Stromabwärts -  - E-Book

Stromabwärts E-Book

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Beschreibung

"Hör gefälligst auf zu schreien!", brüllte er. "Du warst doch derjenige, der angefangen hat!", erwiderte sie. Nicht auszuhalten, dass seine Eltern dauernd streiten, findet der sechzehnjährige Felix und haut kurzerhand ab. Aber kann er seine beste Freundin Ella zurücklassen? Und den Goldfisch Henry, der bei den streitenden Eltern sicherlich verhungert? Henry wird kurzerhand in die Freiheit entlassen: Felix wirft ihn an seinem Lieblingsplatz in Dortmund in die Emscher. Denn dort ist der Fluss, vormals Abwasserkanal des Ruhrgebiets, schon wieder sauber und natürlich. Ella lässt sich nicht so schnell abschütteln. Dickköpfig beharrt sie darauf, Felix auf seiner Flucht zu begleiten. So brechen die beiden zu zweit auf – entlang der Emscher. Roman Malakoff, Privatdetektiv, ist ihnen dicht auf den Fersen. Auch Henry setzt verzweifelt alles daran, "seinen" Menschen wieder zu finden. Und dann ist da noch die geheimnisvolle Lucy, die sich ebenfalls aufmacht, Felix und Ella zu folgen: Welches Geheimnis verbirgt sie? 70 Jugendliche aus dem Ruhrgebiet haben diesen Roman gemeinsam geschrieben. So vielfältig wie seine Autoren ist auch der Roman selbst: realistisch, fantastisch, witzig, spannend und romantisch, Detektiv-, Fantasy- und Liebesroman. Aber auch eine Geschichte über Freundschaft. Und über die Emscher, den Charakterfluss des Ruhrgebiets.

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Stromabwärts

Ein Emscher-Roadmovie

Herausgegeben von Inge Meyer-Dietrich, Sascha Pranschke und Sarah Meyer-Dietrich

Impressum

Titelabbildung: Die Brücke »Slinky Springs to Fame« von Tobias Rehberger, Kaisergarten Oberhausen Foto: Frank Vinken. Dank an Lina Brünig und Fabian Mirko May, die für das Foto Modell standen.

1. Auflage September 2013

Satz und Gestaltung: Klartext Medienwerkstatt GmbH, Essen

Umschlaggestaltung: Volker Pecher, Essen

ISBN 978-3-8375-1049-2

ISBN ePUB 978-3-8375-1599-2

Alle Rechte vorbehalten

© Klartext Verlag, Essen 2013

www.klartext-verlag.de

Stromabwärts. Ein Emscher-Roadmovie

Der Roman ist das Ergebnis des Schreibwerkstättenprojekts

»Am Fluss entlang schreiben«, das 2012 mit dem Kooperationspreis des Initiativkreises Ruhr ausgezeichnet wurde

Herausgeber & Werkstättenleiter:

Inge Meyer-Dietrich, Sascha Pranschke, Sarah Meyer-Dietrich

Projektleitung- & koordination:

Sarah Meyer-Dietrich, Martina Oldengott, Andrea Weitkamp

Kooperationsteam: Andrea Weitkamp (für jugendstil – das kinder- und jugendliteraturzentrum nrw) Sarah Meyer-Dietrich (für den Friedrich-Bödecker-Kreis NRW) Martina Oldengott (für die Emschergenossenschaft) Toyin Rasheed (für den Verein Emscher-Freunde)

Wissenschaftliche Begleitung: Martina Oldengott

Lektorat: Inge Meyer-Dietrich, Sascha Pranschke, Sarah Meyer-Dietrich Fotos: Frank Vinken, Baoquan Song, Sarah Meyer-Dietrich Zeichnung Emscher-Landkarte: Sarah Meyer-Dietrich

Das Projekt wurde durchgeführt mit freundlicher Unterstützung von:

Grußwort

Einen Fluss zum roten Faden eines Jugendromans zu machen, ist nicht neu! Generationen vor uns haben sich mit den beiden Abenteurern Huckelberry Finn und Tom Sawyer auf die Reise am Mississippi begeben. Die Erlebnisse der beiden Jungen aus der Feder des Schriftstellers Mark Twain begeisterten viele Kinder und Jugendliche und weckten die Lust auf Reisen in ferne Welten.

Die Emscher ist nicht der Mississippi und sie liegt sehr nahe! Seit mehr als 100 Jahren transportiert sie die Abwässer des Ruhrgebiets in die zum Fluss-System gehörenden Kläranlagen. Jetzt wird sie gerade umgebaut. Nach der Beendigung des Bergbaus kann ein unterirdischer Abwasserkanal gebaut werden. Für die Emscher und ihre Nebenläufe wird damit die VoraussetZung geschaffen, sich aus eigener Kraft wieder zu ökologisch wertvollen Gewässern zu entwickeln.

Aus Sicht der Emschergenossenschaft ein guter Zeitpunkt, ein Schreibprojekt anzuregen, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Emscher vielleicht eine Rolle spielen. Den jungen Autoren war freigestellt, ob und wie sie das Emscherthema aufgreifen.

Voller Spannung haben wir während des 12-wöchigen Schreibprozesses erlebt, wie 70 Jugendliche aus 7 Städten eine Geschichte »am Fluss entlang« geschrieben haben. Die Überraschung und Freude war groß, am Schluss gut 160 Manuskriptseiten in den Händen zu halten und von Woche zu Woche zu lesen, wie sich eine spannende und schlüssige Geschichte mit vielen unterhaltsamen Handlungssträngen und unterschiedlichen Akteuren allmählich entfaltet und am Schluss zu einer Punktlandung mit vielen kleinen und großen Happy Ends führt.

