlagen. Gut so. Müssen aufpassen, wachsam bleiben. Immer. Mindestens einer von uns.

Dash hebt ihren Kopf. Hat sie was gewittert? Strecke meine Nase auch in die Luft. Rieche nichts. Heißt aber nichts. Würde nicht mal eine Müllkippe riechen. Nicht mal, wenn ich direkt davorstünde. Ist so. Seit dem TAG. Keine Ahnung warum. Der TAG. Menschen nennen ihn so. Trauen sich nicht, es beim Namen zu nennen. Das, was damals passiert ist. Was ist passiert? Wissen nur sie. Sagen es aber nicht. Als hätten sie Angst, es auszusprechen. Auch die großen Rudel nennen es so. Die, die jetzt alles beherrschen. Die die Macht haben. Meinen es aber anders. Für sie war der TAG ein Glückstag. Irgendwann werden wir uns ihnen anschließen müssen. Um zu überleben. Drei sind kein Rudel.

»Denkst du wieder an ihn, Nipper?« Dash steht neben mir. Ist aufgestanden, zu mir rübergekommen. Habe das gar nicht gemerkt. Muss besser aufpassen.

»Nein«, erwidere ich. »Diesmal nicht.«

»Du musst ihn vergessen.« Dash stupst mich sanft mit ihrer Schnauze an.

»Habe ich längst.«

»Lügner.«

Stimmt. War gelogen. Habe ihn nicht vergessen. Wie auch? Keine Ahnung, wie andere das machen. Hatten doch fast alle mal wen.

»Es wird Nacht«, sagt Dash. »Wir müssen los.«

»Nein.«

»Wie nein?«

»Wir laufen ab heute nur noch tagsüber«, sage ich.

»Warum?«

»Dann begegnen wir weniger Rudeln.«

»Dafür mehr Menschen.«

»Können nicht alles haben.« Hab lange drüber nachgedacht. Menschen können wir ausweichen. Wittern uns nicht. Rudel schon. Vor allem die großen.

»Bleiben hier. Im Wald. Bis morgen früh.«

Dash sieht nicht überzeugt aus. Nickt trotzdem.

»Gut, aber ich schau, ob ich was zu fressen finde. Okay?«

Fragt um Erlaubnis. Bedeutet, dass ich noch Chef bin. Weiß sie, dass ich nichts mehr rieche? Glaub schon. Stubby nicht. Schlägt wieder mit seinem Bein in die Luft. Neues Stöckchen. Sieht glücklich aus. Ist es wahrscheinlich auch. Lasse ihn schlafen. Ziehen erst morgen weiter. Wenn es hell ist. Besser so. Wir sind nur drei und drei sind kein Rudel.

2

Wir haben schon schlechter geschlafen, Abro und ich. Zwischen den Ästen gibt es eine Mulde, da können wir uns reinkuscheln. Das ist sogar fast bequem und es ist ja auch nur für eine Nacht. Das Wichtigste aber ist: Wir sind so hoch, dass die Hunde uns nicht erreichen können. Abro und ich sind ein gutes Team, und im Auf-Bäume-Klettern sind wir Weltmeister, wir zwei. Das ist nämlich gar nicht so einfach, weil wir uns nur Bäume aussuchen, auf die man nicht so leicht raufkommt. Wäre sonst ja auch sinnlos. Abro stellt sich an den Stamm und ich steige auf seine Schultern. Dann strecke ich mich, bis ich einen der hohen Äste zu packen kriege, an dem ich mich hochhangeln kann. Wenn ich einen festen Sitz habe, reiche ich Abro meine Hand, um ihn zu mir raufzuziehen. Das geht alles ganz fix, und das muss es auch, damit wir uns schnell retten können, wenn die Hunde kommen. Heute kamen keine, da hatten wir Zeit.

»Darf ich jetzt was hören?«

Er hat es nicht vergessen und ich habe es ihm versprochen. Was man verspricht, muss man halten, hat Paps immer gesagt. Er hat alle seine Versprechen gehalten, nur nicht sein letztes. Aber das war nicht seine Schuld, das war …

»Was ist denn jetzt?«

Ich nicke und hole den Walkman aus meinem Rucksack. Den haben wir in einem verlassenen Haus gefunden. Da findet man immer was, ist aber gefährlich. Manchmal verstecken sich dort Menschen. Oder Hunde. Niemals beide. Der Walkman lag in einer Schublade und es war sogar noch eine Kassette drin. Kassetten sind gut, die haben den TAG überlebt. Alles, was digital war, ist weg: Fotos, Musik, E-Books.