Für die Kooperationspartner – Friedrich-Bödecker-Kreis NRW, jugendstil – das kinder- und jugendliteraturzentrum NRW, der Verein Emscher-Freunde und die Emschergenossenschaft – wie auch für die beiden professionellen Schriftsteller Inge Meyer-Dietrich und Sascha Pranschke war die Textwerkstatt ein Wagnis. Vor der Auftaktwerkstatt waren alle sehr aufgeregt, nicht nur die jungen Autoren sondern auch wir, die wir für dieses Projekt Verantwortung übernommen hatten. Würden die Jugendlichen sich darauf einlassen, von Anfang an aktiv mitzuarbeiten, Handlungsstränge und Personen für die Geschichte zu entwickeln? Würden sie bei der Stange bleiben und bis zum Schluss durchhalten? Würden die Jugendlichen in der nächsten Stadt die Handlungsstränge aufgreifen oder sie verwerfen? All diese Sorgen erwiesen sich als unbegründet. Mit großer Sachlichkeit, Respekt und Toleranz untereinander haben die Jugendlichen, die sich Zum großen Teil erst im Rahmen des Projekts kennengelernt haben, die offenen Fragen miteinander geklärt. Vor allem: Um was für einen Roman sollte es sich handeln? Einen Liebesroman, eine Fantasy-Geschichte oder einen Krimi? Sehr schnell wurden sich die Jungautoren über den Beginn der Geschichte und über die Hauptpersonen einig. Im Mittelpunkt stehen Jugendliche: Felix, 16 Jahre, so alt wie die meisten der Autoren, und seine beste Freundin Ella.

Wir haben die Jugendlichen an die Emscher geführt, um ihnen die Spielstätten ihrer Romanfiguren nahe zu bringen. Sie lernten von Woche zu Woche mehr über die Emscher, über den Emscherumbau und die Emscher-Zukunft, die auch die Zukunft ihrer Städte prägt. Es war eindrucksvoll, wie der Fluss selber zu einem roten Faden der Geschichte und zu einem Hauptstrang der Handlung wurde. Immer wieder einmal kam die Emscher selber zu Wort und wurde damit zu einer Person.

Die Jugendlichen gaben in der Evaluation, die anlässlich der abschließenden Abschlusswerkstatt im Haus der Emschergenossenschaft in Essen durchgeführt wurde, an, dass sie vor Beginn der Schreibwerkstatt wenig über die Emscher und den Emscherumbau gewusst hätten, dass ihnen die Lage ihrer Städte an der Emscher kaum bewusst gewesen sei. Alle haben sich dafür interessiert, wie aus einem stinkenden oberirdischen Abwasserkanal wieder ein sauberer Fluss wird. Sie sehen die Emscher nun positiv und schätzen sie als wertvollen Bestandteil ihrer Heimat.

Deshalb ist dieses Emscher-Roadmovie – so haben es die Jugendlichen selbst genannt – für die Emschergenossenschaft auch über die wundervolle Geschichte hinaus ein großer Gewinn.

Liebe Leserinnen und Leser, wir hoffen, euch jetzt neugierig gemacht zu haben! Begebt euch mit Felix und Ella, mit den Goldfischen Henry und Bobby auf die spannende Reise stromabwärts – von Dortmund über Castrop-Rauxel, Herten, Gelsenkirchen, Bottrop und Oberhausen nach Duisburg. Wir wünschen euch viel Spaß beim Schmökern im Emschertal! Macht das Buch zu einem Erfolg, indem ihr es lest, darüber sprecht und es verschenkt!

Dr. Martina Oldengott

Emschergenossenschaft

Vorwort

Rund 70 Jugendliche aus sieben Städten sollen gemeinsam eine Geschichte schreiben. Kann das überhaupt funktionieren? Vor dieser Frage standen wir, als wir 2012 das Projekt »Am Fluss entlang schreiben …« planten. Wir waren uns der Herausforderungen bewusst: Gemeinsam schreiben bedeutet, Kompromisse einzugehen. Würden die Teilnehmer dazu bereit sein? Würden sie sich überhaupt auf einen gemeinsamen roten Faden für die Handlung einigen können?

Und ob sie das konnten. Das bewiesen die Abgesandten aus sieben Städten bereits beim Auftaktworkshop in Holzwickede im Januar 2013. Nachdem sie hier, an der Quelle der Emscher, umfassende Informationen über den Fluss, seine wechselvolle Geschichte und seine Bedeutung für das Ruhrgebiet erhalten hatten, entwarfen die Jugendlichen Figuren und mögliche Handlungsstränge für ihre Geschichte. Worauf sie sich schnell einigen konnten: Die Geschichte sollte von zwei Ausreißern handeln, deren Weg an der Emscher entlang führt.

In Dortmund, bei der ersten Schreibwerkstatt, bekamen unsere Ausreißer Namen, Gesichter, Charaktereigenschaften, Familien … eben all das, was literarische Figuren benötigen, damit sie in der Phantasie der Leser Gestalt annehmen. Neben Felix und Ella – den Hauptfiguren der Geschichte – entstanden weitere Figuren mit eigenen ernsten Problemen. Und nicht alle dieser Figuren waren menschlich …

Sieben Wochen lang übergaben nun die Jugendlichen jeweils freitags ihre Geschichte an die Gruppe in der nächsten Stadt. Auf Dortmund folgten Castrop-Rauxel, Herten, Gelsenkirchen, Bottrop, Oberhausen und Duisburg. Die dortigen Teilnehmer schrieben die Geschichte jeweils samstags und dienstags weiter, überarbeiteten ihre Texte am Mittwoch und übergaben die »Flaschenpost« wiederum am Freitag an ihre Mitautoren.