Ich stöpsele den Akku an den Walkman und reiche ihn Abro. Er setzt sich den Hörer auf. Das ist so ein ganz alter mit einem Bügel, den man sich um den Kopf legt. Früher hatte der Kopfhörer weiche Hüllen über den beiden Lautsprechern, aber die haben wir schon lange verloren. Ohne tut das Plastik ein bisschen weh auf den Ohren. Aber das ist Abro egal.

Ich schaue unauffällig auf den schwarzen Akku, den ich in meiner Hand halte. Das ist natürlich sinnlos. Kann man ihm ja nicht ansehen, ob er voll oder leer ist. Das macht es Betrügern so leicht und davon gibt es viele. Aber man kann es fühlen. Ein voller Akku ist schwerer. Echt wahr. Der hier ist schon ziemlich leicht. Wir brauchen dringend einen neuen. Dazu müssen wir Menschen treffen. Menschen, denen wir vertrauen können. Aber das weiß man leider immer erst hinterher.

»Der kleine Drache Kokosnuss …«, singt Abro neben mir.

Das muss früher mal eine bekannte Kindergeschichte gewesen sein, sonst hätte man ja keine Kassetten davon aufgenommen. Irgendwann lange vor meiner Zeit und lange vor dem TAG. Kassetten gab es da schon ewig keine mehr. Von denen hat Paps erzählt, dass sein Paps noch welche besessen hat. Der Walkman muss also wirklich uralt sein, und wenn wir gar nichts mehr haben, können wir den vielleicht tauschen. Gegen etwas, was wir nötiger brauchen. Einen neuen Akku zum Beispiel für das Navi in Paps’ altem Smartphone. Das Display hat Risse, und die Kamera ist kaputt, aber hin und wieder springt es an, wenn ich einen Akku anschließe. Und die Satelliten funktionieren ja noch. Die waren weit genug weg an dem TAG und kreisen weiter irgendwo über uns herum. Manchmal kann ich ihre Signale empfangen, dann weiß ich, in welche Richtung wir müssen. Immer nach Westen, das hat Paps uns gesagt. Er hat auch gesagt, dass man früher einfach nur nach der Sonne gucken musste, dann wusste man, wo Westen ist. Aber das funktioniert nicht mehr, weil die Sonne nicht durchkommt. Nicht durch den dreckigen, fetten grauen Schleier über uns. Das schaffen nur die Signale der Satelliten. Manchmal.

»Kokosnuss! Kokosnuss!«, summt Abro, und da wird mir klar, dass wir den Walkman niemals eintauschen werden. Aber eigentlich hatte ich das auch schon vorher gewusst.

Stubby ist aufgewacht. Hat genug Stöckchen geholt. Schlurft zu mir herüber, Kopf gesenkt, die langen Ohren schleifen über die Asche.

»Was-zu-essen-da?« Murmelt vor sich hin, ohne Pause. Manchmal schwer, ihn zu verstehen. Einerseits. Andererseits auch wieder nicht. Geht bei ihm sowieso meistens ums Essen.

»Dash ist unterwegs«, antworte ich.

»Gut-so.« Stubby nickt zufrieden. Dann dreht er sich ein paarmal im Kreis und lässt sich auf den Boden fallen. Ist nicht mehr der Jüngste. Aber immer noch kräftig.

Wo bleibt sie nur?

Ist schon lange weg. Zu lange. Gefällt mir nicht. Gefällt mir gar nicht. Hätte sie nicht gehen lassen dürfen. Nicht allein. Müssen zusammenbleiben. Drei sind wenig. Zwei sind weniger. Einer am wenigsten.

Was, wenn sie nicht wiederkommt?

Sie ist stark, kann sich verteidigen. Und klug, klug ist sie auch. Passt schon auf sich auf. Aber dumm sind die Rudel auch nicht. Vor allem ihre Anführer. Sonst wären sie keine Anführer.

Wo bleibt sie nur?

Stehe auf, halte meine Nase in die Luft. Versuche sie zu riechen. Sinnlos. Rieche gar nichts. Stubby schaut zu mir hoch. Denkt sich seinen Teil, sagt aber nichts, außer: »Wird-schon-noch-kommen.«

»Natürlich wird sie kommen«, erwidere ich.

Um ihn zu beruhigen.

Und mich.

Mich vor allem.

Irgendwo ein Jaulen. Weit weg. Sonst alles still. Nicht so wie früher. War nie still damals. Und nie dunkel. War immer hell. Auch nachts. Überall Lichter.

Jetzt ist es dunkel, richtig dunkel. Kein Problem für Hunde. Für Hunde, die riechen können.

»Bleib-ruhig-und-setz-dich«, brummt Stubby.

War mir gar nicht aufgefallen. Laufe hin und her.

Ein Geräusch zwischen den Bäumen. Senke den Kopf und stelle die Nackenhaare auf. Fletsche die Zähne. Knurre leise. Gucke böse. Was nicht sehr böse ist.

Das Geräusch kommt näher. Scheint nur einer zu sein. Kein Rudel. Noch näher. Bin zum Sprung bereit. Wenn ich ihn überrasche, stehen meine Chancen nicht schlecht. Nicht mein erster Kampf.

Da!

Ein Knacken, ganz dicht jetzt.

»Was-gefangen-Dash?«, fragt Stubby.

Sie tritt zwischen den Bäumen hervor. Trägt irgendwas zwischen den Zähnen, erkenne aber nicht was. Legt es auf dem Boden ab. Schaut mich amüsiert an.

»Was soll das Theater? Beruhige dich wieder.«

»Bin ruhig«, schwindele ich.

Hatte sie nicht gerochen. Stubby schon.

»Was-hast’n-da?«, will er wissen.

»Eine Maus«, erwidert Dash. »Mehr war nicht zu holen, wir müssen sie teilen.«

»Teilen? Eine Maus?«, frage ich.

»Geh du doch jagen«, antwortet sie beleidigt.

»Schon gut, bin sowieso nicht hungrig.«

»Ich habe auch was Größeres gesehen«, sagt Dash.

»Was’n?« Stubbys Mund ist voll, hat sich die Hälfte der Maus geschnappt. Nuschelt jetzt noch mehr als sonst.

»Zwei Kinder, ganz allein, oben auf einem Baum.«

3

Ich habe eine Hündin gesehen. Zumindest glaube ich, dass es eine Hündin war. Sie hatte rotbraunes Fell, war schrecklich mager und allein. Das ist selten. Nicht, dass sie mager sind. Das sind viele. Aber allein sind nur wenige. Vor allem nicht nachts. Ich habe nach einem der Steine gegriffen, die wir immer mit auf den Baum nehmen. Ich hatte den Stein in der Hand und habe sie beobachtet, wie sie unten um den Stamm herumgeschlichen ist. Ob sie uns gesehen hat? Vielleicht. Ganz bestimmt hat sie uns gerochen. Bei einem einzigen Hund lohnt sich der Duft nicht. Da habe ich ihn mir gespart. Vielleicht war das ein Fehler. Was ist, wenn sie so eine Art Kundschafterin war? Und später dann mit dem Rest ihres Rudels anrückt? Solange ich mit Abro hier auf dem Baum hocke, ist das egal. Irgendwann habe ich ein Quieken gehört. Wie von einer Maus. Danach war die Hündin verschwunden und ich habe den Stein zurück zu den anderen gelegt.

Die alte Frau, von der wir den letzten Akku gekauft haben, hat uns von einem Rudel erzählt. Die Hunde hatten drei Männer auf einem Baum entdeckt. Da kamen sie natürlich nicht ran. Normalerweise ziehen sie dann weiter, aber das Rudel soll einfach gewartet haben. Einen Tag, zwei Tage, eine ganze Woche, hat die Frau behauptet. Irgendwann ist einer der Männer vor Müdigkeit vom Baum gefallen. Das war es dann für den, aber die Hunde sind trotzdem geblieben und haben weiter gewartet. Zwei Tage haben es die beiden anderen Männer noch ausgehalten, dann sind sie runter. Weil sie Hunger hatten und Durst. Sie hatten geglaubt, dass die Hunde schlafen. Die haben aber nur so getan und …

Ich frag mich nur, woher die Frau das alles wusste?

Hat ja keiner überlebt, der ihr das hätte erzählen können.

Stimmt wahrscheinlich auch gar nicht.

Hoffe ich zumindest.