Was uns in jeder Stadt immer wieder aufs Neue beeindruckte, waren die Teilnehmer selbst. Sie waren begeisterungsfähig, kompromissbereit, hatten Spaß am Weiterschreiben der Geschichte und strotzten von Ideen für den weiteren Handlungsverlauf. Es war verblüffend und eine Freude zu sehen, wie schnell die jugendlichen Autoren – von denen viele zum ersten Mal an einer Geschichte mitschrieben – sich ohne einen einzigen Streit auf die verschiedenen Figuren einließen, mit welcher Intensität die allermeisten sich auf das Schreiben konzentrierten, sich miteinander absprachen und gerne Tipps und Anregungen von uns Werkstattleitern annahmen und umsetzten. Tempus und Perspektive waren übrigens jedem Teilnehmer freigestellt, sodass zwar eine gemeinsame Geschichte entstand, deren einzelne Kapitel aber die individuelle Handschrift der verschiedenen Autoren tragen.

Zum Abschlussworkshop bei der Emschergenossenschaft in Essen kamen wieder die Vertreter aller Gruppen aus den sieben Emscher-Städten zusammen. Wir diskutierten letzte grundsätzliche Fragen und fanden gemeinsam den Titel für dieses Buch.

Im Rahmen unserer Evaluation stellte sich heraus, wie die Jugendlichen das Projekt sahen: Sie fühlten sich als Teil eines großen Ganzen, und die meisten wollten weiterhin schreiben. Die Wahrnehmung ihrer Umgebung, das Bewusstsein für ihre Stadt und der Blick über den Tellerrand waren deutlich geschärft. Und nicht zuletzt hatten sie ein neues, überwiegend positives Bild von der Emscher gewonnen.

Wir wünschen uns, dass die Begeisterung der Jugendlichen beim Schreiben in ein Vergnügen beim Lesen von »Stromabwärts« mündet. So bliebe alles im Fluss.

Inge Meyer-Dietrich, Sascha Pranschke und Sarah Meyer-Dietrich

1. Nicht auszuhalten

»Hör gefälligst auf zu schreien!«, brüllte er.

»Du warst doch derjenige, der angefangen hat!«, erwiderte sie.

»Er kann dich hören«, antwortete er ruhig.

Seit drei Wochen ging das schon so. Fast jeden Abend gab es Streit, sodass Felix oft nicht vor drei Uhr morgens einschlafen konnte. Meistens beobachtete er dann Henry, seinen Goldfisch, wie er herumschwamm und scheinbar nie einschlief. Warum seine Eltern stritten, wusste Felix nicht. Der Sechzehnjährige bekam immer nur Gesprächsfetzen mit, doch oft hörte er seinen Namen. So oft hörte er ihn, dass es keinen anderen Grund für ihren Streit geben konnte, nur ihn, Felix.

»Wenn ich nicht mehr da wäre, dann wäre alles wieder in Ordnung, oder, Henry?«

Der Fisch gab nur ein leises »Blubb« von sich und verschwand in der mittelalterlichen Burg in seinem Goldfischglas.

Felix’ Eltern mussten am nächsten Morgen sehr früh arbeiten, sodass sie nicht mitbekämen, ob er in die Schule ging oder nicht. Dass er nicht mehr da war, würden sie nur dann bereits am Nachmittag merken, wenn sie früher freibekämen. Doch das geschah so selten, dass Felix es wohl nicht berücksichtigen musste.

Ein Tag also, dachte er. Ich hätte einen Tag Vorsprung. Aber was ist mit der Schule? Ist zwar nur noch eine Woche bis zu den Sommerferien, aber trotzdem … Vielleicht sorgen sich die beiden ja um mich … Quatsch, denen bin ich doch egal! Interessieren sich eh nur für ihre Arbeit und so! Aber … was ist mit Ella?

Stark waren seine Zweifel, jedoch auch seine Entschlossenheit.

In dieser Nacht stritten sie länger als sonst. Der Morgen graute bereits und Felix, der mal wieder erst um Mitternacht eingeschlafen war, erwachte durch das laute Geräusch einer zuknallenden Tür.

Nicht die sanfteste Art geweckt zu werden, doch sie erfüllt ihren Zweck, dachte Felix. Nun musste er nur noch warten, bis seine Mutter auch weg war. Im Bett war es ihm jedoch einfach zu warm, darum machte er sich im Bad fertig und zog sich an.

»Schon wach?« Seine Mutter sah ihn über ihre Zeitung hinweg an und setzte ein falsches Lächeln auf. Ihre Augenringe verrieten, dass sie nicht viel geschlafen hatte.

»Weißt doch, bei so einer Hitze kann ich schlecht schlafen.«

Sie nickte nur und begann wieder Zeitung zu lesen.

Lügen war nicht Felix’ Art, doch hatte er ja mehr oder weniger die Wahrheit gesagt. Ich kann bei Hitze wirklich nicht gut schlafen, dachte er, also hab ich nicht gelogen. Er ging zurück in sein großes Zimmer und warf sich auf die Couch. Vor seinem geistigen Auge ging er noch einmal alles durch. Ein paar Klamotten, eine Decke, sein Portemonnaie mit allem Drum und Dran und seine Gitarre wollte er mitnehmen.