Die Hündin ist jetzt seit einer Stunde weg, schätze ich. Wenn sie ihr Rudel hätte holen wollen, wäre sie längst wieder zurück. Ich glaube nicht, dass sie sich weit von ihm entfernt hat. Das machen sie nie. Sonst bräuchten sie ja ihr Rudel nicht, wenn sie einfach allein in der Wildnis herumstreunen könnten. Das Rudel gibt ihnen Schutz. So wie ich Abro und er mir.

Ich höre auf, in die Nacht zu starren. Ich kann da unten sowieso kaum was erkennen. Dazu ist es viel zu dunkel. Viel dunkler als vor dem TAG.

Abro zuckt neben mir und flüstert: »Nein! Nicht!«

Er hat wieder Albträume. Kein Wunder. Ich lege meinen Arm um ihn und kuschele mich an ihn. Auch weil mir kalt ist, das ist mir seit damals ständig. Eiskalt, auch tagsüber. Ich versuche zu schlafen, damit ich morgen fit bin. Dann müssen wir weiter und bei einem Händler einen neuen Akku besorgen. Hoffentlich treffen wir einen. Die haben ja keine Läden mehr, so wie früher. Die reisen rum und das ist ja auch viel sicherer. Da können sie nicht so leicht überfallen werden, weil man nie genau weiß, wo sie gerade stecken. Macht natürlich auch das Kaufen schwieriger. Wir werden schon einen finden und bezahlen tun wir den mit …

Nein, nicht mit dem Walkman. Ich setze mir die Kopfhörer auf, nur ganz kurz. Eigentlich bin ich zu alt für die Geschichte. Die ist eher was für kleine Kinder. Kinder wie Abro. Aber es ist schön, etwas erzählt zu bekommen. Eine Geschichte ohne Hunde und mit Happy End und Musik. Und vielleicht hilft sie mir auch gegen meine bösen Träume.

»Wo?«, frage ich Dash.

»Ich-dachte-wir-jagen-keine-Menschen«, schmatzt Stubby. Erstaunlich, wie lang er auf einer halben Maus rumkauen kann. Erstaunlich, dass er sie überhaupt frisst. Ist Katzenfutter. War Katzenfutter … davor.

»Nipper will sie nicht jagen. Kennst ihn doch«, sagt Dash, dann zu mir: »Gar nicht weit, sie hocken auf einem Baum.«

»Hoch?«

»Hoch genug«, antwortet Dash.

»Gut, führ uns hin.«

»Aber-warum-wenn-wir-sie-nicht-jagen-dürfen?«

Starre ihn an und knurre. Stubby ist kurz davor, sich auf den Rücken zu legen. Zieht dann doch nur den Kopf ein und macht ein paar Schritte zurück. Reicht mir, höre auf mit Starren und Knurren.

»Lasst uns gehen«, sage ich.

»Du wolltest doch nachts im Versteck bleiben«, erinnert mich Dash.

»Wollte ich, jetzt nicht mehr«, erwidere ich.

»Er ist es nicht.«

»Weiß ich.«

»Von-wem-redet-ihr?«, mischt sich Stubby ein.

Aber Dash und ich sagen es ihm nicht. Sie trabt einfach los und ich hinterher. Stubby auch, das weiß ich, muss ich mich nicht für umdrehen. Würde nie allein zurückbleiben. Braucht das Rudel, braucht uns.

Dash hatte recht. Es ist wirklich nicht weit. Dauert nicht lange und ich kann den Baum sehen. Ist hoch genug und steht alleine. Gute Wahl. Dauert aber, bis ich die Kinder entdecke. Schlafen zwischen zwei Ästen, eng aneinandergeschmiegt. Wie junge Welpen.

»Und-nu?«, brummt Stubby.

»Warten wir«, erwidere ich.

»Worauf’n?«

Antworte nicht. Mach es mir am Waldrand auf der Erde bequem. So, dass ich den Baum sehen kann. Und alles drum herum. Dash macht es genauso. Stubby steht noch ein bisschen rum. Dann legt auch er sich hin. Den Kopf auf die Pfoten. Weiß nicht, was er sonst machen soll.

»Er ist es nicht«, flüstert Dash mir zu.

Lass den Baum trotzdem nicht aus den Augen. Kann ja nichts mehr riechen. Aber gucken geht jetzt besser als früher. Riecht man nichts mehr, sieht man besser. Sieht man nichts mehr, hört man besser. Hört man nichts mehr, riecht man besser. Wird bei mir auch so sein.