»Ugh! Diese Wärme regt mich jetzt schon auf. Stickig bis zum geht nicht mehr!« Felix stand auf, um sein Fenster zu öffnen. Kühler Wind wehte ihm ins Gesicht, als er den Kopf hinausstreckte. Die Sonne begann gerade aufzugehen und färbte die Wolken lila. Er merkte nicht, wie die Zeit verstrich, als er wie gebannt auf das Bild vor ihm starrte. Der vom Tau noch nasse Rasen und darüber die endlose Weite des Himmels.

Felix schreckte auf, als seine Mutter die Haustür zufallen ließ. Mit traurigem Gesicht wandte er dem Morgenhimmel den Rücken zu und sah auf seinen Wecker. Sechs Uhr. Zeit zu packen. Fest entschlossen, seinen Plan in die Tat umzusetzen, zog er den alten Militärrucksack seines Onkels unter dem Bett hervor. Er hatte ihn geschenkt bekommen, nachdem sein Onkel den Dienst quittiert hatte. Schnellen Schrittes lief Felix im Zimmer herum, öffnete die Schränke und packte Kleider und Decke in den Rucksack, dann den Rest. Seine Gitarre verstaute er in dem schwarzen Koffer, den seine Eltern ihm vor einigen Jahren zusammen mit dem Instrument geschenkt hatten. Er fragte sich, ob er nicht noch etwas vergessen hatte, und schritt in seinem Zimmer auf und ab. Sein Blick fiel auf den großen Spiegel in der Ecke des Zimmers. Genauer gesagt, auf seine Augen.

Jemanden mit verschiedenfarbigen Augen erkennt man leicht, überlegte Felix. Zum Glück lag seine Sonnenbrille direkt auf dem Schreibtisch, denn er hätte keine Lust gehabt, sie noch zu suchen. Schließlich war unordentlich kein Ausdruck für den Zustand des Schreibtischs. Zeitungen, Magazine und Comics stapelten sich dort. Lediglich der Bereich um Henry war frei von allem.

»Henry«, flüsterte Felix traurig. Zwar gehörte Henry ihm noch nicht lange, doch hatte er ihn sofort lieb gewonnen. Wenn er Henry einfach zurückließ, würden seine Eltern sich definitiv nicht um den kleinen Fisch kümmern.

»Wie wäre es, wenn du ein größeres Glas bekommen würdest?«

Henry, der gerade seine Morgenrunde um die kleine Burg beendet hatte, legte plötzlich an Geschwindigkeit zu und begann in kleinen Kreisen zu schwimmen. So etwas tat er immer, wenn er sich freute. Felix meinte zu verstehen und ging in die Küche, um einen Frischhaltebeutel zu holen, den er mit Wasser füllte. Vorsichtig fischte er seinen goldigen Freund mit dem kleinen Kescher aus seinem Glas und ließ ihn sanft in den Beutel fallen. Dann verschloss er den Beutel mit einem Knoten.

Hatte er jetzt an alles gedacht? Sein Blick fiel auf den ausgeschnittenen Zeitungsartikel auf seinem Schreibtisch. Darin stand, dass Ausreißer oft durch ihr Handy von der Polizei aufgespürt wurden. Die Polizei könne mit einer speziellen Software die SIM-Karte eines angeschalteten Handys orten.

Felix lachte kurz auf, froh darüber, dass er so viele Artikel sammelte, die mit Polizei auch nur in irgendeiner Weise zu tun hatten. Ihm kam eine Idee, wie er seine Eltern und auch die Polizei auf eine falsche Fährte locken könnte. Dafür brauchte er nur das alte Boot, das noch immer in der Kiste mit seinen Kinderspielsachen sein musste. Und er hatte recht, es lag sogar ganz oben, sodass er nicht lange wühlen brauchte.

Das Fenster war noch immer offen und als er es schließen wollte, merkte er, dass sich die Luft draußen bereits ziemlich erwärmt hatte. Mit ein paar Handgriffen band er seine langen braunen Haare zu einem Zopf, zog sich die Schuhe an und schulterte seinen Rucksack. In der einen Hand die Gitarre, in der anderen den Beutel mit seinem Goldfisch, trat er aus der Haustür, um von der warmen Luft empfangen zu werden.

Obwohl es erst sieben war, brannte die Sonne auf Felix’ blasser Haut. Wo genau er hinwollte, wusste er nicht, doch einen bestimmten Platz wollte er auf jeden Fall besuchen. Seinen Lieblingsplatz an der Emscherbrücke beim sogenannten »Negerdorf«. Er war nie ein Freund von Hitze gewesen, doch fand er die Natur im Sommer einfach am schönsten. Wenn der Himmel klar und blau war und die Blumen ihre ganze Pracht zeigten, war es ihm egal, wie heiß es war. Abgelenkt von einfach allem ging er die Straßen entlang durch die Häuserreihen, bis er endlich vor dem Zaun stand, der seinen Lieblingsplatz umgrenzte. Schnell schaute er sich um, bevor er über den Zaun kletterte und zum Fluss hinunterging.

Er hielt seine Hand ins Wasser, das angenehm kühl war.

»Tja Kumpel, jetzt heißt es wohl Abschied nehmen.«

Felix öffnete den Knoten des Plastikbeutels und goss das Wasser samt Fisch in die Emscher. Mit traurigem Blick sah er Henry hinterher, als der kleine Goldfisch mit der Strömung flussabwärts schwamm.

»Jetzt bist du dran, Handy.« Er holte das Boot aus dem Rucksack und das Handy aus seiner Hosentasche. Eingeschaltet legte er das Handy auf das Boot und ließ es ebenfalls flussabwärts treiben. Eine Weile schaute Felix dem Fluss noch zu, wie er dahinfloss, bis er seinen Magen hörte. In der Eile hatte er vergessen zu frühstücken. In der Nähe war die Bäckerei Uhlenbruch, in die er immer ging, wenn er Kuchen kaufen sollte. Nur ein paar Minuten brauchte er bis zum Hellweg, doch dort verhinderte jemand, dass er die Bäckerei betreten konnte.

Oh, nein, dachte er, unsere Nachbarin, die alte Frau Schmitt! Gut, sie hat mich noch nicht gesehen. Zu dumm, dass sie solche Adleraugen hat und auch noch so ein Plappermaul ist! Felix hatte Angst, entdeckt zu werden. Da betrat Frau Schmitt die Bäckerei, was Felix Zeit zum Wegrennen gab. Das alte leerstehende Haus in der Schmettowstraße würde ihm sicher ein gutes Versteck bieten. Langsamer als sonst, weil er den schweren Rucksack und die Gitarre trug, rannte er zu dem verlassenen Gebäude.

Die vermoderte Holztür öffnete sich quietschend und gab den Blick auf einen dunklen, staubigen Lagerplatz frei. Mit jedem Schritt wirbelte Felix Staub auf, der im Sonnenlicht tanzte. Atmen fiel ihm in dieser staubigen Luft schwer, doch er kümmerte sich nicht darum.

Denn er hörte etwas. Ein Klavier. Eine Etage höher spielte jemand darauf. Felix fühlte sich wie in Trance. Jeder Schritt kam ihm unwirklich vor und das Knarren der hölzernen Treppenstufen unter seinen Füßen kümmerte ihn nicht. Er wollte einfach nur wissen, wer da diese schönen Klänge aus dem Klavier zauberte. Die Treppe führte zu einer schwarzen Holztür mit einem weißen Knauf. Langsam öffnete er die Tür und sah einen Raum, in dessen Mitte ein Klavier stand. Ein Mädchen mit schwarzen Haaren spielte darauf. Es schien Felix nicht zu bemerken. Erst als er einige Schritte in ihre Richtung ging und ein knarrender Holzbalken ihn verriet, drehte es sich um und sah ihm in die Augen.

Leise sagte das Mädchen: »Hallo.«

2. Henry taucht ab

Es begann alles heute Morgen. Ich bemerkte schon die ganze Zeit, dass etwas anders war als sonst. Felix verhielt sich so merkwürdig. Viele seiner Sachen packte er in einen Rucksack. Mir fiel gleich auf, dass er auch etwas mitnahm, das auf dem Wasser schwimmen kann. Er nennt es »Boot«. Auf einmal kam er zu mir und nahm mich aus meinem kleinen, runden Goldfischglas. Er packte mich in ein merkwürdiges Ding, das sich glitschig und eklig anfühlte, und sagte: »Es tut mir leid, dass ich dich in eine Plastiktüte stecken muss, Henry.« Ich begriff nicht, was er da tat. Wenn er mich doch bloß verstehen könnte! Ich hätte ihn so gern gefragt, was er vorhatte. Plötzlich nahm er mich, seinen Rucksack und das komische Etwas, auf dem er immer so schöne Geräusche macht, und ging raus.

Ich konnte nichts erkennen, alles war verschwommen und die ganze Zeit wurde ich hin und her geschaukelt. Auf einmal blieb Felix stehen und ließ mich in etwas hineinfallen, das ganz anders war als mein altes Zuhause. Es war riesengroß und bestand auch nicht aus Glas. Ich blubberte vor mich hin und hörte, wie Felix sagte: »Jetzt bist du ein freier Fisch, Henry. Ich werde dich nie vergessen.«

Ich verstand nicht, was er damit meinte. Ich dachte nur: Warum vergessen? Kommt er denn nicht mit mir schwimmen? Ich sah, wie Felix das sogenannte Boot ins Wasser setzte und dieses komische Ding, mit dem er immer Selbstgespräche führt, darauf legte. Er flüsterte noch: »Nun, ohne Handy, kann mich niemand mehr finden.« Dann ging Felix weg und ich verlor ihn aus den Augen.

Ich war nun ganz allein und hatte Angst. Was sollte ich hier bloß machen? Ich wusste doch nicht einmal, in welche Richtung es nach Hause ging.

»Hey du, wer bist du denn? Du siehst ja genauso aus wie ich!«, sagte eine fremde Stimme.

Voller Angst drehte ich mich um. Wer oder was konnte das sein?

»Ahhhhh!«, schrie ich.

»Ahhhhh! Warum schreist du denn so?«

»Du siehst so glänzend komisch aus«, sagte ich mit ängstlicher, überraschter Stimme.

»Ich sehe genauso aus wie du«, erläuterte die fremde Stimme und fügte hinzu: »Ey, coooool! Dann bist du ja auch ein Goldfisch! Mein Name ist Bobby. Und wie heißt du? Bist du ganz alleine? Was machst du hier überhaupt?«

Dabei schwamm dieser Bobby die ganze Zeit aufgeregt um mich herum, sodass ich nur noch Blubberblasen sah.

»Ich dachte immer, ich sähe besser aus«, antwortete ich.