»Du warst dabei, als es passiert ist.« Dash liegt direkt neben mir. Ganz dicht. So wie die Kinder auf dem Baum. »Du hast es gesehen.«

Habe es gesehen. Weiß, dass er nicht da oben ist. Irgendwo weiter oben vielleicht. Viel weiter oben. Aber nicht auf dem Baum. Ganz sicher nicht.

»Passen trotzdem auf sie auf.«

»Wie du meinst, Nipper«, sagt Dash. »Aber vergiss nicht, wir sind nur drei.«

Irgendwo das Heulen eines Hundes. Dann Schreie. Dann wieder Heulen. Stubby will auch schon losheulen. Lässt es aber, weil ich knurre. Nur ganz leise. Gerade laut genug, dass er es hören kann. Sonst passiert nicht viel, eigentlich gar nichts. Die Kinder schlafen, Stubby und Dash auch. Ich nicht. Bleibe wach und hoffe, dass kein Rudel kommt.

Es kommt dann doch eins. Ein hellbrauner Rüde mit dunklen Flecken auf dem Fell führt es an. Hinter ihm zwanzig, dreißig andere. Alle kräftig und gut genährt. Wirken nicht hungrig, eher satt und zufrieden. Bleiben kurz unter dem Baum stehen. Schnüffeln, die Nase in die Höhe gestreckt. Mache mich bereit. Stubby und Dash lasse ich schlafen. Reicht, wenn ich …

Das Rudel zieht weiter. Vielleicht wirklich schon satt. Lohnt sich nicht für sie. Sind nur zwei Kinder. Nicht viel dran wahrscheinlich. Die zwei auf dem Baum haben gar nichts mitbekommen.

»Entweder sind die beiden da oben sehr mutig oder sie haben es einfach verpennt.«

Hab mich geirrt. Dash hat doch nicht geschlafen.

»Ich konnte keine Angst riechen. Du?«

Schüttele den Kopf. Konnte auch keine riechen.

Natürlich nicht.

Wie auch?

4

Mist, Kacke, Scheiße! Scheiße, Kacke, Mist!

Ich habe vergessen, den Walkman auszuschalten. Ich muss eingeschlafen sein und jetzt ist der Akku leer.

Wie konnte ich nur so dumm sein?!

Das ist genau das, wovor ich Abro immer gewarnt habe. Und jetzt passiert es mir selbst.

Mist, Kacke, Scheiße! Scheiße, Kacke, Mist!

Wir müssen Ersatz besorgen. Ich muss Ersatz besorgen. Schnell. Am besten sofort, dann schaffe ich es vielleicht, bevor Abro aufwacht. Aber dazu müsste ich ihn allein lassen. Ich habe ihn noch nie allein gelassen, weil es viel zu gefährlich ist. Nicht wegen der Hunde. Es dämmert schon und die sind bestimmt längst auf dem Weg zu ihren Schlafplätzen. Heute Nacht waren keine da. Glück gehabt, aber hier hoch wären sie sowieso nicht gekommen. Gefährlich ist es wegen der Menschen, die bald aus ihren Verstecken kriechen. Sie würden Abro einfach mitnehmen, wenn ich nicht da bin. Als Träger oder Sklave oder beides oder Schlimmeres.

Wenn es hell ist, gehen wir zusammen los. Wir müssen sowieso weiter. Ich weiß noch, in welche Richtung wir müssen. Ungefähr. Einen Tag schaffe ich das auch ohne Navi. An einem Tag kann man sich nicht so sehr verlaufen. Nicht, wenn man noch so einen weiten Weg vor sich hat wie wir.

»Wach auf, Abro.«

»Was ist denn?« Er ist noch müde und seine Augen sind verklebt. Genau wie meine. Aber das sind sie immer, auch tagsüber.

»Steh auf.«

»Ich hab Hunger, Judith.«

Ich krame in meinem Rucksack und finde noch eine alte Wurzel. Wenn man lange genug drauf herumkaut, schmeckt sie sogar fast süß. Ich gebe sie ihm und Abro steckt sie sich sofort in den Mund.

»Und Durst habe ich auch.«

Ich hole die alte Plastikflasche raus. Ist nicht mehr viel drin, aber für Abro allein reicht es. Ich trinke einfach später. Vielleicht finden wir einen Bach mit sauberem Wasser. Wichtiger ist der neue Akku. Wir brauchen Strom. Vor allem für den Elektroschocker, die einzige Waffe, die wir besitzen. Der hat auch nicht mehr viel Saft. Für einen Hund reicht es, bei zweien wird es eng, bei dreien sind wir geliefert.

»Hallo! Ihr da oben!« Erschrocken zucke ich zusammen. Abro geht es genauso. Wir haben nicht aufgepasst, das darf nicht passieren.

Das darf mir nicht passieren.

Unter dem Baum steht ein Mädchen. Sie ist allein, aber vielleicht ist sie nur ein Köder. Vielleicht hält sich ihre Gruppe irgendwo versteckt und wartet nur darauf, dass wir zu ihr runterklettern.

»Bist du allein?«, rufe ich zurück.

»Siehst du hier außer mir noch jemand? Also ich nicht. Klar bin ich allein.« Sie ist etwa so alt wie ich, schätze ich, hat dunkle Haut und stinkt nach dem Duft. Das bemerke ich erst jetzt, weil ich mich schon so an den Geruch gewöhnt habe. Auf dem Rücken trägt sie einen Bogen und einen Köcher mit ein paar Pfeilen hat sie auch. Gar nicht doof, braucht man keinen Strom für. Vielleicht hat sie trotzdem Akkus, die sie uns verkauft. Falls wir ihr trauen können.

»Ich heiße Bilkis«, sagt das Mädchen. »Wer seid ihr?«

»Ich bin Judith, und das ist mein Bruder Abrogast«, antworte ich, dann lüge ich: »Unser Vater und die anderen sind Wasser holen, die müssten gleich wiederkommen.«

»Aber …«

Ich stoße Abro in die Seite, damit er die Klappe hält.

»Dann sind die aber schon ziemlich lange unterwegs.« Bilkis grinst und zeigt auf das Wäldchen. »Ich habe die Nacht da vorne verbracht und euch beobachtet. Ihr habt Glück gehabt, dass die Hunde schon satt waren.«

»Was denn für Hunde?«

Bilkis zeigt auf einen Hundehaufen direkt neben dem Stamm, der gestern noch nicht da gelegen hat.

»Jetzt stellt euch nicht so an und kommt runter, ich habe Essen und Trinken dabei.« Sie fängt an, ihre Tasche auszupacken. Ich habe ewig kein Brot und keine Würste gesehen. Abro macht sich gar nicht die Mühe, vom Baum zu klettern. Er springt einfach zu ihr runter.

Und ich?

Ich springe hinterher. Mir egal, was danach passiert. Da unten sind Brot und Würste. Und falls es doch eine Falle ist, habe ich immer noch den Elektroschocker. Mit dem komme ich an den Bogen und die Pfeile. Wenn ich schnell bin.

»Würste! Die habe ich gestern Abend schon gerochen, ganz nah.« Dash liegt immer noch neben mir und beobachtet die Kinder, die unter dem Baum sitzen und essen. »Und ich dachte, ich bilde mir das nur ein.«

»Hab-auch-Hunger«, brummt Stubby. Kann sehen, wie ihm der Speichel aus dem Maul tropft. »Kinder-lassen-wir-in-Ruhe-futtern-nur-die-Würste.«

»Denk nicht mal dran«, erwidere ich. »Es ist ihr Essen. Besorg dir dein eigenes.«

»Wir könnten Männchen machen, vielleicht kriegen wir dann was ab«, schlägt Dash vor.

»Oder-Stöckchen-holen«, sagt Stubby. Im Gegensatz zu Dash scheint er das ernst zu meinen. »Was-meinste-Nipper?«

»Gute Idee. Vielleicht verwechseln sie die Wurst mit einem Stock und schmeißen sie für dich.«

»Glaubst-du? Wär-toll.«

Dash und ich sehen uns an, verdrehen die Augen. Stubby!

Die Kinder sitzen unterm Baum, essen und reden. Es sind drei: zwei Mädchen, eines mit blasser und eines mit dunkler Haut, und ein Junge. Ebenfalls blass.

Er ist es nicht, natürlich nicht. War ja dabei. Sieht ihm aber ähnlich. Ein bisschen. Muss mich beherrschen, liegen zu bleiben. Nicht wegen der Würste, wegen ihm. Wäre nicht klug. Wir sind nur drei, und die mit den schwarzen Haaren hat einen Bogen mit Pfeilen, wie eine junge Kriegerin.

Stubby sabbert immer noch. Kann es kaum ertragen, hier warten zu müssen. Wegen der Würste. Versteht mich nicht. Nicht so wie Dash. Bleiben einfach hier liegen, gucken und passen auf.