»Wie bitte? Bin ich etwa hässlich?«

»Nein! Auf gar keinen Fall! Du siehst sehr hübsch aus … so wie ich ja auch!« »Scheiße, bist du cool!«, sagte Bobby. »Aber jetzt beantworte mir mal meine Frage: Wie bist du hier hergekommen?«

»Mein einziger Freund, Felix, hat mich hier alleingelassen.«

»Was für ein Fisch ist Felix denn?«

»Er ist kein Fisch. Er ist ein Mensch!«

»Iiiiihhh, ein Mensch! Wie kannst du nur mit Menschen befreundet sein? Ich bin sogar von einem geflohen!«

»Echt? Wieso denn? Und wie bist du dann hier gelandet?«

»Mein Mensch war sehr schlimm. Immer hat er mein Glas geküsst! Irgendwann hab ich das nicht mehr ausgehalten und mich tot gestellt. Als er mich gesehen hat, ist er erschrocken und hat mich die Toilette runtergespült. So bin ich in der schmutzigsten Ecke der Emscher gelandet.«

»Wovon hast du dich denn ernährt?«, unterbrach ich ihn.

»Na, von Scheiße!«

»Was ist das denn?«

Bobby lachte. »Das ist das stinkende, braune Zeug, das die Menschen auf der Toilette hinterlassen. Eigentlich dasselbe wie unser Kot, nur in Braun.«

»Ach so, sag das doch gleich. War bestimmt eine harte Zeit für dich.«

»Ja, war es, Bruder. Dafür kenne ich die Emscher jetzt in- und auswendig.« Ich erwiderte: »Das ist ja alles sehr spannend, Bobby, aber ich muss Felix folgen. Hilfst du mir beim Suchen?«

»Na klar helfe ich dir, Bruder! Wie sieht dein Felix denn aus?«

»Er ist groß, hat braune Haare und verschiedene Augenfarben.«

»Was? Verschiedene Augenfarben? Wie cool! Welche Farben sind es denn?«

»Grün und braun.«

»Uiii, wie spannend! Na, dann werden wir ihn bestimmt finden. Aber ich muss dich warnen. Hier in der Emscher gibt es Ratten.«

»Ratten? Kann man das fressen?«

»Nein, nein! Wenn du nicht aufpasst, fressen die Ratten dich. Ratten sind große Tiere mit grauem Fell und einem langen rosa Schwanz.«

»Oh … ach so, aber … welche Farbe ist noch mal Grau?«

»Siehst du diesen Stein?«, fragte Bobby. »Der ist grau.«

»Ach ja, jetzt weiß ich es wieder. Sieht genauso aus wie die Burg in meinem Goldfischglas.«

In diesem Moment tauchte am Ufer des Flusses ein rotes Tier mit weißen Pfoten und einer weißen Schwanzspitze auf. Bobby und ich schwammen zu ihm. Bobby erklärte mir, das sei eine Füchsin. Ich fragte sie, ob sie Felix gesehen habe. Zuerst wusste die Füchsin nicht, von wem ich sprach, aber als ich Felix noch einmal beschrieb und seine verschiedenfarbigen Augen erwähnte, wusste sie, wen ich meinte. Doch leider hatte sie ihn heute noch nicht gesehen und wartete selbst vergeblich auf ihn. Wir bedankten uns bei ihr und schwammen enttäuscht davon.

Als das Wasser zu blubbern anfing, dachte ich erst, Bobby hätte gefurzt, aber es war die Emscher selbst, die diese Luftblasen verursachte. Fast schien es mir, als wollte sie mit uns sprechen. Ich war so traurig! Aber Bobby versuchte mich aufzumuntern und meinte: »Alles wird wieder gut!«

3. Werft sie in die Emscher!

Sie sah mich an, als wäre ich der erste Mensch, dem sie nach langer Zeit begegnete. Es war eine Mischung aus Erstaunen und Freude. Als ich näherkam, wurde die Luft deutlich kühler. Sie stand auf und ich bemerkte erst jetzt, dass sie nicht besonders groß war. Sie war blass und die schwarzen Haare, die ihr Gesicht umrahmten, verstärkten diesen Eindruck noch.

»Was machst du hier?«, fragte ich.

»Warten, schon seit Langem.«

»Kann ich dir helfen?«

Ihre Stimmung besserte sich schlagartig. »Ja, natürlich. Komm mit!« Ich hatte Schwierigkeiten ihr zu folgen, als sie durch mehrere dunkle Flure rannte und immer wieder ruckartig abbog.

»Wie heißt du eigentlich?«

»Lucy. Und du?«

»Ich bin Felix.«

Außer Atem gelangten wir zu einer steilen Leiter. Obwohl Lucy schon dabei war, am oberen Ende der Leiter die schwere Luke aufzustoßen, lag immer noch eine zentimeterdicke Staubschicht auf jeder einzelnen der morschen Sprossen. Die Luft in dem Raum hinter der Luke roch abgestanden und muffig. Es schien, als wäre der Raum schon lange nicht mehr betreten worden. An den Wänden stapelten sich ausrangierte Möbel. In einem alten Spiegel konnte ich kaum noch meine Silhouette sehen, die von Lucy konnte man noch nicht mal ansatzweise erkennen. Als ich sie darauf ansprach, wies sie mich nur auf das Alter des Spiegels hin.

Lucy ging auf eine alte, verstaubte Truhe zu, hob sie hoch und pustete den Staub herunter. Zum Vorschein kamen altertümliche Schnitzereien. Als sie den Deckel anhob, ertönte ein furchterregendes Quietschen. Eine Weile kramte Lucy in der Truhe und holte schließlich ein vergilbtes Pergament hervor.