»Hast du Hunger?«, fragt Dash.

»Warum?«, frage ich zurück.

»Dein Magen knurrt.«

»Nein«, schwindle ich.

»Klar-hat-er«, knurrt Stubby.

Achte nicht auf ihn. Hab was entdeckt. Das Rudel von gestern Nacht kommt zurück. Dash hat sie auch schon gewittert. Stupst mich in die Seite und deutet mit ihrer Schnauze auf die Hunde.

»Habe sie gesehen«, knurre ich leise. Die Kinder nicht, essen und reden weiter. Das Rudel nähert sich. Geduckt, fast wie Katzen. Weiß, was sie vorhaben. Ranschleichen, ganz nah, dann angreifen. Sind gar nicht mehr weit weg. Haben den Baum schon fast erreicht. Gleich werden sie loshetzen.

Richte mich auf, fange an zu kläffen, laut. Dash auch. Sogar Stubby macht mit.

Die Kinder schauen hoch. In die falsche Richtung. Unsere Richtung. Einer aus dem Rudel rennt los. Es ist der Gefleckte von gestern Nacht, ihr Anführer. Seine Meute ihm nach. Jetzt haben die Kinder das Rudel gesehen. Endlich. Das weiße Mädchen hilft dem Jungen auf den Baum, die Kriegerin greift nach ihrem Bogen. Schießt. Einer der Hunde heult auf, überschlägt sich. Hat einen Pfeil in der Brust. Aber es sind zu wenige Pfeile für zu viele Hunde.

Brauchen Hilfe.

Laufe los. Dash und Stubby dicht hinter mir. Hoffe, die Kriegerin zielt nicht auf uns. Bitte, bitte, schieß auf die anderen. Nicht auf uns. Wiederhole den Gedanken. Immer wieder. Vielleicht erreicht er sie. Auch ihr nächster Pfeil trifft. Wieder ein Heulen aus dem Rudel.

Erreichen die Kinder fast gleichzeitig. Wir und das Rudel. Stürze mich auf den Gefleckten, Dash und Stubby nehmen sich andere vor. Vom Baum wirft der Junge Steine. Pfeile schwirren. Kratzen, Beißen, Zähnefletschen. Alles durcheinander. Verbeiße mich in ihn, er sich in mir. Schmecke Blut. Meins, seins, keine Ahnung. Lasse nicht locker, er auch nicht. Plötzlich Funken und ein Jaulen. Der Gefleckte zuckt. Lässt los, dreht sich vor Schmerz im Kreis, rennt weg. Das Rudel zögert, ist verwirrt, dann läuft es ihm nach.

Das weiße Mädchen steht vor mir, hält mir einen schwarzen Kasten entgegen. Der, mit dem sie den Gefleckten vertrieben hat.

»Steck den Schocker weg, Judith!«, ruft das andere Mädchen. »Er hat uns geholfen.«

Kluges Kind, denke ich.

Dann wird alles schwarz.

5

»Ist er tot?« Abro ist vom Baum geklettert und steht zitternd neben mir. Ein paar Meter vor uns liegt der Hund. Ihm fehlt ein Ohr, aber das muss er schon bei einem früheren Kampf verloren haben. Er blutet am Kopf, da, wo ihn der Stein getroffen hat. Ein guter Wurf. Paps wäre stolz auf Abro.

»Ich dachte doch, der will dich angreifen.«

»Nein, der wohl nicht. Das waren die anderen«, erwidere ich.

»Paps hat gesagt, Hunde sind gefährlich. Alle. Es gibt keine Ausnahme. Regel Nummer eins.« Abro starrt den Hund an, der regungslos auf der Erde liegt, alle Beine von sich gestreckt. Er hat noch nie einen Hund getötet.

Ich nehme Abro in den Arm, um ihn zu beruhigen. Dabei lasse ich die beiden anderen Hunde nicht aus den Augen. Ein alter Rüde steht knurrend vor uns, um uns auf Abstand zu halten. Das Fell an seiner Schnauze ist schon ganz grau, aber sein Gebiss ist noch fast vollständig. Das kann ich sehen, weil er drohend die Zähne fletscht. Eine Hündin leckt die Wunde des Einohrigen. Sie blutet auch, aber nicht sehr.

»Er ist nicht tot«, sagt Bilkis. »Seine Bauchdecke hebt und senkt sich, siehst du?«

»Können wir ihm irgendwie helfen?«, flüstert Abro.