»Das ist aus dem Tagebuch einer alten Freundin. Und hier ist ein Bild von ihr.«

Sie reichte mir eine Kohlezeichnung, auf der eine alte Frau zu sehen war. Auffällig war, dass eine Eule auf ihrer Schulter saß. Ich begann zu lesen.

17. Oktober 1880

Heute bekam ich erneut Besuch von einem jungen Mädchen. Sie leidet seit zwei Wochen unter starkem Ausschlag am ganzen Körper. Zu meinem Bedauern schreitet die Heilung nicht in der erhofften Geschwindigkeit voran. Und dabei ist sie die Einzige, die noch nicht den Glauben an mich verloren hat. Die Anschuldigungen werden in letzter Zeit immer massiver, dabei möchte ich die Menschen doch nur von den Krankheiten heilen, die ihnen die verseuchte Emscher bereitet. Tilia

18. Oktober 1880

Es ist an der Zeit, meine Flucht zu planen. Ich befürchte, dass die Menschen mich hier nicht mehr lange dulden werden. Heute hat erneut jemand versucht, meine Kräutervorräte in Brand zu setzen. Zum wiederholten Male wurde ich als Hexe bezeichnet. Doch was wird geschehen, wenn ich mein Wissen an niemanden weitergeben kann? Es muss jemanden geben, der nach meiner Flucht mein Wissen zur Heilung der Menschen einsetzt. Das ist wichtiger als mein Wohlergehen. Tilia

Als ich mich zu Lucy umdrehte, stand sie reglos in der Mitte des dunklen Raumes. Die einzige Lichtquelle war ein verschmutztes kleines Fenster. In dem spärlichen Licht wirbelte Staub umher. Auf einmal fühlte ich mich ebenfalls wie ein kleines Staubkörnchen, das herumgewirbelt wird. Mir wurde übel und vor meinen Augen verschwamm alles.

Mein Körper fühlte sich an, als würde er durch einen engen Schlauch gepresst und plötzlich fand ich mich einer alten Frau gegenüber. Sie sah aus wie die Frau auf der Kohlezeichnung. Den Ort, an dem wir uns befanden, hatte ich noch nie vorher gesehen. Trotzdem wusste ich sofort, dass ich mich nicht im Jahr 2013 befand. Die Hütte, vor der wir standen, war alt und aus Holz. Von überall her hörte man Kindergeschrei und es stank nach Krankheit und Tod. Ich rannte zu einem Mann, der gekrümmt in einer Ecke kauerte, und fragte ihn nach dem Datum. Als er nicht antwortete, fragte ich noch einmal lauter. Doch er starrte weiterhin apathisch an mir vorbei.

»Es ist sinnlos, sie können dich weder sehen noch hören!«, sagte die alte Frau. Ich verstand nicht, was sie meinte.

»Mein Name ist Tilia. Ich denke, Lucy hat dich zu mir geschickt.«

»Aber zu welchem Zweck?«

»Komm mit!«

Wir gingen an Häusern vorbei, die genauso baufällig aussahen wie die alte Holzhütte. Davor türmten sich Berge von Abfall und überall schwirrten Fliegen herum. Die Menschen sahen so aus, als könnten sie neue Kleidung gebrauchen. Sie waren schmutzig und an jeder Ecke bettelte jemand.

Tilia zeigte mir die Emscher. Sie war in einem fürchterlichen Zustand. Es war erschreckend, den Fluss, den ich so gern hatte, so heruntergekommen zu sehen. Er roch erbärmlich und an der Oberfläche schwammen tote Fische. Ich erinnerte mich an Henry und hoffte, dass es ihm gut ging.

Tilias Stimme riss mich aus meinen finsteren Gedanken. »Lucy hat dir bestimmt mein Tagebuch gezeigt. Heute ist der 19. Oktober 1880.«

Sie drehte sich um. Hinter uns war ein ärmlich gekleideter Mann aufgetaucht, der mit hasserfülltem Blick auf Tilia zu rannte. Sie rannte ebenfalls los und ich folgte ihr.

Außer Atem gelangten wir zu einer alten Holzhütte. Hastig stieß Tilia die Tür auf und schloss sie genau so schnell wieder hinter uns. Die Hütte war erfüllt vom Geruch frischer Kräuter.

»Die Pflanzen sind der Grund, warum ich verfolgt werde. Viele Leute haben etwas dagegen, dass ich den Menschen an der Emscher helfe.«

»Wieso sollte jemand was dagegen haben?«

»Hast du noch nie etwas von Hexenverfolgung gehört?«

»Du meinst, sie halten dich für eine Hexe?«

»Ja, du musst …«

Bevor sie den Satz beenden konnte, wurde mir übel und im nächsten Moment befand ich mich wieder auf dem Dachboden neben Lucy.

»Was war das denn?!«

»Deine Zeit war um. Komm mit, Felix, du musst dich ausruhen vor dem nächsten Mal.«

»Aber warum passiert es überhaupt?«

»Leg dich erst einmal hin. Tilia wird dir später alles erklären.«

Lucy führte mich zurück in den Raum mit dem Klavier, wo auch ein großes Sofa stand.

Plötzlich wurde ich furchtbar müde und ließ mich auf das Sofa fallen, bevor meine Beine nachgaben. Als ich meinen Kopf Lucy zuwandte, setzte sie sich ans Klavier. Ihre Gestalt flimmerte wie heiße Luft über einem Ofen. Kurz darauf schlief ich ein.

Ich wachte auf, als ich bemerkte, dass Lucy neben mir stand. Wieder sah sie mich mit diesem seltsamen Blick an.

»Es ist Zeit, Felix.«

Bevor ich etwas erwidern konnte, befand ich mich wieder in Tilias Hütte.