»Ich glaube nicht, dass uns die beiden an ihn ranlassen werden«, antworte ich. »Besser, wir ziehen weiter. Keine Ahnung, ob Hunde so was wie Rache kennen, aber ich würde es lieber nicht drauf ankommen lassen.«

Während wir unsere Sachen vom Baum holen, zieht Bilkis eine halbe Wurst aus ihrer Tasche und wirft sie den Hunden hin. Ich kann kaum hinsehen. Eine halbe Wurst!

Der Alte stürzt sich sofort darauf, aber die Hündin ist schneller. Sie schnappt sich die Wurst und verbuddelt sie in der Asche. Dann kümmert sie sich wieder um den Einohrigen und leckt seine Wunde.

»Die drei haben uns geholfen. Keine Ahnung warum, aber da ist das nur fair.« Bilkis hat meinen Blick bemerkt, und ich nicke ihr zu, weil sie recht hat.

Schweigend entfernen wir uns von dem Baum. Rückwärts, damit uns die Hunde nicht von hinten anfallen können. Nur für den Fall, dass sie ihre Meinung doch noch ändern. Bilkis hat sicherheitshalber ihren Bogen gespannt und lässt die beiden nicht aus den Augen.

»Schnell, hol meine Pfeile«, sagt sie, als wir an den beiden toten Hunden aus dem Rudel vorbeikommen.

»Ich?«

»Kannst du mit einem Bogen schießen?«, fragt sie zurück. »Ich meine, so, dass du auch triffst?«

»Nein«, antworte ich ehrlich.

»Dachte ich mir. Ich würde ihn nur ungern aus der Hand legen, solange wir noch nicht weit genug weg sind. Und die Pfeile können wir noch gebrauchen.«

Sie hat recht, natürlich hat sie recht. Trotzdem kann ich mich nicht überwinden, zu den leblosen Körpern zu gehen und ihnen die Pfeile aus dem Bauch zu ziehen. Jetzt bin ich es, die zittert. Abro spürt das und ruft: »Ich mach das schon.«

So als wäre er froh, irgendetwas tun zu können, um nicht an den Einohrigen unter dem Baum denken zu müssen.

Abro rennt zu den toten Hunden, um die Pfeile zu holen. Er muss kräftig ziehen, fast setzt er sich dabei auf den Hintern, dann hat er es geschafft. Stolz hält er die Pfeile in die Höhe. Die Hunde unter dem Baum folgen uns nicht. Die bleiben bei ihrem verletzten Anführer. Ich nehme an, dass er ihr Anführer ist. Warum sonst sollten sie sich so um ihn kümmern? Und außerdem war er es, der sich als Erster auf die anderen Hunde gestürzt hat.

Wir folgen einem Weg, der unter der Asche kaum zu erkennen ist. Erst als wir weit genug von dem Baum weg sind, lässt Bilkis ihren Bogen sinken und nimmt Abro die Pfeile ab. Sie wischt das Blut an staubigen Grasbüscheln ab, dann lässt sie die Pfeile in ihren Köcher gleiten.

Im selben Moment ertönt ein lautes Heulen. Es ist eine Mischung aus Trauer und Wut und klingt so gruselig, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Es hört sich fast so an, als würde ein Mensch schreien. Fast so, wie damals, als Paps …

»Ist er …« Eben war er noch stolz, jetzt klingt Abro wieder ganz verzweifelt. Das ist typisch für ihn. Seit damals wechseln seine Stimmungen wie das Wetter im April. Also vor dem TAG. Jetzt ist das Wetter immer dasselbe.

Ich antworte nicht auf Abros Frage. Ich tue einfach so, als hätte ich ihn nicht gehört. Stattdessen schaue ich zurück zu dem Baum. Er sieht jetzt schon ziemlich weit weg aus, aber das hat nur wieder was mit dem Licht zu tun. In Wirklichkeit sind wir noch gar nicht weit entfernt. Gerade weit genug, um in Sicherheit zu sein. Fürs Erste jedenfalls.

»Hier, besser ist das!« Bilkis hat einen Parfümflakon aus ihrem Rucksack geholt. Er ist aus Kristallglas und wunderschön. Aber das Beste ist, der Flakon ist noch fast voll.

»Duft?«, fragt Abro.

»Nein, Hundepisse«, erwidere ich, weil das wirklich eine dumme Frage war.

»Also ich kenne es eher unter dem Namen Magic Hood«, sagt Bilkis und grinst.