»Wie weit sind wir beim letzten Mal gekommen?«, fragte sie.

»Du wolltest mir sagen, was ich machen muss.«

»Die Patientin, von der du gelesen hast, konnte ich nicht retten. Doch vor ihrem Tod erzählte sie mir von ihrem Vater. Sie hatte gehört, wie er mit einem Freund über Hexen sprach. Und dass man etwas gegen sie unternehmen müsse.«

»Und ich soll herausfinden, was sie vorhaben?«

»Ja, genau.«

Sie reichte mir eine Tasse Tee, doch als ich versuchte, nach ihr zu greifen, zerschellte die Tasse am Boden und das heiße Wasser bildete eine dampfende Pfütze. Vergeblich versuchte ich, die Scherben aufzusammeln.

»Daran habe ich im Moment nicht gedacht, du kannst hier nichts anfassen, geschweige denn festhalten.«

Bevor ich etwas erwidern konnte, klopfte es so heftig an der Tür, dass die gesamte Hütte bebte. In der nächsten Sekunde wurde die Tür eingetreten und zwei große Männer bauten sich vor Tilia auf. Obwohl ich wusste, dass ich nichts tun konnte, versuchte ich, Tilia zu beschützen.

»Gestehe, Hexe, du bist der Schwarzen Magie kundig!«

»Nein, bitte …«

Ich wusste nicht, was geschah, aber plötzlich stand ich wieder neben Lucy.

»Ich muss zurück, Lucy! Tilia ist in Schwierigkeiten.«

»Es geht nicht. Deine Zeit in der Vergangenheit ist begrenzt.«

Voller Ungeduld streifte ich durch das Zimmer und wartete auf einen weiteren Zeitsprung.

»Wieso kann ich nicht so lange dort bleiben, wie es nötig wäre, um Tilia zu helfen?«

»Meine Kraft … äh, ich meine, … ich weiß es auch nicht. Sicher kann Tilia dir das erklären.«

»Wie kannst du überhaupt so gelassen bleiben? Ich meine, ich bin gerade zweimal 133 Jahre in der Zeit zurückgesprungen. Findest du das etwa normal?«

»Natürlich ist das nicht normal! Und ohne dich bin ich aufgeschmissen! Du musst mir helfen!«

»Was hat das denn mit dir zu tun?«

»Ich habe einmal dieselbe Aufgabe bekommen wie du, aber irgendwann konnte ich nicht mehr in der Zeit springen. Du hast auch nur noch einen Sprung übrig. Um Tilia zu retten, brauchst du Informationen darüber, was ihre Feinde planen. Aber du musst dich beeilen!«

Ich war verwirrt. Aber bevor ich etwas erwidern konnte, drehte sich alles vor meinen Augen, und ich befand mich wieder in der alten Holzhütte im Jahr 1880.

Doch zu meinem Entsetzen war Tilia verschwunden. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Tür zu schließen. Die Verwüstung in der Hütte zeugte davon, dass Tilia sie nicht freiwillig verlassen hatte.

Ich ging hinaus und der Gedanke daran, dass mich niemand sehen oder hören konnte, beruhigte mich. Doch im nächsten Moment erstarrte ich.

Nahe der Emscher stand eine aufgebrachte, Fackeln und Mistgabeln schwenkende Menschenmenge. Auf einem Podest stand Tilia, die von einem der Männer gefesselt wurde. Als sie mich sah, weiteten sich ihre Augen und ich sah Hoffnung darin aufsteigen. Hastig lief ich zu ihr. Als ich endlich neben ihr stand, hörte ich ihre verzweifelte Stimme.

»Felix, bitte hilf mir!«

»Wie soll ich das anstellen? Du weißt doch …«

Bevor ich den Satz beenden konnte, schnitt mir eine Stimme aus der Menge das Wort ab.

»SEHT NUR, SIE REDET MIT GEISTERN! DAS IST BEWEIS GENUG. WERFT SIE IN DIE EMSCHER!«

Ich erkannte, dass die anderen Menschen diese Meinung teilten, denn innerhalb kürzester Zeit stimmten alle in die Forderung ein.

Hunderte Stimmen riefen:

»WERFT SIE IN DIE EMSCHER! WERFT SIE IN DIE EMSCHER!«

Sichtlich unter Druck gesetzt, knotete der Mann, der Tilia fesselte, ein letztes Seil an ihren Handgelenken fest und zerrte sie zum Ufer des verseuchten Flusses. Bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, warf er Tilia ins Wasser. Ich sah die Panik in ihren Augen, als ihr Körper in den Fluss tauchte. Das Volk jubelte und starrte gebannt auf die sich windende Frau.

Das kalte modrige Wasser lähmt meine Muskeln. Ich bin außerstande, sie zu kontrollieren. Die rauen Seile quellen auf, scheuern an meinen Handgelenken. Panisch versuche ich, die Fesseln zu lösen, doch das macht es nur noch schlimmer, und bald habe ich gänzlich die Orientierung verloren. Ich spüre die Kraft aus meinen Muskeln schwinden. Meine Lungen füllen sich mit Wasser und neben der lähmenden Kälte macht sich ein fürchterlicher Schwindel in meinem Kopf breit. Die letzte Luft entweicht aus meinen Lungen und mein Körper schlägt auf dem steinigen Grund des Flusses auf. Vor meinen Augen breitet sich eine undurchdringliche Schwärze aus. Ich spüre meinen Geist aus meinem Körper entweichen …

Das Letzte, was ich hörte, war das Jubeln der Masse.